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Nordwestdeutschland - Georg Hoeltje

Drei Hansestädte

Die Hansa ist der erste "norddeutsche Bund" gewesen. Ins Mittelgebirge hat sie mit ihren Mitgliedern ungefähr soweit gereicht, wie die Sachsen vorgedrungen sind. Das Tiefland und seine Buchten hat sie vollkommen ausgefüllt. Ihr Schwergewicht hat in Norddeutschland gelegen, ihre Bewegung ist nach Osten gerichtet gewesen.

Hamburg, Bremen und Lübeck,1 die einzigen drei Hansestädte, die Deutschland heute noch hat, sind der letzte Rest einer gewaltigen Organisation, die einst die Ränder der beiden germanischen Meere, Ostsee und Nordsee von London bis Reval, über 25 Längengrade hinweg umspannt hat. Ungefähr in der Mitte und damit zugleich an der Grenze der beiden Meere und Räume liegt Lübeck.

Hamburg und Bremen sind älter. Beide reichen in karolingische Zeiten zurück. Das allein macht uns schon darauf aufmerksam, daß wir in Lübeck uns jenseits der Slawengrenze Karls des Großen befinden, in einem Land, in dem er noch keine Bischofssitze anlegen konnte. Und auch darauf, daß die Stadt Lübeck, die einmal die Führerin der Hansa werden sollte, sich entsprechend der hansischen Richtung nach Osten in eine gegenüber Hamburg und Bremen sehr exponierte und zumal sehr einseitige Lage begeben hat, die ihre ganze Gefahr in dem Augenblick auswirken mußte, in dem die allgemeinen Interessen sich [199] nach einer anderen Richtung wendeten. Mit anderen Worten: Lübecks große Zeit war um, als die transatlantischen Handelsbeziehungen auftauchten. So beschränkte sich seine Blüte auf den kürzesten Zeitraum aller drei Städte.

Denn zunächst vergehen noch Jahrhunderte bis zu seiner Gründung, die ganze Jugendzeit von Bremen und Hamburg. Die Slawen dringen vor und werden wieder zurückgeworfen. Und erst das 12. Jahrhundert bringt die Wendung: im Jahre 1143 wird Lübeck im frisch eroberten Slawenland von dem Grafen Adolf II. von Schaumburg-Holstein gegründet und von deutschen Kaufleuten besiedelt. Im Scheitel der Ostseebucht an dem Punkt, von dem aus eine gerade Linie, am dänischen Archipel und der Südküste der skandinavischen Halbinsel entlang, genau auf die Insel Gotland, den navigatorischen und handelstechnischen Brennpunkt der Ostsee trifft.

Die Travemündung ist zugleich der Punkt, an dem die Ostsee am weitesten nach Westen in das deutsche Festland eindringt. Sie war wohl schon früh in ihrer Bedeutung für Handel und Schiffahrt erkannt. Denn tiefer im Lande, wo der Fluß bequeme Anker- und Anlegeplätze bot, an der Mündung der Schwartau, hatten sich schon vor der Eroberung des Landes noch unter dem Schutze einer slawischen Burg die ersten deutschen Kaufleute zu Handelszwecken niedergelassen.

Der Punkt, den man 1143 wählte, lag noch etwas weiter landeinwärts, hatte aber alle Vorzüge einer ideal geschützten und, was eigentümlich zusammenklingt, auch künstlerisch ideal geschlossenen Lage für sich. In einer flachen aus der Eiszeit stammenden Mulde erhebt sich ein etwa 1600 Meter langer und etwa 1000 Meter breiter flach gewölbter Sand- und Tonrücken, um den auf der einen Seite die Trave, auf der anderen Längsseite die Wakenitz, die hier in die Trave mündet, herumfließen, so daß man bloß am oberen Ende des schon beinahe inselartig eingeschlossenen Rückens eine Verbindung zwischen Trave und Wakenitz herzustellen brauchte - was aber erst um 1900 geschah - um den Boden der Stadt Lübeck zu einer wirklichen Insel zu machen.

Da diese "Insel" von beiden Flüssen aus zur Mitte hin ansteigt, haben die Kirchen, die sich auf der Höhe des Rückens in der Längsachse der Stadt erheben, eine in jeder Beziehung beherrschende Lage. Zumal der ästhetische Zauber, der von dieser in sieben Nadeln gipfelnden Silhouette ausgeht, ist unwiderstehlich.

Ein solch hervorragender Platz wird immer wieder gewählt werden. Und die Bürger dieser ersten Niederlassung, die Heinrich der Löwe nach Streitigkeiten mit dem Grafen Adolf gewaltsam an eine andere Stelle der Wakenitz umgesiedelt hatte, kehrten 1158, nachdem eine Einigung zwischen dem Schaumburger und dem Welfen zustandegekommen war, sofort wieder an den alten Platz zurück.

Dieses zweite Lübeck bekommt den herrlich klaren Grundriß, der alle Kolonialstädte des Ostens auszeichnet, das einfache leicht durchschaubare Gitter rechtwinklig sich kreuzender Straßen. Nirgendwo aber hat dieses Schema einen Stadtkörper so geistvoll organisieren können wie hier, wo es auf die spürbare Wölbung dieses Hügels aufgespannt wird.

[200] Die Hauptstraßen laufen auf der Höhe in der Längsrichtung des Rückens zwischen der landesherrlichen Burg am einen und dem Bischofssitz am anderen Ende. An ihnen sind die Hauptkirchen gereiht: der Dom, die Jakobi-, Petri-, Katharinen- und Marienkirche. Alle Querstraßen aber steigen vom Wasser zu den Hauptstraßen hinauf. An ihrem oberen Ende erscheinen mächtig die Türme der Kirchen; wenn man hinabblickte, sah man unten die Masten der Schiffe, die an den Speichern lagen.

Die alten Speicher stehen noch. Aber die Koggen sind nicht mehr da. Man hatte einen neuen Hafen gebaut und die Trave bis zu ihrer Mündung vertieft und begradigt. Man hat an Stelle des im 19. Jahrhundert verfallenen mittelalterlichen Stecknitz-Kanals einen neuen Kanal von der Trave zur Elbe geführt. Aber 1913 stand Lübeck unter den Ostseehäfen erst an siebenter Stelle.

Sein Güterverkehr beschränkt sich fast nur auf Einfuhr; Erze und Kohle und Holz. Für die Verarbeitung der Erze ist in Herrenwyk an der Trave ein Hochofenwerk errichtet. Aber eine Industriestadt wird Lübeck auch dadurch nicht. Es bleibt eine mittlere Hafenstadt an der Ostsee.

Seine Bevölkerung, die im Jahre 1807 noch etwa ebensoviel zählte wie um 1500, wo es zu den größten Städten Deutschlands gehörte: nämlich knapp 25 000, ist im 19. Jahrhundert langsam gestiegen. 1870 waren es etwa 35 000, 1905 über 91 000, 1936 138 000. Das ist für die damalige Zeit und eine alte große Stadt ein sehr ruhiges Wachstum. Und ihm verdanken wir es, daß Lübeck heute noch so unberührt vor uns steht.

Kaum eine Stelle, an der in dem fast musikalischen Gleichklang seiner Dächer ein Mißton, ein falsch proportioniertes Haus erscheint. Herrlich bewahrt sind die Kirchen noch: still und fast nüchtern der Dom, der am südlichen Ende der Stadt immer ein wenig abseits des bürgerlichen Lebens lag; aber strahlend und groß die Kirche der Bürger, St. Marien im Inneren der Stadt. Das ist der Bau, der mit seinen wunderbar schlichten gotischen Formen das Vorbild für die Baukunst der deutschen Ostsee geworden ist.

In seiner steilen weißgekalkten Halle rufen laut von allen Wänden lübische Epitaphe den Ruhm der Bürger, aus deren Mitte der zarte Nazarener Overbeck wie ein letzter vergeistigter Nachfahre jener vielen Maler und Bildner hervorgegangen ist, die in den Zeiten der Blüte Lübecks alle Küsten der Ostsee mit Schnitzereien und Tafeln von klassisch vornehmer und schließlich rauschender Schönheit erfüllten.

Das war die Blütezeit der Stadt. An ihrem Anfang stehen diese königlich schlichten Kirchen des 13. und 14. Jahrhunderts, nahe an ihrem Ende zeigt das mächtige Holstentor von 1470 verschwenderische Backsteindekorationen.

Lübeck. Das Holstentor mit alten Salzspeichern.
[183]      Lübeck. Das Holstentor mit alten Salzspeichern.

Das Bürgerhaus hat weitergelebt. Das 17. und 18. Jahrhundert erzeugt den mittelalterlichen Patrizierhäusern noch würdige Nachkommen. Allen gemeinsam ist die durch zwei Geschosse reichende Diele mit dem breitgelagerten Treppenhaus und der mächtigen Eingangstür mit Oberlicht. Es ist das Kaufmannshaus von früher mit Warenstapeln neben dem Büro.

[201] Die kommende Zeit, in der Kontor und Ware auseinandertreten, und ein immer gewandteres, feineres, klügeres Rechnen eine Welt für sich wird und die Welt zu beherrschen beginnt, diese Zeit ist an Lübeck zuerst vorbeigegangen und dringt erst jetzt ganz langsam ein. Keine tödlichen Öffnungen bekommt der alte Körper dabei, durch die Poren kommt die neue Zeit.

Und der unübersehbare Autopark, der den Lübecker Marktplatz an jedem schönen Sommertag erfüllt, ist eine weitere Garantie dafür, daß diese alte Stadt so bleibt, wie sie ist. Denn sie ist berühmt geworden wie ihr Marzipan: sie ist eine Sehenswürdigkeit des Fremdenverkehrs.

Die großen einfachen Spitzbogen des ältesten Rathausteiles blicken hochmütig wie erloschene Augen über das wirre Treiben; die lustig verspielten Arkaden der im 16. Jahrhundert angebauten Teile biedern sich dem Lärm des Marktes schon etwas mehr an. Aber über allem erhebt, unnahbar und ein Zeichen aus großen, für uns fast unvorstellbar großen Jahrhunderten, die Marienkirche ihr patiniertes Haupt.

Kein Sprung ist jäher, keiner gibt mehr zu denken - und doch tun ihn so viele an jedem schönen Sommertag in einer knappen Stunde mit dem Wagen, als der Sprung von diesem Rathausplatz auf den von Hamburg.

Neben der Alsterschleuse, in der, vom Ausflug heimkehrend, am Sonntagabend ein halbes Hundert Paddelboote sich stauen, gähnt ein riesiger Asphaltplatz mit Straßenbahnen und Fußgängerverkehr. Die eine Wand des Platzes nimmt ein Rathauspalast des letzten Jahrhunderts ein. Kioske, Automaten, Litfaßsäulen, Drähte, Schienen - man stünde auf irgendeinem, wirklich irgendeinem der tausend Großstadt-Straßenkreuzungsplätze ohne Form und Gesicht, wenn nicht zur Seite, jenseits der Alster, klassizistisch saubere Arkaden einen ruhigen Abschluß gäben und vor uns aus der Alster ragend, wo jetzt gerade das Rudel Paddelboote vorbeitreibt, sich ein gewaltiger Steinpfahl erhöbe, als ob Schiffe, aber besondere Schiffe, feierliche Schiffe: Totenschiffe an ihm festmachen sollten. Denn auf seinem riesigen flachen Leib ist in vertieften Runenzügen eingegraben die Zeichnung einer trauernden Frau. Um ihre Söhne, um Hamburgs Söhne trauert sie. Ihr Umriß erschüttert.

Eine Stadt, die ihren Gefallenen an solcher Stelle solch ein Denkmal setzt, weiß trotz Großstadt, Schienen und Draht noch die Quellen zu finden, aus denen das Leben, das Leben der Kunst und das Leben der Städte fließt. Denn das ist dasselbe. Und solange eine Stadt noch echte Kunst hervorbringt, ist sie auch noch lebendig. Und Hamburg ist, obwohl es so viel älter als Lübeck ist, noch durchaus lebendig.

Es ist allein mit seinem Altersgenossen, mit Bremen zu vergleichen, mit dem es auch in der Lage und in der Geschichte vieles gemeinsam hat. Beide sind schon in karolingischer Zeit als Bischofssitze gegründet worden. In der Geschichte beider Städte ist der Bischof später ganz zurückgetreten und bald ganz ausgeschieden, wie er übrigens auch für die Hansestadt Lübeck nie eine Rolle gespielt hat. Und an beiden Plätzen war ja auch der Bischofssitz nicht das erste. Eine irgendwie geartete Siedelung ging an beiden von der Natur außerordentlich begünstigten Orten voraus.

Bremen. Durchblick durch die Börse.
[182]      Bremen. Durchblick durch die Börse.
[202] In Bremen war eine lange schmale Sanddüne, die sich längs der Weser von Burg an der Lesum bis Achim erstreckt und wie eine Art natürlicher Damm das Marschengebiet des Bremer Beckens zwischen der oberhalb und unterhalb an den Fluß herantretenden Geest überbrückt, ein viel zu auffällig geschützter Ort, als daß er nicht sehr früh hätte besiedelt sein sollen.

An den Bischofssitz schloß sich 965 eine Marktsiedelung an. Aber erst um 1200 wird das doppelte Gebilde umwallt. Und erst im Jahre 1303 wird eine Schiffer- und Fischersiedelung am wasserseitigen Rande der Düne mit in die werdende Stadt einbezogen. Jetzt erst tritt die Weser, treten Schiffahrt und auf ihr aufbauender Handel, tritt die hansische Zukunft klarere vor das Bewußtsein der Bürger.

Die Hauptkirchen stammen aus dieser Zeit, der Dom mit seinen schweren gotischen Gewölben, die Liebfrauen- und die Ansgari-Kirche. Das Rathaus mit den Statuen der sieben Kurfürsten beweist den lebendigen Reichtum der Stadt um 1400; und die prächtigen Laubengänge und neuen Fenster, die man um 1600 dem alten Bau gegeben hat, zeigen, daß damals das alte Leben noch kräftig pulsierte. Auch das Gildehaus der Kaufleute an der anderen Seite des Marktplatzes, der Schütting ist erst kurz vor 1600 mit seiner Prachtfassade bekleidet worden. Am Rathaus steht das Standbild Rolands als Symbol der städtischen Freiheit.

Bremen. Das Rathaus.
[181]      Bremen. Das Rathaus.

Die langgezogene Düne bestimmt noch heute die Anlage der modernen Großstadt mit ihren 331 000 Einwohnern, die mit ihren Rändern nach der Geest im Norden und im Süden hinübertastet und auch eine Neustadt aufs andere Weserufer vorgeschoben hat.

Auch Hamburg rückt erst ganz allmählich an die Elbe heran. Gegründet auf einer Geestzunge, die sich zwischen zwei kleinen Elbnebenflüssen, Alster und Bille, bis fast an die Elbe heranschiebt, ist die älteste Siedlung, abgesehen von dem bischöflichen Zentrum, eigentlich nur durch den Übergang über die Alster im Zuge des Geestrandweges längs der Elbe entstanden zu denken.

Hamburg.
[178]      Hamburg.

Erst in der Zeit, als die Holländer-Kolonisation eine Besiedelung der Marschen in Gang bringt, steigen auch die Hamburger in die Marsch nach der Elbseite hinunter; an der Alstermündung wird 1187 eine Fischerstadt angelegt, und als 1247 Hamburg seinen ersten Vertrag mit Lübeck geschlossen hat, hat sich sein Weg entschieden: es wird eine Hanse-, eine Seefahrts- und Handelsstadt.

Bald gibt es schon eine Bruderschaft der Englandfahrer, die 1424 bei einem Meister Francke den herrlichen Altar malen läßt, den heute die Kunsthalle aufbewahrt. Schon eine Generation vorher war in Hamburg der berühmte Meister Bertram tätig, und eine Generation nach Meister Francke wird ein Hamburger Maler, Hinrik Funhof, von den reichen Lüneburgern beauftragt, den Hochaltar der Johanniskirche mit Flügeln zu versehen.

Die Tradition, die schließlich den Hamburger Rat einen Barlach zum Entwurf des Gefallenendenkmals heranziehen läßt, hat also schon früh begonnen. Und zwar schon zu einer Zeit, als Hamburg nicht etwa größer oder bedeutender als Lüneburg war. Aber es muß um diese niederdeutsche Stadt, in deren [203] gewaltiger Flußmündung die Flut und der Seewind Salzwasser und Salzluft heraufbringen, von jeher eine Luft geweht haben, die den Künstlern Gedanken und Sinne löste. Der größte, reinste und verantwortungsvollste Maler, den die Deutschen am Anfang des 19. Jahrhunderts gehabt haben, Philipp Otto Runge, ist zwar auch nicht in Hamburg geboren, wie Meister Bertram, der aus Minden kam; aber er hat in Hamburg die besten Jahre seines Lebens gelebt, und der treue Ekkehart der Hamburger Tradition, Lichtwark, hat sein Vermächtnis in der Kunsthalle zusammengetragen. Der Dichtkunst hat die Stadt so wenig schöpferische Geister geschenkt wie das schweigsame Lübeck. Der Wandsbeker Bote, Mathias Claudius, ist ein nachdenklicher tief religiöser Mensch gewesen und als solcher viel mehr mit Runge verwandt, als mit irgendwelchen Künstlern des Wortes.

Tradition heißt nicht ängstliches Konservieren. Und wieweit man im Erneuern des Überalterten gehen kann, ohne Tradition zu zerstören, vermag gerade Hamburg zu zeigen. Es ist nicht der große Brand von 1842 allein gewesen, der Hamburg ein so modernes Gesicht gegeben hat. Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts entledigt sich die Stadt, die damals schon die moderne Großstadtgrenze überschritten hat, der Bauten, die hinderlich werden könnten. 1805 wird der Dom des 12. Jahrhunderts, 1807 das Johanniskloster, von 1820 an die Befestigungen, 1826 die Heilig-Geistkirche, 1838 das Maria-Magdalenenkloster abgerissen. Mit dem Brande leitet dann gewissermaßen die Natur selbst die Reihe der großzügigen Niederlegungen ganzer Stadtteile ein. In den 80er Jahren wird der Brookwerder, "der vornehmste und malerischste Teil der Altstadt", zugunsten einer Hafenerweiterung abgetragen und in unseren Tagen an der Stelle eines verrufenen Choleraviertels Platz für die amerikanisch anmutenden Bürohäuser - Chilehaus, Ballinhaus, Molenhof und andere - geschaffen und schließlich die hygienisch und sozial bedenklichen Quartiere des Gängeviertels beseitigt.

Man muß zugeben, daß bei den Bürohäusern auch in Hamburg oft nur die Grenze einer notwendigen, nüchternen und bestenfalls anständigen Form erreicht wird und oft sogar auch das nicht. Man muß zugeben, daß andererseits auch das Verdienst der Gängeviertel-Sanierung zunächst ein rein negatives, eben das der Beseitigung war.

Aber man muß im Auge behalten, wie wenig dem Künstler überhaupt in unserer späten Zeit möglich ist, und daß dem Starken viel erlaubt ist, was dem Schwachen übel auslaufen könnte. Eine Stadt, die im 18. Jahrhundert aus ihrer protestantischen Gemeinde einen Kirchenbau wie St. Michael entstehen lassen konnte, und in der in unserer Zeit ein Mann wie Schumacher wirken konnte, eine solche Stadt hat wohl mehr Rechtstitel für solch rücksichtsloses Vorgehen als irgendeine andere.

Hamburg. Michaeliskirche und Bismarckdenkmal, die Wahrzeichen der Hansestadt.
[179]      Hamburg. Michaeliskirche und Bismarckdenkmal, die Wahrzeichen der Hansestadt.

Der Ausgangspunkt der Siedelung, die Geestzunge, ist heute noch der Kern der Stadt, eine City ganz ohne Wohnungen. Im 17. Jahrhundert, als man in den ersten Jahren des 30jährigen Krieges einsah, daß die Befestigungen nicht [204] ausreichen würden, schuf man den neuen großartigen Ring, der heute noch in den Wallpromenaden erhalten ist, in denen auch Lederers Bismarckdenkmal steht.

Die Alster, durch die man inzwischen einen Damm, den heutigen Jungfernstieg, gebaut hatte, der aus dem schmalen versumpften Fluß einen breiten See hatte entstehen lassen, wurde durch die Befestigung ins Innere der Stadt einbezogen, und an ihrer nördlichen Seite entstand die Neustadt. Die Befestigung selbst ging oberhalb des Jungfernstiegs gleichfalls quer durch die Alster (heute die Lombardsbrücke), und trennt von nun an eine Außenalster von der Binnenalster. Dieses kühne Ingenieurbauwerk machte die Stadt im 30jährigen Kriege so uneinnehmbar, daß kein Feldherr, weder Wallenstein noch Tilly sie zu belagern wagte.

So kommt Hamburg besser als alle anderen deutschen Städte durch diese Gefahrenzone der bürgerlichen Kultur hindurch; sein Aufstieg hat eigentlich keinen Augenblick angehalten. Und am beachtlichsten drückt sich dieser Aufstieg in den Bevölkerungszahlen und im Wachstum der Häfen aus.

Von 1800 - 1866 wächst die Einwohnerzahl von 100 000 auf 260 000 und erreicht 1936 1 100 000, wozu noch rund 420 000 kommen, die in Wandsbek, Harburg und Altona wohnen, Orten, die man nicht von Hamburg trennen kann, weil die preußisch-hamburgische Staatsgrenze2 dazwischen liegt.

Die Hafenanlagen, die bis ins 17. Jahrhundert an der Alster geblieben waren, griffen erst damals zur Elbe über; 1837 kommt dann die erste Erweiterung, und in den 80er Jahren, als Hamburg dem deutschen Zollverbande beitritt, wobei es eine Freihafenzone erhält, vollzieht man den längst notwendigen Übertritt auf die andere Elbseite. Dort hat die Verzweigung des Stromes in viele Arme, von denen die Norder- und Süder-Elbe die wichtigsten sind, Inseln oder Werder geschaffen, die eine fast unbegrenzte Erweiterung der Häfen in Aussicht stellen. Die ältesten Teile sind die um den heutigen Segelschiffhafen liegenden Becken, es folgt das Industriehafen-Gelände der Werk- und Dockbetriebe, mit dem anderen Elbufer durch den Elbtunnel verbunden. Deutsche Werft, Reiherstieg und Blohm & Voß sind bekannte Namen. Schließlich als jüngste Anlage, immer elbabwärts gerechnet, folgen die Kuhwärder-Häfen, die 1903 fertig geworden sind.

Aber schon zehn Jahre später war man mit der Anlage noch weiterer Häfen kurz vor Finkenwärder beschäftigt, da kam der Krieg und warf mit Deutschlands auch Hamburgs Hoffnungen zurück. Die Hapag, 1847 gegründet und vor dem Kriege das größte Schiffahrtsunternehmen der Welt, verlor durch die brutalen Erpressungen des Versailler Diktats ihre führende Stellung. Und nur der traditionsbewußten Energie dieser Stadt ist es zu verdanken, daß Hamburg 1926 schon wieder 50,8 Prozent der deutschen Schiffstonnage besitzt.

Aber mit dieser Energie ist in allen Zeiten Weitblick und Ahnungsvermögen verbunden gewesen. Schon 1394 haben sich die damaligen Hamburger die Herrschaft über das Amt Ritzebüttel gesichert. Das ist jenes Geestkap an der [205] Elbemündung, wo heute die große Kugelbake den Punkt bezeichnet, an dem der Elbstrom, 15 Kilometer breit, das Wattenmeer erreicht. Noch etwa 20 Kilometer weit begleitet ihn auf der linken Seite in Fortsetzung der Küste eine große Wattenplate, die bei Ebbe trockenläuft und auf der, zu Wagen erreichbar, die Marscheninsel Neuwerk ihren Leuchtturm hebt. Am Ende der Plate Scharhörn. Und noch einmal 10 Kilometer weiter hinaus das Feuerschiff Elbe I: die offene See ist erreicht! Der Weg, der hunderttausende von Deutschen im 19. Jahrhundert von der Heimat fortgeführt hat. An der "Alten Liebe" in Cuxhaven legen die Hapagdampfer das letzte Mal an. Eine eigene Bahnhofshalle empfängt die Sonderzüge der Reederei. Man steht am Rand. Amerika bedeutet hier schon ebensoviel wie die Heimat.

Es ist die gleiche Geest, die 40 Kilometer weiter südlich an die Weser stößt. Dort öffnet sich das andere Tor nach Amerika: Bremerhaven. Dort an der Columbus-Kaje mit 13,8 Meter Wassertiefe legen die größten Dampfer des Norddeutschen Lloyd an, des jüngeren Bruders der Hapag (1857 gegründet). Aber nicht zufällig sind seine Schiffe "Europa" und "Bremen" die schönsten und schnellsten deutschen Dampfer. Denn Bremen ist für den Passagierverkehr nach Nordamerika spezialisiert. Wie überhaupt sein ganzer Handel viel spezialisierter ist als der von Hamburg.

Man merkt deutlich, wie die Weserstadt, die nicht so glücklich durch die Spanne vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert gekommen war wie Hamburg, nun alle Anstrengungen macht, die Versäumnisse aufzuholen. 1827 kauft der Bremer Bürgermeister Smidt Gelände an der Weser in der Nähe der Geestmündung und legt dort einen Hafen an, der Bremens völlig versandeten Stadthafen ersetzen soll, nachdem auch der 1618 gegründete Hafen in Vegesack nicht vorm Versanden zu retten gewesen ist.

Als aber auch Bremen in den Zollverband eintritt, muß man den Freihafen nun doch in die Nähe der Stadt legen. 32 Millionen Mark bringt die 165 000 Köpfe zählende Einwohnerschaft für den Bau des neuen Hafens in den Jahren 1885 - 88 auf; und mit dem Mute der Verzweiflung macht sie sich, als die anderen Anlieger, Oldenburg und Preußen, eine Unterstützung ablehnen, allein auch noch an die Korrektur des Weserfahrwassers, das durch Franzius mit einem Aufwand von abermals 30 Millionen Mark bis 1894 auf 5 Meter Tiefe gebracht wird, inzwischen aber auf 8 Meter hat vertieft werden müssen und trotzdem immer noch nicht mit der Elbe und dem Hamburger Hafen konkurrieren kann, in dem Schiffe bis zu 10 Meter Tiefgang anlegen können.

Aus allen diesen Gründen ist die tapfere Stadt auf eine Spezialisierung ihrer Leistungen angewiesen. Nordamerika als Kunde und unter den Waren Baumwolle, Tabak, Schafwolle, Getreide und Kaffee, das heißt: alles Waren, die bei geringem Gewicht hohen Wert repräsentieren.

Das paßt zu Bremens besonderer Lage: es ist Eisenbahnhafen. Die Weser, der das Hinterland fehlt, das die Elbe mit Leichtigkeit bis in den Oder- und Donauraum erschließt, kann bei ihrer noch dazu meist sehr unzuverlässigen Wasserführung verhältnismäßig nur wenig Güter übernehmen. Der größte [206] Teil geht auf die Bahn, während Hamburg ausgesprochen den Umschlag im Strom aufs Flußschiff pflegt, weshalb zu jedem Hamburger Seeschiffhafen ein Flußschiffhafen gehört.

Ein großer Teil der Bremer Einfuhr aber bleibt dann auch an der Unterweser. Von Blexen in Butjadingen bis Hemelingen oberhalb von Bremen reihen sich Industriestädte an den teils oldenburgischen, teils preußischen Ufern. Nicht nur jene Industrie, die auch Hamburg besitzt, Schiffsbau - der in Bremen mit der Deschimag, in Vegesack mit dem Vulkan vertreten ist - sondern dazu Hüttenwerke unterhalb von Bremen und bei Nordenham, Wolle und Jute verarbeitende Fabriken in Blumental und Bremen, und, auf der Jute und dem Öl aufgebaut, die Delmenhorster Linoleum- und Margarine-Industrie.

Diese Verteilung der verarbeitenden Industrien in eine Reihe von Kleinstädten hängt natürlich auch mit der Eifersucht der verschiedenen anliegenden Staaten zusammen. Diese wirkt sich fast grotesk aus um Bremerhaven. Noch in hannoverscher Zeit versuchte man einen Konkurrenzhafen anzulegen: Geestemünde. Der Versuch mißlang. Aber 1885 fährt von dem inzwischen preußisch gewordenen Geestemünde der erste Fischdampfer aus, 1888 ist die erste Fischauktion, und 1925 werden 144 Millionen Pfund Fische in einem Jahr versteigert. Geestemünde, mit Lehe zu Wesermünde vereinigt und das alte Bremerhaven im Norden und Süden umklammernd, ist der größte Fischereihafen des Kontinents geworden.

Eine ganz ähnliche Entwicklung hat übrigens auch Cuxhaven durchgemacht, das als Fischereihafen heute an zweiter Stelle hinter Wesermünde steht. Diese exponierten Punkte, die für die Fischdampfer so rasch zu erreichen sind und dabei direkte Bahnverbindung mit dem Inland haben, sind ja für das Fischereigewerbe geradezu prädestiniert.

Von den drei Hansestädten ist Lübeck die Vergangenheit. Eine große, um ein Binnenmeer geschlossene Vergangenheit, erfüllt von hoher und verehrungswürdiger Kultur. Hamburg und Bremen aber sind die Gegenwart. Eine Gegenwart, deren Blick nach Westen, auf das freie Meer und den Atlantik gerichtet ist, und die nicht ohne Kultur zu sein braucht, wenn man stark und tapfer fortzusetzen versucht, was Gutes begonnen worden ist.

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Deutschlands Aufgabe im Osten. Die Hanse als Vorbild wirtschaftlicher Zusammenarbeit.

Deutsches Land: Das Buch von Volk und Heimat, das Kapitel "Die Hansestädte".

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Hermann Goern, Georg Hoeltje, Eberhard Lutze und Max Wocke