Nordwestdeutschland - Georg Hoeltje
Schleswig-Holstein
Zwischen Lübeck und Eutin, zwischen dem Plöner See und jenem
See an Flensburgs Föhrde, in dessen Wasser sich die blauen Turmhelme,
die weißen Mauern und das rote Dach des Schlosses Glücksburg
wie eine schleswig-holsteinische Fahne spiegeln, im ganzen Osten dieses lang
gestreckten Landes sind alle Straßen von Geißblatthecken und
Rosenbüschen eingefaßt. Schlehen und Haselnüsse
hängen im dichten Gezweig, und die roten Mehlbeeren des
[177]
Holsteinische Schweiz.
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Weißdorns leuchten stumpf im gezackten Blattwerk der Eichenknicks. Hier
ein Durchschlupf für Jungen und Tiere und dort ein Gattertor lassen Wiesen
und Felder sehen, auf deren leicht gewölbten Rücken schwere
Weizengarben sich reihen und Rosse und Rinder zur Weide gehen.
Vögel zwitschern in den Wallhecken, das Land ist stimmenreich, und alle
Wege müssen sich der Vielgestalt seiner
hügelig-buckeligen Welt wohl oder übel fügen. Das fällt
und steigt unentwegt, schlingt Umwegschleifen um anmutige Seen, schließt
alles wieder mit Hecken und zeigt dem erstaunten Blick schon in der
nächsten Öffnung ein neues Bild. Ist es ein Zufall, daß Karl
Maria von Weber hier in Eutin geboren wurde? Hallen diese lieblichen Berge
nicht wider von den Hörnern des Freischütz?
Vom letzten Hügel aus sieht man das Meer. Steil führt der Weg uns
hinab. Eben noch Wiesenhänge, eben noch Buchenwälder und nun
ein schmaler Streifen Sand und dann: rotbraun von Algen nahe dem Strande,
weiter hinaus grünlich schimmernd, durchsichtig und klar, und
schließlich bis zur Kimmung blau und glatt sich dehnend, das Meer. Ganz
schwach salzig, ohne Ebbe und Flut, ein Binnenmeer, dessen blanke
Fläche, von Skandinaviens, Rußlands und [174] Deutschlands
Küsten umsäumt, Schiffe zu fordern scheint, mühelosem
Verkehr und dem Austausch von Waren zu dienen. Holz aus Finnland, Pelzwerk
aus Rußland, Eisenerze aus Schweden, Salz aus Lüneburgs Salinen
und im Mittelalter Altäre und Schmuck und Gerät für die
Kirchen.
Eine große wirtschaftliche Einheit ist das baltische Meer immer
gewesen, und auch kulturell gehört zusammen, was an seinen
Küsten sitzt. Der Osten Schleswig-Holsteins ist vom Ostseeraum nicht zu
trennen. Und die Föhrden von Kiel und Schleswig, von Flensburg und
Eckernförde und die Lübecker Bucht sind ebensoviele Finger, mit
denen die See tief ins Innere des Landes greift. Wo sie enden, da endet der
Bereich der Ostsee, da müssen Waren und Kulturgüter umgeschlagen
werden, da sind Organe notwendig, die sammeln und verteilen, da entstehen die
Städte, die diesen Umschlag besorgen.
Ein völlig anderes Bild bietet uns die westliche Küste.
Grüngrau und undurchsichtig schäumt an den Deichen die Flut, sechs
Stunden später dehnt sich trockenes Watt an der gleichen Stelle. Keine
natürlichen Häfen, keine großen Städte. Es fehlt der
starke Rhythmus, den der dauernde Wechsel des
ein- und ausströmenden Verkehrs drüben in Land und Leben
trägt. Hier is alles eintöniger. Auch die Natur. Eintönig saust
der Wind über das weite Marschland, nach einer Seite biegen sich
Bäume und Sträucher, und mit langer eintöniger Horizontlinie
begrenzt der Deich das Land gegen Himmel und Meer.
Aber auch weit und offen ist hier alles. Keine Schranke hält den Blick, der
ins Unendliche fällt. Und unendlich klein wird alles Einzelne in dieser
Grenzenlosigkeit. Um so schroffer der Stolz, mit dem sich in diesem Lande der
Einzelne auf sich selber stellt. Jeder Hof liegt für sich; und die
Bauernrepublik Dithmarschen ist groß geworden dadurch und daran
zugrunde gegangen. Ganz alleine schlugen die Bauern am 17. Februar des Jahres
1500 die Ritterschaft von ganz Schleswig-Holstein bei Hemmingstedt. Und
niemand half ihnen, als sie im Jahre 1559 von der vereinigten Übermacht
ihrer Feinde überwältigt wurden. Ähnlich einsam, in
titanischer Größe und Auflehnung, steht Dithmarschens
größter Sohn, Friedrich Hebbel unter den Dichtern seiner Zeit.
Historiker stammen von der westlichen Küste der Halbinsel, Mommsen und Niebuhr.
Ein klarer praktischer Sinn macht den Forscher, und man
spürt die Lust das kleine Ich an der Unendlichkeit der Geschichte zu
messen. Niebuhrs Vater, Carsten Niebuhr, der im Lande Hadeln an der
Elbmündung seine Jugend verlebte, war ein bekannter Forschungsreisender.
"Dieser phantasielose Mann", sagt von ihm sein berühmterer Sohn, "war
ganz auf Anschauung und Wahrnehmung gerichtet. Abstraktion und Spekulation
waren seinem Wesen entgegen, er mußte alles konkret fassen."
Das ist derselbe Mann, der, nachdem er die Türkei, Ägypten und
Arabien, Indien und Persien bereist und mit den gelehrtesten Männern
seiner Zeit in Gedankenaustausch über seine Beobachtungen gestanden hat,
mit 66 Jahren an die Urbarmachung neuen Moorlandes schreitet und noch mit 70 Jahren, wie sein Sohn berichtet, mit dem Kluvstaaken über einen zehn
Fuß breiten Graben springt.
[175] Bauern und nichts als
Bauern, auch da, wo sie die Geschichte der Menschheit oder die Erde erforschen,
sind diese Menschen, in denen niedersächsische Zähigkeit sich mit
friesischem Unternehmungsgeist paart. Und herzerquickend derb, geradezu
hemdärmelig steht ein Kernspruch des Dithmarscher Bauern vor uns:
"Vör wenig Eten bin ick nich, awer drinken mag ick gern. Dahingegen mutt
ick naher min gehörige Ruh hebbn!"
Im Osten war es der rötliche Lehm, den die Gletscher der Eiszeit
über das Land geschoben hatten, im Westen ist es der Schlick, den das
Wattenmeer mit jeder Flut absetzt, der das Land fruchtbar macht. In der Mitte
zwischen der Fruchtbarkeit des Marschlandes und der Moränenlandschaft
des Ostens liegt die dürre Geest. Sie ist das Schotterfeld der
Eiszeitgletscher. Das Schmelzwasser von Jahrtausenden hat Sand und
Geröll auf ihr abgelagert. Nur die genügsame Heide kam auf diesem
trockenen Boden fort. In den Senken, wo das Wasser nicht abfloß, bildeten
sich Moore.
Erst im letzten Jahrhundert ist die Urbarmachung der Heiden und Moore in dem
Maße, in dem sie aus einer Unternehmung des Einzelnen zur wichtigsten
Aufgabe des Staates heranwuchs, von den Rändern der Geest ins Innere
vorgedrungen, und das Bild voll schauriger Großartigkeit, das noch im 18. Jahrhundert den Reisenden erwartete, der von Flensburg quer durch das Land
nach Husum fuhr, hat einer wenn auch eintönigen so doch
menschenfreundlicheren Landschaft von Feldern und Wiesen Platz gemacht. Aber
es ist geringwertiger Boden, an die Stelle des Weizens tritt der Roggen, und die
Bevölkerungsdichte, die im nebenher auch gewerbetreibenden Osten mehr
als 80 auf den Quadratkilometer beträgt, im reinen Bauernland der Marsch
immerhin noch die Zahl 70 erreicht, sinkt in der Geest auf 40, ja sogar auf 30
Menschen.
Zu einer Zeit, in der die östliche Hälfte der Halbinsel noch von
dichtem Urwald bedeckt war, an den heutzutage nur noch so kleine
Bestände wie der Sachsenwald erinnern, und in der die westliche
Küste, noch unbefestigt durch Deiche, von jeder Sturmflut verheerend
heimgesucht wurde, war es fast selbstverständlich, daß die Bewohner
dieser schmalen Länderbrücke in gewissen Abständen, wenn
Raumnot sie trieb, nach Süden ausbrachen und neues Land suchten. Von
hier kamen schon hundert Jahre vor Christi Geburt die Cimbern, deren Zug in
Italien endete. Von hier zogen im 5. Jahrhundert nach Christo die
Angeln aus, deren Namen noch heute die Halbinsel zwischen Schlei und
Flensburger Föhrde bewahrt, in ihrem Gefolge die Jüten, deren
nördlicheres Wohngebiet Jütland damals für die
nachdrängenden Dänen frei wurde, und mit ihnen viele Sachsen.
Die Sachsen sitzen damals im südlichen Teil der Halbinsel. Sie
nennen sich Stormarn, Holsten und Dithmarsen. Von ihnen aus, obwohl sie selbst
vom zweiten bis zum vierten Jahrhundert nach Christo in wiederholten
Schüben sich in das später Niedersachsen genannte Land
ergießen, geht schließlich die Germanisierung der ganzen Halbinsel
aus. Sie war nötig geworden inzwischen. Denn in das durch
Auswanderungen entleerte Land östlich der Linie
Hamburg - Kiel waren Slaven eingedrungen, und von Jütland
her hatten die Dänen den Norden der Halbinsel bis zur Schlei erobert.
[176] In wiederholten
Stößen dringen darauf sächsische Bauern rodend und
kultivierend ins Ödland des Nordens vor. Auch die Kaufmannschaft der
Städte wird sächsisch. Um 1400 werden die Stadtrechte von
Flensburg, Apenrode und Hadersleben (!) aus dem Jütischen ins
Plattdeutsche übersetzt. Diese allmähliche Durchdringung des
Nordens beginnt im 13. Jahrhundert mit der Überschreitung der
Eder–Schlei-Grenze.
Dort finden wir den wichtigsten Punkt der ganzen Halbinsel. In ihm müssen
sich alle Kräfte sammeln, die an einer selbständigen Existenz dieses
geographischen Gebildes interessiert sind. Und allein der Stadt, die hier entsteht,
ist es vergönnt, wenn nicht dem ganzen Gebiet so doch seinem
nördlichen Teil den Namen zu geben: Schleswig.
Hier treten sich noch heute Ostsee und Nordsee am nächsten. Etwas
über 30 Kilometer beträgt die Entfernung zwischen Schleswig und
Husum, nicht weiter als die Strecke von Berlin nach Werder. Ursprünglich
griff hier von Westen her, etwa dem Laufe der Eider und der Treene folgend, eine
Meeresbucht ins Land hinein. Ungefähr bis
Rheide - ein Dorf in der Geest, dessen Name
Schiffs-Reede bedeutet - konnten die flachgehenden Handelsschiffe der
Friesen des achten und neunten Jahrhunderts fahren. Nur wenig mehr als zehn
Kilometer Landweg trennen diesen Punkt von Schleswig, wo die Schlei, ein
Ostseearm, der 37 Kilometer weit ins Land hereingreift, sein Ende findet. Diesen
Weg fuhr die friesische Wolle, und über diesem Weg kam das russische
Pelzwerk zurück. Und Schleswig wurde reich an beiden.
Aber Schleswigs Lage war auch strategisch günstig. Denn durch die
Landenge zwischen den beiden Seewegen mußten die riesigen Viehherden
des Nordens, bisweilen 50 000 Ochsen in einem Jahr, mußten die
Pilgerscharen, die nach Rom oder Köln wallfahrteten, ja mußten auch
alle Heere hindurch, die nach Norden oder Süden ausrückten.
Kein Wunder, daß schon König Gotfrid von Dänemark im
Jahre 808 quer über die Landenge einen Wall aufwerfen läßt,
das spätere Danewerk, dessen ungefüge Reste noch heute
kilometerweit sich hinziehen. Keinen wichtigeren Ort gab es damals gegen die
von Süden herandrängenden Franken zu verteidigen. Und kein
Wunder, daß einige Jahre später der Heilige Ansgar gerade Schleswig
zum Mittelpunkt seiner Missionsbestrebungen im Norden macht.
Dieses Stück Erde ist ein Magnet für politische Kräfte. Und
hier, wo der dänische König im 9. Jahrhundert seinen Jarl als
Grenzwächter einsetzt, aus dessen Amt Jahrhunderte später das
Herzogtum Schleswig wird, befindet sich heute wieder der Sitz der
preußischen Regierungen für ganz Schleswig-Holstein.
Man gab den Platz der Stadt am Nordufer der Föhrde für kurze Zeit
einmal auf, aber nur um am anderen Ufer eine neue Stadt zu errichten, Haithabu,
das die Schweden, die es gründeten, zu kurzem Glanze führten. Vor
den Heeren Ottos des Großen verging auch diese Episode, und Schleswig
erstand aufs Neue, jetzt als Sitz eines Bischofs und erlebte im 11. und 12 Jahrhundert seine große Zeit, die seine Schiffe bis nach Danzig und
Nowgorod führte.
[177-192=Fotos [193] Wer es
heute besucht, wird erstaunt sein über die Kleinstadt, die er findet. Der
Schlag, der so empfindlich das Leben dieser Gemeinschaft gelähmt hat, ist
kein politischer gewesen. Politisch gibt es keinen sichereren Ort als Schleswig.
Wirtschaftlich aber brach es zusammen in dem Augenblick, als die
Handelsschiffahrt des 12. Jahrhunderts seetüchtigere Schiffe von
größerem Tiefgang, die "Lübecker Koggen", zu benutzen
begann, die nun nicht mehr die Eider aufwärts fahren konnten, dafür
aber mit größerer Sicherheit die Fahrt durch den Sund und
nördlich um Cap Skagen herum unternehmen durften. Da trat Schleswig
wirtschaftlich zurück, und wirtschaftlich hat es diesen Schlag nie
verwunden.
Politisch blieb es aber auch jetzt der Mittelpunkt des Landes, zumal seitdem 1385
die Grafen von Holstein zugleich Herzöge von Schleswig geworden waren
und im Schlosse Gottorf an der Nordwestecke der Föhrde residierten. Die
starke konzentrierende Kraft, die Schleswig von Natur innewohnt, bewährt
sich auch jetzt. Denn als zwei Generationen später, 1459, die Grafen von
Holstein aussterben und der König von Dänemark zum
schleswigschen Herzog gewählt wird, da ertönt zum ersten Mal das
"up ewig ungedeelt", mit dem Holstein nun an Schleswig fest gebunden
wird.
Aber das Jahr, in dem sich unter dem Worte "up ewig ungedeelt" nun endlich die
beiden großen deutschsprachigen Gebiete der Halbinsel zu einem
politischen Gebilde zusammengefunden hatten, war das gleiche Jahr, in dem sie
sich vom deutschen Vaterlande mehr oder weniger lösten. Auch dieser
Schritt, der bis in unsere Tage nachwirkt, war in der Landschaft
Schleswig-Holsteins vorgebildet.
Den Fuß der Halbinsel trennen die Einkerbungen der Lübecker Bucht
und der Elbmündung vom Festland. Rücken an Rücken liegen
hier die beiden Städte Hamburg und Lübeck, nur durch eine
Landstrecke von 56 Kilometern getrennt. Was ist für beide
verständlicher als gemeinsames Vorgehen? Damit aber "setzen sie den
Grafen von Holstein vor die Tür des Reiches"
(A. v. Hofmann).
Selbstverständlich ist dies Vorgehen nur vom Standpunkt solcher selbst
schon vom großen Körper des Reiches losgelösten, in ihrer
ganzen Tendenz wirtschaftlich, genauer privatwirtschaftlich eingestellten
Gemeinwesen. Eine Politik des Reiches hätte diese Buchten zum
Ausgangspunkt ebensosehr einer einheitlichen Ostseepolitik wie später
einer atlantischen Politik machen müssen und hätte ihre
Rücken-an-Rücken-Lage nicht zum Riegel werden lassen
dürfen, durch den die Halbinsel abgeschnürt wurde, sondern zu den
starken Flanken eines Tores in den Norden, durch das hindurch eine dauernde
intensive Germanisierungspolitik in die Halbinsel hätte vordringen
müssen.
Kaiser Lothar im Jahre 1111 hatte noch das richtige Gefühl für die
politischen Notwendigkeiten, als er den Grafen von Schauenburg mit Holstein
belehnte. Schon 1138/1139 eroberte ein Schauenburger das Land der Wenden von
Segeberg bis Fehmarn. Der Kalkfelsen von Segeberg wird zur gräflichen
Burg ausgebaut, das eroberte Land an die Ritter verteilt, die bäurische
Siedler aus ganz Nordwestdeutschland dort ansetzen. Daher haben wir heute noch
viele Rittergüter gerade in diesem Teile Schleswig-Holsteins.
[194] Aber im 14. und 15. Jahrhundert gab es eine solche Reichspolitik nicht mehr. Es gab nur eine
Hausmachtpolitik der Landesfürsten. Und die kleinen, wirtschaftlich
starken und gesunden Gemeinwesen wie Hamburg und Lübeck konnten
nichts anderes tun, als ihren eigenen Weg gehen, und der verbot es ihnen zu
dulden, daß ein Dritter sich zwischen sie legte. Wir werden die beiden
Städte, die sich so von ihrem Hinterlande getrennt haben, in einem
besonderen Kapitel betrachten. Indirekt aber werden wir ihre Wirksamkeit auch
an dieser Stelle mehrfach spüren durch die Reaktionen des Landes und
zumal seiner Herrscher auf die gesonderte Existenz eines Lübeck und eines
Hamburg.
Zu beiden Hafenstädten gibt es nämlich Konkurrenzhäfen. An
der Elbe Glückstadt, von den Dänen angelegt als Rivalin
von Hamburg, durch die Verschlickung seines
Hafens - 1½ Zoll täglicher
Schlickfall! - aber nie in die Lage gekommen, ernstlich gefährlich zu
werden.
Auf der anderen Seite Kiel, die Rivalin für Lübeck, schon
von dem gleichen Adolf II. aufgebaut, dem Heinrich der Löwe
Lübeck abgetrotzt hatte, in windgeschützter Föhrde von Natur
aus eine glücklichere Rivalin als der dänische Elbhafen. 1227, als
Lübeck freie Reichsstadt geworden ist, wird Kiel Residenz der Holsteiner
Grafen. Von den dänischen Landesherren wird es später
gegenüber dem unabhängigen Lübeck in jeder Hinsicht
begünstigt. Dänemark läßt die Straßen zwischen
Hamburg und Lübeck verfallen und behindert den Durchgangsverkehr mit
hohen Zöllen. Ja, über zwanzig Jahre lang versteht es sogar den Bau
einer Eisenbahn zwischen den beiden Städten zu verhindern.
Preußens Hausmachtpolitik wächst im 19. Jahrhundert in den
Aufgabenkreis einer echten Reichspolitik hinein. Es hat vieles wieder gutmachen
[177]
Laboe. Marine-Ehrenmal.
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können, was vom Reich seit dem 13. Jahrhundert versäumt worden
war. Die unnötige Rivalität zwischen Lübeck und Kiel wird
durch Preußens Eingreifen beseitigt. Kiel wird der Kriegshafen des
Reiches.
Heute ist es die größte Stadt Schleswig-Holsteins, und hat 233 000
Einwohner. Der Nordseekanal - die uralte Idee, die 1500 Jahre früher
die Friesen nach Schleswig geführt hatte - mündet bei Kiel. Im
Jahre 1931 passierten 48 286 Fahrzeuge die Holtenauer Schleuse, also 132
am Tag. 57 000 Arbeiter sind in Kiel beschäftigt. Die Germaniawerft
mit ihren glasverkleideten Hellings, die Deutsche Werft, das
Marine-Arsenal und die Howaldts-Werke sind die bedeutendsten Werften.
Mahnend erhebt am Rande der Föhrde das Marineehrenmal von Laboe
seinen Finger.
Das alte Kiel mit Schloß und Rathaus und Nikolaikirche tritt ganz
zurück hinter dem stürmischen Wachstum dieser jungen Stadt, die
alljährlich durch die Kieler Woche von sich reden macht. Der Lärm
der Niethämmer übertönt das alte Lied, ein Gitterwerk von
Eisen und Glas verdeckt das alte Bild. Etwas Neues beginnt hier im Bauernlande
Schleswig-Holstein, so wie Regensburgs gewaltige Kanalbrücke, mit 140
Metern Spannweite Deutschlands größte Brücke, und seine
Industrie, die Schornsteine von Neumünster, einer Klostergründung
des Heiligen Vicelin, und die Fabriken von Elmshorn in Itzehoe als etwas Neues
in die alte Landschaft treten.
[195] Im Westen aber, wo die
Gegenwart nicht weniger emsig am Werke ist, die alten Spuren zu verwischen,
speist sich die neue Betriebsamkeit doch aus den alten, der Landschaft
eingeborenen Kräften und bleibt auch heute im Bereich des Bauern und
seiner Aufgaben.
Landgewinnung heißt die Parole. Mit der Sicherung des Landes begann es. In
ältesten Zeiten saß spärliche Bevölkerung auf Wurten,
mühsam aufgeschütteten Erdhügeln, die Haus und Stall knapp
über die Flut emporhoben. Damals raubte jede größere
Sturmflut Boden und vertrieb die Siedler. Nur im Süden hielt sich der
zähe Sachsenstamm der Dithmarschen auf dem Boden, den er seit dem
zweiten vorchristlichen Jahrhundert besaß. Die nördlichen Bewohner
der Westküste aber folgten den Angeln und gaben die unwirtliche Heimat
auf.
In das leerstehende Land zogen neue Siedler ein, die schon in ihrer alten Heimat
den Kampf mit dem stürmischen Element gewohnt waren, die Friesen. Bis
ins Gebiet der Dithmarschen sind sie gelangt und haben sich dort mit dem
Sachsenstamme vermischt.
Aber solange der einzelne Bauer sich mühsam allein auf seiner Wurt des
Wassers erwehrte, blieb, was auch getan wurde, langsam weichende Verteidigung
gegen einen übermächtigen Feind. Erst der Angriff konnte hier
Wandel schaffen. Und der Angriff beginnt im 11. Jahrhundert mit der Errichtung
der Deiche.
Der Deich, zunächst scheinbar nur eine neue Art der Verteidigung, eine
besser organisierte, die zum ersten Mal das Vorrücken des Feindes wirklich
zum Stillstand bringt, wird binnen kurzem zum Ausgangspunkt aller Angriffe.
Buhnen, von seinem Fuß aus senkrecht ins Meer gebaut, brechen den
Seegang und lassen im ruhigeren Wasser Sinkstoffe sich setzen. Langsam schlickt
sich ein Deichvorland an. Als erste Pflanze erscheint der Queller und festigt mit
seinem Wurzelwerk den beweglichen Schlammboden. Gras samt sich an, ein
Sommerdeich schützt das gewonnene Land, es wird entwässert und
schließlich durch einen weiteren Außendeich endgültig in
Besitz genommen. Ein neuer Koog ist fertig.
Das geht alles sehr langsam vor sich. In einem besonders günstigen Jahr
rückt die Quellergrenze unter Umständen 50 Meter weit vor, aber
rund 25 Jahre vergehen durchschnittlich, bevor ein neuer Außendeich
gebaut werden kann.
Ursprünglich war es möglich, daß der Einzelne für den
Deich nur soweit verantwortlich war, wie sein eigener Grund und Boden reichte.
Auf die Dauer aber schließen sich die Bauern zu
Deichgenossenschaften zusammen. Die elementarste Tatsache des
sozialen Lebens, Existenz des Einzelnen nur auf Grund der Gemeinschaft, wird
diesen Bauern zum alles andere überragenden Erlebnis. Kein Wunder,
daß sie allen persönlicheren Bereichen des Geistes fern geblieben
sind. "Geist geworden ist dies Volk nur in der Prosa seiner Rechtssatzungen und
Geschichtsbücher" (Nadler).
Und auch ihr religiöses Verhältnis ist bestimmt durch die Erfahrung
dieses unaufhörlichen Kampfes gegen das dunkle Element, in dem aber
zähe Geduld und schlaues Abwarten am Ende nie ohne Erfolg bleibt. "Gott
hat Himmel und Erde geschaffen, aber der Friese die Marsch".
[196] Diese Menschen haben
manche Leistung aufzuweisen, die sie zu solcher Übertreibung
verführen kann. Die lange Strecke, auf der noch im 11. Jahrhundert die
friesischen Händler quer durchs Land nach Schleswig fuhren, ist durch
allmähliche Eindeichung und Entwässerung sauber in festen
fruchtbaren Boden und schmale Wasserläufe aufgeteilt. Hier sind
hauptsächlich Holländer tätig gewesen. Im Jahre 1619
gründeten sie Friedrichstadt an der Eider, dessen
Backsteinstraßen und schmucke niedrige Häuser noch den Reisenden
an Holland erinnern.
Drei Inseln sind von den Deichbauern miteinander verbunden und als Halbinsel
Eiderstedt ans Festland angeschlossen worden. Hier erheben sich heute noch die
friesischen "Haubarge", die stolzeste Form, die das niederdeutsche Bauernhaus
gefunden hat, Burgen eher als Häuser.
Aber die See zerbrach das Menschenwerk auch wieder. Die Halligen,
Marschboden, der knapp einen Meter aus dem Meere ragt, sind die
Überreste von größeren Inseln, die das Meer in Stücke
riß. Noch nicht lange ist es her, daß Pellworm und Nordstrand durch
eine Sturmflut getrennt wurden. Die größeren Halligen sind in
unseren Tagen durch Deiche und Buhnen befestigt worden, die kleineren aber
sehen heute noch aus wie vor 1000 Jahren das ganze Land.
[158]
Hallig Hooge. Worf Mitteltritt.
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Der Lärm der Geschichte machte sich nicht überall gleich stark
bemerkbar. Verschiedene Landschaften hallen verschieden laut davon wider. Und
in diesem Bauernland klingt die große Weltgeschichte nur sehr
gedämpft und stört den gewohnten Gang des Lebens und der Arbeit
kaum. Man treibt heute noch, nur mit moderneren Mitteln, was man vor 1000 Jahren begonnen hat. Man baut die Landschaft zweckentsprechend um, und wo
vor ein paar Jahren noch das Wattenmeer spülte, da steht inzwischen ein
fester Damm und trägt die Schienen der Eisenbahn nach Sylt
hinüber.
[159]
Insel Sylt. Durchbrochene Dünen.
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Das laute Leben dringt auf die Inseln. Aber es ist nur Ferienlärm; es sind
nur Ausspannung Suchende, die den Sandstrand von Westerland und Kampen auf
Sylt, Wyk auf Föhr und Amrum jedes Jahr für Monate beleben. Der
ewige Wind der Westküste erzeugt hier prächtigen Wellenschlag.
Und es ist der bäuerliche Unternehmungsgeist der Friesen, der auch aus
dem unfruchtbaren Boden der Geestinseln lohnenden Erwerb herauszieht. Von
Grund auf bleibt alles, was es immer war, Bauernland, unendlich langsam, aber
zäh wachsendes Bauernland. Und so schiebt sich hier im Westen die
Grenze Schleswig-Holsteins allmählich immer weiter hinaus ins feindliche
Meer, besonders seitdem der Staat den Schutz der Deiche übernommen hat
und seitdem neuerdings die Scharen des Arbeitsdienstes an die Seite der
bäuerlichen Deichgenossenschaften getreten sind.
[159]
Wyk auf Föhr. Dorfstraße.
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Aber noch ein anderer Grenzkampf ist im Gange. Es ist der alte Kampf der
Nordmark, ein Kampf, der in der Geest und im Osten sich abspielt und
entsprechend dem anderen Charakter dieser Landschaft stärker mit den
Waffen des Geistes und in engerem Zusammenhang mit der allgemeinen
Geschichte ausgefochten wird. Hier steht heute in vorderster Linie das alte
Flensburg, die Stadt der Seemannschulen. Übereinandergestaffelt
reihen sich seine Häuser um das [197] schmale Ende der
Föhrde. Die reich bewegte und dadurch so liebliche Gliederung der
Ostküste der Halbinsel kommt in der Anlage dieser Stadt zur
architektonisch schönen Erscheinung. Grenzlandtheater, Rundfunksender
und "Deutsches Haus" wenden sich von hier aus an das Deutschtum jenseits der
Grenze.
Diese Grenze, die seit 1864 an der Königsau lag, rückte durch die
Abstimmung vom 10. Februar 1920 bis in die Mitte der Flensburger Föhrde
vor. Die Städte Tondern, Apenrade und Tonderburg mit 76, 54 und 55 Prozent deutschen Stimmen mußten nach den Abstimmungsbedingungen an
Dänemark fallen. Eine kleine dänische Minderheit blieb diesseits der
deutschen Grenze.
Wie verwickelt die Verhältnisse hier liegen, mag allein die Tatsache
beleuchten, daß aus dem jetzt dänischen Hadersleben, nicht weit von
der alten Reichsgrenze, Julius Langbehn stammt, dessen Buch
Rembrandt als Erzieher ("Von einem Deutschen") 1890 so ungewohnten
Widerhall erregte. Gerade Langbehn aber war es, der damals schon mit der
Gestalt des Künstlers Rembrandt dem Deutschen seiner Tage eine
Mahnung zur Innerlichkeit und eine Warnung vor äußerlicher
Bewertung von Wissen und Macht vor die Seele stellen wollte.
Es hat gerade in diesem Winkel Deutschlands, und vielleicht nicht ohne
Zusammenhang mit der starken Neigung des dänischen Nachbarvolkes zu
religiös gestimmter Innerlichkeit, immer wieder Menschen gegeben, die mit
schrankenlosem, man möchte sagen: weltfremdem Idealismus eine reine
und fast abstrakte Auffassung von Leben und besonders von der Kunst vertreten
haben. Genau hundert Jahre vor Langbehn hat der Müllerssohn
Carstens aus Schleswig für den künstlerischen Menschen
des deutschen Klassizismus ein solches Idealbild aufgerichtet. Und jetzt erhob
sich wieder aus der Nordmark ein Eiferer für reines innerliches Leben.
Es ist, als ob dies gefährdete Grenzgebiet empfindlicher auf jede
Verflachung des deutschen Geistes reagiere als die in Deutschlands Mitte
wohlgeborgenen Landschaften. Spürt es doch auch im Kampfe, der auf
seinem Boden ausgetragen wird, als erstes die Folgen solcher Verflachung.
Noch 1830 etwa konnten die Deutschen Nordschleswigs hoffen, ihre
jütischen Mitbürger für Deutschland zu gewinnen. Aber die
folgenden Jahre, die Jahre des beginnenden Aufstiegs Deutschlands auf
wirtschaftlichem und industriellem Gebiet, brachten geistig eine fortschreitende
Entfremdung, und im Jahre 1842 gebrauchte der liberale Führer
Nordschleswigs auf der Schleswigschen Ständeversammlung zum ersten
Male die dänische Sprache. Damit war die Entscheidung gefallen, und um
so rascher fiel sie nun auch auf der anderen Seite.
1844 erscheint zum ersten Mal die schleswig-holsteinische Fahne, obwohl das
Land doch staatlich noch zu Dänemark gehört. Das Lied der
Schleswig-Holsteiner ertönt, und 1848 bricht der Aufstand los. Rasch
gebildete Freischaren, Turner, Studenten, Bürger erheben sich zusammen
mit dem Militär. 1849 werden die dänischen Schiffe bei
Eckernförde geschlagen. Aber 1850 bricht in der Niederlage von Idstedt,
nicht weit nördlich von Schleswig, der bewaffnete Widerstand zusammen.
Die Danewerkslinie ist frei. Und im Londoner Protokoll von 1852 wird
Groß-Dänemark von den Staaten Europas bestätigt.
[198] Damals verlassen viele
Patrioten das Land, unter ihnen Theodor Storm. Beim Abschied von
seiner Vaterstadt Husum schreibt er die ergreifenden Verse:
Es strömt die Luft - die Knaben stehn und lauschen,
Vom Strand herüber dringt ein Möwenschrei -
Das ist die Flut! Das ist des Meeres Rauschen;
Ihr kennt es wohl; wir waren oft dabei.
Von meinem Arm in dieser letzten Stunde
Blickt einmal noch ins weite Land hinaus,
Und merkt es wohl, es steht auf diesem Grunde,
Wo wir auch weilen, unser Vaterhaus..."
Es ist diese Gesinnung, die der Kriegshandlung von 1864 ihren wahren Sinn
verleiht. Das Land, das damals erobert wurde - die Entscheidung fiel
wieder am Danewerk, das bei Frost im Februar 1864 umgangen werden
konnte - war deutsches Land seinem eigenen Bekenntnis nach.
So verschieden es nach Landschaften und Bevölkerung angelegt war, so
sehr die geographische Gestalt und die Geschichte im späteren Mittelalter
auf Abtrennung der Halbinsel vom Körper Mitteleuropas hingedrängt
hatte - es war jetzt zur Einheit erwachsen und hatte sich in Marsch und
Geest und Föhrden, in Friesen, Dithmarsen und Holsten freiwillig zum
größeren Deutschland bekannt.
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