[17]
Schleswig-Holstein
Jacob Bödewadt
Schleswig-Holstein, meerumschlungen,
deutscher Sitte hohe Wacht,
wahre treu, was schwer errungen,
bis ein schön'rer Morgen tagt!
Wie mit Zaubergewalt sang dies Lied, kaum 1844 zum ersten Mal erklungen,
Schleswig-Holstein in die Herzen des ganzen deutschen Volkes hinein. Sehnsucht
eines Stammes, der seiner selbst und seiner Sendung bewußt geworden war,
eines Landes, das zu innerer Einheit zusammengewachsen war, obwohl es
staatsrechtlich zwei verschiedenen Reichen zugehörte, vermählte
sich mit der Sehnsucht eines politisch erwachenden Volkes, das aus
Trümmern und Splittern eine neue staatliche Einheit zu bauen trachtete.
Symbol eines wieder zusammenzufassenden deutschen Volksstaates war
Schleswig-Holstein jener gärenden Zeit und lebte selbst so tief in diesem
Gemeinschaftswillen, daß vier Jahre später die Regierung seiner
nationalen Erhebung in ihrer ersten Kundgebung vom 24. März 1848 neben
den Entschluß zur Wahrung der Landesrechte mit gleichem Nachdruck das
Bekenntnis zu Deutschlands Einheits- und Freiheitsbestrebungen stellte.
Diesem [18] opfermutigen Kampf
blieb der Erfolg zunächst versagt; aber sein Ringen und Leiden schuf die
Grundlagen, auf denen nach weiteren anderthalb Jahrzehnten Bismarck zum Bau
des neuen Reiches ansetzen konnte. Ob auch das äußere Geschehen
in einer Spirale verlief, innerlich führt hier eine ganz gerade, klare Linie
von Stamm zu Volk, von Landschaft zu Reich.
[17]
Glücksburg an der Flensburger
Förde.
|
Wieder gilt es, aus Trümmern ein neues Deutschland zu bauen. Wieder
trägt Schleswig-Holstein mit heißem Herzen das Schicksal des
deutschen Volkes mit; nicht erst seit heute und gestern, sondern vom ersten Tage
des Zusammenbruchs an, nicht nur mit Wort und Sehnsucht, sondern mit
verantwortungsbewußter Arbeit am Eigenen für das Ganze. Aber
schmerzlich spürt es den Wandel der Zeiten; sein grenzdeutsches Sorgen
und Mühen, vor einem knappen Jahrhundert vom Mitgefühl
Alldeutschlands umhegt, begegnet heute vielfacher Gleichgültigkeit und
Verkennung im Reich, das an anderen zerfetzten Grenzen von
größeren und dringlicheren Gefahren bedroht ist. Der zwiegeteilte
Abstimmungskampf, den es als erstes Grenzland nach Versailler Diktat für
Deutschland zu führen hatte, und sein Ergebnis fanden in der Nation nicht
den Widerhall wie später das Grenzringen um den Osten. Welche Treue
und Zähigkeit dazu gehörte, unter den aufgezwungenen Bedingungen
den am 10. Februar 1920 in Nordschleswig gehaltenen nationalen Bestand zu
wahren, kann eben nur nähere Kenntnis der Verhältnisse recht
würdigen; und der glänzende Sieg in Mittelschleswig am
14. März 1920, aufrüttelndes Vorbild für gleichen Einsatz bei
den späteren Grenzabstimmungen im Osten und Süden, ging
für das gesamtdeutsche Volksbewußtsein in den fast auf den Tag mit
ihm zusammenfallenden innerdeutschen schweren Wirren unter. Vor allem aber
eins hat die Anteilnahme Gesamtdeutschlands an
Schleswig-Holstein zurückgedrängt: der Nachbarstaat, dem hier im
Norden deutsches Land und deutsche Menschen überantwortet wurden, war
nicht militärischer Gegner im großen Kriege gewesen; die Grenze,
die hier aufgerissen worden ist, haben nicht Hunderttausende deutscher Soldaten
mit Leid und Leben zu verteidigen gehabt, wie im Westen und Osten. So kann
Schleswig-Holstein bei seinem neuen Grenzringen nur wenig an
persönliches Erleben anderer deutscher Stämme anknüpfen,
muß seinen Kampf um deutsches Recht und deutsche Ehre dem
übrigen Deutschland erst wieder aus den Bedingtheiten des Bodens und des
Blutes, der politischen und kulturellen Entwicklung nahe bringen. Dazu
möchten auch diese Blätter helfen.
Aus der sonst wenig gegliederten Küste Norddeutschlands ragt Schleswig-
Holstein, die Festlandwurzel der cimbrischen Halbinsel, von
Hamburg-Altona bis zur jahrtausendalten Landesgrenze an der Königsau
rund 200 Kilometer weit hinauf nach Norden. Breiter im holsteinischen Sockel
(von Dithmarschens Küste bis an den Fehmarnsund rund 150 Kilometer),
beträchtlich schmäler in der schleswigschen Krönung (vom
Wattenmeer bis zu den Ostseeförden durchweg 50 Kilometer, von Husum
bis zur alten Landeshauptstadt an der Schlei gar nur 35 Kilometer), trennt es die
Ostsee, fast eine Binnensee, vom Vorhof zum Weltmeer, der Nordsee, ist es
Länderbrücke zwischen Deutschland und Skandinavien, zwischen
Mittel- und Nordeuropa. Daraus ergibt sich ohne weiteres die seit
vorgeschichtlichen Zeiten wirksame geopolitische Bedeutung des kleinen Landes:
als Schnittpunkt wich- [19] tigster
Verkehrsstraßen - zu Lande die uralten Heerstraßen in
süd-nördlicher Längsrichtung wie heute die Eisenbahnen und
Autostraßen, zu Wasser die west-östlichen Querverbindungen der
einstigen Eider-Schlei-Fahrt wie heute des
Nordseekanals - ward es zugleich zum stetigen Brennpunkt aller politischen
und wirtschaftlichen Machtentfaltung der umliegenden Welt. So ist es von jeher
Kampfland und Grenzland, nicht "Grenzmark", gewesen und geblieben bis auf
den heutigen Tag, Scheide wie Brücke der Völker und Kulturen, bis
auf kurze idyllische Zwischenzeiten zugleich Träger und Kampfziel
europäischer Entscheidungen. Das erklärt - neben der
allgemeinen Absicht, Deutschland an allen Grenzen zu
schwächen - auch seine Einbeziehung in das Versailler Diktat in der
tatsächlichen Durchführung wie in den gescheiterten weitergehenden
Plänen, die es so gut wie ganz aus dem deutschen Staatsverband
lösen wollten. Das begründet aber auch
Schleswig-Holsteins Anrecht auf Mithilfe ganz Deutschlands in dem ihm neu
aufgezwungenen Ringen um Bestand und Zukunft: es gilt, eine bald
tausendjährige Entwicklung zu Deutschland hin zu sichern und neu
auszubauen.
[19]
Zweihundertjähriges Nordfriesisches Gehöft.
Königsteinscher Hauberg in Christian
Albrechs-Koog bei Niebüll.
|
Das Zusammenwachsen Schleswig-Holsteins zu einer Einheit, die nach
vielhundertjähriger Bewährung 1920 in einer Stunde tiefster
deutscher Ohnmacht zum ersten Mal staatlich zerrissen wurde, sein
Hinführen und Hinneigen aus der Umwerbung vom Norden zum deutschen
Süden gehört zu den stolzesten Kapiteln deutscher Volksgeschichte
um so mehr, als die Gewalten des mittelalterlichen Deutschen Reiches sie in
lebenswichtigen Augenblicken nicht gefördert, sondern mittelbar und
unmittelbar oft genug schwer gehemmt und zurückgebogen haben. Die
Leistung ist um so erstaunlicher, als sie von einer Mannigfaltigkeit der [20] Landschaft und
Bevölkerung ausgehen mußte, wie sie auf so engem Raum fast
beispiellos ist und, im Zusammenhang mit den von außen einwirkenden
Mächten, die Geschichte Schleswig-Holsteins auf den ersten Blick so bunt
und wechselvoll erscheinen läßt, daß nur eindringende
Beschäftigung mit ihr die großen Linien herauszuheben und klar zu
würdigen vermag, wie es der engen Zusammenarbeit der
Geschichts-, Boden- und Volkstumsforschung erst in neuerer Zeit voll gelungen
ist.
Vorbedingung aller Geschichte ist der Boden, auf dem sie sich abspielt, ist die
Landschaft, die ihre Bewohner formt, ihr Leben und ihr Schicksal prägt.
Wer auf einer der beiden großen Süd-Nord-Linien mit der Eisenbahn
Schleswig-Holstein durchfährt, erhält kaum irgendwo einen rechten
Eindruck von seinem Wesen. Auch wer vielleicht Jahr um Jahr eines der
Nord- oder Ostseebäder unseres Landes aufsucht, lernt nur eine von vielen
Ausdrucksformen schleswig-holsteinischer Landschaft kennen. Erst die Luftfahrt
unsrer Tage ermöglicht einen Gesamtüberblick über das Land
zwischen zwei Meeren, ohne doch seine Wesenszüge im einzelnen erfassen
und erkennen zu lassen.
Auf schmalem Raum drängen sich hier die Hauptformen der norddeutschen
Landschaft zusammen, ziehen sich in drei Streifen von wechselnder Breite von
der Elbe bis zur Königsau und weiter hinein nach Jütland. Im Osten
das Geschenk der zurückweichenden Eiszeit, die hügelige
Moränenlandschaft voll Wald und Wasser ähnlich allen
südlichen Küsten der Ostsee vom fernen baltischen Lande her, aber
hier reicher als irgendwo sonst gegliedert durch tiefeinschneidende Förden,
fruchtbarer Lehmboden für hochwertigen Ackerbau und Viehzucht. In der
Mitte das karge Land, das die Schmelzwasser der einstigen Vergletscherung mit
unfruchtbarem Sand ausgeebnet haben, Bruch, Moor und Heide wie in der weiten
niedersächsischen Ebene südlich der Elbe. Im Westen
schließlich der breite, nur auf ganz kurze Strecken unterbrochene
Gürtel sattgrüner Meer- und Flußmarschen, vom "goldenen
Ring" der Seedeiche gesichert, unübertreffliche Dauerweide und daher
Hauptgebiet der Viehgräsung, die typische Nordseelandschaft wie bis zu
Vlanderns Niederungen hin. Und eigentlich noch ein vierter Streifen: das
geheimnisvolle Watt, aus dem die Marschen emporwuchsen und das selbst
großenteils einst Land war, und ihnen vorgelagert die ganze schleswigsche
Westküste entlang die Kette der Inseln und Halligen, denen sich weit
draußen vor Holstein das rote Felseneiland Helgoland anschließt.
Allmählich geht das Hügelland des diluvialen Ostens in die von
sanften Bodenwellen durchzogene Hochebene des Mittelrückens
über; schroff fällt auf weite Strecken diese hohe Geest zur alluvialen
Marsch ab; ewigem Wandel ist die Grenze zwischen Marsch und Watt
unterworfen, wo Natur und Mensch seit Anbeginn an um die Herrschaft ringen;
unablässig nagt an den bald nackten, bald buchenwaldbestandenen
lehmigen Steilküsten der Ostsee wie an den hohen, nur mit starrem
Dünengras bestückten Dünenketten der Nordseeinseln das
Meer. Vielfach hat der Mensch im Laufe der Jahrhunderte das Bild der
Kulturlandschaft verändert, Wälder gerodet, Moore trocken gelegt,
Heide zu Ackerland gebrochen oder aufgeforstet, Marschen gewonnen und
verloren; die Grundformen der Naturlandschaft aber sind unveränderlich
und mit ihnen die Lebensbedingungen für den Menschen, die
Berufsbedingungen der Be- [21] wohner. Sie schieden in früheren Zeiten
die Siedlungsgebiete um so stärker, als ja erst das letzte Jahrhundert gelehrt
hat, auch dem geringwertigen Boden der Mitte Ernteerträge abzugewinnen,
und damit die zunehmende Besiedlung auch dieses bis dahin volksarmen Gebietes
ermöglicht hat, während Rodung von Wäldern und
Trockenlegung von Mooren und versumpften Flußniederungen einst fast
unüberwindliche Verkehrsschranken kaum noch erkennen lassen.
[21]
Am Eingang der Kieler Förde.
Der Leuchtturm von Bülk.
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Das gilt besonders auch für die Querriegel, die
Schleswig-Holstein früher in West-Ost-Richtung unterteilten. Den
stärksten Einschnitt zeigte die Mitte, im Süden Schleswigs. Hier
bildete das sumpfige Stromnetz der Eider mit ihren Nebenflüssen Sorge
und Treene ein völlig unwegbares Gelände, während von
Osten her der im allgemeinen schmale, an seinem Innenende aber stark erweiterte
Meeresarm der Schlei ähnlich weit vorstößt, so daß nur
eine wenige Kilometer schmale Landbrücke für die
Süd-Nord-Verbindung offen blieb, die zu Anfang des 9. Jahrhunderts durch
den mächtigen Wall des Danewerks abgeriegelt wurde. Wie noch heute die
Untereider unter dem Einfluß von Flut und Ebbe steht und erst jetzt ihr
Niederungsgebiet durch Abdämmung gegen die Nordsee vor
Überschwemmungen endgültig geschützt werden soll, glich
sie früher geradezu einem Nordseebusen, und bei dem geringen Tiefgang
damaliger Seeschiffe war auch ihr nördlicher Nebenfluß, die Treene,
bis hinter Hollingstedt schiffbar, so daß nur noch jener schon
erwähnte schmale Geeststreifen zu überwinden war, um über
die Schlei die Ostsee zu erreichen: das waren die geographischen Grundlagen, auf
denen gegen Ende des ersten Jahrtausends unserer Zeitrechnung die
Welthandelsstadt Haithabu am Selker Moor, [22] einem Südzipfel
der Schlei, zu Reichtum und Macht erblühte. Im Norden wie im
Süden dieses die Längsverbindung zu Lande unterbrechenden
Seehandelsweges fanden sich noch zwei andere früher siedlungshemmende
Räume von freilich geringerer Bedeutung: in halber Höhe
Schleswigs das See- und Sumpfgebiet des Flußsystems der Wiedau bis zu
den Höhen vor der Flensburger Förde, und im südlichen
Holstein der noch heute menschenarme Streifen östlich der Hafeldorfer
Marsch über die Quickborner und Segeberger Heide bis zum Seengebiet
Ostholsteins. Dieses wieder war vom mittleren Holstein von der Kieler
Förde bis zur Elbe bei Lauenburg auf weite Strecken durch die
Flußläufe der Schwentine, Trave und Delvenau schon von Natur so
geschieden, daß der Limes Saxoniae, der spätere Sachsenwall gegen
die Wenden, sich auf günstige Geländeverhältnisse
stützen konnte. Und da bei den Lebensbedingungen jener frühen Zeit
auch die kleinen aber wasserreichen Flüsse des Westens ein sich kaum
über Meereshöhe erhebendes Flachland ähnlich unterteilten
wie die Förden die Ostküste, so erklärt sich aus solcher
Vielgestaltigkeit und vielfacher Längs- und Quergliederung der Landschaft
ohne weiteres, wie so verschiedene Stämme hier unabhängig
voneinander seßhaft werden und ihre Eigenart durch Jahrhunderte bewahren
konnten. Dazu kommen dann noch in frühgeschichtlicher Zeit die
gewaltigen Wanderungen ganzer Stämme und Völker, in
späterer Zeit mehrfache systematische Ansiedlung von Angehörigen
anderer Stämme und die ununterbrochene Einzelwanderung und Siedlung
im Gefolge der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung. So
beherbergt Schleswig-Holstein auf seinem engen Raum von rund 20 000
Quadratkilometern eine stammestümliche Mannigfaltigkeit wie kaum ein
anderes deutsches Land und schweißte sie doch zu einer Gemeinschaft
zusammen, die freilich die Merkmale ihrer Herkunft treu bewahrt. So war es
andererseits Völkerwiege sowohl wie Völkerbrücke, ist die
Urheimat weltbeherrschender Völker und Reiche, die heute noch
blühen, und zahlreicher anderer, die längst im Wirbel der Zeit
versanken.
Gegen Ende der vorchristlichen Zeit besiedelten westgermanische
Volksstämme ganz Schleswig-Holstein; an der Nordseeküste dem
Verband der Ingwäonen, an der Ostseeküste dem Verband der
Irmionen zugehörig. Holsteins Kern, die damals viel waldreichere hohe
[24]
Insel-Friese.
Wandbett mit schließbaren Schranktüren.
|
Geest, ist das Stammland der Sachsen, der einzigen Völkerschaft, die auch
nach den gewaltigen Menschenabgaben an die späteren großen
Wanderungen ihre Urheimat festhielt und gegen allen Ansturm von Norden
(Dänen) und Osten (Wenden) behauptete, ja von ihr aus zu neuer Siedlung
vorstieß. Noch heute zeigt die Verbreitung der niedersächsischen
Urform des Holstenhauses den Umfang des einstigen Holstengaus zwischen Eider
und Stör an, wie denn überhaupt die Typen des Bauernhauses zu den
wichtigsten Zeugnissen über die Besiedlung des Landes gehören.
Ebenso ist der südlich anschließende Gau Stormarn, dessen Namen
der heutige Kreis festhält, sächsisches Siedlungsgebiet, seitdem die
Langobarden ihre alten Wohnsitze dort und in Lauenburg aufgegeben hatten; und
auch die Bevölkerung Dithmarschens, der Herkunft nach umstritten, ist
wohl zumindest im Geestgebiet holsteinisch-sächsisch bestimmt, aber
jedenfalls in den Marschen friesisch durchsetzt, wie denn auch hier das
Sachsen- und Friesenhaus in besonderen Ausbildungen abwechseln.
Nördlich der breiten Ödlandschaft aus Sumpf und Wald zwischen
Eider und Schlei saß auf [23=Bild] [24] den
Geestinseln und Geesträndern eine anglofriesische Urbevölkerung,
zu der später friesische Einwanderung vom Südufer der Nordsee
stieß, die alle Marschinseln und Festlandsmarschen des westlichen
Schleswig von Eiderstedt, damals noch eine Inselgruppe, bis zum Nordrand der
Wiedauniederung bei Ballum in Besitz nahm. Schleswigs mittlerer Osten
zwischen Schlei und Flensburger Förde dagegen kennzeichnet in seinem
[23]
Mädchen auf der Hallig.
Nach einer Originalzeichnung v. W. Petersen.
|
Landschaftsnamen noch heute die Stammsitze der Angeln, deren
archäologische Hinterlassenschaft sie nahe an die alten Sachsen
rückt. Nördlich von ihnen und den Friesen schließlich, also im
heutigen Nordschleswig, saßen Warnen und Jüten, ebenfalls
westgermanische Stämme.
Aus diesem Gesamtgebiet brachen, nach einem frühen Auftakt der Cimbern
und Teutonen, vom dritten nachchristlichen Jahrhundert an die großen
Wanderungen hervor, die das Gesicht Nordwesteuropas völlig
verwandelten. Des Aufbruchs der Langobarden aus dem südöstlichen
Holstein wurde schon gedacht. Die Sachsen breiteten sich nicht nur über
dieses leer gewordene Gebiet aus, sondern besetzten weiter die nordwestdeutsche
Tiefebene in dem Umfang, wie hier noch heute die niedersächsische
Volkssprache herrscht. Vielleicht durch klimatische Veränderungen
verstärkt, erfaßte der Wandertrieb immer neue Teile der alten
Bevölkerung Schleswig-Holsteins. Gemeinsam mit den Sachsen aus ihren
Ur- und Neusitzen drängten Angeln und Jüten zunächst
hauptsächlich dem Niederrhein zu, vorerst auf dem Landweg, dann auch zu
Schiff über die Nordseebucht. Von der festländischen
Kanalküste aus begannen sie die Eroberung Britanniens und vollendeten sie
durch Nachschub unmittelbar über See. So wurden durch Blutmischungen
größten Stils die neuen Volkstümer Nordwesteuropas
geboren - schon damals galt das Wort des Rembrandtdeutschen:
"Schleswig-Holstein ist immer ein Land des Vorstoßes gewesen."
[25]
Diele eines Dithmarscher Bauernhauses.
(Museum Altona.)
|
Aber Schleswig-Holstein war durch diese Wanderungs- und
Eroberungszüge großenteils [25] selbst menschenarm
geworden. So wurde umgekehrt das verlassene Land Eroberungsziel
nachdrängender Völkerschaften. Von ihrer Urheimat Schonen, dem
südlichen Schweden, schwärmten die nordgermanischen
Dänen aus, besetzten zunächst die Ostseeinseln im Sunde und dann
weiter auch Jütland und Schleswig bis an die große
Sorge-Schlei-Schranke, später noch auf Schwansen (zwischen Schlei und
Eckernförder Bucht) übergreifend. Wie stark immerhin der Rest der
westgermanischen Urbevölkerung war, mit der sie sich auf der cimbrischen
Halbinsel vermischten, bezeugt der Übergang des Namens der
alteinheimischen westgermanischen Jüten auf das neu entstandene Volk,
zeigt auch deutlich die Eigenart der aus ostnordischem und anglofriesischem
Sprachgut aufgebauten, gemeinhin als "Plattdänisch" bezeichneten
Mundart. Diese dänische Einwanderung füllte das ganze sechste
Jahrhundert aus. Im Süden hat sie nun an einem Punkte
vorübergehend die Eider erreicht, im Westen nicht die Marsch erfaßt,
wo vielmehr gerade jetzt die neufriesische Einwanderung und Ausbreitung
einsetzte. Ungefähr gleichzeitig mit dem Eindringen der Dänen in
Schleswig begannen die slawischen Wenden die Überflutung Ostholsteins
von der Lübecker bis zur Kieler Bucht, wo wahrscheinlich durch
Abwanderung der meisten germanischen Vorbewohner, von denen uns nur
geringe Kunde überliefert ist, ebenfalls ein menschenarmer Raum
entstanden war. So wohnten in Schleswig-Holstein nach der Wanderungszeit drei
Völker nebeneinander: Deutsche, Slawen und Dänen. Die
Auseinandersetzung zwischen ihnen, mit kriegerischen und mit friedlichen
Waffen, erfüllt die nächsten
Jahr- [26] hunderte. Die wendische
Teilherrschaft ist längst eine geschichtliche Episode; das
deutsch-dänische Ringen ist auf ein begrenztes Gebiet
zurückgedrängt, dauert hier aber in voller Schärfe an.
Grenzlandschicksal - Grenzlandaufgabe!
Die Wiedergewinnung des überfremdeten einstigen Siedlungsgebietes
westgermanischer Stämme geschah zur Hauptsache von der holsteinischen
Urheimat der Niedersachsen aus, im weiteren Sinne mit den Kräften des
ganzen niederdeutschen Raumes, militärisch-politisch wie
wirtschaftlich-kulturell. Die Politik der deutschen Kaiser, deren Blickrichtung und
Machtentfaltung zumeist in andere Richtung ging, brachte nur ganz
vorübergehend einmal Entlastung gegenüber dem Norden,
häufiger schwere Rückschläge, ja Bedrohung alles bisher
Erreichten. Wie Kaiser Karl auf seinen Heereszügen gegen die Sachsen sich
für die Unterwerfung der Holsten wendischer Waffenhilfe bediente und so
slawischen Vorstoß bis mitten in die holsteinische Geest und ins
südöstliche Holstein hinein ermöglichte, so schuf vier
Jahrhunderte später der Sturz Heinrichs des Löwen und damit die
Zerschlagung der deutschen Stammesherzogtümer erst die Voraussetzung
für die Machtstellung Dänemarks im Mittelalter, und nur die
vorübergehende nochmalige Zusammenfassung aller Kräfte des alten
Nordelbingens in der Schlacht von Bornhöved 1227 erledigte
endgültig das dänische Streben nach Herrschaft über die
Länder beiderseits der Ostsee. Dieser Sieg, eine der ganz großen
Entscheidungen von weltgeschichtlicher Bedeutung, ward erfochten unter dem
Schauenburger Graf Adolf IV., dessen Geschlecht seit 1111 die
sächsischen Gaue unterstellt waren und dessen kluge und tatkräftige
Herrscherreihe nicht nur ihren Machtbereich in Holstein beständig
erweiterte, sondern auch mit zäher Stetigkeit auf das ehemalige
dänische Kronland Schleswig ausdehnte und immer mehr gegen
Rückschläge sicherte. Nachdem der gewaltige Gerhard III.,
der anderthalb Jahrzehnte Dänemark unumschränkt beherrschte,
1326 in der Constitutio Waldemariana den feierlichen Verzicht auf jede
Wiedervereinigung Dänemarks mit seinem einstigen Herzogtum Schleswig
erwirkt hatte, brachte zwar das Erlöschen dieser Linie mit
Adolf VIII. gerade das, was Geert der Große hatte ausschließen
wollen, sicherte aber zugleich das, worauf alle schauenburgische Politik abgezielt
hatte: um den Preis der Personalunion mit Dänemark unter dem
Oldenburger Christian, des letzten Schauenburger Neffen, ließ sich die
holsteinische Ritterschaft im Ripener Vertrag mit dem
König-Herzog 1460 die unzertrennliche Verbindung Schleswigs mit
Holsteins "up ewig ungedeelt" feierlich beurkunden.
Wenn dieser Grundgedanke durch die Wirren und Wandlungen von vier
Jahrhunderten hindurch, über Erbteilungen und Wiederzusammenlegungen,
über die Todfeindschaft und Kriege der verschiedenen Linien des
Herrscherhauses, über absolute Monarchie und beginnendes Erwachen
volklichen Nationalbewußtseins hinweg wenigstens so weit Geltung
behalten hat, daß er 1848 zum Losungswort des deutschen
Schleswig-Holstein in seinem Erhebungskampf gegen Dänemarks
Entrechtungspläne werden konnte, so findet das seine Erklärung
nicht so sehr in der politischen als vielmehr in der kulturellen Entwicklung eines
halben Jahrtausends. Sie vollendete zunächst die völlige
Wiedereindeutschung des wendisch überlagerten Ostholsteins, indem nach
der militärischen Eroberung um die Mitte des zwölften Jahrhunderts
eine systematische Neubesiedlung des Landes durch deutsche [27] Bauern erfolgte, wozu
der Holstengraf Adolf II. außer den eigenen Untertanen Kolonisten
aus dem deutschen Westen herbeirief: Holländer, Friesen, Westfalen
rodeten neben Holsten die Wälder, bauten deutsche Dörfer neben die
wendischen oder an ihrer Stelle, dazwischen wurden geistliche Stifte und adlige
Güter errichtet, und hoch auf dem Segeberger Kalkberg, diesem einsam
ragenden Zeugen einer früheren erdgeschichtlichen Zeit inmitten
geologisch so ganz anders gearteter Umwelt, erhob sich als Wahrzeichen der
endgültigen deutschen Herrschaft die gräfliche Burg. So ward der
Grund zur Kulturlandschaft des holsteinischen Ostens gelegt, deren Eigenart die
spätere wirtschaftliche Entwicklung noch verstärkte: diese
Güterdistrikte des Adels sind die einzigen Gebiete, die Leibeigenschaft
gekannt haben, während sonst
Schleswig-Holstein das ausgesprochene Land freier Bauern war und blieb. In den
Elbmarschen des Westens übernahmen, nachdem Dithmarschen schon
früh außer Kolonistenverbänden aus der eigenen Geest auch
friesische Siedler angezogen hatte, um etwa die gleiche Zeit vornehmlich
Holländer die Eindeichung und Entwässerung und gaben der
Landschaft und auch dem Hausbau in den größten Teilen der Wilster
und Kremper Marsch den Charakter ihrer Heimat, während die weiter
flußaufwärts anschließende Haseldorfer Marsch durchweg
niedersächsisch besiedelt ist. Schon vom fahrenden Zuge aus erkennt der
aufmerksame Beobachter den Unterschied in der Aufteilung des Landes in
schmale lange Ackerbeete in den Elbmarschen, dagegen in
unregelmäßige kürzere Parzellen im nördlich
benachbarten Dithmarschen. So führte auch hier die Besonderheit der
Landschaft und der von ihr dem Menschen gestellten Aufgaben zu weiterer
Mannigfaltigkeit des Besiedlung, vermehrte die Vielheit deutscher Stämme,
die in Holstein bodenständig waren und wurden.
Wirtschaftliche und kulturelle Überlegenheit der Deutschen brachten sich
auch bald im Schleswigschen, das nach den großen Wanderungen
nordgermanischen Stämmen anheimgefallen war, zur Geltung.
Niedersächsische Bauern überwanden die
Wald- und Wasserschranke zwischen den beiden Herzogtümern und
siedelten dicht zwischen Eider und Schlei, vereinzelter weiter nach Norden. Die
holsteinische Ritterschaft dehnte die auf ehemals wendischem Boden entwickelten
geschlossenen Grundherrschaften auf den dänischen Wohld und
Schwansen, die Halbinseln zwischen Kieler und Eckernförder Bucht, dieser
und der Schlei aus, kauften auch weiter nördlich vielfach den
dänischen Bauernadel aus und setzten so politische und wirtschaftliche
Macht in national-kulturellen Einfluß um. Und zu der Kraft des
niederdeutschen Landes kam die Kraft der niederdeutschen Städte,die sich
in der Hanse eine den ganzen germanischen Norden beherrschende Macht
geschaffen hatten. Sie strahlte auf die kleinen Städte Schleswigs aus, zumal
die Küstenstädte mit oft weitgreifenden
Schiffahrts- und Handelsbeziehungen, in denen sich nun niederdeutsche Kaufleute
und Handwerker ausbreiteten; noch heute trägt das Stadtbild bis an die alte
Landesgrenze hin durchweg niedersächsisches Gepräge. Und das
Entscheidendste: die niederdeutsche Weltsprache der Hanse und Holstenritter
drang unaufhaltsam nach Norden vor, überrannte die
jütisch-dänische Volkssprache ebenso wie die friesische; bereitwillig
ward sie als Sprache der Kultur, der Bildung, der Verwaltung, des Verkehrs wie in
Eiderstedt so auch in Angeln und, langsamer zwar, auch auf dem
Mittelrücken angenommen; im Hausgebrauch auf dem flachen Lande lebte
wohl die jütische Mundart, aber sie war zur
Neben- [28] sprache geworden. Der
Siegeslauf der niederdeutschen Sprache wurde erst gehemmt, als im Gefolge der
Reformation (die an sich in Schleswig-Holstein auf Plattdeutsch durchbrach) in
Regierung und Verwaltung, später auch in Kirche und Schule das
Hochdeutsche zur Herrschaft kam und damit Niederdeutschland, nun
notgedrungen zweisprachig geworden, die Stoßkraft einheitlich
geschlossener Kultur verlor. Dafür bot auch die gewaltige deutsche
Kulturwelle der Vor- und Hauptzeit deutscher klassischer Dichtung und
Philosophie keinen vollen Ersatz; denn sie erfaßte vornehmlich die oberen
Schichten, aber kaum die breite Bevölkerung. Und schließlich weckte
gerade der hochdeutsche Einfluß, dem Regierung und Gesellschaft
Dänemarks untertan geworden waren, die Gegenwehr: zunächst am
Kopenhagener Hofe, dann auch nach Schleswig hinein, indem der junge
bewußte dänische Nationalismus durch harten Druck wie sanfte
Lockung deutsches Wesen behördlich auszulöschen, dänische
Gesinnung systematisch zu pflanzen und zu pflegen begann.
Damit war das Idyll des patriarchalischen Gesamtstaates, der Deutsche und
Dänen friedlich vereint hatte, durch elementare Kräfte erledigt, die
klare nationale Auseinandersetzung unvermeidlich geworden. Denn inzwischen
war auch das deutsche Nationalbewußtsein bei der
überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung
Schleswig-Holsteins zu vollem Durchbruch gekommen. Als der
wissenschaftlich-staatsrechtliche Kampf um die alten Landesrechte, als das
Ringen um eine der tatsächlichen Entwicklung gerecht werdende
Verfassung ergebnislos blieb, als auch ein letzter Ausgleichsversuch durch
deutsches Angebot einer nationalen Teilung Schleswigs von Dänemark
abgelehnt wurde, mußten die Waffen sprechen. Erst der zweite Gang
brachte, nach dem Fehlschlag der Erhebung und nach dreizehnjähriger
nochmaliger dänischer Vorherrschaft, die notwendige Trennung vom Feind
gewordenen Unionsgenossen langer Jahrhunderte und die erste volle
Eingliederung ganz Schleswig-Holsteins in den deutschen Staatsverband. Durch
die Übermacht des Weltkriegsbundes gegen Deutschland ist aus dieser
Gemeinschaft nun doch ein volles Fünftel, das nicht nur landschaftlich und
geschichtlich, sondern großenteils auch volklich zum Ganzen gehört,
wieder herausgebrochen und damit die
Notwendigkeit einer nochmaligen
Entscheidung entstanden. Auf ihre Vorbereitung richtet sich in zäher Arbeit
und unerschütterlicher Zuversicht der deutsche Wille des
verstümmelten Grenzlandes.
Denn das ist das Eigenartige: aus der Vielheit der Stämme und
Stammessplitter, die Schleswig-Holstein auf seinem Boden vereinigt, aus all den
Siedlungsschichten, die sich hier in- und übereinander schoben, hat sich im
Laufe der Jahrhunderte doch ein gemeinsames Heimatgefühl, ein
bewußtes Schleswigholsteinertum entwickelt. Konnte es auch in der Zeit
des nationalen Erwachens der Völker die dänischen Lebenskreise
zuneigende Volksgruppe im nördlichen Schleswig nicht innerlich
festhalten, so ward es sich in jenen Kämpfen der eigenen
schicksal- und willenhaften Zugehörigkeit um so tiefer bewußt. Seine
Anfänge gehen auf das Gemeinschaftsgefühl der
niedersächsischen Stämme seines Kernlandes zurück, wie es
sich im Holsten- und Stormarngau und im Geschlechterstaat der Dithmarscher
entwickelte, der nach beispiellosen Siegen über gewaltige
Fürstenheere bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts seine
Unabhängigkeit als letzte Bauernrepublik, ein Staatsgebilde durchaus
aristokratischer Prägung, bewahrt hat, während die ähnlich
abseits stehenden Nordfriesen eine eigentliche staatliche Selbständigkeit
schon früh verloren, aber Selbstverwaltung [29] im Inneren trotz ihrer
Zerrissenheit bis in die Neuzeit hinein retteten. Zu diesem Heimatgefühl
freier Bauerngeschlechter trat von der anderen Seite her das
Gemeinschaftsbewußtsein einer Jahrhunderte hindurch den Staat
beherrschenden Schicht, des Waffenadels der holsteinischen Ritterschaft. Ihm
verband sich die bewußte Kulturgemeinschaft, die zunächst vom
Humanismus her die Schichten der Gebildeten, dann von der Reformation her das
ganze Land umfaßte und auch formell zusammenfügte. Mit dem
Aufstieg des Bürgertums entwickelte sich dann in den Städten
ebenso wie auf den Herrensitzen des Landes frohes Miterleben der hohen
Geisteskultur der klassischen deutschen Zeit, aus ihr aber auch der Wille zu
nationaler Schicksalsverbundenheit mit dem großen deutschen Volke, denen
Dahlmanns Festrede in der Landesuniversität zur Feier der Schlacht von
Waterloo zum erstenmal lauten Ausdruck gab und damit die innerlich schon
vollzogene Trennung von Dänemark offenbar machte. In der Erhebungszeit
1848 - 50 schließlich, die des steifnackigen Friesen Uwe Jens
Lornsen zunächst scheinbar vergebliche Saat von 1830 doch noch voll
aufgehen sah, schmolz alles im großdeutschen Gedanken und Willen zur
letzten nationalen Einheit zusammen, die durch die 13 Jahre erneuter
Bedrückung nur noch fester geschmiedet werden konnte. Aus dieser
Gemeinschaft von Stamm und Volk, Heimat und Vaterland zog
Schleswig-Holstein auch in der letzten großen Prüfung nach dem
Weltkriege seine Kraft zu Abwehr und Vorstoß, als es im Zusammenbruch
des Reiches wie einst wieder ganz auf sich gestellt war. Während andere
alte deutsche Grenzlande und Grenzstämme sich im Laufe der Zeiten
völlig aus dem deutschen Staatsverband, ja zum Teil auch aus dem
deutschen Kulturkreis gelöst haben, suchte und fand
Schleswig-Holstein aus eigenem Willen den Weg hin zum Reich, hinein ins
Reich. Das ist der stolzeste Gehalt seiner kämpfevollen Geschichte.
Dabei hat es, im ganzen wie im einzelnen, seine Wesensmerkmale in einem
Ausmaße bewahrt, das verwundern muß. Das ist nicht Verdienst, das
ist Gnade. Hinge es allein vom eigenen Willen ab, so hätten wir wohl
Anlaß zur Selbstanklage. Nur zu widerstandslos, [30] ja willig hat der
Schleswig-Holsteiner sich den alles nivellierenden Einflüssen einer
zentralisierenden Regierungsweise, die in den letzten Menschenaltern die
unübersehbar reichen Formen ehrwürdiger und bewährter
Selbstverwaltung ablöste, und der Entwurzelung und Überfremdung
im Gefolge einer kapitalistisch-industriellen Entwicklung, die weithin
Bodenständigkeit und Stammessitte auflöste, in Gedankenlosigkeit
und Bequemlichkeit hingegeben, so daß reumütige Selbstbesinnung
nur zu oft zu spät kommt. Und dennoch zeigen nicht nur die
unvergleichlich reichen Landesmuseen in Altona, Kiel und Flensburg die
Fülle einstigen kulturellen Besitzes, zeugen nicht nur
Bauern- und Bürgerhäuser von früherer selbstsicherer
Gestaltung aus den besonderen Bedürfnissen der Landschaft und ihrer
naturgegebenen Wirtschaftsweise heraus, künden nicht nur Dichter von
versunkener Geschlossenheit fest gefügter Lebenskreise, wie ein Klaus
Groth das Dithmarschen seiner Jugendzeit, ein Timm Kröger und Johann
Hinrich Fehrs das alte Holstentum, ein Theodor Storm friesisches Wesen in
unvergänglichen Kunstwerken verkörpert haben, wie andrerseits in
Friedrich Hebbels
weltweiter Dichtung zwar nicht die Schicksale aber die
Wesenszüge seiner Vorfahren ins Typische gesteigerte Gestalt gewannen.
[30]
Frauen von der Insel Föhr.
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Wer sehenden Auges Schleswig-Holsteins Gaue durchwandert, erkennt auch
heute noch in seinen Bewohnern die Nachkommen der Ahnen, die das Land
besiedelten und ihre körperlichen und geistigen Eigenschaften bis auf
späte Geschlechter vererbten; unauslöschbar ist die Macht des Blutes.
Und unausweichlich die Formkraft der Landschaft und ihrer Lebensbedingungen:
andere Menschen prägt das liebliche Ostholstein mit seinen prangenden
oder verträumten Seen und den grünen Domen seiner
mächtigen Buchenwälder als die karge Geest und das erst unter
harten Mühen urbar gemachte Moor, andere das reiche Angler Land mit
den knickumhegten Feldern, die nur von freier Höhe aus einen Umblick
gestatten, als die endlos bis zum Meeresdeich sich dehnende Marsch, deren
Gräben und Grachten zwischen den einzelnen Fennen nirgends den
Fernblick hemmen. In ihre Form zwingt sie sogar den Fremdling, der sich ihr zu
eigen gibt, bald genug in Gehaben und Sprache, ehe noch Blutmischung [31] seine Nachkommen den
Alteingesessenen angleicht. Und das nicht nur auf einsamem Hof oder im
geselligen Dorf, wo der Mensch in unmittelbarer Berührung mit der Natur
sein Tagwerk vollbringt, sondern merklich auch im bunten Kranz der
Städte, die aus dieser Landschaft herauswuchsen, hier sich eng an
Förde-, See- und Flußufer schmiegen, dort hinterm Deich dem
ewigen Westwind trotzen. So sorgt das vielgestaltige Land selbst, wenn man ihm
nur Zeit läßt, für die Bewahrung der Mannigfaltigkeit auch
seiner Bewohner: ein Geben und Nehmen hin und her zwischen Natur und
Mensch, die sich verstehen. Die Hetze einer zum Selbstzweck gewordenen
Verkehrs- und Arbeitstechnik kommt wohl einmal über selbstverschuldeten
Leerlauf zum Stillstand; die festgefahrene Verwaltungsmechanik unserer Tage
wird notgedrungen wieder dem natürlichen Leben nachgehen und Raum
geben müssen. Ungestörter können dann wieder die ewigen
Kräfte der Landschaft, des Blutes, der Geschichte weben und formen an
Schleswig-Holsteins Volkstum, an Schleswig-Holsteins Seele. Wenn sie wieder
unser Leben bestimmen, wird es um
Schleswig-Holsteins deutsche Aufgabe gut bestellt sein.
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