Nordwestdeutschland - Georg Hoeltje
Marsch und Meer
"Weset averst Deders des Wordes unde nene Hörers alleene, Dar Gy
Jüw sülvest mede bedregen. Jacobus I. 21. 22." Diese Worte stehen
am Lettner der Großen Kirche in Emden.
Weißgekalkt sind die Wände, durch farblose Scheiben fällt das
Sonnenlicht und malt funkelnde gelbe Kringel auf die dicken weißen
Säulen; dunkelbraun ist das hölzerne Gewölbe, dunkel die
Kanzel und die Bänke. Ein holländischer Maler könnte das
Ganze gemalt haben, wie ein holländischer Bibelübersetzer den
Spruch geschrieben haben könnte.
Holländisch nüchtern ist der große eiserne Ofen. Ein Altar
fehlt. Die Orgel ist prächtig. Wie eine große für
Versammlungen hergerichtete bürgerliche Stube mutet die Halle uns an;
Sonne, Musik und eine gute Predigt gehören hinein.
Holländisch ist auch das Rathaus von Emden. Handwerker aus Groningen,
Utrecht und Amsterdam haben es 1576 errichtet; aus den Sandsteinbrüchen
von Gildehaus bei Bentheim stammen die Steine.
Holländisch ist das Bild vieler kleiner Straßen, holländisch ist
das Wasser in der Stadt. Und Alleen aus ganz schlanken hochstämmigen
Bäumen mit breiten saftigen Kronen strahlen von der Stadt nach allen
Seiten aus, ganz wie man sie auf Bildern der Niederländischen Maler des
späten 17. Jahrhunderts gemalt sieht.
Ratsdelft und Falderndelft heißen heute noch die ehemaligen Hafenbecken
im Innern der Stadt. Aber im Gegensatz zu den Grachten von Amsterdam sind die
Wasserflächen, in denen sich das Emdener Rathaus spiegelt, still geworden
in unseren Tagen. Der neue Hafen liegt weit draußen. Und zwischen ihm
und der alten Stadt liegen nicht nur einige Kilometer Marschenland, sondern auch
der Dreißigjährige Krieg und der Niedergang der deutschen
Städte, der den Niederlanden erspart geblieben ist. Erst in dieser Epoche
des Verfalls ist es dazu gekommen, daß man die Hoffnung aufgab, den Lauf
der Ems, der vorher unmittelbar an der Stadt vorübergeführt hatte,
wieder zu ihren Mauern zurück zu zwingen.
Die Städte jenseits des Dollart und ganz besonders jenseits der Zuider See
haben gerade in diesen Zeiten durch ihre erfolgreichen
Unabhängigkeitskämpfe [165] und ihren
unerschütterlichen Glauben an die eigene Bestimmung das moralische und
wirtschaftliche Kapital erworben, auf dem ihr unaufhaltsames Wachstum bis in
unsere Tage aufbaut. Emdens Schicksal aber östlich des Dollart ist das
typisch deutsche Städteschicksal gewesen. Denn Ostfriesland ist deutsch,
Westfriesland holländisch.
Ostfriesland ist preußisch. Und zumal Emdens neuer Hafen ist eine Tat
Preußens, des Staates, der im 19. Jahrhundert das Ruhrgebiet zu seiner
Waffenschmiede und Kohlengrube macht und nicht auf den Zugang und Ausgang
durch die holländische Rheinmündung angewiesen sein will.
1899 wird der Dortmund-Ems-Kanal fertig. Emden wird Spezialhafen für
Erz (80 Prozent des Empfangs) und Kohle (90 Prozent des Versandes). Ein
zielbewußter Staat baut auf, was die ermattende Stadt hat verfallen lassen,
und zeichnet in riesigen Ladebrücken, Docks und Schleusen die ersten
Konturen zu einem neuen Bilde Ostfrieslands.
In der großen Kirche in Emden steht das prächtige Renaissancegrab
des Grafen Enno von Cirksena. Seine Familie hätte Emden vor dem
Niedergang bewahren können, wenn der Plan, der Graf Edzard I. am
Anfang des 16. Jahrhunderts entwarf, der Plan eines friesischen Staates, der alle
Friesen von der Zuider See zunächst bis zur Jade umfaßt hätte,
zur Ausführung gekommen wäre. Aber Westfriesland nahmen ihm
1524 die Habsburger fort, und das Jeverland an der Jade vermachte die letzte
Herrscherin, Fräulein Maria, nur damit es nicht an die Cirksenas fiele, 1575
den Oldenburgern.
In Jever steht das zweite prunkvolle Renaissancegrab zwischen Ems und
Jade, das Gab, das Fräulein Maria ihrem Vater Edo Wiemken hat setzen
lassen. Das deutsche Schicksal territorialer Zerstückelung im 16. und
17. Jahrhundert kann einen recht nachdenklich stimmen, wenn man, vor dem einen
der beiden Grabmäler stehend, sich des anderen ebenso prächtigen
Rivalen erinnert.
Den Anschluß ans größere Ganze, den Ostfriesland innerhalb
der friesischen Stammeswelt nicht hatte finden können, erzwingt
schließlich, halb mit Gewalt, halb auch erwartet, ein innerdeutscher Staat,
der Vollstrecker deutscher Einigung: Preußen. Im Jahre 1682 besetzt der
große Kurfürst zunächst die Stammburg der Cirksenas,
Greetfiel, dann die Stadt Emden, stationiert hier die brandenburgische Flotte und
verlegt seine afrikanische Handelskompagnie gleichfalls hierher. Von hier aus hat
Preußen-Brandenburg Deutschlands erste koloniale Eroberung regiert,
Groß-Friedrichsburg an der Guineaküste. Die zwei letzten Kanonen
von der Befestigung der kleinen 1717 wieder an die
Niederländisch-Westindische Compagnie verkauften Kolonie stehen heute
im Emden vor der Wache am Rathaus.
1744 nach dem Aussterben der Cirksenas fällt ganz Ostfriesland an
Preußen. Nur ein kleines Intermezzo noch: im Wiener Kongreß
versteht es England, das 1807 von Napoleon an Holland gegebene, 1810
annektierte und nun befreite Ostfriesland seinem Königreich Hannover
anzugliedern. Aber 1866 gewinnt Preußen das eine mit dem anderen, und
der Weg zur Gegenwart ist frei.
[166] Daß die Wege
Ostfrieslands und der Niederlande so auseinandergegangen sind, hängt
letztes Endes auch davon ab, daß in den Niederlanden der friesische Stamm
sehr stark mit fränkischen Elementen durchsetzt ist. Der
Städtereichtum der Niederlande ist nicht ohne diese fränkischen
Kräfte zu denken. Der echte Friese wohnt nicht in Städten. Aber als
der niederländische Unabhängigkeitskampf einen festen
Zusammenschluß erforderte, da hat der republikanische Geist dieser
Städte es allen Friesen sicher erleichtert sich einzuordnen, während
im städtearmen Ostfriesland die Cirksenas in endlosen blutigen
Kämpfen sich gegen die anderen Häuptlinge durchsetzen
mußten und schließlich erlahmten, bevor das Werk der Einigung zu
Ende gebracht war.
"Ich sucht der Freiheit" wirft Nadler den Friesen vor. Und der
"Upstaalboom" bei Aurich, der alte Thingplatz der Friesen, auf dem heute eine
Pyramide aus Findlingsblöcken die ersten Opfer verherrlicht, die
Ostfriesland in den Freiheitskriegen von 1812 und 1814 der Idee eines
großen Staates gebracht hat, wird viele Szenen erlebt haben, in denen diese
Ichsucht der Freiheit größere Gedanken zu Fall gebracht hat.
Die glücklicheren Niederlande haben rechtzeitig dieser Freiheit das ihr
gehörende Feld, die Ebene geistiger Kämpfe zugewiesen. Für
die Kirche hatte das eine Blüte der Sekten zur Folge, von der
natürlich auch das deutsche Friesland nicht unbeeinflußt blieb, so
daß zum Beispiel eine kleine Stadt wie Leer neben den Kirchen der
staatlichen Bekenntnisse noch eine ganze Reihe Sektenkirchen aufweist.
Dieser Zerfall der Gemeinschaftsbildung in kleinste Kreise hat seine tiefen
Gründe. Und einige von ihnen senken ihre Wurzeln bis in die
Landschaft.
Es war vielleicht zugespitzt, wenn wir schon das norddeutsche Tiefland
gestaltlos genannt haben. Die Marsch aber ist es wirklich. Tischflach ist
ihr Boden, wo die Geest doch immer noch wellenförmige, wenn auch
eintönige und in sich zurückfallende Bewegung aufweist. Das
spülende, anschwemmende, Sinkstoffe ablagernde Alluvium hat noch
weniger Formkraft gehabt als das Diluvium mit seinen Anhäufungen
groberen Materials.
Der Horizont ist ringsum wirklich eine gerade Linie, und wenn der Saum des
Marschenlandes von der Emsmündung bis zur dänischen Grenze
auch niemals breiter ist als höchstens 20 Kilometer, so hat man doch, auf
seinen Wiesen stehend, das Gefühl, in der Mitte einer kreisrunden,
unendlich sich ausdehnenden Fläche zu verharren, ein verschwindender
Punkt im nie verstummenden Sausen des Windes.
Aus der Landschaft kommt nirgends Grenze oder Form. Die erste feste Form
trägt der Mensch der Vorzeit selbst in sie hinein, als er den ersten
Hügel für sein Wohnhaus errichtet, die erste Wurt oder Warft oder
Warf, den ersten Sockel, der nun zum festen, unverrückbaren Mittelpunkt
wird, von dem aus er die Welt sieht.
Die Küste hat damals von neuem sich zu senken begonnen; und die Friesen,
deren erste um 500 vor Christo sich in der Marsch niedergelassen hatten, standen
vor der Wahl, ihre Wohnsitze aufzugeben oder zu schützen. Der Boden, auf
dem [167] sie wohnten, war
fruchtbar, denn das zurückweichende Meer hatte in der vorausgegangenen
Periode der Küstenhebung (etwa von 1000 vor Christo bis um Christi
Geburt) seine Sinkstoffe abgelagert. Als es nun wieder vordringt, beginnen die
Friesen den Kampf, der heute noch dauert.
Zunächst in Westfriesland, wo wir das Kerngebiet des Friesentums
erkennen dürfen, und dann nach Osten sich ausdehnend, wo sie zwischen
dem 6. und 12. Jahrhundert Nordfriesland erreichen, verbreiten sie überall
die Technik des Wurtenbaus, die wir schon bei Plinius im 1. Jahrhundert
nach Christo beschrieben finden, und nach der noch heute das Land Wursten
zwischen Cuxhaven und Bremerhaven heißt (das Land der Wurtsassen).
Heute noch stehen viele einzelne Höfe und ganze Dörfer auf solchen
Wurten, die im Laufe der Jahrhunderte im Maße, wie die Küste sank
und die Fluten stiegen, stets erhöht werden mußten und heute um oft
10 Meter die Fläche der Marsch überragen. Besonders schöne
Dorf-Wurten zeigt die Landschaft Krumme-Hörn nordwestlich von
Emden.
Der Mittelpunkt solcher Wurt ist stets ein Wasserloch, eine Zisterne, in der das
Regenwasser aufgefangen und bewahrt wird: das Fäting, Fething oder die
Dobbe. Denn alles andere Wasser ist Salz- und Brackwasser und
ungenießbar für Mensch und Vieh.
Noch heute, wo das Land ringsum gesichert und befestigt ist und alle Gefahr
draußen an den Deichen bekämpft wird, hat solche Wurt, solcher
Wallring, um den sich geduckt die Häuser scharen, oder in dessen Innerem
sie sitzen, etwas unheimlich Isoliertes, etwas, das erinnert an die vielen
frühgeschichtlichen Nächte, in denen die Flut ringsum die Erde
bedeckte und der Hügel mit den wenigen Häusern als einziger Ort
des Lebens über der Wasserküste schwebte.
Auf den 21 Halligen, kleinen Stücken Marschlandes, die als Reste
größerer Marschinseln vor der Westküste
Schleswig-Holsteins liegen, kann man heute noch solchen Eindruck haben. Kein
Deich trennt die Wiesenfläche, die kaum eineinhalb Meter aus dem Wasser
ragt, von der Flut. Rotbraun ist das schwer trocknende Salzheu, das rings zu
Haufen getragen ist; zu oft stand das Meerwasser im Winter über dem Gras.
Oft schäumt das Wasser bis an den Fuß der Wurten, und wochenlang
kann man nicht zum festen Land hinüber. Für diese Zeiten steht ein
Sarg auf dem Dachboden; man ist allein und muß auf alles gerüstet
sein.
"Als läge er in einem Kraterkreise auf einem Mond: ist jeder Hof
umdämmt", sagt Rilke
wunderbar und schließt die Worte an, die tief
ins Wesen dieser Lage leuchten: "Nah ist nur Innres, alles andre fern!"
Wie Kindern in den ersten Jahren ihres Lebens sich Dinge und Ereignisse
eingraben, die sie vergessen mögen, aber die ihr Wesen unbewußt
bestimmen, so kann es auch bei einem Volk nicht anders sein. Jahrhunderte, auf
solchen Wurten zugebracht, gehen nicht spurlos vorüber. "Nah ist nur
Innres, alles andre fern", wie eine Formel steht das über allem
Friesentum.
Und zu der schweren schwarzen Erde, über die die Füße
stapfen, kommt solches innerliche Schwergewicht. "Swaar Land, swaare
Lüe - Licht, Land, lichte Lüe", heißt es. Was Wunder
also, daß der Friese anders aussieht als der [168] Niedersachse von der
Geest. Nicht hager und schlank, sondern eher etwas dick, untersetzt und mit
rundem rötlichem Gesicht. "Lütjet un pol (rundlich) is beter als
groot, wit (dünn) un hol" sagt er selbstbewußt von sich und seiner
Art. Und die Art zu denken ist diesem Äußeren ähnlich.
Ja, bis in den Stil der Häuser ist solches Grundgesetz gültig. Das
Niedersachsenhaus langgestreckt mit dem tiefen Durchblick von der
Eingangstür bis zum Herd - das Friesenhaus
zunächst in zwei Teile zerlegt; im Wirtschaftsteil sodann die Mitte, der
Gulf, besetzt mit der hochgetürmten Last des Heus (Heuberg oder Hauberg
heißt dies Haus auf quadratischem Grundriß in Eiderstedt), und im
Vierkant geordnet die Ständer um diesen gewichtigen und für den
Viehzüchter schließlich auch wichtigsten Inhalt des Hauses. Die
Dreschdiele und Wagendurchfahrt dementsprechend an die eine Langseite
gerückt, die Viehställe an die andere, die Pferdeställe an die
eine Schmalseite und schließlich das Wohnhaus, an der anderen
Schmalseite, als ein Teil für sich dem Wirtschaftsgebäude
angefügt.
Stets in rotem Backstein oder Klinker ausgeführt leuchten diese schweren
Marschenhöfe im satten Grün der Wiesen, daß es eine Pracht
ist. Ein Graben ringsum, in dem die Feuchtigkeit sich sammelt, ein Stück
Garten, heute auch Ziergarten, stets dabei. Aber damit sind wir schon in einer
Welt, die in ihrer wohlhabenden Ruhe von der Zeit der Wurten, die um 1500
endet, durch Jahrhunderte getrennt ist.
Dazwischen liegt der große entscheidende Schritt: der Übergang vom
Wurtenbau zum Deichbau.
Es ist möglich, daß eine ganze Zeit lang ein natürlicher
Schutzwall vor dem Marschenlande gelegen hat in Gestalt einer geschlossenen
Reihe sandiger Dünen, von denen die Reste heute die sieben ostfriesischen
Inseln wären. Irgendwann einmal hätte das Meer dann diesen Wall
an einer und bald an vielen Stellen durchbrochen und nun begonnen, das
Marschenland dahinter fortzuspülen. Das Wattenmeer entstand. Der weiche
Schwemmboden leistet der Flut keinen Widerstand. Wo im 14. Jahrhundert der
friesische Hafenort Wenningstedt auf Sylt in den Wogen begraben wurde, da zeigt
das Meer heute bei Ebbe schon 8 - 10 Meter Tiefe.
Zwischen den ostfriesischen Inseln spült die Ebbe und die Flut in tiefen
Seegats aus und ein, steigt in den schmaler werdenden Baljen hinauf, füllt
alle Verästelungen der Priele aus und überschwemmt das schlickige,
schwarzgraue Watt, in dem Bohrwürmer und Taschenkrebse, Muscheln und
Algen auf das rückkehrende Wasser warten. Früher fing man hier die
Garneele mit dem Käscher, jetzt werden 600 000 Zentner
jährlich mit dem Grundschleppnetz im tieferen Wasser am Rande der
Watten gefangen.
Die Rinnen und Furchen im Watt verschieben sich dauernd; es verschieben sich
die Stellen an der Küste, an denen die Flut Schlick ansetzt, Land anwachsen
läßt, und an denen sie es abbricht. Auch die Sandinseln wandern. Der
Nordwestwind treibt sie nach Osten. Von Wangeroog wissen wir, daß es
sich in 350 Jahren um dreieinhalb Kilometer ostwärts verlagert hat. Die
Westküste [169] von Sylt soll in
vorpreußischer Zeit jährlich etwa um
3 - 3½ Meter zurückgewichen sein. Durchschnittlich 6
Meter im Jahr brechen die Stürme von den Marschkanten der Halligen ab.
Die katastrophenartigen Einbrüche des Meeres, bei denen der Dollart und
der Jadebusen entstand und 1634 die große Insel Nordstrand in Pellworm
und das heutige Nordstrand auseinandergerissen wurde und Rungholt 1362
zugrunde ging, sind bekannt. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die
furchtbare Gewalt und Plötzlichkeit dieser "Manndränken", denen
stets tausende von Menschen zum Opfer fielen, schon zusammenhängt mit
der Stauung der Flut und der Steigerung der Gezeitenhöhe durch die
großen Eindeichungen, die um 1000 nach Christo beginnen.
Der alte Kampf des Friesen gegen das Meer trat damit in ein neues,
schärferes und härteres Stadium. Die Führung
übernahmen wieder die westlichen Provinzen. Niederländer sind es,
denen der Erzbischof Friedrich von Bremen im Jahre 1106 einen Teil der
Wesermarsch, zu der das Hollerland –
Holländer‑Land – gehört, zur Eindeichung und Besiedlung
überläßt.
Um diese Zeit beginnen ähnliche Siedler in allen Teilen der Marsch, in den
Seemarschen und den Flußmarschen, die sich soweit erstrecken, wie in den
Flüssen die Auswirkung der Gezeiten sich verfolgen läßt, mit
der Eindeichung des Landes. Und allmählich wird so aus einem Gebiet, das
bis dahin nur an einzelnen Punkten, den Wurten, bewohnt und von ihnen aus
genutzt, mehr einem System von Stützpunkten in der Wildnis als einem
Lande glich, ein Territorium mit festen Grenzen wie andere auch.
Es bilden sich die Vierlande bei Hamburg, das Alteland gegenüber, das
Land Kehdingen elbabwärts, das Land Hadeln, das Land Wursten, das
Vieland bei Bremen, das Land Stedingen, das Stadland weserabwärts,
Butjadingen (buten der Jade - ursprünglich zum Gau
Rüstringen gehörig, wonach noch heute die Schwesterstadt
Wilhelmshavens ihren Namen führt), das Jeverland und Ostfriesland.
Erst die Eindeichung ermöglicht auf dem nun vor
Salzwasser-Überflutung geschützten Lande auch den Ackerbau. An
den Deich angelehnt entsteht jetzt die Reihensiedlung des Marschhufendorfs. Der
fette Marschboden, der bis zu 10 Prozent Kalk enthält, trägt Weizen,
Gerste und Hülsenfrüchte. Obst und Gemüse wird in den
Vierlanden und dem Altenlande gebaut.
Die reiche Marsch tritt in immer schrofferen Gegensatz zur Geest mit
ihrem ewigen Roggen und heute ihren Kartoffeln. Schon die straffe Mathematik
der Deiche und Entwässerungsgräben verrät viel von dem
selbstsicher rücksichtslosen Geist der friesischen Kolonisten. Aber noch
mehr verrät uns der Kampf, der nun zwischen alter sächsischer Geest
und junger friesischer Marsch entbrennt.
Was die Ostlandfahrer im Slawenland suchten, neues Land unter neuem freierem
Recht außerhalb der alten Stammesherzogtümer, das glaubten die
Friesen zu gewinnen, indem sie neues Land dem Meere abrangen. Aber sie
wurden enttäuscht. Sie schufen, wie v. Hofmann es formuliert, nur
"Pertinenzen des Altlandes". Und der Bischof von Bremen und der Herzog
von [170] Sachsen kamen
darüber mit ihnen in Streit. Ein Volk, das mit Trotz noch in
nachmittelalterlicher Zeit als Hausinschrift im Rheiderland den Satz anbringt:
"Deugt (Tugend) maakt den edelmann, en der weg darto is vor allen standen
open", ein solches Volk kämpft um seine Freiheit bis aufs
äußerste.
In furchtbaren Kämpfen werden die Stedinger im 13. Jahrhundert,
die letzten Butjadinger um 1500 und die Ditmarscher in der Mitte des 16. Jahrhunderts niedergerungen. Zugleich wird das Friesenland sächsisch
durchsetzt. Das geht soweit, daß die Sprache des tapferen Volkes fast
völlig verschwindet. Nur die Namen bleiben. Die Mädchen
heißen: Meina, Feka, Habbine, Gelkea, die Jungen: Reno, Memerich, Uwe,
Debelt. Und die Hausform bleibt. Ja, weil sie praktisch ist, breitet sie sich sogar
aus, dringt bis zum Hümmling vor, ersteigt ihn und besetzt auf jeden Fall
im Süden von Ostfriesland die Gebiete, in die von Emden her die
Fehnkultur der Moore vorgedrungen ist.
Nur zwischen Weser und Elbe, in einem Land, wo die Geest so mächtig ist,
daß sie bis ans Meer dringt und sogar auf ein paar Kilometer den Deich
entbehrlich macht, ist das sächsische Haus auch in der Marsch das
herrschende. Genau so wie in Dithmarschen, wo seit Beginn der christlichen
Zeitrechnung Sachsen sitzen. Aber auch hier, mit dem satten Rot des Backsteins
und dem Reth auf den Dächern setzt sich ein etwas anderes Aussehen
durch, als wir es vom Heidehaus der Niedersachsen gewohnt sind.
[154]
Ostfriesische Küche.
|
Es ist das Gleiche wie bei den Kirchen. Ob in romanischer oder gotischer
Formensprache erbaut, eine Kirche der Marsch oder noch des Geestrandes, in
Pilsum, Marienhafe oder Sillenstede, sieht anders aus als eine entsprechende
Architektur des Binnenlandes. Die Türme klotzig, quadratisch, oben flach
abgeschlossen, erinnern an Holland und England. Ein Kircheninneres wie das von
Sillenstede (Dorfkirche nicht weit von Jever) sucht überhaupt
seinesgleichen: ein großer einfacher rechteckiger Raum mit flacher Decke,
die Wände weiß gekalkt, die Decke blau mit roten Balken, der
Ziegelfußboden dunkelrot (Caput mortuum), die Stufen zum Chor
und zum Altar schwarz; und in diesem scheunenartig nüchternen und dabei
farbig feierlichen Raum zwei Bankreihen voll bäuerisch derber
Drechselarbeit, direkte Fortsetzung romanischer Traditionen in der Kunst des
Volkes, zart blau gestrichen wie die Gitter der Tabernakel und der Deckel des
Taufsteins.
Reste der friesischen Sprache und Tracht haben sich auf die Inseln gerettet. Dort
in der Abgeschlossenheit der sandigen Welt haben sie länger aushalten
können. Aber seit etwas mehr als einem Jahrhundert dringt das moderne
Leben auch auf die Inseln. Ein Auricher Arzt hat um 1800 die Errichtung eines
Seebades in Norderney angeregt; bald folgen die anderen Inseln nach.
Norderney behält die Tradition für sich. Mit einem
Hallen-Wellenbad und einem zum Kurhaus umgebauten Schloß, das
ehemals der Hannoverschen Königsfamilie gehörte, ist es das
deutsche Seebad mit internationalem Ruf geworden.
Hier führen Friesen und Friesinnen in alten Trachten alte Tänze vor.
Die berühmten Trachten der nordfriesischen Inseln sind nur etwa 80 Jahre
alt. Aber der prächtige Silberschmuck, den die Mädchen auf
Föhr und die Hallig- [171] friesinnen tragen, geht
auf alte Neigungen zurück: die Vorliebe für gediegenen
Metallzierrat. Noch heute trägt die Westfriesin in Holland das "Ohreisen",
den letzten Überrest der Goldblechhauben.
Diese Liebe zum kostbaren Metall paßt zu dem Volk, das seinerzeit die
berühmtesten Seeräuber hervorgebracht hat. Die unbedingte Freiheit
als Ziel läßt jedes Mittel berechtigt erscheinen. Der Held des Liliencronschen
Gedichtes, Pidder Lüng, der den Amtmann von Tondern
erschlägt, kommt schließlich als Seeräuber an den Galgen.
Störtebecker und die Vitalienbrüder sind populäre
Figuren, die allerdings auch wieder in die große Geschichte
hinüberführen. Denn den Vitalienbrüdern Zuflucht und
Unterstützung gaben die Häuptlinge von Ostfriesland
hauptsächlich deshalb, weil die Vitalienbrüder geschworene Feinde
der Hansa waren. Und die Hansa war sächsisch. Emdens Stellung zur
Hansa ist keine eindeutige. Die niederländischen Städte dagegen
waren im 15. Jahrhundert die erbittertsten Gegner der Hansa.
Die alte Front zwischen Sachsen und Friesen ist heute noch abzulesen an der
Reihe der Städte am Rande der Geest. Leer, Emden, Norden, Esens,
Wittmund, Jever, Varel, Oldenburg, Delmenhorst, Stade, Horneburg, Buxtehude,
Harburg, Winsen, alle sind von der Geest aus gegründet. Am Geestrand
entlang, von Stadt zu Stadt, laufen in Ostfriesland die Haupteisenbahnstrecken.
Nur von Norden, Esens und Jever aus gehen Stichbahnen ans Meer nach
Norddeich, Bensersiel und Karolinensiel für den Bäderverkehr.
Die meisten Geestrandstädte waren ursprünglich wohl Häfen,
wie z. B. Stade und Buxtehude. Von Esens dürfen
wir sogar annehmen, daß es römische Flottenstation gewesen ist; und
in Jever sind 1850 5000 römische Münzen gefunden. Später,
als das Meer oder der Strom ausgedeicht war, und nur ein schmaler Kanal oder
kleiner Fluß die Stadt noch mit dem Wasser in Verbindung setzte, ging die
Bedeutung des Hafens zurück, dafür übernahmen die
Plätze die Rolle einer Zwingburg gegenüber dem Marschenlande.
Nur Aurich liegt in der Mitte der Geest.
Von einer dieser Geestrandstädte ging dann auch die einzige erfolgreiche
Staatenbildung im friesischen Raum aus, von Oldenburg. Von der
Weser, in die die Hunte etwa 25 Kilometer unterhalb Oldenburg mündet,
reicht die Marsch in einem langen Zipfel am Fluß entlang bis zur Stadt.
Oldenburg, "burg" wie Harburg und Horneburg, sitzt am Kopf dieses
Marschstreifens. Nach Westen hin beherrscht es andererseits die Wasserscheide
zur Leda und Jümme, die bei Leer in die Ems fließen. Es wendet sich
also gegen Bremen und die Friesen zugleich und ist wohl nicht ohne Beteiligung
des Sachsenherzogs Heinrich des Löwen groß geworden.
Als die Stedinger unterworfen werden, erhält Oldenburg seinen Anteil an
der Beute und beherrscht ihn von Delmenhorst aus. Die Butjadinger unterwirft es
selbst, und das Jeverland fällt ihm als Erbschaft zu. Schließlich greift
es bei der Säkularisation zu und erweitert sein Gebiet südlich bis
zum Dümmer. Ein Gebilde sächsischer Staatskunst, das sich nun
vom Mittelgebirge bis zum Meer quer durch Norddeutschland legt.
[172] Im kleinen das gleiche,
was Preußen vorschwebte, als es zu seinen Besitzungen an Ruhr,
Niederrhein und Ems Ostfriesland erwarb. Und in Oldenburg sucht Preußen
dann in hannoverscher Zeit auch einen Ersatz für den Verlust Emdens. Es
kauft 1853 ein Stück Land am Jadebusen und legt dort seit 1858 seinen
Kriegshafen Wilhelmshaven an. Übrigens gehört zu diesem
bis 1936 die gegenüberliegende Spitze der Jadeeinfahrt, ein paar
Quadratmeter Land mit preußischen Grenzpfählen und einer kleinen
Befestigung am Rande des oldenburgischen Butjadingens.
[156]
Unsere Wehrmacht. Panzerschiff Deutschland.
|
Bei der Überfahrt von dort her zeichnen sich schon lange, bevor man
landet, über dem flachen dünnen Strich Land die Umrisse eines
riesigen Kranes, Werftgebäude, Masten, Schornsteine und
Ölbehälter ab. 239 Hektar Hafenbecken mit militärischem
Betrieb; ein silbergrauer Kreuzer im Ausrüstungshafen; hohe
Backsteinmauern sperren ringsherum den großen Komplex des Werfthafens
ab, aus dem das Getöse der Niethämmer dringt.
Eine Stadt, die ganz das Produkt dieser Hafenanlage ist, mit Rüstringen auf
oldenburgischem Boden zusammen die stille Zeit des Verfalls nach 1919
durchgemacht hat und mit ihm gemeinsam jetzt aufs neue lebendig wird. Beide
zusammen sind mit fast 80 000 Einwohnern größer als
Oldenburg und überhaupt die größte Stadt zwischen Weser und
Ems.
Wir stehen hier, wie in Emden, an einem der Punkte, von denen aus
Preußen die Umrisse eines neuen Friesenlandes entwirft. Irgendwie
hängt das alles selbstverständlich mit der See zusammen, auf die von
den Halligen, von den Marschen, von den Dünen die Jungens sich schon in
der Kindheit hinaussehnen: der Kriegshafen hier, der Erzhafen an der Ems, die
Funkstation mit ihren riesigen Gittermasten in Norddeich und schließlich
der Fels im Meer, im Herzen der deutschen Bucht, Helgoland, der
nördlichste Kopf, den das alte deutsche Mittelgebirge durch die Decke der
Eiszeit und das Meer hindurch erhebt.
[155]
Insel Helgoland. Brandung an den Felsen.
|
Und wie der Kalkberg von Lüneburg, die Dammer- und Stemmerberge und
der Bentheimer Felsen im Brennpunkt geschichtlicher Kräfte gestanden
haben, so ist auch dieser rote Sandsteinfelsen, seit wir ihn 1890 von den
Engländern gegen Sansibar und Witu wieder eingetauscht haben, der
wichtigste Stützpunkt unserer Flotte geworden, und hat sich als solcher im
Weltkrieg bewährt.
Einen halben Quadratkilometer groß zeigt die dreieckige steinerne Plattform
mit ihrer Spitze nach Nordwesten. Schutzmauern halten die Wellen zurück,
die in den letzten 1000 Jahren, seit Adam von Bremen "das Hillige Land"
beschrieben hat, seinen Umfang beträchtlich verkleinert haben. Im
windgeschützten Osten hat sich ein Unterland gebildet, und in einigem
Abstand von der Insel ragt noch eine Sanddüne auf, deren
Muschelkalk- und Kreide-Untergrund der letzte Rest eines einst zur Insel
gehörigen Felsens ist. Die Gesteinsschichten der Insel fallen nach
Nordosten ein. Zwischen ihr und dem schleswig-holsteinischen Wattenmeer
erreicht der Meeresboden noch einmal Tiefen von
17 - 18 Metern.
[157]
Nordsee. Abendstimmung.
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[111]
Der Reichsarbeitsdienst.
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Der phantastische Traum, das feste Land mit Deichen und Buhnen so weit von
den Küsten und Inseln aus vorwärts zu schieben, daß die Elbe
und Weser, Jade und Eider bei Helgoland in die Nordsee münden sollen,
wird wohl [173] ein Traum bleiben.
Aber bis zu einer Linie, die von Sylt aus zur Spitze von Eiderstedt und von dort
etwa auf Cuxhaven zu liefe, wäre die Landgewinnung wohl möglich.
Und zu solchem gewaltigen Unternehmen alle Kräfte gesammelt zu haben,
wird das dauernde Verdienst Preußens um dieses Friesenland bleiben.
Nach 1894 wurde der Gedanke des Hallig-Schutzes in die Tat
umgesetzt. Die Halligen sollen die Stützpunkte werden im Kampf um das
Land, ihre Kanten befestigt und durch Dämme mit dem Lande verbunden.
Der Arbeitsdienst wird der Träger dieser gewaltigen Aufgabe sein.
Das Meer ist seit langer Zeit bereit zu helfen. Schon seit 1854 schüttet es an
der Elbemündung die Insel Trieschen auf, die
1922-1925 eingedeicht werden konnte; Franzosensand ist soeben
zum Adolf-Hitler-Koog umgewandelt worden, und in erreichbarer Ferne zeigt
sich das Bild eines größeren Marschenlandes, eines
Friesen- und Küstenlandes, verwirklicht aber nicht mehr aus den
Kräften des Stammes allein, sondern aus dem festen Willen und der Einheit
des ganzen Volkes.
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