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Nordwestdeutschland - Georg Hoeltje

Geest, Heide und Moor

Der Mittellandkanal zeichnet von der nordwestlichen Spitze des Teutoburger Waldes aus nach Osten an den Punkten Minden, Hannover, Braunschweig und Oebisfelde vorbei einen Strich in das Kartenbild der nordwestdeutschen Landschaft, der höchst anschaulich das Aufhören des Mittelgebirges und den Beginn des Tieflandes unterstreicht.

Das Tiefland, aufgeschüttet von den Gletschern der Eiszeit, ist weniger fruchtbar als der Nordrand des Mittelgebirges, über dem wie ein Schleier der Lößstaub liegt. Die Lößgrenze verstärkt die Scheide zwischen beiden Landschaftsräumen noch einmal; und wie von selbst sinkt jenseits dieser Linie die Bevölkerungsdichte auf 60, unter 60, ja auf 30 und ganz im Inneren des Tieflandes auf unter 30 pro Quadratkilometer.

Die Fläche, die ein Bauer braucht, um existieren zu können, wird auf diesem Boden immer größer. Die Ernteerträge sind niedrig; und dazu ist oft ein großer Teil des Bodens Ödland. Die Kulturfläche schrumpft an den ungünstigsten Stellen bis auf ein Zehntel des ganzen Besitzes zusammen.

Ödland sind Heide und Moor. Am Ende des 18. Jahrhunderts bedeckten sie fast lückenlos die ganze Geest, das Tiefland zwischen der Elbe und der holländischen Grenze, und griffen wie mit Fingern, soweit die eiszeitliche Aufschüttung reicht, bis an die Küste, die sie bei Esens in Ostfriesland beinahe und westlich von Cuxhaven tatsächlich erreichten.

Entgegengesetzt griff das Marschenland der Küste mit fruchtbarem Schwemmboden entlang den großen Flüssen, Ems, Weser und Elbe tief in die Geest hinein. Als unwirtliche und unfruchtbare Barriere lag das Geestland damals zwischen dem dichtbesiedelten Rand des Mittelgebirges und dem fruchtbaren Saum der Küste.

In den letzten hundert Jahren hat sich dieses Bild ein wenig verwischt. Trockenlegung der Moore und Rodung der Heideflächen haben dem Ackerbau und der Forstwirtschaft große Flächen erschlossen, Heide und Moor sind zu Inseln geworden.

[147] Auf allen Seiten bricht die Flut der Kultivierung Stücke ihrer alten Einsamkeit ab. Sie bestimmen noch immer das Bild dieser Landschaft, aber nur an zwei, drei Stellen beherrschen sie es noch wie früher: als Moor im Emsland und als Heide auf dem Hümmling und dem Landrücken im Regierungsbezirk Lüneburg zwischen Aller und Elbe, der heute noch den Namen Lüneburger Heide führt.

Man würde sich eine völlig falsche Vorstellung vom norddeutschen Tiefland machen, wollte man glauben, es sei flach. Dieser Landrücken zwischen Aller und Elbe, den im Osten eine an der Ilmenau entlang leicht gekrümmte Linie zwischen den Punkten Harburg, Lüneburg, Uelzen und Gifhorn umschreibt und der nach Nordwesten hin zwischen Bremen und Stade allmählich auf die 10 Meter-Höhenlinie heruntersinkt, erreicht im Wilseder Berg und den Schwarzen Bergen bei Harburg Höhen von 169 und 155 Metern. Dabei greifen Täler, deren Sohlen unter hundert Meter Höhe liegen, weit in sein Inneres hinein.

Aber bei aller reichen Bewegung dieser Landschaft ist der Eindruck nicht etwa bergig. Alle Umrißlinien sind flach gekrümmt. Man spürt im Profil dieser Hügel den Schutt, aus dem sie aufgehäuft sind. Nicht aus festem Stein haben Wasser und Kälte diese Formen genagt; eine vom Wetter der Jahrtausende verwaschene Moränenlandschaft liegt vor uns.

Wie Wellen schieben sich die weichen Wölbungen bis zum Horizont hintereinander. Oft tritt weißer Sand an die Oberfläche, Dünen treibt der Wind an manchen Stellen vor sich her.

Was hier leben will, muß anspruchslos und zäh sein; die Heide, die ihre Blätter vor dem austrocknenden Wind zu nadelartigen Gebilden zusammenkrümmt, die Birke, die am Saum der langen sandigen Straßen steht, der Ginster, der mit seinen gelben Blüten als erster im Mai den düster schweigenden Frühling der Heide unterbricht, und der Wacholder, "der zäheste unter den Nadelhölzern unserer Heimat und vielleicht der zäheste Baum unseres Kontinents" (Koelsch), der so unendlich langsam wächst, daß er hunderte von Jahren zu seinem Leben braucht. Manchen, der heute noch sein blaugrünes Stachelfell wie ein bepelzter alter Kobold in der Sonne glitzern läßt, haben vielleicht schon die Musketen der Dänen im Dreißigjährigen Kriege gestreift; und es ist nicht unmöglich, daß mittelalterliche Lanzen seine Nadeln berührt haben und die Hufe eines Pferdes, das Heinrich den Löwen von Braunschweig gegen Bardowiek getragen hat.

Es ist, als ob in dieser Luft und diesem Raum nur Fuß fassen könnte, was langsam wächst. Seit die Welt das schnelle Wachstumstempo der Geschichte angeschlagen hat, ist die Heide immer mehr verlassen worden. Aber in jener Zeit, die wir die Vorgeschichte nennen, als noch nicht aus begrifflichen Staatenwesen, sondern aus Stamm und Familie wie aus dunklen Quellen alle Bewegung sich sickernd ergoß und in unendlich langsamem Kreislauf wieder in diesen Schoß zurückfloß, in jener unbewußten, wenig künstlichen Zeit war die Heide das Land, in dem die Menschen nordischer Rasse die riesigen Steingräber errichteten, die heute noch bei Fallingbostel und an manchem anderen Ort eine dunkle Ahnung erwecken von der tiefen Verwandtschaft dieser vorzeitlich gewaltigen und stum- [148] men Geschöpfe mit der trägen, eintönigen und unendlichen Hügellandschaft, die sie getragen hat.

Die ungeformten Bausteine dieser Hünengräber, die großen Findlingsblöcke lagen in den Moränen bereit, aus deren Sand der Wind oder die suchende Hand des Jägers auch die erste Waffe, den Feuersteinkeil, wühlte.

In diesen Gräbern sind keine Götterbilder gefunden worden, weder in menschlicher noch in tierischer Gestalt, wohl aber Töpfe und Schalen mit spröde geometrischen Rißornamenten. Ihr nüchterner Ernst hebt sich auffallend ab von dem anmutigen, gestaltreichen Formenspiel einer südlicheren Gruppe steinzeitlicher Gefäße, der sogenannten Bandkeramik, die in Deutschland von der Donau bis zum Harz reicht und deren Töpfereien mit phantasievollen, oft sogar farbigen Spiral- und Schleifenformen verziert sind, die ebenso lustig wie oberflächlich über die konstruktiven Einteilungen des Gefäßkörpers hinweghuschen.

Lüneburger Heide. Ruhestätte Hermann Löns.
[132]      Lüneburger Heide. Ruhestätte Hermann Löns.
Diese beiden Gruppen trennt wieder der Mittelgebirgsrand etwa auf der Höhe Hannover - Braunschweig. Die ersten ernsten und kargen Gefäße finden sich nördlich dieser Linie und ausnahmslos beherrschen sie dann die Heide im Norden der Aller.

Es ist ein ernstes und karges Land. Und von den Pflanzen, die zur Eiszeit hier ihr Leben fristeten, haben einige ihren Standort bis heute nicht verlassen. Die arktische oder subarktische Zwergbirke findet man in Deutschland einzig in der Lüneburger Heide.

Es sind genügsame Tiere, die hier ihr Fortkommen finden. Vielleicht schon Genosse des Steinzeitmenschen zieht die Heidschnucke heute noch über die gleichen Hügel und zerkaut das zähe Kraut, trägt drei Pfund grober Wolle im Jahr und 20 - 25 Pfund Fleisch im Herbst, wenn sie fett ist. In einfachen giebeligen Ställen verbringt die Herde die Nacht.

Der erste Schafstall wird nicht anders ausgesehen haben als die, die heute noch stehen: Ein Fundament aus Findlingsblöcken, zwei Längsreihen hölzerner Ständer, das lange Satteldach tief heruntergezogen, so daß es oft den Erdboden berührt oder nur eine niedrige Wand stehen läßt. Mit Heideplaggen bedeckt oder, wo Roggen gebaut wird, mit Stroh, war es Stall und wurde zum Haus, in dessen mächtige giebelseitige Einfahrt die Erntewagen fahren konnten, während das Vieh im schmalen Raum zwischen Ständer und Außenwand seinen Platz hatte.

Der Mensch richtete sich am hinteren Ende der großen Halle seinen Schlaf- und Herdraum her. Hier wuchsen später dann Kammern und Stuben und schließlich auch abgetrennte Küchen- und Vorratsräume - aber ursprünglich ging das alles: Wohnen, Kochen, Schlafen und Essen im gleichen Raume vor sich, in dem das Vieh mit den Ketten klirrte und stampfte. Und heute noch findet man hier und da in einem alten Bauernhaus eine Diele, an deren Ende der Kessel über dem offenen Herdfeuer hängt.

Wo Schnucken sind, sind auch Bienen. Die Schnucke hält den Wald durch ihren Weidegang nieder. Wo kein Wald wächst, breitet die zähe Heide sich aus, die Weide der Bienen. Der Imker mit Pfeife und Drahtkorb gehört wie der Schäfer zum Bilde der Heide.

Bienenzucht im Papenburger Moor, Emsland.
[135]      Bienenzucht im Papenburger Moor (Emsland).

[149] Aber beide, Schnucken und Bienen sind in stetem Rückgang begriffen. Die ökonomische Denkart unserer Tage - ein Symptom der wachsenden Schnelligkeit, der Schnelligkeit des Geldumlaufs - hat an die Stelle der Heide den Wald und zwar den wirtschaftlich gepflegten Forst gesetzt.

Im gleichen Jahrhundert, in dem die Heide literarisch und malerisch von Annette von Droste-Hülshoff und dem Hamburger Maler Morgenstern, von Liliencron und Löns entdeckt und dem Bewußtsein der Menschen nahegebracht worden ist, hat sie in der Forstwirtschaft ihren schärfsten Feind gefunden. Seit 1768 die erste Kiefer gepflanzt worden ist, hat ein immer mehr um sich greifender nützlicher Wald schon etwa 33 Prozent des Bodens erobert. Die Heide nimmt heute nur noch etwa ein Viertel der Gesamtfläche ein, und es gibt keinen Punkt mehr, der weiter als drei Kilometer vom nächsten Walde entfernt wäre.

Die Schafzucht hat von 1873 - 1928 im Regierungsbezirk Lüneburg einen Rückgang um 93 Prozent ihrer Tiere zu verzeichnen.

Lüneburger Heide. Totengrund bei Wilsede.
[132]      Lüneburger Heide. Totengrund bei Wilsede.

BdM. auf Fahrt.
[133]      BdM. auf Fahrt.
Der Heide und ihrer alten Welt werden jetzt schon Reservate bereitet. Das bekannteste ist der Naturschutzpark um den Wilseder Berg mit der phantastischen Wacholder-Szenerie des Totengrundes.

Die wirtschaftliche Geschäftigkeit, die Wald und Schweinezucht auf Kosten von Heide, Bienen und Schafen vorwärts trägt, stammt von außen. Sie stammt von dorther, wohin beim Beginn der geschichtlichen Zeit Leben und Wirken aus dem Inneren der Heide fortgeströmt waren.

Das geschichtliche Leben hat sich immer nur an den Rändern der Heide abgespielt. Die Städte, die in ihrem Bereich einen alten Namen oder heute noch einen gewissen Ruf ihr eigen nennen, liegen am Rande: Lüneburg, Uelzen, Celle und Verden, mit Einwohnerzahlen über 10 000 und sogar 20 000. Dort sind auch die berühmten Stätten kirchlichen Gemeinschaftslebens zu finden, die mittelalterlichen Damenklöster, in denen vom 13. bis zum 16. Jahrhundert jene einzigartigen Schätze von Bildteppichen entstanden, die wir heute in Lüne bei Lüneburg und Wienhausen bei Celle bewundern. Im Inneren der Heide sind Fallingbostel, Soltau, Walsrode und Hermannsburg heute nur Sammelpunkte des Fremdenverkehrs und haben sich als Städte nie von dem umgebenden Lande gelöst.

Schräg an dem einen der drei Heideränder fließt die Elbe vorbei. Wo sie ihn zum ersten Mal berührt, quert spätestens seit karolingischer Zeit ein wichtiger Übergang den Strom. Bei Artlenburg ist Karl der Große um 800 über die Elbe gegangen, gegenüber von Artlenburg ist noch der Rest einer karolingischen Befestigung zu erkennen, und dort beginnt auch der Limes Saxoniae, der über Mölln nach Kiel führt und Holstein gegen die Slawen abgrenzte.

Als einer der drei Handelsplätze zwischen Slawen und Germanen richtete Karl der Große den Ort Bardowiek ein, etwas abseits der Elbe, an der Ilmenau. Der Name erhält die Erinnerung an die Langobarden, die hier einmal saßen. Heute eine dörfliche Siedlung, hatte sich der Platz im frühen Mittelalter zum mächtigsten Kaufmannsort zwischen Weser und Elbe entwickelt, als Heinrich der Löwe ihn 1189 zerstörte zugunsten seines Lüneburg, das nun wieder etwas weiter landeinwärts angelegt worden war.

[150] Hier hatte der Markgraf der Ottonen, Hermann Billung, seine Burg auf dem Kalkberg, einem der wenigen durch die eiszeitliche Decke ragenden Teile des Grundgebirges. Die wirtschaftliche Bedeutung einer mächtigen Solequelle, die heute noch etwa 25 000 Kubikmeter Sole im Jahre spendet, kam hinzu und ließ am Fuße der Burg eine Bürgersiedlung entstehen, die zu einer der mächtigsten Hansastädte heranwuchs, schon im 14. Jahrhundert eine direkte Schiffsverbindung nach Lübeck durch eigenen Kanal (Vorläufer des heutigen Elbe-Trave-Kanals) sich schaffen konnte und mit drei gewaltigen Backsteinkirchen und zahllosen gut erhaltenen Straßenfluchten alter Bürgerhäuser ein prachtvolles Beispiel einer Handelsstadt des Mittelalters darstellt.

Als Handelsstadt ist sie ein Randgebilde der Heide. Ihre Kraft kommt von der Elbe und dem Elbübergang, dessen Stelle so eindeutig vorgezeichnet ist, daß heute wieder eine Eisenbahnbrücke, die einzige auf einer Breite von etwa 100 Kilometern, hier bei Lauenburg den Fluß überschreitet.

Ganz ebenso ein Randgebilde ist Uelzen und zwar im militärischen Sinne. Die Slawen, die nach dem Abzug der Elbgermanen, zu denen die Langobarden gehörten, von Osten her in die freigewordenen Gebiete einströmten und um 600 die Elbe überschritten, wurden, nachdem die zeitweilig von Karl d. Gr. zur Grenze gemachte Elbe nach seinem Tode wieder aufgegeben worden war, schließlich auf der Ilmenau-Linie zum Stehen gebracht.

Das ist die Tat der Ottonen und ihrer Markgrafen, der Billunger, gewesen. Und unter den Burgen, die dieser Widerstandslinie ihre Stärke verliehen, Bienenbüttel, Bevensen, Bodenteich und Gifhorn, ist Uelzen eine der wichtigsten gewesen und hat sich dank der fruchtbaren Umgebung, die im Uelzener Becken den Anbau von Weizen und Zuckerrüben und eine für die Heide auffällige Bevölkerungsdichte von 60 Menschen auf dem Quadratkilometer ermöglicht, eine sichere landstädtisch ruhige Existenz bis in unsere Tage bewahrt.

Das Land östlich von jener Linie, zwischen Ilmenau und Elbe, in dem die Slawen sich so lange haben halten können, heißt heute noch das hannoversche Wendland und weist in Ortsnamen wie Lüchow, Gartow, Wustrow, in der verbreiteten Dorfform des Rundlings und im Körperbautyp der Bevölkerung den Einfluß slawischer Elemente deutlich auf.

Am südlichen Rande der Heide liegt Celle. Um 1290 neben einem älteren Dorf planmäßig angelegt, erlebt es seinen großen Aufschwung im 14. Jahrhundert, als die welfischen Herzöge ihre Residenzstadt Lüneburg, wo die Städter 1371 die Burg auf dem Kalkberg zerstören, verlassen und die kleine Allerstadt zur Residenz erheben. Heute noch schwebt um die einfachen Häuserzeilen mit ihren bäuerlich breiten Fachwerkgiebeln ein Hauch von höfischer Kultur, als deren Mittelpunkt das Renaissanceschloß erscheint und deren späte Ausstrahlungen sich in manchem Bau des 18. Jahrhunderts und des Klassizismus zeigen.

Diese Celler Linie kommt schließlich in Hannover zur Regierung. Celle blickt nach Süden, und jedenfalls ist es als Stadt und Residenz nur am Rand der Heide zu denken. Ganz ebenso wie im Westen Verden als Stadt und ehe- [151] maliges Bistum den Rand der stillen Heide und ihren Austritt ins fruchtbare Flußland der Weser markiert.

Der Ort, nicht weit entfernt vom Zusammenfluß von Aller und Weser, besitzt eine natürliche Wichtigkeit. Die Aller-Schiffahrt, heute ohne Bedeutung, war im Mittelalter eine der wichtigsten Verbindungen zwischen Braunschweig und Bremen. Nicht zufällig wird das schauerliche Strafgericht der Sachsenkriege gerade hier vollstreckt worden sein. Der Domturm von Verden steht wie ein Signal vor der westlichen Spitze der Heide. Aber die Heide liegt schon im Rücken der Stadt, und die breite und lichte Halle des Domes blickt nach Westfalen weseraufwärts.

Vom Domturm geht der Blick über weite grüne Wiesen. Dreißig Kilometer stromab liegt Bremen. Weserdampfer und Schleppzüge fahren auf Minden zu. D-Züge verbinden Bremen und Hannover. Zwischen der Heide im Osten und ländlicher Einsamkeit im Westen greift an der Tieflandweser entlang von der See her ein schmaler verkehrsreicher Korridor nach Süden und gabelt sich bei Nienburg, um das Steinhuder Meer zu umgehen, das mit Moor und Heide am nördlichen Ufer sich dicht an den großen Verkehrsweg des Mittelgebirgesrandes, an die Köln - Berliner Strecke und den Mittellandkanal heranschiebt.

Eine größere Moorfläche hat in der Geschichte stets die Kräfte konzentriert, nämlich auf die Stellen, wo sie umgangen werden konnte und wo man andererseits diese Moorpässe sperren konnte. Um das Steinhuder Meer drängen sich heute noch Schaumburg-Lippe und die Provinzen Hannover und Westfalen.

Eine ganz entsprechende Situation ist im Westen der Tieflandweser um den Dümmer entstanden. Sein flaches Becken, durch das die Hunte fließt, ist, wie das Steinhuder Meer von den Rehburger Bergen auf einer Seite, gleich auf zwei Seiten: im Südosten von den Stemmerbergen und im Nordwesten von den Dammerbergen flankiert. Diese, bis zu 180 und 145 Meter Höhe aus einer durchschnittlich 50 Meter hohen Umgebung sich erhebend, haben im Zusammenhang mit den anschließenden Moorflächen hier eine Art natürliches Sperrfort geschaffen, dessen sich im Mittelalter alle benachbarten Territorien zu bemächtigen trachteten.

Aus dem unentschiedenen Kampf gingen schließlich hervor: Oldenburg, das von Norden her die Dammerberge besetzt hält, das Bistum Minden (heute die Provinz Westfalen) mit den Stemmerbergen, und zwischen ihnen von Südwesten und Nordosten her das Bistum Osnabrück und die Grafschaft Diepholz den Dümmer erreichend. Da diese schließlich an Hannover fielen, fädelt sich heute die Provinz Hannover durch den Dümmer-Paß zwischen Oldenburg und Westfalen wie durch ein Nadelöhr.

Welche Bedeutung diese Naturfestung auch im Zusammenhang mit dem Mittelgebirgsrand hat, zeigt sich darin, daß ein Forscher wie Theodor Mommsen den Ort der Varusschlacht in dem schmalen Durchgang zwischen den Dümmer-Mooren und dem Wiehengebirge im Süden gesucht hat. Die Moorbrücken, die Mommsen mit in seine Beweisführung hereinzog, kilometerlange Bohlwege in den Mooren an der Hunte, scheinen allerdings nicht römischen, sondern ger- [152] manischen Ursprungs und überhaupt wohl nicht zu militärischen Zwecken hergestellt gewesen zu sein.

Noch einmal ragt im nordwestdeutschen Flachland ein Stück des alten verschütteten Gebirges durch die eiszeitliche Decke: wie eine Klippe erhebt sich der Sandstein des Burgberges von Bentheim jenseits der Ems aus der moorigen, waldigen flachen Umgebung. Ruisdael hat ihn oft gemalt. Niederländisch war lange Zeit hier Kirchen- und Schulsprache. Aber trotzdem gehört der Fels, und nicht nur er selbst, heute zu Deutschland. Denn an den ausgezeichneten Punkt hat sich natürlich eine Dynastie von Territorialherren geheftet. Durch Heirat immer enger verknüpft mit innerdeutschen Herrschaften, Steinfurt im Münsterlande, Tecklenburg am Teutoburger Wald und Rheda an der oberen Ems, greift die ehemalige Grafschaft Bentheim heute entlang dem Laufe der Vechte weit in niederländisches Gebiet und überschreitet jene natürliche Grenze, die links der Ems durch die von Norden nach Süden verlaufende Linie des Bourtanger Moors vorgezeichnet ist.

Das Geestland zwischen Weser und Ems ist kultivierter als zwischen Weser und Elbe. Zwar dehnen sich zwischen Weser und Hunte, zwischen Nienburg und Diepholz noch breite Moore, aber die Heide ist fast völlig verdrängt. Wald in kleinen Fetzen, nicht in so breiten Flächen wie zwischen Aller und Elbe, und vor allem Wiesen und Felder sind an ihre Stelle getreten. Schweinezucht, die sich um Hoya verdichtet, läßt hier eine fast westfälische Fleischverarbeitung entstehen.

Gewerbe und Industrie, Handel und Verkehr treten in den Berufen der Bevölkerung ganz zurück. Die kleinen Städte sind nur vom Lande her zu verstehen. Man kann am Sonntag über die Straßen fahren, ohne anderen Fuhrwerken als Pferdewagen und Fahrrädern schwarzgekleideter Kirchgänger zu begegnen. Der bunte Ausflugsverkehr größerer Städte fehlt völlig.

Ein karthographischer Überblick über die wissenschaftlichen Büchereien Niedersachsens weist zwischen Holland und Weser, zwischen Osnabrück und Oldenburg einen restlos leeren Fleck auf. Alle moderne Wirtschaftlichkeit und Aktivität hebt nicht das Stigma der Abgeschlossenheit und Formlosigkeit auf, das der Schuttboden dieser Landschaft und die Grenzenlosigkeit ihrer Horizonte allen Äußerungen des Lebens langsam aufgeprägt hat.

Wie geringfügig der Unterschied zwischen der geschichtslosen Heide im Osten und dieser westlichen Welt im Grunde ist, kann ein Blick vom Hümmling lehren. Bis zum Horizont dehnen sich im Norden graue und gelbbraune, baum-, haus- und weglose Moore. Ein Urstromtal der Eiszeit zog hier vorbei, ein anderes im Westen, in seinem Bett die Ems, und ein drittes im Süden, wo jetzt die Hase fließt.

Zwischen ihnen erhebt sich der sandige Rücken des Hümmlings bis zu 72 Meter Höhe. Eintönige Heideflächen wechseln mit jungen Kiefernforsten, die Bevölkerungsdichte stand 1925 auf 26 Einwohnern pro Quadratkilometer, weist aber in der rein katholischen Gegend einen sehr hohen Geburtenüberschuß von über 12 Prozent (in den Jahren 1925-1933) auf.

[153-160=Fotos] [161] Dieses ganze Geestgebiet bis zur Hunte, an der die Grenze zwischen katholischer und evangelischer Geestbevölkerung liegt, gehörte bis zur Säkularisierung zum Bistum Münster. Bei Sögel steht noch ein Jagdschloß des Kurfürsten Clemens August, Clemenswerth, um 1740 von seinem Münstertaner Hofarchitekten Joh. Konr. Schlaun errichtet. Aber dieses Rokoko-Kleinod liegt im Kranze seiner zierlichen Pavillons, die ihre Namen nach den geistlichen Besitzungen des Herren, Paderborn, Osnabrück, Köln, Hildesheim, Münster führen, seltsam verschlossen und fast verwunschen in dem armen und kargen Land.

Der Kreis Hümmling weist als einziges größeres Gebiet in Nordwestdeutschland einen allgemeinen Anbau von Buchweizen auf, jener mehligen Knöterichpflanze, deren bucheckerartigen Früchte dem Menschen als Grütze, deren Blätter dem Vieh als Futter und deren rötlich-weiße Blüten den Bienen als Weide dienen, und die, was das wichtigste ist, auch auf moorigem und sandigem Boden gut gedeiht.

Dabei ist dieses arme Land wie die Lüneburger Heide ein altes, uraltes vorgeschichtliches Land. Reste der ältesten germanischen Siedlungsformen, das echte Haufendorf, dessen Höfe locker und unregelmäßig in Eichenkämpen zerstreut lagen, will man im Grundriß seiner Ortschaften wieder entdeckt haben.

Wäre solche Zähigkeit des Festhaltens, solche Langsamkeit des Wandels ein Wunder in einem Lande, in dem noch vor 50 Jahren die uralte "Heidewirtschaft" des ewigen Roggenbaus üblich war? In einem Land, in dessen Mooreinsamkeit im Saterland, gleich nördlich vom Hümmling, noch in unseren Tagen Menschen eine Sprache sprechen, die sonst auf dem Festland innerhalb der deutschen Grenzen ausgestorben ist, das Friesische?

Der Moorgürtel am Nordrand der Geest hat strenger noch als die unwirtliche Heide absperrend gewirkt. Wenige Korridore führen von der Küste zum Mittelgebirge. Einer von diesen folgt der Ems.

Kein Eindruck kann dies Wissen stärker vermitteln, als ein Weg am Abend vom Hümmling herunter zur Ems. Mit der Kleinbahn von Sögel nach Lathen. Weite Strecken Ödland, schweigende Forsten, weidende Schafherden, stille Dörfer im Licht der untergehenden Sonne. Und dann im Dunkel das Tal. Unruhige Geschäftigkeit der Bahnstation. So klein sie ist, Eilzüge halten hier. Signale glühen. Autobusse queren die Gleise. Und unter den Eisenbrücken der Ems ziehen mit grünen und roten Laternen die Schleppdampfer rauschend ihre Spur, Kähne voll Erz, Kähne voll Kohle, Kähne voll Eisen und voll Getreide von Emden zum Ruhrgebiet, von Dortmund zur Nordsee führend. Meppen und Lingen heißen die nächsten Stationen landeinwärts, kleine Städte, aber alle am Fluß oder am Kanal und an der Bahn, alle am schmalen Band des Verkehrs, das die schweigende Welt von Heide und Moor rasch durchschneidet.

Ein schmales Band - und jenseits dehnt sich schon wieder das Moor, das Bourtanger, das unser Emsland von der holländischen Provinz Westfriesland trennt. Dort in dem Zipfel Land, den die Zuider See von den südlichen Niederlanden abschnürt, hat sich friesische Mundart und Tracht besonders erhalten.

[162] Westfriedland gehört ursprünglich zu Ostfriesland. Beide haben ihr Schwergewicht in der Marsch. Und gegen beide wird die von Sachsen bewohnte Geest abgeriegelt durch den Moorgürtel, der längs der Ems mit dem Bourtanger Moor beginnt und bei Papenburg rechtwinklig nach Osten umknickt, die Ems überschreitet und nördlich vom Hümmling bis herüber zur Hunte (bei Oldenburg) sich ausdehnt.

Aber Ostfriesland ist nicht nur Marschland, wenn auch sein Schwergewicht in der Marsch ruht. Die Marschen sind nur ein um einen breiten Geestsporn gelegtes Band. Und dieser Geestsporn ist auf seinem Rücken ebenfalls mit Mooren bedeckt. Und ebenso trägt die andere Geestzunge, die zwischen Weser und Elbe bis nach Duhnen bei Cuxhaven reicht, Moorbedeckung, besonders nordwestlich der Linie Bremen - Stade in den Tälern von Hamme und Oste. Dort liegt im Teufelsmoor das Dorf Worpswede.

Von Worpswede geht die literarische und vor allem die malerische Entdeckung der Moorlandschaft aus, in deren Geschichte die Namen Mackensen und Modersohn dieselbe Bedeutung haben, wie Liliencron und Löns für die Heide. Es ist merkwürdig, daß diese beiden Entdeckungen gewissermaßen nur die Kehrseite des endgültigen Todesurteils für das Entdeckte sind. Die gleiche Zeit um die Jahrhundertwende, die den jungen Malern die Augen öffnet für die stillen Schönheiten schwarzer Kanäle, silberner Birken und brauner Torfkähne, hält auch schon die gewaltigen Maschinen bereit, die den im Torf der Moore enthaltenen Heizwert im großen und restlos gewinnen und ausbeuten sollen.

Noch ist die Generation nicht gestorben, für die jene ersten Bilder des Teufelsmoores eine neue Welt bedeuteten, da stehen schon Kraftwerke im Moor. Wiesmoor in Ostfriesland verbraucht jedes Jahr 100 000 Tonnen Torf. 700 000 Menschen erhalten elektrisches Licht aus seinen Dynamos. In seinen Treibhäusern werden Tomaten, Gurken und Spargel gezogen. Wenn der Brennstoffverbrauch gleich bleibt, wird es noch zwei Jahrhunderte dauern, bis die dort vorhandenen 12 000 Hektar abgetorft sind. Aber sie werden einmal abgetorft sein. Das Schicksal des Moores ist heute schon entschieden: es wird verschwinden.

Es ist noch gar nicht lange her, daß der Mensch den Kampf gegen das Moor systematisch begonnen hat. Papenburg und Großefehn in Ostfriesland sind die ältesten Moorkolonien in Deutschland. Sie stammen aus den dreißiger Jahren des 17. Jahrhunderts. Und es ist merkwürdig zu sehen, wie dieses sonderbare Element den Menschen, der damals noch weit vom konsequenten Rationalismus des letzten Jahrhunderts entfernt war, schon zu Anlagen zwang, die das Denken unserer Zeit vorweg zu nehmen scheinen.

Eine Siedlung, die aussieht wie ein leibgewordener Fertigungsvorgang: ein Entwässerungsgraben, schnurgerade vom festen Land ins Moor hineingetrieben ist gleichzeitig Kanal, transportiert Baumaterialien hinein und Torf heraus; im gleichen Tempo mit ihm wachsen rechts und links die Kolonistenstellen, Häuser in Reih und Glied, die jeweils jüngsten immer am unfertigsten und behelfsmäßigsten, die älteren schon solider. Ein Bild, wie wir es aus den zusehends [163] wachsenden Straßen unserer Großstädte gewohnt sind, damals entstanden aus dem Zwang der harten, nur mit höchster Anspannung aller gemeinsamen Intelligenz und Disziplin zu bewältigenden Arbeit.

Alter Moorkanal bei Papenburg, Emsland.
[136]      Alter Moorkanal bei Papenburg (Emsland).

Papenburg ist das Musterbeispiel einer solchen Siedlung. Dreihundert Jahre alt, dehnt es sich heute immer längs dem Kanal über 10 Kilometer weit. Die Backstein-Fahrwege rechts und links bleiben sich gleich von einem bis zum anderen Ende, aber die Häuser ändern sich. Am Anfang nahe der Ems Fabriken: ein Metallhüttenwerk, eine Maschinenfabrik, eine Schiffswerft, eine Glashütte und vor allem Torffabriken, deren Torfmull und Torfstreu zu Schiff verschickt wird. 3 343 Schiffe mit über 100 000 Tonnen Ladung in einem Jahre (1929) im Papenburger Hafen! 10 000 Einwohner brauchen Kirche, Rathaus, Schulen - die Häuser haben alle den gleichen Typ, eine für Kolonisten verkleinerte Nachbildung des friesischen Bauernhauses. Mehrere Stunden kann man zu Fuß immer geradeaus durch diese merkwürdige Backsteinstadt wandern. Dann werden die Reihen der Häuser auf einmal lockerer; unbebaute Plätze werden sichtbar oder kleine Katen. Das Moor tritt dichter heran an die Straße. Wir sind draußen, sind am Ende der Stadt, am vorläufigen Ende; denn im nächsten Jahr ist sie ja schon weiter gewachsen.

Papenburg, Ems.
[134]      Papenburg (Ems). Der Ort erstreckt sich 7 Kilometer lang zu beiden Seiten des Kanals.

Jetzt hat sie es schon nicht mehr weit bis zum Sandrand des Hümmling. Aber wenn sie ihn erreicht haben wird, ist es nicht aus; dann wird es in die Breite weitergehen. Schon jetzt zweigen Querkanäle von dem Hauptkanal an vielen Stellen ab und kurz vor seinem Ende kreuzt ihn seit zwei Jahren der Küstenkanal, der seit 1927 im Bau und 1935 vollendet worden ist und die Ems mit der Unterweser verbindet. Er folgt dem Urstromtal und mündet bei Oldenburg in die Hunte. Von ihm aus wird die Erschließung der Moore weitergetrieben.

Seit 1750 sind auch die Moore zwischen Bremen und Stade in Kultur. Etwa 40 Dörfer sind in den hundert Jahren, in denen die hannoversche Regierung die Arbeiten leitete, neu angelegt. In unserer Zeit wird schließlich auch der Arbeitsdienst für diese Aufgaben eingesetzt, so vor allem im Bourtanger Moor.

Und man kann es beinahe errechnen, wann der letzte wuchernde Fleck Torfmoos erstickt sein, wann die verborgene Insel des Saterlandes aufgebrochen sein wird und aller Sumpf zwischen den Rändern heidiger Hügel und den fetten Wiesen der Marsch in gut entwässertes, rationell gedüngtes und bebautes Land verwandelt sein wird, auf dem in neuen regelmäßigen Häusern viele neue Menschen leben und sich ernähren werden.

Aber vielleicht ist dieses Zukunftsbild, dessen Konturen sich in Papenburg und vielen anderen Moorkolonien heute schon abzeichnen, gar nicht so sehr dem Bilde fremd, das diese Landschaft heute noch bietet. Jedenfalls, was ihr Verhältnis zum Menschen angeht. "Wir sind gewohnt mit Gestalten zu rechnen - und diese Landschaft hat keine Gestalt." (Rilke.)

Dieselben Menschen, die in ihrer großen schlichten Vorzeit keine Gestaltenwelt in der Kunst kannten und keine Gestaltenwelt in der Religion, dieselben Menschen sind es, die heute mit eiserner Nüchternheit, mit einer hartnäckigen Geradlinig- [164] keit, die diese entsetzlich gestaltlose Landschaft in ihnen hatte heranwachsen lassen, Kanäle und Straßen nach der Schnur ziehen und an ihnen siedeln.

Es sind dieselben Menschen, die jahrhundertelang, eine ganze reiche Geschichte lang wie ohne eigenen Willen dahin zu leben schienen und die in der aufrüttelnden Geschäftigkeit unserer Tage auf einmal beginnen, einen fast mathematischen Willen dieser Landschaft aufzuzwingen, in der sie bisher sich zu verlieren schienen.

"Wir sind gewohnt aus Bewegungen auf Willensakte zu schließen - aber diese Landschaft bewegt sich nicht, sie scheint ohne eigenen Willen."

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Deutsches Land: Das Buch von Volk und Heimat, die Kapitel "Oldenburg" und "Hannover".

Das Buch der deutschen Heimat
Hermann Goern, Georg Hoeltje, Eberhard Lutze und Max Wocke