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Hannover
Konrad Tegtmeier

Im bunten Wechsel von weiter Heide und geheimnisvollem Moor, sanftgewölbten Bergen und stromzerschnittenen Tälern, satter Marsch und magerer Geest zeigt sich - angeweht vom Hauch des Meeres, dem sich die Ebene nordwärts ergibt - das vielgestaltige Gesicht der Landschaft um Hannover.

Das Meer kommt und geht in Ebbe und Flut und umspült die vom Möwenschrei gellende Küste, der sich die Ostfriesischen Inseln breit vorlagern, als wären sie Wächter über die heimtückisch lauernde Nordsee. Mehr als einmal machte sich die Sturmflut plötzlich auf, duchbrach die festgefügten Dämme und Deiche und überschwemmte weite Strecken des Landes, daß von den Dörfern nur noch die Kirchturmspitze aus dem Wasser ragte, wie ein Finger gegen den Himmel zeigt.

Die Ufer der Elbe und Weser, der Ems und der Aller säumen fette Marschen; auf üppigen Wiesen tummelt sich das Weidevieh, und in den alten geschnitzten Eichentruhen der stattlichen Bauernhöfe sammelt sich in blanken harten Talern der Segen Gottes. Geringschätzig sieht der Marschbauer in der wohligen Rundung seiner leiblichen Fülle auf das saure Tagewerk des Nachbarn auf der hohen Geest herab, der die Kartoffeln in den Sand steckt und Buchweizen sät, weil der Boden sonst zu nichts taugen will. Sorgenvoll hofft er vom einen Jahr zum andern auf eine gute Ernte, während der Wind die dürftigen Haferbreiten wie das spärliche Haar eines alten Mannes kämmt.

Trauriges Nebelland und voller Spuk und Geheimnisse ist das düstere Moor, über das im Sonnenschein frühjahrs lustiges Wollgras und im Herbst der Altweibersommer weht, während der aufgeschichtete Backtorf an der Luft trocknet und Jan von' Moor mit dem Leiterwagen zur Stadt klappert, um die Herrschaften mit Brennmaterial zu versorgen. Fäulnis und Krankheit lauern im Moore, und der Tod geht um wie der Hochzeitsbitter vor der Vermählung, um das Dorf zum Gästeschmaus zu laden.

Unendlich dehnt sich die braune Heide von Harburg und Lüneburg bis Hannover und Celle und in der Quere von Salzwedel bis Verden an der Aller. Aber zur Blütezeit sind alle Weiten in einen rosaroten Schimmer getaucht, und der weiße Sand der breiten, ausgefahrenen Heidewege um den Wilseder Berg gleißt in der Sonne mit den lichten Birkenstämmen um die Wette. Wie ein tiefer Orgelakkord erfüllt das Immengesumm die Luft, und der alte Schäfer träumt am Hünenstein im Schatten breiten Wacholders einer süßen Honigernte entgegen, während sich seine Schnucken im dichten Gestrüpp von Heidekraut und Ginster verlieren.

Aus dem Naturschutzpark am Wilseder Berg: Wacholder in der Heide.
[77]      Aus dem Naturschutzpark am Wilseder Berg.
Wacholder in der Heide.

Ein breiter, fruchtbarer Landstrich, der von Braunschweig und Hildesheim über Hannover und Bückeburg bis Minden und Osnabrück reicht, bildet die Grenzscheide zwischen der nördlichen Ebene und dem hannoverschen Bergland, das sich südwärts bis Göttingen und [75] Cassel erstreckt. Fetter Kleiboden treibt mannshohes Korn, Zuckerrüben und Weizen gedeihen, und mit Wohlgefallen geht der Kalenberger Bauer durch seine Felder und Wiesen, freut sich an Kohl und Klee und überschlägt den Ernteertrag des Obstes, das in den großen eingeheckten Grasgärten hinter den Höfen reift.

Die lieblichen Täler der Leine und Weser trennen den Oberharz vom Solling und spalten das vielgestaltige Wesergebirge, das sich bis zum Teutoburger Wald, der Grenzmauer Westfalens, erstreckt. Mit einem fröhlichen "Glück auf!" und dem Wunsche "Es geh Euch wohl!" grüßt der Oberharzer Bergmann seinen Kameraden, der mit seinem trüben Grubenlicht in den Stollen das Erz sucht, und in den Wäldern, wo im Angesicht des Brockens die Tanne grünt, dröhnt der Axtschlag und rauchen die Meiler, die der russige Köhler betreut. Groß ist der Reichtum des benachbarten Sollings an Laub- und Nadelwald. Die Waldleute suchen Beeren, schlagen hundertjährige Eichen, hüten Ziegen und Kühe oder sprengen in den Sandsteinbrüchen die Felswand, daß der Donner in allen Tälern grummelt und die Mägde beim Heuen ängstlich nach dem Wetter sehen. In den Glashütten taucht der Bläser sein Pfeifenrohr in den heißen, flüssigen Glasbrei und pustet allerlei [76] merkwürdige Gebilde, aus denen sich Flaschen und Gläser formen, als bliesen Kinder Seifenblasen in den Wind.

Westwärts neigen sich die geschwungenen Linien der Bergrücken zur Weser hinab, die von Hannoversch-Münden, wo Fulda und Werra sich zum vielbesungenen deutschen Strom vereinen, der bis zur Porta Westfalica in zahllosen Windungen das Gebirge durchbricht und Burgen und Klöster, das Kreuz von Dreizehnlinden, Bodenwerder, die Heimat des Lügenbarons Münchhausen, und die alte Rattenfängerstadt Hameln grüßt. Geschichte und Sage winden dem Strom einen bunten Ruhmeskranz, und seit langem wetteifert das Wesertal mit den Ostfriesischen Inseln, der Lüneburger Heide und dem Harz um Lob und Preis landschaftlicher Schönheit.

Eine merkwürdige Mannigfaltigkeit geographischer Einzelzüge hat Hannoverland aufzuweisen; so vielgestaltig aber das Landschaftsbild ist, so einheitlich und geschlossen ist das Volkstum dieses niedersächsischen Kernlandes, das der weiter gezogene niederdeutsche Kulturkreis umschließt. Niedersachsen und Westfalen, Friesland und Mecklenburg, das meerumschlungene Schleswig-Holstein, und einbegriffen auch die Hansestädte, Lippe-Detmold, Braunschweig und Oldenburg: das ganze weite Niederdeutschland eint ein stark ausgeprägtes Volkstum, das sich in Sitte und Brauch, Volksglaube, Geschichte, Kunst und Kultur äußert. Und allen ist eine gemeinsame Sprache eigen, das Plattdeutsch, einst mächtiger und weit älter als die hochdeutsche Schwestersprache und heute noch zu verfolgen westwärts bis Holland und Flandern, im Norden bis in die skandinavischen Länder und östlich bis in die letzten deutschen Ostseeprovinzen. Freilich hat die niederdeutsche Sprache vielfach dialektische Abwandlungen erfahren, und so unterscheidet sich auch das gröbere Platt Südhannovers im Tonfall und in den Vokalen merklich von der Sprache des Heidjers oder der Fischer und Schiffer an der Wasserkante. Sie ist überaus plastisch und anschaulich, birgt tiefe Gefühlswerte und reiche Ausdrucksmöglichkeiten, und ihre Klangfarbe ist von einer unvergleichlichen Schönheit. Melodisch, weich und schmiegsam sind diese Laute, und ein feiner, geheimer Spiegel der Menschen, denen sie über die Lippen kommen. Wieviel inniger und herzlicher klingt zum Beispiel so eine plattdeutsche Liebeserklärung "Ick hew Di leew, min Deern" gegenüber dem banalen "Ich hab dich lieb, mein Mädchen" im Hochdeutschen.

Stammverwandt und ähnlich im Charakter und in den körperlichen Merkmalen sind auch die Menschen Niederdeutschlands. Blond wie der Flachs und helläugig wie seine Blüten überwiegen sie gegen den brünetten Typ, der zum Süden zunimmt. Mehrfache Verschiebungen der Völker und Stämme haben mancherlei Vermischung zur Folge gehabt. Zur Zeit der Schlacht im Teutoburger Walde bewohnten germanische Stämme, die etwa 400 v. Ch. die Kelten unterworfen hatten und eingewandert waren, das jetzige Hannoverland. An den Ufern der Leine und der Oberweser saßen die Cherusker, in der Heide die Langobarden und zu den Seiten der Unterweser, hinter einem sicheren Wall, die Angrivarier. Während der Völkerwanderung machten sich dann die Sachsen aus ihrer nordelbinger Urheimat, dem heutigen Holstein, auf, verdrängten die germanischen Stämme und nahmen von dem heutigen Hannover, einschließlich Westfalen, Besitz. Der Sachsenbund unterschied Westfalen, Ostfalen und Engern. Die Ostfalen saßen zwischen Leine und Aller, und [77] zwischen ihnen und den Westfalen, die noch heute die Bezeichnung ihres Landes beibehalten haben, waren zu beiden Seiten der Weser die Engern eingeengt. Erst in jüngster Zeit hat sich für das Hannoverland, die Stammheimat der Sachsen, die Bezeichnung Niedersachsen zum Unterschied von anderen, abgewanderten Teilen, die aber den Namen beibehielten, immer mehr durchgesetzt und nach vielen Begriffswandlungen gefestigt.

Ein stolzes, freies und zähes Volk; sturstakig im Willen, konservativ in der Gesinnung und seßhaft auf der angestammten Scholle sind die Niedersachsen. Manches Kirchenbuch, das der Wurm verschonte, und manche Bauernchronik der alten Heidehöfe, die den 30jährigen Krieg überstand, führt den Namen und Geschlechter in unerdenkliche Zeiten zurück. Die Ebene, die endlosen Fernen haben den Blick des Niedersachsen geweitet, offen und ehrlich, aber verbissen und hartnäckig versieht der Niedersachse seine Sache. Die Moor- und Heidebauern sind schweigsam und wortkarg, aber was sie sagen, hat doppelt Gewicht. Im steten Alleinsein mit sich und ihrer Arbeit sind sie zu Grüblern geworden, die Gedanken haben sich nach innen gerichtet. Es gibt Philosophen und Träumer unter ihnen, und viele haben das Zweite Gesicht. Die alten Leute, die am Ende ihrer Erdentage wieder Kind werden, spüren das Wetter, besprechen das kranke Vieh und deuten Erscheinungen und Zeichen.

In den Bergen sind die Menschen lebhafter und gesprächiger, das lustige Auf und Ab der Hügel und Täler hat ihnen mehr Bewegung und Temperament gegeben, sie haben den Schalk im Nacken und einen weltweisen, tiefsinnigen Humor.

Grobheit und Derbheit sind die äußeren Merkmale des Kalenbergers, der auf seinen Wohlstand pocht und es sich gut sein läßt. Aber so drastisch er sich auch gibt und so rauh und poltrig seine Worte sind, so gemütsvoll und empfindlich ist er doch im Grunde seines [78] Herzens. Freilich muß man erst einen Scheffel Salz mit ihm gegessen haben, bis man sein Zutrauen erwirbt.

Karl der Große wird gewiß seine Lust gehabt haben, als er diesem Volke den alten Glauben austreiben wollte. Selbst das Blutbad zu Verden an der Aller erschreckte die Sachsen nicht, sondern brachte sie erst recht gegen den Franken auf. Noch heute gehen in Hannover und Westfalen Sagen vom Herzog Widukind, ihrem Führer, um, der auf einem Schimmel ritt; beide Länder führen das springende Roß, das den Sachsen heilig war, bis auf den heutigen Tag im Wappen.

Mit der Einführung des Christentums wurden Bistümer, Kirchen und Klöster in Niedersachsen errichtet. Die geistlichen Herren strebten aber auch nach der weltlichen Macht und wußten gleichermaßen den Bischofsstab und das Schwert zu führen. Obendrein zeigte der Bischof Bernward von Hildesheim, der um das Jahr 1000 seine Diözese betreute, einen ausgeprägten Kunstsinn, und ihm verdanken wir die ältesten Werke niedersächsischer Kunst im Dom zu Hildesheim.

Hildesheim: Kreuzgang im Dom.
[79]      Hildesheim: Kreuzgang im Dom.

Eng sind die Geschicke Niedersachsens mit der deutschen Reichsgeschichte verknüpft. Mit Heinrich dem Löwen, der Barbarossas Freund war, kamen 1139 die Welfen im heutigen Hannoverland auf den Thron. Herzogtümer wurden gegründet und geteilt, und der Lüneburger Erbfolgekrieg, der 19 Jahre dauerte, und die Hildesheimer Stiftsfehde ließen das Land nicht zur Ruhe kommen. Ständig lagen sich Bischöfe, Fürsten und Herzöge in den Haaren, und das Fehdewesen gedieh wie das Kraut auf den verwüsteten Äckern.

In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, nachdem Herzog Erich von Kalenberg-Göttingen einige Jahre vorher den Dr. Martin Luther auf dem Reichstag zu Worms das gute Einbecker Bier hatte kosten lassen, wurde in Niedersachsen, zunächst unter Herzog Ernst dem Bekenner von Lüneburg-Celle die Reformation eingeführt. In jeder Stadt gab es heftige Widerstände, und jede schuf sich so ihre eigene Reformationsgeschichte. Hundert Jahre später wütete der 30jährige Krieg in Niedersachsen, und Tilly sowohl wie die Schweden räuberten, plünderten, schändeten und brandschatzten wo nur Gelegenheit dazu war. Im Friedenssaal zu Osnabrück machte man dem Schrecken schließlich ein Ende.

Im Jahre 1692 wurde Hannover Kurfürstentum, und die Stadt am Hohen Ufer (Hoh'n Over = Hannover) entwickelte sich zu einer Residenz à la mode. Herrenhausen bekam prunkvolle Gestalt, und der gute alte Leibnitz, der schon mit seiner Philosophie genug zu tun hatte und den obendrein noch die Gicht plagte, mußte das Modell für eine einfachere und leichtere Schiebkarre liefern und den Plan zu den Herrenhäuser Wasserkünsten entwerfen.

Während der französischen Fremdherrschaft regierte Napoleons Bruder Hieronymus, der "König Lustik", drei Jahre über das eigens zu diesem Zweck gegründete Königreich Westfalen, dem auch Hannover zugeteilt war, während die wehrfähigen Söhne Niedersachsens ausgehoben wurden und den Zug nach Rußland mitmachen mußten. Andere konnten nach England fliehen und auf der verbündeten Seite in "Des Königs deutsche Legion" gegen Napoleon kämpfen und sich glorreiche Lorbeeren auf Peninsula und bei Waterloo holen. Im darauf folgenden Freiheitskriege tat sich Johanna Stegen, das heldenmütige Mädchen von Lüneburg, hervor, die im dichtesten Kugelregen, den Zipfel der vollen Schürze im [79] Munde, Patronen austeilte. Nach Beendigung des Krieges wurde Hannover Königreich und gut 50 Jahre später, nach der unglücklichen Schlacht bei Langensalza, preußische Provinz. Die gelbweißen Schlagbäume erhielten einen schwarzweißen Anstrich, aber die Jugend schabte die schwarze Farbe wieder ab, daß das Gelb durchschimmerte und pfiff dazu das Lied "Üb immer Treu und Redlichkeit". Nach der Reichsgründung, die wenige Jahre später erfolgte, heilte auch diese Wunde schnell.

In allen Winkeln der alten niedersächsischen Städte ist die große Vergangenheit des Landes lebendig, und überall geben ehrwürdige Kirchen und Klöster, feste Burgen und breite Wälle, lustige Schänken und brunnengezierte Marktplätze, katzenbucklige Bürgerhäuser und enge Gassen merk- und denkwürdige Kunde aus alten Tagen.

Da ist Göttingen mit der Landesuniversität, an der Bismarck einst studierte, und das Kleinstadtidyll der früheren Universitätsstädte Rinteln und Helmstedt mit der längst entschwundenen alten Burschenherrlichkeit.

Das Knochenhaueramtshaus in Hildesheim.
[81]      Das Knochenhaueramtshaus in Hildesheim.
Uralter Traum vom deutschen Kaiserreich wurde in Goslar, der alten Kaiserstadt, geträumt; aber der Kundige weiß nicht nur den Weg zur Kaiserpfalz, sondern auch das Dukatenmännchen oder die Butterhanne, drastische Derbheiten alter volkstümlicher Kunst Niedersachsens, zu finden.

[80] Die Nachbarstadt Hildesheim, vielgepriesen als norddeutsches Nürnberg, muß man zu nachtschlafender Zeit durchwandern, wenn der Mond über die Giebeldächer der windschiefen Fachwerkhäuser klettert und auf das Pflaster der krummen Gassen und die schmalen Höfe hinter den großen Einfahrtstorbögen scheint. Sein Knochenhaueramtshaus, die Domschänke oder der Umgestülpte Zuckerhut - lustig und komisch anzuschauen - geben Zeugnis von der Blütezeit mittelalterlicher Baukunst, und wie der über tausend Jahre alte Rosenstock an der Dommauer grünt und blüht, gedeihen heute in Hildesheim, der Stadt der Schulen, Lehre und Wissenschaft und Erziehung und Bildung einer sich fröhlich tummelnden Jugend.

Unweit Hildesheim, bei Nordstemmen, wo die Leine aus dem Bergland kommt, grüßt das Schloß Marienburg, das der letzte König von Hannover seiner Gemahlin von dem vielgenannten Baumeister Haase errichten ließ, von bewaldeter Höhe; und westwärts, im Wesertal, flechten Hameln mit seinem Rattenfängerhaus und das liebliche Höxter mit dem benachbarten Corvey, der alten Benediktinerabtei, wo sich der Grabhügel über dem Sänger des Deutschlandliedes wölbt, bunte Bänder in den reichen Kranz der niedersächsischen Städte.

Mädchen in der alten Landestracht von Schaumburg-Lippe.
[83]      Mädchen in der alten Landestracht
von Schaumburg-Lippe.
Hannover, das dem Land den Namen gab, bewahrte bis auf den heutigen Tag trotz seines großstädtischen Gesichts den Charakter einer ländlichen Residenz, und das ehemalig Königliche Hoftheater, das Leineschloß und die prunkvollen Gärten Herrenhausens träumen im Wandel der Zeiten noch genau so von besonnter Vergangenheit wie Leibnitzens Haus in der Schmiedestraße oder der Biergarten Mutter Pisewitts an der Langen Laube. Die alte Rokoko-Residenz Bückeburg am Harl, einem letzten Ausläufer des Wesergebirges, freut sich der drallen Töchter des Landes, die sich in ihren knallroten Röcken wohlgefällig in den runden Hüften wiegen und immer noch an ihrer farbenprächtigen, besonders durch die breiten, bändergeschmückten Flügelhauben auffallenden, aber kleidsamen Tracht festhalten. Und so hat jede Stadt ihre merkwürdigen Sonderheiten, ihre Schätze und denkwürdigen Bauten, ihre Erinnerungen und wechselvolle Geschichte.

Osnabrück, die Stadt Justus Mösers, brachte Deutschland nach drei Jahrzehnten unglückseligen Krieges den lang ersehnten Frieden, Verden hütet seinen ehrwürdigen Dom, die Heidestadt Celle hat ihr altes Herzogschloß und ganz in der Nähe das Kloster Wienhausen mit den wundervollen Bildteppichen der fleißigen Nonnen, Lüneburg wird von dem imposanten Schütting am Sande beherrscht, und endlich führt auch im Hannoverland - kurz vor Stade, dem Schmuckkästchen an der Unterelbe - die Stadt Buxtehude ihr märchenhaftes Dasein, an das im weiten Reiche viel weniger geglaubt wird als an die Wahrheit der Geschichte vom Wettlauf zwischen Swienegel und Hasen, der hier in den Furchen eines Ackers startete.

Sagen und Märchen, Volkslieder und Anekdoten haben in Niedersachsen ihren unerschöpflichen Quell, gespeist aus dunkler Überlieferung heidnischen Volksglaubens, aus der bewegten, bis in die graue Vorzeit zurückreichenden Geschichte des Landes, aus der mystischen Landschaft und der merkwürdigen Mentalität des niedersächsischen Menschen.

[81] Es ist gewiß kein Zufall, daß das Volksbuch vom Eulenspiegel, das Epos vom Reineke Voß oder auch der Sachsenspiegel Eike von Repgows in Niedersachsen ihre Heimat haben. Narrenpossen zu reißen, mit den Tieren wie mit menschlichen Lebewesen umzugehen oder auch aus der instinktiven Entscheidung für Recht oder Unrecht Regeln und Gesetze aufzustellen, sind typisch niedersächsische Neigungen.

In den Spinnstuben gingen Spuk- und Gruselgeschichten von Irrlichtern und vom Werwolf um, von Vorahnungen und vergrabenen Schätzen, vom Hellrieder und von Hexen, die Gewalt über Vieh und Mensch haben. Kamen dann aber die jungen Burschen des Dorfes hinzu, um ihre Mädchen abzuholen, dann wurden Volkslieder gesungen und auf der Ziehharmonika die alten, ausgelassenen Volkstänze gespielt.

Groß ist der Aberglaube, der sich mit den Festen des Jahres und mit Geburt, Hochzeit und Tod verknüpft, und überaus reich ist Niedersachsen an alten Sitten und Gebräuchen, an denen immer noch festgehalten wird. Stumm und verschlossen bleibt die Trauer, die Sorge und die Not dieser Menschen, aber in unbändiger Fröhlichkeit und Ausgelassenheit feiern sie ihre Feste. Beim Schützenfest und Erntebier geht es hoch her, und eine recht vollwertige Bauernhochzeit, zu der das ganze Dorf geladen wird, dauert ihre guten acht Tage.

Hochzeit auf dem Alten Lande.
[75]      Hochzeit auf dem Alten Lande.

In alten Schnäcken, Bauernregeln und Sprichwörtern, Neckreimen und Wortspielen prägen sich scharfe Beobachtungsgabe und humorige Weltweisheit aus, und immer weiß der sonst so wortkarge Niedersachse sie treffend anzuwenden. Die Dörfer hängen sich gegenseitig Spottverse an, und ebenso werden die verschiedenen Berufe des alten bäuerlichen [82] Dorfhandwerks gefoppt und gehänselt. Aber auch Schuster und Schneider, Töpfer und Leineweber, Wollkämmer und Holzschuhmacher sind ihrerseits nie um eine Antwort verlegen, und ihr Mundwerk stand ihrer Hände Arbeit nicht nach.

In den Heimatmuseen und volkskundlichen Sammlungen in Hannover, Celle, Hildesheim oder Verden werden die Erzeugnisse der früheren, doch hochentwickelten Handwerkskultur Niedersachsens gewahrt, wie man kostbare Schätze hütet. Neben formschönen Keramiken und wertvollen Schnitzereien bergen sie Zeugnisse der Dorfschmiedekunst, der Handweberei und der Drechslerei. Der goldene Boden des Handwerks ist freilich etwas blind geworden; manche Gewerbe haben es aber verstanden, sich der Industrie anzupassen, und so finden wir vielfach große maschinelle Betriebe, wo früher in kleinen Werkstätten das tägliche Brot geschaffen wurde.

Bei Wietze-Steinförde wird nach Erdöl gebohrt. Aus Wald und Heide ragen plötzlich die schwarzen Bohrtürme auf, und wie von Geisterhand getrieben, gehen die Pumpen auf und ab. Am Rande des Berglandes erheben sich aus wogenden Kornfeldern die hoch aufgeworfenen, leuchtend weißen Schutthalden der Kalibergwerke; die hohen Schlote der Zuckerfabriken speien dicken, schwarzen Qualm gegen den herbstklaren Himmel, wenn die Kampagne begonnen hat, und in den Wäldern singt das kreisende metallne Blatt der Dampfsägen.

In den Dörfern falten sich harte, schwielige Bauernfäuste zum stillen Gebet für Saat und Ernte, und hinter den letzten Ackern, wo die Stadt beginnt, rauchen die Hochöfen und stampft das Lied der Maschinen.

Aus der tiefen Verbundenheit mit der Landschaft und ihren Menschen wuchs eine erdhafte, bodenständige Kunst, die von Bischof Bernward und Meister Betram von Minden über Tilman Riemenschneider, der vom Harz zum Süden zog, und Hans Raphon bis zu den heutigen Worpswedern im Teufelsmoor bei Bremen reicht. Unbewußt, wie in den Werken früherer Meister, oder bewußt betont, wie in der Heimatkunstbewegung um die letzte Jahrhundertwende, immer ist das Wesen der Landschaft spürbar, das sich in den Linien, Formen und Farben, im Rhythmus und in der Komposition des Bildwerkes äußert.

Noch deutlicher aber als die bildende Kunst spiegelt das Schrifttum Niedersachsens Landschaft und Menschen, Kultur und Geschichte der hannoverschen Heimat. Von Roswitha von Gandersheim, der ältesten deutschen Dichterin, die im 10. Jahrhundert die Geschichte ihres Klosters und das Leben Otto des Großen aufzeichnete, bis zu den historischen Romanen Lulu von Strauß und Torneys wurde in der Dichtung die große Vergangenheit Hannoverlands deutend gestaltet. Wilhelm Raabe, den Niedersachsen als seinen bedeutendsten Dichter feiert, gesellte zu diesem Wissen um die Historie einen philosophischen Humor, und mit einem nachdenklichen, schalkhaften Lächeln versöhnt er das Schicksal seiner Buchgestalten, die Menschen der niedersächsischen Heimat sind. Münchhausens Lügengeschichten und die plattdeutschen Predigten des Limmer Pastors Jobst Sackmann wurden wie die lustigen Bilderwerke des Maler-Dichters Wilhelm Busch, dessen Wiege gleichfalls im Hannoverschen stand, schnell zum Allgemeingut der Deutschen, zu dem ebenso mit Fug und Recht die Musikantengeschichte Karl Söhles, die Heideschilderungen von Hermann Löns und das Balladenwerk Börries von Münchhausens zählen.

[83] Kraft, Macht und Schicksal der Landschaft bestimmten zu ihrem Teil Dichter und Werk, durch die sie fortwirkende Stimme und Gestalt bekommen haben. So rundet und schließt sich das farben- und formenreiche Mosaikbild eines deutschen Landes, das der Fremde ehrfürchtig durchwandert und schätzen lernt, und an dem alle, denen es Heimat ist, in Liebe hängen wie die Kinder an der Mutter.

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Das Buch der deutschen Heimat, besonders die Kapitel "Weserbergland und Leinetal"
      und "Geest, Heide und Moor".

Deutsches Land: Das Buch von Volk und Heimat
Unter Mitarbeit von Schriftstellern aller deutschen Stämme
herausgegeben von Dr. Eugen Schmahl.
Mit einem Geleitwort von Dr. Hans Steinacher,
Reichsführer des Volksbundes für das Deutschtum im Ausland,
und mit einem Geleitschreiben von Hans Grimm.