[74]
Hannover
Konrad Tegtmeier
Im bunten Wechsel von weiter Heide und geheimnisvollem Moor,
sanftgewölbten Bergen und stromzerschnittenen Tälern, satter
Marsch und magerer Geest zeigt sich - angeweht vom Hauch des Meeres,
dem sich die Ebene nordwärts
ergibt - das vielgestaltige Gesicht der Landschaft um Hannover.
Das Meer kommt und geht in Ebbe und Flut und umspült die vom
Möwenschrei gellende Küste, der sich die Ostfriesischen Inseln breit
vorlagern, als wären sie Wächter über die heimtückisch
lauernde Nordsee. Mehr als einmal machte sich die Sturmflut plötzlich auf,
duchbrach die festgefügten Dämme und Deiche und
überschwemmte weite Strecken des Landes, daß von den
Dörfern nur noch die Kirchturmspitze aus dem Wasser ragte, wie ein Finger
gegen den Himmel zeigt.
Die Ufer der Elbe und Weser, der Ems und der Aller säumen fette
Marschen; auf üppigen Wiesen tummelt sich das Weidevieh, und in den
alten geschnitzten Eichentruhen der stattlichen Bauernhöfe sammelt sich in
blanken harten Talern der Segen Gottes. Geringschätzig sieht der
Marschbauer in der wohligen Rundung seiner leiblichen Fülle auf das saure
Tagewerk des Nachbarn auf der hohen Geest herab, der die Kartoffeln in den Sand
steckt und Buchweizen sät, weil der Boden sonst zu nichts taugen will.
Sorgenvoll hofft er vom einen Jahr zum andern auf eine gute Ernte,
während der Wind die dürftigen Haferbreiten wie das
spärliche Haar eines alten Mannes kämmt.
Trauriges Nebelland und voller Spuk und Geheimnisse ist das düstere
Moor, über das im Sonnenschein frühjahrs lustiges Wollgras und im
Herbst der Altweibersommer weht, während der aufgeschichtete Backtorf
an der Luft trocknet und Jan von' Moor mit dem Leiterwagen zur Stadt klappert,
um die Herrschaften mit Brennmaterial zu versorgen. Fäulnis und Krankheit
lauern im Moore, und der Tod geht um wie der Hochzeitsbitter vor der
Vermählung, um das Dorf zum Gästeschmaus zu laden.
Unendlich dehnt sich die braune Heide von Harburg und Lüneburg bis
Hannover und Celle und in der Quere von Salzwedel bis Verden an der Aller.
Aber zur Blütezeit sind alle Weiten in einen rosaroten Schimmer getaucht,
und der weiße Sand der breiten, ausgefahrenen Heidewege um den Wilseder
Berg gleißt in der Sonne mit den lichten Birkenstämmen um die
Wette. Wie ein tiefer Orgelakkord erfüllt das Immengesumm die Luft, und
der alte Schäfer träumt am Hünenstein im Schatten breiten
Wacholders einer süßen Honigernte entgegen, während sich
seine Schnucken im dichten Gestrüpp von Heidekraut und Ginster
verlieren.
[77]
Aus dem Naturschutzpark am Wilseder Berg.
Wacholder in der Heide.
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Ein breiter, fruchtbarer Landstrich, der von Braunschweig und Hildesheim
über Hannover und Bückeburg bis Minden und Osnabrück
reicht, bildet die Grenzscheide zwischen der nördlichen Ebene und dem
hannoverschen Bergland, das sich südwärts bis Göttingen und
[75] Cassel erstreckt. Fetter
Kleiboden treibt mannshohes Korn, Zuckerrüben und Weizen gedeihen,
und mit Wohlgefallen geht der Kalenberger Bauer durch seine Felder und Wiesen,
freut sich an Kohl und Klee und überschlägt den Ernteertrag des
Obstes, das in den großen eingeheckten Grasgärten hinter den
Höfen reift.
Die lieblichen Täler der Leine und Weser trennen den Oberharz vom
Solling und spalten das vielgestaltige Wesergebirge, das sich bis zum Teutoburger
Wald, der Grenzmauer Westfalens, erstreckt. Mit einem fröhlichen
"Glück auf!" und dem Wunsche "Es geh Euch wohl!" grüßt
der Oberharzer Bergmann seinen Kameraden, der mit seinem trüben
Grubenlicht in den Stollen das Erz sucht, und in den Wäldern, wo im
Angesicht des Brockens die Tanne grünt, dröhnt der Axtschlag und
rauchen die Meiler, die der russige Köhler betreut. Groß ist der
Reichtum des benachbarten Sollings an
Laub- und Nadelwald. Die Waldleute suchen Beeren, schlagen
hundertjährige Eichen, hüten Ziegen und Kühe oder sprengen
in den Sandsteinbrüchen die Felswand, daß der Donner in allen
Tälern grummelt und die Mägde beim Heuen ängstlich nach
dem Wetter sehen. In den Glashütten taucht der Bläser sein
Pfeifenrohr in den heißen, flüssigen Glasbrei und pustet allerlei
[76] merkwürdige
Gebilde, aus denen sich Flaschen und Gläser formen, als bliesen Kinder
Seifenblasen in den Wind.
Westwärts neigen sich die geschwungenen Linien der Bergrücken
zur Weser hinab, die von
Hannoversch-Münden, wo Fulda und Werra sich zum vielbesungenen
deutschen Strom vereinen, der bis zur Porta Westfalica in zahllosen Windungen
das Gebirge durchbricht und Burgen und Klöster, das Kreuz von
Dreizehnlinden, Bodenwerder, die Heimat des Lügenbarons
Münchhausen, und die alte Rattenfängerstadt Hameln
grüßt. Geschichte und Sage winden dem Strom einen bunten
Ruhmeskranz, und seit langem wetteifert das Wesertal mit den Ostfriesischen
Inseln, der Lüneburger Heide und dem Harz um Lob und Preis
landschaftlicher Schönheit.
Eine merkwürdige Mannigfaltigkeit geographischer Einzelzüge hat
Hannoverland aufzuweisen; so vielgestaltig aber das Landschaftsbild ist, so
einheitlich und geschlossen ist das Volkstum dieses niedersächsischen
Kernlandes, das der weiter gezogene niederdeutsche Kulturkreis umschließt.
Niedersachsen und Westfalen, Friesland und Mecklenburg, das
meerumschlungene Schleswig-Holstein, und einbegriffen auch die
Hansestädte, Lippe-Detmold, Braunschweig und Oldenburg: das ganze
weite Niederdeutschland eint ein stark ausgeprägtes Volkstum, das sich in
Sitte und Brauch, Volksglaube, Geschichte, Kunst und Kultur äußert.
Und allen ist eine gemeinsame Sprache eigen, das Plattdeutsch, einst
mächtiger und weit älter als die hochdeutsche Schwestersprache und
heute noch zu verfolgen westwärts bis Holland und Flandern, im Norden
bis in die skandinavischen Länder und östlich bis in die letzten
deutschen Ostseeprovinzen. Freilich hat die niederdeutsche Sprache vielfach
dialektische Abwandlungen erfahren, und so unterscheidet sich auch das
gröbere Platt Südhannovers im Tonfall und in den Vokalen merklich
von der Sprache des Heidjers oder der Fischer und Schiffer an der Wasserkante.
Sie ist überaus plastisch und anschaulich, birgt tiefe Gefühlswerte
und reiche Ausdrucksmöglichkeiten, und ihre Klangfarbe ist von einer
unvergleichlichen Schönheit. Melodisch, weich und schmiegsam sind diese
Laute, und ein feiner, geheimer Spiegel der Menschen, denen sie über die
Lippen kommen. Wieviel inniger und herzlicher klingt zum Beispiel so eine
plattdeutsche Liebeserklärung "Ick hew Di leew, min Deern"
gegenüber dem banalen "Ich hab dich lieb, mein Mädchen" im
Hochdeutschen.
Stammverwandt und ähnlich im Charakter und in den körperlichen
Merkmalen sind auch die Menschen Niederdeutschlands. Blond wie der Flachs
und helläugig wie seine Blüten überwiegen sie gegen den
brünetten Typ, der zum Süden zunimmt. Mehrfache Verschiebungen
der Völker und Stämme haben mancherlei Vermischung zur Folge
gehabt. Zur Zeit der Schlacht im Teutoburger Walde bewohnten germanische
Stämme, die etwa 400 v. Ch. die Kelten unterworfen hatten und
eingewandert waren, das jetzige Hannoverland. An den Ufern der Leine und der
Oberweser saßen die Cherusker, in der Heide die Langobarden und zu den
Seiten der Unterweser, hinter einem sicheren Wall, die Angrivarier.
Während der Völkerwanderung machten sich dann die Sachsen aus
ihrer nordelbinger Urheimat, dem heutigen Holstein, auf, verdrängten die
germanischen Stämme und nahmen von dem heutigen Hannover,
einschließlich Westfalen, Besitz. Der Sachsenbund unterschied Westfalen,
Ostfalen und Engern. Die Ostfalen saßen zwischen Leine und Aller, und
[77] zwischen ihnen und den
Westfalen, die noch heute die Bezeichnung ihres Landes beibehalten haben, waren
zu beiden Seiten der Weser die Engern eingeengt. Erst in jüngster Zeit hat
sich für das Hannoverland, die Stammheimat der Sachsen, die Bezeichnung
Niedersachsen zum Unterschied von anderen, abgewanderten Teilen, die aber den
Namen beibehielten, immer mehr durchgesetzt und nach vielen
Begriffswandlungen gefestigt.
Ein stolzes, freies und zähes Volk; sturstakig im Willen, konservativ in der
Gesinnung und seßhaft auf der angestammten Scholle sind die
Niedersachsen. Manches Kirchenbuch, das der Wurm verschonte, und manche
Bauernchronik der alten Heidehöfe, die den 30jährigen Krieg
überstand, führt den Namen und Geschlechter in unerdenkliche
Zeiten zurück. Die Ebene, die endlosen Fernen haben den Blick des
Niedersachsen geweitet, offen und ehrlich, aber verbissen und hartnäckig
versieht der Niedersachse seine Sache. Die
Moor- und Heidebauern sind schweigsam und wortkarg, aber was sie sagen, hat
doppelt Gewicht. Im steten Alleinsein mit sich und ihrer Arbeit sind sie zu
Grüblern geworden, die Gedanken haben sich nach innen gerichtet. Es gibt
Philosophen und Träumer unter ihnen, und viele haben das Zweite Gesicht.
Die alten Leute, die am Ende ihrer Erdentage wieder Kind werden, spüren
das Wetter, besprechen das kranke Vieh und deuten Erscheinungen und
Zeichen.
In den Bergen sind die Menschen lebhafter und gesprächiger, das lustige
Auf und Ab der Hügel und Täler hat ihnen mehr Bewegung und
Temperament gegeben, sie haben den Schalk im Nacken und einen weltweisen,
tiefsinnigen Humor.
Grobheit und Derbheit sind die äußeren Merkmale des Kalenbergers,
der auf seinen Wohlstand pocht und es sich gut sein läßt. Aber so
drastisch er sich auch gibt und so rauh und poltrig seine Worte sind, so
gemütsvoll und empfindlich ist er doch im Grunde seines [78] Herzens. Freilich
muß man erst einen Scheffel Salz mit ihm gegessen haben, bis man sein
Zutrauen erwirbt.
Karl der
Große wird gewiß seine Lust gehabt haben, als er diesem
Volke den alten Glauben austreiben wollte. Selbst das Blutbad zu Verden an der
Aller erschreckte die Sachsen nicht, sondern brachte sie erst recht gegen den
Franken auf. Noch heute gehen in Hannover und Westfalen Sagen vom Herzog
Widukind, ihrem Führer, um, der auf einem Schimmel ritt; beide
Länder führen das springende Roß, das den Sachsen heilig war,
bis auf den heutigen Tag im Wappen.
Mit der Einführung des Christentums wurden Bistümer, Kirchen und
Klöster in Niedersachsen errichtet. Die geistlichen Herren strebten aber
auch nach der weltlichen Macht und wußten gleichermaßen den
Bischofsstab und das Schwert zu führen. Obendrein zeigte der Bischof
Bernward von Hildesheim, der um das Jahr 1000 seine Diözese betreute,
einen ausgeprägten Kunstsinn, und ihm verdanken wir die ältesten
Werke niedersächsischer Kunst im Dom zu Hildesheim.
[79]
Hildesheim: Kreuzgang im Dom.
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Eng sind die Geschicke Niedersachsens mit der deutschen Reichsgeschichte
verknüpft. Mit Heinrich dem Löwen, der Barbarossas Freund war,
kamen 1139 die Welfen im heutigen Hannoverland auf den Thron.
Herzogtümer wurden gegründet und geteilt, und der
Lüneburger Erbfolgekrieg, der 19 Jahre dauerte, und die Hildesheimer
Stiftsfehde ließen das Land nicht zur Ruhe kommen. Ständig lagen
sich Bischöfe, Fürsten und Herzöge in den Haaren, und das
Fehdewesen gedieh wie das Kraut auf den verwüsteten Äckern.
In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, nachdem Herzog Erich von
Kalenberg-Göttingen einige Jahre vorher den Dr. Martin Luther auf dem
Reichstag zu Worms das gute Einbecker Bier hatte kosten lassen, wurde in
Niedersachsen, zunächst unter Herzog Ernst dem Bekenner von
Lüneburg-Celle die Reformation eingeführt. In jeder Stadt gab es
heftige Widerstände, und jede schuf sich so ihre eigene
Reformationsgeschichte. Hundert Jahre später wütete der
30jährige Krieg in Niedersachsen, und Tilly sowohl wie die Schweden
räuberten, plünderten, schändeten und brandschatzten wo nur
Gelegenheit dazu war. Im Friedenssaal zu Osnabrück machte man dem
Schrecken schließlich ein Ende.
Im Jahre 1692 wurde Hannover Kurfürstentum, und die Stadt am Hohen
Ufer (Hoh'n Over = Hannover) entwickelte sich zu einer Residenz
à la mode. Herrenhausen bekam prunkvolle Gestalt, und der gute
alte Leibnitz, der schon mit seiner Philosophie genug zu tun hatte und den
obendrein noch die Gicht plagte, mußte das Modell für eine
einfachere und leichtere Schiebkarre liefern und den Plan zu den
Herrenhäuser Wasserkünsten entwerfen.
Während der französischen Fremdherrschaft regierte Napoleons
Bruder Hieronymus, der "König Lustik", drei Jahre über das eigens
zu diesem Zweck gegründete Königreich Westfalen, dem auch
Hannover zugeteilt war, während die wehrfähigen Söhne
Niedersachsens ausgehoben wurden und den Zug nach Rußland mitmachen
mußten. Andere konnten nach England fliehen und auf der
verbündeten Seite in "Des Königs deutsche Legion" gegen Napoleon
kämpfen und sich glorreiche Lorbeeren auf Peninsula und bei Waterloo
holen. Im darauf folgenden Freiheitskriege tat sich Johanna Stegen, das
heldenmütige Mädchen von Lüneburg, hervor, die im
dichtesten Kugelregen, den Zipfel der vollen Schürze im [79] Munde, Patronen
austeilte. Nach Beendigung des Krieges wurde Hannover Königreich und
gut 50 Jahre später, nach der unglücklichen Schlacht bei
Langensalza, preußische Provinz. Die gelbweißen
Schlagbäume erhielten einen schwarzweißen Anstrich, aber die
Jugend schabte die schwarze Farbe wieder ab, daß das Gelb
durchschimmerte und pfiff dazu das Lied "Üb immer Treu und
Redlichkeit". Nach der Reichsgründung, die wenige Jahre später
erfolgte, heilte auch diese Wunde schnell.
In allen Winkeln der alten niedersächsischen Städte ist die
große Vergangenheit des Landes lebendig, und überall geben
ehrwürdige Kirchen und Klöster, feste Burgen und breite
Wälle, lustige Schänken und brunnengezierte Marktplätze,
katzenbucklige Bürgerhäuser und enge Gassen
merk- und denkwürdige Kunde aus alten Tagen.
Da ist Göttingen mit der Landesuniversität, an der Bismarck einst
studierte, und das Kleinstadtidyll der früheren
Universitätsstädte Rinteln und Helmstedt mit der längst
entschwundenen alten Burschenherrlichkeit.
[81]
Das Knochenhaueramtshaus in Hildesheim.
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Uralter Traum vom deutschen Kaiserreich wurde in Goslar, der alten Kaiserstadt,
geträumt; aber der Kundige weiß nicht nur den Weg zur Kaiserpfalz,
sondern auch das Dukatenmännchen oder die Butterhanne, drastische
Derbheiten alter volkstümlicher Kunst Niedersachsens, zu finden.
[80] Die Nachbarstadt
Hildesheim, vielgepriesen als norddeutsches Nürnberg, muß man zu
nachtschlafender Zeit durchwandern, wenn der Mond über die
Giebeldächer der windschiefen Fachwerkhäuser klettert und auf das
Pflaster der krummen Gassen und die schmalen Höfe hinter den
großen Einfahrtstorbögen scheint. Sein Knochenhaueramtshaus, die
Domschänke oder der Umgestülpte
Zuckerhut - lustig und komisch
anzuschauen - geben Zeugnis von der Blütezeit mittelalterlicher
Baukunst, und wie der über tausend Jahre alte Rosenstock an der
Dommauer grünt und blüht, gedeihen heute in Hildesheim, der Stadt
der Schulen, Lehre und Wissenschaft und Erziehung und Bildung einer sich
fröhlich tummelnden Jugend.
Unweit Hildesheim, bei Nordstemmen, wo die Leine aus dem Bergland kommt,
grüßt das Schloß Marienburg, das der letzte König von
Hannover seiner Gemahlin von dem vielgenannten Baumeister Haase errichten
ließ, von bewaldeter Höhe; und westwärts, im Wesertal,
flechten Hameln mit seinem Rattenfängerhaus und das liebliche
Höxter mit dem benachbarten Corvey, der alten Benediktinerabtei, wo sich
der Grabhügel über dem Sänger des Deutschlandliedes
wölbt, bunte Bänder in den reichen Kranz der
niedersächsischen Städte.
[83]
Mädchen in der alten Landestracht
von Schaumburg-Lippe.
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Hannover, das dem Land den Namen gab, bewahrte bis auf den heutigen Tag trotz
seines großstädtischen Gesichts den Charakter einer ländlichen
Residenz, und das ehemalig Königliche Hoftheater, das Leineschloß
und die prunkvollen Gärten Herrenhausens träumen im Wandel der
Zeiten noch genau so von besonnter Vergangenheit wie Leibnitzens Haus in der
Schmiedestraße oder der Biergarten Mutter Pisewitts an der Langen Laube.
Die alte Rokoko-Residenz Bückeburg am Harl, einem letzten
Ausläufer des Wesergebirges, freut sich der drallen Töchter des
Landes, die sich in ihren knallroten Röcken wohlgefällig in den
runden Hüften wiegen und immer noch an ihrer farbenprächtigen,
besonders durch die breiten, bändergeschmückten
Flügelhauben auffallenden, aber kleidsamen Tracht festhalten. Und so hat
jede Stadt ihre merkwürdigen Sonderheiten, ihre Schätze und
denkwürdigen Bauten, ihre Erinnerungen und wechselvolle Geschichte.
Osnabrück, die Stadt Justus Mösers, brachte Deutschland nach drei
Jahrzehnten unglückseligen Krieges den lang ersehnten Frieden, Verden
hütet seinen ehrwürdigen Dom, die Heidestadt Celle hat ihr altes
Herzogschloß und ganz in der Nähe das Kloster Wienhausen mit den
wundervollen Bildteppichen der fleißigen Nonnen, Lüneburg wird
von dem imposanten Schütting am Sande beherrscht, und endlich
führt auch im Hannoverland - kurz vor Stade, dem
Schmuckkästchen an der Unterelbe - die Stadt Buxtehude ihr
märchenhaftes Dasein, an das im weiten Reiche viel weniger geglaubt wird
als an die Wahrheit der Geschichte vom Wettlauf zwischen Swienegel und Hasen,
der hier in den Furchen eines Ackers startete.
Sagen und Märchen, Volkslieder und Anekdoten haben in Niedersachsen
ihren unerschöpflichen Quell, gespeist aus dunkler Überlieferung
heidnischen Volksglaubens, aus der bewegten, bis in die graue Vorzeit
zurückreichenden Geschichte des Landes, aus der mystischen Landschaft
und der merkwürdigen Mentalität des niedersächsischen
Menschen.
[81] Es ist gewiß kein
Zufall, daß das Volksbuch vom Eulenspiegel, das Epos vom Reineke
Voß oder auch der Sachsenspiegel Eike von Repgows in Niedersachsen ihre
Heimat haben. Narrenpossen zu reißen, mit den Tieren wie mit
menschlichen Lebewesen umzugehen oder auch aus der instinktiven Entscheidung
für Recht oder Unrecht Regeln und Gesetze aufzustellen, sind typisch
niedersächsische Neigungen.
In den Spinnstuben gingen Spuk- und Gruselgeschichten von Irrlichtern und vom
Werwolf um, von Vorahnungen und vergrabenen Schätzen, vom Hellrieder
und von Hexen, die Gewalt über Vieh und Mensch haben. Kamen dann
aber die jungen Burschen des Dorfes hinzu, um ihre Mädchen abzuholen,
dann wurden Volkslieder gesungen und auf der Ziehharmonika die alten,
ausgelassenen Volkstänze gespielt.
Groß ist der Aberglaube, der sich mit den Festen des Jahres und mit Geburt,
Hochzeit und Tod verknüpft, und überaus reich ist Niedersachsen an
alten Sitten und Gebräuchen, an denen immer noch festgehalten wird.
Stumm und verschlossen bleibt die Trauer, die Sorge und die Not dieser
Menschen, aber in unbändiger Fröhlichkeit und Ausgelassenheit
feiern sie ihre Feste. Beim Schützenfest und Erntebier geht es hoch her, und
eine recht vollwertige Bauernhochzeit, zu der das ganze Dorf geladen wird, dauert
ihre guten acht Tage.
[75]
Hochzeit auf dem Alten Lande.
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In alten Schnäcken, Bauernregeln und
Sprichwörtern, Neckreimen und Wortspielen prägen sich scharfe
Beobachtungsgabe und humorige Weltweisheit aus, und immer weiß der
sonst so wortkarge Niedersachse sie treffend anzuwenden. Die Dörfer
hängen sich gegenseitig Spottverse an, und ebenso werden die
verschiedenen Berufe des alten bäuerlichen [82] Dorfhandwerks gefoppt
und gehänselt. Aber auch Schuster und Schneider, Töpfer und
Leineweber, Wollkämmer und Holzschuhmacher sind ihrerseits nie um
eine Antwort verlegen, und ihr Mundwerk stand ihrer Hände Arbeit nicht
nach.
In den Heimatmuseen und volkskundlichen Sammlungen in Hannover, Celle,
Hildesheim oder Verden werden die Erzeugnisse der früheren, doch
hochentwickelten Handwerkskultur Niedersachsens gewahrt, wie man kostbare
Schätze hütet. Neben formschönen Keramiken und wertvollen
Schnitzereien bergen sie Zeugnisse der Dorfschmiedekunst, der Handweberei und
der Drechslerei. Der goldene Boden des Handwerks ist freilich etwas blind
geworden; manche Gewerbe haben es aber verstanden, sich der Industrie
anzupassen, und so finden wir vielfach große maschinelle Betriebe, wo
früher in kleinen Werkstätten das tägliche Brot geschaffen
wurde.
Bei Wietze-Steinförde wird nach Erdöl gebohrt. Aus Wald und
Heide ragen plötzlich die schwarzen Bohrtürme auf, und wie von
Geisterhand getrieben, gehen die Pumpen auf und ab. Am Rande des Berglandes
erheben sich aus wogenden Kornfeldern die hoch aufgeworfenen, leuchtend
weißen Schutthalden der Kalibergwerke; die hohen Schlote der
Zuckerfabriken speien dicken, schwarzen Qualm gegen den herbstklaren Himmel,
wenn die Kampagne begonnen hat, und in den Wäldern singt das kreisende
metallne Blatt der Dampfsägen.
In den Dörfern falten sich harte, schwielige Bauernfäuste zum
stillen Gebet für Saat und Ernte, und hinter den letzten Ackern, wo die
Stadt beginnt, rauchen die Hochöfen und stampft das Lied der
Maschinen.
Aus der tiefen Verbundenheit mit der Landschaft und ihren Menschen wuchs eine
erdhafte, bodenständige Kunst, die von Bischof Bernward
und Meister Betram von Minden über Tilman
Riemenschneider, der vom Harz zum
Süden zog, und Hans Raphon bis zu den heutigen Worpswedern im
Teufelsmoor bei Bremen reicht. Unbewußt, wie in den Werken
früherer Meister, oder bewußt betont, wie in der
Heimatkunstbewegung um die letzte Jahrhundertwende, immer ist das Wesen der
Landschaft spürbar, das sich in den Linien, Formen und Farben, im
Rhythmus und in der Komposition des Bildwerkes äußert.
Noch deutlicher aber als die bildende Kunst spiegelt das Schrifttum
Niedersachsens Landschaft und Menschen, Kultur und Geschichte der
hannoverschen Heimat. Von Roswitha von Gandersheim, der ältesten
deutschen Dichterin, die im 10. Jahrhundert die Geschichte ihres Klosters und das
Leben Otto des Großen aufzeichnete, bis zu den historischen Romanen Lulu
von Strauß und Torneys wurde in der Dichtung die große
Vergangenheit Hannoverlands deutend gestaltet. Wilhelm Raabe, den
Niedersachsen als seinen bedeutendsten Dichter feiert, gesellte zu diesem Wissen
um die Historie einen philosophischen Humor, und mit einem nachdenklichen,
schalkhaften Lächeln versöhnt er das Schicksal seiner Buchgestalten,
die Menschen der niedersächsischen Heimat sind. Münchhausens
Lügengeschichten und die plattdeutschen Predigten des Limmer Pastors
Jobst Sackmann wurden wie die lustigen Bilderwerke des
Maler-Dichters Wilhelm Busch,
dessen Wiege gleichfalls im Hannoverschen
stand, schnell zum Allgemeingut der Deutschen, zu dem ebenso mit Fug und
Recht die Musikantengeschichte Karl Söhles, die Heideschilderungen von
Hermann Löns und das Balladenwerk Börries von
Münchhausens zählen.
[83] Kraft, Macht und
Schicksal der Landschaft bestimmten zu ihrem Teil Dichter und Werk, durch die
sie fortwirkende Stimme und Gestalt bekommen haben. So rundet und
schließt sich das farben- und formenreiche Mosaikbild eines deutschen
Landes, das der Fremde ehrfürchtig durchwandert und schätzen lernt,
und an dem alle, denen es Heimat ist, in Liebe hängen wie die Kinder an
der Mutter.
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