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Nordwestdeutschland - Georg Hoeltje
Weserbergland und Leinetal
Osnabrück und Herford, Bückeburg und Rinteln, Minden, Lemgo,
Detmold, Hameln, Höxter, Bodenwerder... wie anders klingen diese Namen
als: Göttingen - Northeim - Kreiensen -
Alfeld - Elze - Nordstemmen - Hannover!
Hier im Leinetal eine straffe Reihe: wie eine Schiene glitzert die Folge der Namen
auf, jeder einzelne erweckt Verbindungen, und alle wirken sehr jung und neu.
Dort aber im Weserbergland lauter alte Gesichter, locker nebeneinander wie
Perlen an einer Schnur. Jeder Name ist im Grunde für sich zu
genießen, jeder ruft ein einzelnes Bild in der Erinnerung wach,
eingesponnen in eine alte Geschichte, wie das Rattenfängermärchen,
oder in eine ganz besondere Lage. Sie hängen auch gar nicht alle eng an der
Schnur der Weser. Osnabrück und Detmold sind sogar sehr weit von ihr
entfernt, und auch Herford und Bückeburg liegen noch einige
15 Kilometer seitab von Fluß. Doch nennen wir sie alle ohne
Bedenken in einem Atem, und ihr Zusammenklang weckt ein einheitliches Bild:
das Weserbergland. Wie hängt das zusammen?
Am Nordrand des Rheinisch-Westfälischen Schiefergebirges läuft
der alte Hellweg entlang. Wenn wir ihn nach Osten geradlinig verlängern,
treffen wir ungefähr auf die Ecke des Harzes bei Goslar. Wir können
einmal in Gedanken diese Linie als den idealen Nordrand des Mittelgebirges
gegen das Tiefland ansehen. Die Weser überschreitet diese Linie etwa bei
Höxter. Die Berge, die ihren Lauf dort auf beiden Ufern begleiten, stellen
sich uns dann als eine Art von zweifacher Mole dar, wie sie die Mündungen
kleinerer Flüsse ins Meer hinaus häufig einfassen. So auf beiden
Seiten von Bergketten geführt, von denen die westliche klar erkennbare im
rechten Winkel an der Nordostecke des Schiefergebirges ansetzt, die
östliche aber, vielfach zerteilt, in stumpfem fast gestrecktem Winkel vom
Harz sich abstößt, zieht die Weser dem eigentlichen Tiefland zu.
Man spürt ordentlich, wie sie, im Bestreben den kürzesten Weg zum
Meere zu finden, an die östliche Mole anprallt, die sich ihr, langsam nach
Nordwesten umbiegend, in den Weg legt. Eine ganz entsprechende
Krümmung beschreibt die linke Mole. Die Weser fließt dann eine
ganze Strecke lang dicht an der östlichen Bergwand, die langsam immer
dünner wird und zugleich immer mehr nach Westen dreht. Als die
Westrichtung fast erreicht ist, findet der Fluß eine Öffnung in der
Mauer, die Porta Westfalica, und bricht nach Norden ins Tiefland aus.
Die beiden Molen laufen die letzten 70 Kilometer, immer näher
zusammenstrebend, in west-nordwestlicher Richtung allein, ohne Weser durch das
Tiefland. Aber die Weser gehört eigentlich in ihre Wände. Und sie
floß auch einmal zwischen ihnen dahin. Derselbe Gletscher, der in der
Eiszeit die Porta Westfalica bis auf ihre heutige Breite ausgesägt hat, hat
bei diesem Bemühen zugleich ja die Pforte selber verschlossen
gehalten.
[97-112=Fotos]
[113] Damals also ist die Weser bestimmt in ihren zwei
Wänden geblieben und hat das breite, flach geneigte Bett von Oeynhausen
bis Osnabrück gewühlt, in dem sich heute zwei schmale
Flüsschen, Else und Hase 20 Kilometer vor Osnabrück nur mit
Mühe entscheiden können, ob sie gemeinsam nach Westen
fließen oder sich trennen und nach zwei entgegengesetzten Richtungen das
Tal "hinauf" und "hinunter" fließen wollen, wie es dann schließlich
geschieht: eine echte Bifurkation oder Gabelung.
Später, als das Eis die westfälische Pforte freigegeben hat, aber noch
nicht sehr weit zurückgewichen ist, hat die Weser eine Zeitlang noch am
äußeren Rande der Molen entlang ihren Weg nach Nordwesten
gesucht. Sowie jedoch das Tieflandeis völlig abgeschmolzen ist, wendet sie
sich in gerader Richtung auf ihrem heutigen Weg nach Norden. Sie hat von da an
als Tieflandfluß nichts mehr mit dem Weserbergland zu tun.
Das Weserbergland müßte also eigentlich, von seinem
namengebenden Fluß aus betrachtet, in zwei Teile zerfallen. Daß eine
solche Zerlegung in der Geschichte wirksam geworden ist, werden wir noch
sehen. Und trotzdem nennen wir die Landschaft in ihrer ganzen Ausdehnung von
der Spitze an, mit der sie hinter Osnabrück im Tiefland versinkt, bis
über Höxter hinauf einheitlich das Weserbergland.
Diese Einheit ist von außen gesehen. Vom Tiefland her, in das diese
Bergwelt als keilförmiges Hindernis hineinragt, erscheint sie als Einheit.
Die Grundlage dieser Einheit ist also keine positive, etwa eine das Ganze
verbindende und zusammenschließende Straße oder Flußlinie,
sondern eine negative: die Existenz als Hindernis im Wege aller von Westen nach
Osten und umgekehrt Wandernden.
Und so werden an diesem Gebilde die wichtigsten Punkte diejenigen sein, an
denen man es passieren kann: die Öffnungen in den Gebirgswällen,
und die wichtigsten Richtungen die Verbindungen dieser Punkte: die
Querlinien der Durchgangsstraßen. Das begünstigt
natürlich eine weitere Zerlegung des ganzen Gebietes in einzelne
Abschnitte, wie sie uns schon durch das Ausscheiden der Weser vorgebildet
erschien.
Die heute wichtigste dieser Durchgangslinien ist durch die bequeme
Öffnung der Porta bestimmt, der im Westen der Paß von Bielefeld
entspricht. Diese Linie, die von allen die geringsten Steigungen aufweist, wird
von der Köln - Berliner Eisenbahn benutzt. Sie ist damit
zugleich unter allen die verkehrsreichste. An ihrem westlichen Eingang entsteht
die einzige moderne Großstadt des Weserberglandes, Bielefeld.
Die Haupteisenbahnstrecke des Weserberglandes fällt also mit einer
Querlinie zusammen. Eine Weseruferbahn gibt es nicht. Nur als Abzweigung von
dieser Hauptstrecke folgt eine Strecke von Löhne aus dem ehemaligen
Wesertal nach Osnabrück, wo eine zweite Querbahn, die Strecke
Bremen - Münster, das Weserbergland kreuzt. Nach der
anderen Richtung begleitet eine zweite Abzweigung von Löhne aus den
Lauf der Weser ein Stück weit bis Hameln, um dort zusammen mit der
Bahn, die von Altenbeken her das Bergland quert, in Richtung auf Hannover und
Hildesheim das Wesertal zu verlassen. Von Altenbeken aus [114] geht auch in leicht nach
Süden geneigter Richtung eine Bahnlinie quer durch das Bergland, trifft bei
Höxter auf die Weser, überschreitet sie und verläßt sie
alsbald wieder in Richtung auf Kreiensen und Northeim. Von Höxter aus
nach Westen verläßt schließlich noch die Strecke nach
Brilon - Arnsberg die Weser.
Das sind alles Eisenbahnhauptstrecken; und keine von ihnen benutzt das
Weserbergland in der Längsrichtung länger als ein kurzes
Stück, um es dann an der passenden Stelle zu queren.
Auch die großen Fernverkehrsstraßen gehen, gewissermaßen im
Zickzack, immer quer zur Richtung des Flußtals durch das Weserbergland:
Nr. 61 von Minden nach Bielefeld, Nr. 66 von Bielefeld nach
Hameln, Nr. 1 von Hameln nach Paderborn, Nr. 64 von Paderborn
nach Holzminden. Keine folgt dem Lauf der Weser.
Es wäre auch eine ganz falsche Vorstellung, wollte man erwarten, zwischen
den zwei Bergmauern, von denen wir der Einfachheit halber gesprochen haben,
ein geräumiges flaches geradlinig von Süden nach Norden weisendes
Tal vorzufinden. Nicht einmal in der Gegend der Porta, wo beide Mauern wirklich
als schmale klar erkennbare Bergketten sich aus der Ebene heben, würde
jemand, der, von Osten her kommend, die Weserkette überschritte, von
ihrem Kamm aus über ein Tal hinweg im Westen den Teutoburger Wald
aufragen sehen. Statt dessen sieht er vor sich, jenseits der Weser, ein kaum
entwirrbares Geschiebe von Bergketten, die ihm, 30 Kilometer tief
gestaffelt, den jenseitigen Wall verdecken.
An dieser Hügelwelt entlang schlängelt die Weser ihren Pfad. Oft ist
am oberen Lauf, wo die Berge so eng aneinandertreten, daß bald rechts, bald
links das Steilufer unmittelbar in den Fluß abfällt, kaum so viel Platz,
daß auf Kunstbauten, eng an die Bergwand gedrückt, eine
Straße dem Flusse folgen kann.
Nicht nur die Eisenbahn hat dieses umwegreiche Tal bisher vermieden, auch im
Mittelalter wird man sich gerne einen anderen Weg gesucht haben. Das Wesertal
zwischen Karlshafen und Hannoversch-Münden wird immer so wie heute
zu den stillsten Räumen des nordwestlichen Deutschland
gehört haben.
Bei Hannoversch-Münden bricht der Lauf der Weser, dem wir
aufwärts gefolgt sind, auf einmal ab. Jeder der Teilflüsse, die sich
hier erst zur Weser vereinigen, führt einen eigenen Namen, und jeder
führt uns in eine neue Landschaft: die Werra nach Thüringen und
nach Hessen die Fulda. Auch wenn man einen von beiden, also die Werra, als die
eigentliche Weser ansehen oder ansprechen will, so ist doch keine von beiden
stark genug gewesen, um seinen Namen über die Mundartgrenze
hinüber zu erhalten.
Wir stehen hier an einer Grenze. Hannoversch-Münden ist die letzte Stadt,
die sich ausdrücklich "hannoversch" nennt. In nächster Nähe
läuft von Osten nach Westen quer durch das Weserbergland, vom
Rothaargebirge herüber zum Harz die niederdeutsche
Sprachgrenze. Wenn man aus dem stillen Tal auf die unsäglich
einsamen Berge des Reinhardtswaldes und Bramwaldes [115] hinaufsteigt, wo auf
weite Strecken hin nicht mehr als fünf Menschen auf dem Quadratkilometer
wohnen, so ist es, als spüre man heute noch, im gepflegten Forst, die
hemmende und erstickende Macht der schweigenden frühgeschichtlichen
Wälder, die hier wie an der Rothaar dem Vordringen der Sachsen des
Tieflandes ein Ende setzten.
Man hat darauf hingewiesen, daß die niederdeutsche Sprachgrenze nicht
beim Vordringen der Sachsen entstanden, sondern hervorgerufen sei durch "das
Vorrücken der hochdeutschen Lautverschiebung von Süden her",
"der sich in dem politisch erstarkten und vielleicht auch zu kultureller Abwehr
geneigten niederdeutschen Volkstum eine Mauer entgegenstellte". Damit ist die
Erklärung aber nur hinausgeschoben. Denn welche Elemente, wenn nicht
die Sachsen, haben denn diese "politische Erstarkung" des niederdeutschen
Volkstums herbeigeführt, sei es nun auf dem Wege friedlicher
Durchdringung, freiwilligen Zusammenschlusses der übrigen Völker
unter ihrem Namen oder gewaltsamer Unterwerfung?
Also sagen wir nocheinmal: bis hierher, bis in diese Gasse zwischen zwei
schweigenden Waldgebieten, die in
Hannoversch-Münden endet, sind die Sachsen des Tieflandes oder ihre
Wirkungen, was für uns dasselbe ist, vorgedrungen.
Hinter den Wänden der Gasse, im Westen und im Osten, greift andererseits
mitteldeutsches Volkstum nach Norden herauf. Jenseits des Reinhardtswaldes
streckt mit der Diemel und ihren Nebenflüssen, die teilweise direkt von
Kassel kommen, das ehemalige Kurfürstentum Hessen seinen Arm bis an
die Weser, wo Karlshafen eine hessische Gründung ist.
Die Diemel, an der die Grenze zwischen der heutigen Provinz
Hessen-Nassau und Westfalen entlangläuft, ist seit den Sachsenkriegen
Karls des Großen die Südgrenze sächsischen Gebietes
geblieben, wobei das Tal der Diemel selbst kulturell und wirtschaftlich dem
Süden zugehört.
So wie hier sehen wir am ganzen Lauf der Weser und noch in dem
nördlichen Tal, das sie längst verlassen hat, von Osten und Westen
her die verschiedensten Arme nach den Uferländern greifen und jeweils
einen Abschnitt an sich reißen, der ihnen wichtig ist.
Während Hessen-Nassau gleich oberhalb von Karlshafen ein Stück
weit über die Weser hinüberreicht, schiebt sich Hannover bei
Münden über die Werra und ein langes Stück an der Fulda
entlang gegen Kassel hin.
Gleich unterhalb von Karlshafen wird das Gedränge am dichtesten.
Hannover und Hessen-Nassau werden fast zur selben Zeit abgelöst von
Braunschweig und Westfalen, die sich bis hinter Holzminden an beiden Ufern des
Flusses gegenüber stehenbleiben. Bei Bodenwerder überschreitet ein
Zipfel braunschweigischen Gebietes den Fluß, um Hameln herum sind
beide Ufer wieder hannoversch. Dafür klettert bei Rinteln von Norden her
Schaumburg-Lippe auf den Kamm der Weserkette, und von Süden her
erreicht Lippe-Detmold auf ein kurzes Stück den Fluß. Aber dann
legt Westfalen, quer über beide Ketten hinweg und durch die Porta
hindurch den flüchtigen Fluß in das Tiefland verfolgend, die
schärfste Zäsur durch das Bergland. Es ist die Linie
Bielefeld - Minden, [116] die wir schon genannt
haben. Noch einmal greift dann von Norden her Hannover mit Osnabrück
quer über beide Ketten, und das Ende des Berglandes verteilt sich
schließlich an Westfalen und Hannover.
Es will zu diesem Bilde politischer Zerrissenheit nicht passen, daß
die Weser einmal das Rückgrat eines einheitlichen Volksstammes, der
Engern, gewesen sein soll. Das heißt: es ist schon fraglich, ob der Ausdruck
"Stamm" hier überhaupt Berechtigung hat. Wie die Westfalen und Ostfalen
sind die Engern wohl als eine Art militärische Organisation verschiedener
Stämme anzusehen, entstanden in der Zeit feindlicher Auseinandersetzung
mit den Franken. Ihr Gebiet dürfen wir ungefähr im Weserbergland,
vielleicht ohne Osnabrück, erkennen, also etwa soweit, wie heute noch das
Mindische, Ravensbergische, Lippische, Paderbornische, Göttingische,
Hamelnsche und Calenbergisch-Hannoversche als engrische Mundarten
bezeichnet werden.
Aber im Gegensatz zu Westfalen und Ostfalen hat sich dieses engrische Gebilde
nicht auf die Dauer halten können. Westfalen in der rings umschlossenen
Bucht, in der weichen, träumerischen Luft seines Klimas, blieb fast passiv,
aber auch unbeweglich und unverändert durch alle Zeiten. In Ostfalen
sammelten die Herzöge von Sachsen, im Rücken den Harz und vor
sich die Tiefebene und die gefährliche Unruhe der Slawengrenze, die ganze
politische Stoßkraft ihres Landes zur Führung des Reiches und noch
einmal später in der Gestalt des Löwen zur Grundlage eines
mächtigen Territoriums.
Dieser unwiderstehlichen Aktivität auf der Seite des Harzes und der
unerschütterlichen Ruhe in der westfälischen Bucht hat das engrische
Weserbergland nichts entgegenzusetzen. Es wird auseinandergerissen wie
zwischen zwei Magneten. Im 12. Jahrhundert beginnt man und im
13. Jahrhundert ist man es gewohnt, den inhaltlos gewordenen Namen
einfach fortzulassen. Von Engern ist fortan nicht mehr die Rede. Westfalen reicht
im großen und ganzen bis zur Weser, und östlich der Weser entsteht
der Begriff Niedersachsen.
Vielleicht hat sich ein ganz ähnlicher Vorgang schon einmal in dieser
Landschaft abgespielt, als die Cherusker aus der deutschen Geschichte
verschwanden.
Das Volk des Arminius hat durch seine Taten bewiesen, daß das
Weserbergland eine hervorragende Festung ist, die, strategisch geschickt
verwendet, zur furchtbaren Waffe in der Hand des mit ihr vertrauten
Kämpfers werden kann. Sein spurloser Untergang aber im gleichen ersten
Jahrhundert nach Christo legt den Gedanken doch nahe, daß das
Weserbergland in sich keine Kräfte birgt, die einem politischen Gebilde
feste Form verleihen können.
In einer Zeit, in der die einzelnen Stämme, dem Wandern noch durchaus
nicht entwöhnt, eine Volksburg großen Stils gebrauchen
können, aus der man zu Beutezügen hervorbricht und in die man sich
nach geglücktem Unternehmen wieder zurückzieht, in einer solchen
Zeit ist das Weserbergland ein hervorragender Stützpunkt für alle
militärischen Unternehmungen. Und die Niederlage des Varus im
Jahre 9 nach Christo hängt, wo man ihren Schauplatz auch suchen
mag, auf jeden Fall zusammen mit der Natur dieses quer durch das Tiefland
streifenden Systems natürlicher Bergwälle.
[117] Aber nachdem diese
Berge den Vormarsch der Römer zum Scheitern gebracht haben, ist ihre
Rolle in der deutschen Geschichte ausgespielt. Politische Gebilde haben in
Zukunft immer nur an ihren Ein- und Aus- und Durchgängen und also in
einer verwirrenden und sich gegenseitig hemmenden Vielzahl angeknüpft.
Die Einigung auch dieses Teiles des deutschen Bodens mußte von
außen, mußte von Preußen her kommen.
Karl der Große
aber, als er seine Bistümer im
Weserbergland gründete, hat mit ihrer Hilfe nicht eine bestehende Einheit
zerschlagen, sondern nur mit sicherem Blick zerlegt, was immer schon
auseinanderfallen wollte.
Da ist zuerst Osnabrück. An dem Punkt, wo die Enden der
Bergketten einander mit ihren Ausläufern auf fast 10 Kilometer
nahekommen, und die Hase zwischen ihnen hindurch den Weg ins Tiefland
öffnet, liegt ein Schlachtfeld der Sachsenkriege. Um 783 schlug Karl der
Große hier das Heer des Wittekind.
Und das Bistum an dieser Stelle hatte
natürlich auch seine militärische Bedeutung. Der Osnabrücker
Bahnhof, ein Etagenbahnhof, in dem sich auf zwei verschiedenen Ebenen die
Linien Hannover - Amsterdam und
Bremen - Ruhrgebiet kreuzen, ist ein Sinnbild für die
Kreuzwegfunktion der Stadt.
[100]
Lüneburg. Kaufhaus und Kran.
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Ihre moderne Entwicklung bekam noch eine besondere Eigenart innerhalb des
Weserberglandes dadurch, daß am Piesberg nördlich der Stadt und
am Schafberg bei Ibbenbüren im Westen Steinkohle vorkommt,
wiederauftauchende Teile der großen Kohlenflöze des Ruhrgebietes,
die unter der westfälischen Bucht versunken waren. Dazu wurden Erze am
Schafberg und am Hüggel gefunden. Beides zusammen führte zur
Entstehung lebhafter Industrie - Georgs-Marien-Hütte und
Osnabrücker Eisen- und Stahlwerk mit über 6300 Arbeitern und
Osnabrücker Kupfer- und Drahtwerke mit über 1700
Arbeitern - die allerdings heute überwiegend auf ausländische
Erze angewiesen ist und sogar ihre Kohlen zum Teil vom Ruhrgebiet bezieht,
obwohl bei Ibbenbüren immer noch
500 000 - 600 000 Tonnen Kohle jährlich
gewonnen werden.
Auch die Nähe und gute Verbindung zum Mittelland- und
Dortmund-Ems-Kanal erhöht natürlich die moderne Betriebsamkeit.
Und so ist Osnabrück heute mit 94 300 Einwohnern eine der
wenigen industriellen Städte des Weserberglandes, nur vergleichbar weiter
im Süden den Städten der Zone
Minden - Bielefeld.
Dazwischen aber breitet sich, gerahmt von steilen, steinbruchzerklüfteten
Bergketten stilles Hügelland um Hase und Else mit rein ländlicher
Bebauung und viel Schweinezucht. Den südwestlichen Rahmen bildet der
Teutoburger Wald, buchenbestandener Kalkstein mit Sandstein in zwei bis drei
schmalen parallelen Kämmen wechselnd; das Ganze nur wenige Kilometer
breit, aber vom Anfang im Nordwesten bis zum 468 Meter hohen
Völmerstot im Südosten, wo die Richtung des Bergzuges nach
Süden umbiegt, rund hundert Kilometer lang.
Der Name "Teutoburger Wald" stammt aus der Wissenschaft des
19. Jahrhunderts. Der alte schöne Name ist Osning
(Asen-Egge). Der Name Egge (Kamm) ist heute noch in dem Teile südlich
des Völmerstot erhalten. Auf der anderen Seite des Weserberglandes
entspricht dem Teutoburger Wald das durchschnittlich 200 Meter hohe
Wiehengebirge.
[118] Ab und an kerben
kleine Quertäler den Zug der Ketten. Tecklenburg und Ravensberg,
ehemals Burgen kleiner Territorialherren im Teutoburger Wald, hüten
solche Durchgänge, die in die Gebiete von Osnabrück oder Minden
führen.
Denn das ist nun allerdings das Ergebnis der Bistumsgründungen Karls des
Großen: nach seinem Tode und zunehmend im späteren Mittelalter
wurden ihre zunächst durchaus als königliche Beamte geltenden
Verwalter immer selbständiger, und die schließliche Folge war,
daß neben den Bistums-Staaten, die die wichtigsten Punkte des
Weserberglandes besetzt hielten, kleine rivalisierende weltliche Staaten an
Nebeneingängen entstanden, von denen aus man die bischöflichen
Haupttore umgehen konnte. Auf solche Weise vervielfachte sich das von Natur
schon reiche Bild der politischen Unterteilung bis zur Verwirrung.
Ein weiteres Ergebnis war, daß in diesem so bunt aus geistlichen und
weltlichen Staaten zusammengesetzten Lande die Reformation ganz andere
Ansatzpunkte zu ihrer Ausbreitung finden konnte, als in dem einheitlich
bischöflichen Münsterland.
Man hat die Weser den protestantischen Fluß Deutschlands
genannt. Da spricht nun mit, daß sie sozusagen mit einem Fuß, mit
der Fulda, mitten im protestantischen Mitteldeutschland, in Hessen steht, und
daß von dort aus, von wo übrigens auch schon die christliche Mission
der Karolinger ihren Weg weserabwärts genommen
hatte - Hameln, von Fulda aus 779 gegründet, ist das älteste
Kloster in Niedersachsen - nun auch die Reformation leicht ihren Einzug in
das nördliche Bergland halten konnte. Von Hessen aus kommen
schließlich auch französische Protestanten am Anfang des
18. Jahrhunderts an die Weser. Waldenser sind in Gottstreu und
Gewissensruh nicht weit von Karlshafen angesiedelt.
Einheitlich aber ist auch die Reformation im Weserbergland nicht zur Auswirkung
gekommen. Rein protestantischen Gebieten unterhalb von Holzminden und auf
dem rechten Weserufer stehen rein katholische in dem breiten Zipfel
gegenüber, mit dem Westfalen an die obere Weser heranreicht und wo das
Bistum Paderborn seine alte Aufgabe, auf die Zeit der Glaubenskämpfe
angewendet, richtig erfüllt hat. Und in Osnabrück, dessen
Bevölkerung sich zur Hälfte dem neuen Glauben zugewendet hatte,
ist es nach dem Dreißigjährigen Kriege, dessen
Friedensverhandlungen die Protestanten ja von Osnabrück aus
führen, zu der grotesken und bis zur Säkularisierung gültigen
Bestimmung gekommen, daß dem Bistum abwechselnd ein Protestant und
ein Katholik vorstehen solle.
Am interessantesten, weil am kompliziertesten, ist die Verflechtung geistlicher
und weltlicher Herrschaften und ihre Auswirkung auf das heutige Bild in der
volkreichen Zone zwischen Minden und Bielefeld zu beobachten.
Es ist kein Wunder, daß an einem Ort, der strategisch so günstig war,
daß Arminius im Jahre 16 nach Christo hier bei Idistaviso einem
Acht-Legionen-Heere des Germanicus in offener Feldschlacht entgegenzutreten
wagte, als erster [119] Herr der Bischof
erscheint. Die Porta Westfalica, eingerahmt von den germanischen Burgen des
Nammer Lagers und der sogenannten Wittekindsburg, ist eben einer der
wichtigsten und am leichtesten zu verteidigenden Eingänge in die
Weserfestung gewesen.
Der Mindener Dom, mit seinem prächtigen romanischen
Westwerk, zeigt in der wunderbaren, an besten gotischen Vorbildern geschulten
Schönheit seines Innenraumes, daß in der Zeit um 1300 der Ort noch
ebenso an der großen Straße gelegen haben muß, wie zur Zeit
seiner Gründung. Im Gegenteil, die Bedeutung dieses Durchganges ist
eigentlich stetig gewachsen. Und wenn trotzdem, trotz Eisenbahn und
Mittellandkanal der letzten hundert Jahre Minden heute noch eine Kleinstadt von
27 000 Einwohnern ist, dann will es beinahe scheinen, als ob die
Konkurrenten, die an diesem wichtigen Punkte sich drängen, sich
gegenseitig am Großwerden gehindert hätten.
Ein ganzes Stück ins Vorland hinaus greifen an dieser Stelle die politischen
Kräfte des Weserberglandes. Am Steinhuder Meer endet die
Kombination. Mit ihm beginnt die Moorlandschaft der Geest. Im Süden
legt sich ihm eine Hügelkette, die letzten Ausläufer des Berglandes,
die Rehburger Berge vor. Wer diese Berge besitzt, kann von hier aus, im
Rücken das Steinhuder Meer und seine sumpfigen Flanken, alle Wege von
Minden nach Norden und Osten sperren.
Sperren sind hier schon sehr früh gewesen. An der gleichen Stelle, wo noch
heute in Dialekt und Körperwuchs sich eine Grenze erkennen
läßt, lief im 1. Jahrhundert nach Christo in der
Verlängerung der Rehburger Berge zwischen der Weser und dem Loccumer
Moor der Grenzwall zwischen Angrivariern im Norden und Cheruskern im
Süden, an dem Arminius im Jahre 16, nach dem Treffen bei
Idistaviso an der Porta, dem Germanicus eine zweite Schlacht lieferte. Und heute
läuft hier noch die Provinzgrenze, ehemals die Grenze zwischen dem
Bistum Minden und der Grafschaft Hoya.
Kein Wunder also, daß die Grafen von Schaumburg, deren
Stammburg einen der Durchgänge durch das Wesergebirge südlich
der Porta besetzt hält, ihre Hände nach hierhin ausstrecken. Noch
heute legt sich der kleine Staat, der kleinste im Deutschen Reiche, nur wenig
größer als die Hansestadt Hamburg, quer über die
Minden - Hannoversche Bahn von den Weserbergen bis zum
Steinhuder Meer, in dem sogar im 18. Jahrhundert eine künstliche
Insel, der Wilhelmstein, als Befestigung angelegt wurde, auf der dann Scharnhorst,
der in der Nähe, in Bordenau an der Leine geboren war, seine
militärischen Ausbildungsjahre von
1773 - 1777 verbrachte.
Übrigens stammt aus diesem kleinen Herrscherhaus der Graf Adolf von
Schaumburg-Holstein, der in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts
die Kolonisierung der Slawenländer östlich der Niederelbe
leitete.
Es ist ein kleinteiliges, ursprünglich vermutlich sehr waldreiches Land.
Erstaunlich viele Ortsnamen wie Stadthagen, Sachsenhagen, Probsthagen,
Wendthagen, Hagenburg lassen erkennen, wie viele Siedlungen der
Rodungstätigkeit des hohen Mittelalters ihre Entstehung verdanken. Heute
noch nimmt ein großer Wald die Hälfte auch des flachen Landes im
Staatsgebiet ein und [120] umschließt ein
reizendes Jagdschloß, das Schloß Baum, in dem die gleiche
schreinermäßig zierliche Spätrenaissance ihr Wesen treibt, wie
in Schloß und Kirche der späteren Residenzstadt
Bückeburg.
Und hier in Bückeburg und den benachbarten Kirchspielen Lindhorst und
Nenndorf treffen wir nun auch auf eins der ganz wenigen Gebiete alter
Volkstrachten in Nordwestdeutschland. Ganz dem im Kleinen reichen und
zierlichen Charakter des Ländchens und seiner Residenz entsprechend
gehört die Tracht nach dem Urteil Helms zum Kostbarsten und
Schönsten, was wir in Deutschland noch haben. In den Kopfbedeckungen,
den großen Schleifenhauben der Bückeburgerin und den steilen
Kappen der Lindhorster Bäuerin haben wir junge Bildungen,
bäuerliche Reaktionen auf die zunehmende Pracht der städtischen
Kleidung vor uns. Sie sind erst nach 1870 entstanden. Alte Tracht aber und den
beiden Spielarten gemeinsam ist der leuchtend rote Rock, die buntgestickten
Schultertücher, die aus Perlen gestrickten halblangen "Handschen" und
schließlich die große kreisrunde aus Silber getriebene Brustspange, in
der alte germanische Schmucktradition weiterzuleben scheint.
Und ebenso auffallend wie Mindens standhaft bewahrte Kleinheit ist es, daß
diese Tracht noch heute lebt und nicht etwa in der Einsamkeit sich erhalten hat,
sondern in unmittelbarer Nähe der
D-Zugstrecke nach Hannover, ja, in der Großstadt selbst zu einem
häufig zu beobachtenden Element der vom Bahnhofsverkehr
berührten Straßen gehört.
Es ist ein Land der Gegensätze. Und ein Land, in dem jeder Gegensatz
seine Eigenart recht hartnäckig zu bewahren trachtet. Wie sollte das anders
gut gehen, als wenn Humoristen sich der Sache annehmen, Menschen,
die einen offenen Blick für Eigenarten haben und die Berechtigung aus der
verschrobensten Eigenart mit einem leisen Lächeln einzusehen imstande
sind?
In Wiedensahl, halbwegs zwischen Minden und dem Steinhuder Meer, ist Wilhelm Busch
geboren. Er gehört in die gleiche Menschenwelt, die Wilhelm Raabe
als echter Dichter verklärt; in Eschershausen, mitten im
Weserbergland geboren, ist er in Holzminden an der Weser zur Schule gegangen.
Und in Bodenwerder, etwas weiter flußabwärts, saß ein
Jahrhundert früher der Freiherr Hieronymus von Münchhausen in
seinem Gartenhäuschen und erzählte seinen Freunden die tollen
Geschichten, die heute noch als Exempel einer grotesken Freude am
Aufeinanderprallen der unerwarteten Gegensätze belustigen.
Nur ein wenig dem Tragischen zugewendet, aber stets gern bereit den Sprung ins
Groteske und Komische zu vollführen, schrieb Grabbe, in seiner Freude an
kruder Gegensätzlichkeit ein echtes Kind des Weserlandes, in Detmold, wo
er geboren war, seine Dramen und Lustspiele, von denen das schönste die
Schicksale seiner engsten Heimat, die Kämpfe des Arminius gegen die
Römer, behandelt.
Detmold ist ein Gegenstück zu Bückeburg. Residenz und
Hauptstadt eines der kleinsten deutschen Staaten, der aber beharrlich seine
Eigenart und Existenz durch die großen Wandlungen der letzten
Jahrhunderte gerettet hat und sich erst 1880 dazu entschloß, seine
Hauptstadt durch eine Eisenbahn mit Herford und der großen
Durchgangsstrecke zu verbinden.
[121] Der Name
Lippe-Detmold macht uns darauf aufmerksam, daß eine von außen
kommende Macht, die Herren zur Lippe, hier ins Weserbergland hineingegriffen
haben. Heute gehört noch Lippstadt als Exklave in preußischem
Gebiet zu Lippe-Detmold. Der entscheidende Gebirgsübergang, auf dem
Lippe-Detmold aufbaut, führt bei Horn über den Teutoburger Wald,
oder wie dieses kleine Stück bezeichnenderweise heißt: den
Lippischen Wald.
Auch die Bedeutung dieses Punktes scheint in früh- und vorgeschichtliche
Zeit hinabzureichen. Nicht weit von Horn, in den ersten Paßschluchten des
Gebirges ragen einige aus dem Sandstein der Berge ausgewaschene Steinpfeiler
bis über 37 Meter Höhe auf, die Externsteine, an denen
vielleicht schon ein germanisches Heiligtum sich befunden hat. Jedenfalls machen
die christlichen Kapellen am Fuß und am Kopf der Pfeiler irgendwelche
heidnischen Vorgänger wahrscheinlich, und die sonderbare fast
erschreckende Erscheinung der steinernen Riesen im Kranz hochstämmiger
Buchen hat sicher schon früh die Empfindung des Volkes erregt.
Heute noch überschreitet übrigens hier die Reichsstraße Nr. 1
"Reichsgrenze - Gumbinnen" den Teutoburger Wald und
führt, auf und ab durch das anschließende Hügelland, an drei
von den sechs lippischen Städten, an Horn, Blomberg und Barntrup vorbei,
um dann allerdings nicht nach dem Weserübergang, auf den sich Lippe
richtete, Rinteln, sondern nach dem bequemeren Übergang von Hameln
hinabzusteigen.
Die schönste alte Stadt in Lippe ist Lemgo. Sein Rathaus ist ein
prächtiges Beispiel für eine nur scheinbar planlose, im Grunde aber
mit geheimem Taktgefühl aus den verschiedensten Bauteilen malerisch
zusammengefügte architektonische Schöpfung. Das wissende und
fast humoristisch hinnehmende Verhältnis des Künstlers zur
persönlichen, ja, man möchte sagen "kauzigen" Eigenart jeder Form
ist die Quelle, aus der solches Können fließt. Daß solche
Begabung nicht zu großzügigem Organisieren berufen ist, versteht
sich von selbst. Und so ist Lemgo, wie Lippe und Schaumburg und Minden, klein
geblieben, obwohl es heute auch an der
spezifisch-lippischen Möbelindustrie teilnimmt.
Neben der Landwirtschaft, die in diesem lößreichen Ländchen
natürlich den größten Teil der Bevölkerung
beschäftigt, ist dieses Gewerbe das wichtigste. Es baut sich auf dem
Reichtum an Wäldern auf, die ein Viertel des lippischen Bodens bedecken,
und die auch einer größeren Papierindustrie das Material liefern.
Aber trotz alledem ist Lippe industriell und wirtschaftlich doch
unverhältnismäßig zurückgeblieben. Erst 1903 ist es
durch die erste Reichsbankstelle in Detmold an den großen deutschen
Kapitalmarkt angeschlossen worden. Dieses Zurückbleiben ist um so
auffallender, als gleich jenseits der Landesgrenzen, im Norden, auf dem gleichen
Boden, der außer
Kalk- und Sandsteinen keine verwertbaren Mineralien enthält, im
Ravensbergischen und Mindener Gebiet eine sehr lebhafte Industrie sich
entwickeln konnte. Die Bevölkerungsdichte steigt dort auf 891
gegenüber 144 im Lippischen.
Da ist das Eingreifen Preußens zu spüren. Zwar hat sich manche alte
Eigenart dabei verwischt, die gesonderte Existenz eines Landes Ravensberg,
[122] der Landschaft um
Bielefeld, hat ebenso wie die hartnäckig verteidigte Freiheit der alten
Abteistadt Herford geopfert werden müssen. Dafür aber hat
Preußen, das diese Gebiete mit Minden seit dem Ende des
17. Jahrhunderts besitzt, im 19. Jahrhundert in der kritischen Epoche
der Industrialisierung mit Prämien, Subventionen und Krediten für
Maschinenkäufe die alte Leinenindustrie des Ravensberger Landes in das
Maschinenzeitalter hinübergerettet, während Lippe durch das strikte
Verbot, maschinelle Spinnereien und Webereien zu errichten, nur erreichte,
daß die Handweberei abstarb, ohne einen Erben zu hinterlassen. Die Folge
war, daß der Bevölkerungszuwachs in Lippe nicht vom industriellen
Aufbau aufgenommen werden konnte, sondern nach außerhalb auf
Wanderarbeit gehen mußte. Lippische Ziegler und Bauarbeiter wanderten,
besonders viel vor dem Kriege, jeden Sommer ins Ruhrgebiet.
Auch im Ravensbergischen mußten zur Leinenindustrie, die nicht alle
früher in Heimarbeit tätig gewesenen Kräfte aufnehmen
konnte, ein neues Ersatzgewerbe hinzutreten. Man führte seit der Mitte des
19. Jahrhunderts die Tabakverarbeitung ein, in der 1925 im
Regierungsbezirk Minden 28 873 Personen beschäftigt waren, davon
etwa sieben Achtel in Heimarbeit. Die verkehrsgünstige Lage des Gebietes
erleichtert die Anfuhr des Tabaks, der über Bremen und Hamburg bezogen
wird. 1500 Millionen Zigarren sind 1927/28 in Westfalen und Lippe hergestellt.
Die wichtigsten Sitze dieser Industrie reihen sich längs der Bahn.
Oeynhausen, Löhne, Minden, auch Herford und Enger gehören
dazu.
Enger, wo Widukind
begraben liegt, und Herford, wo das älteste
Frauenkloster der Landschaft um 822 gegründet worden ist, hätten
mit ihrer reichen Umgebung, in der die ältesten und stolzesten
Sachsenhöfe des Weserlandes liegen, wohl zum Mittelpunkt für
diesen Teil des Berglandes werden können. Dem hat allerdings die
periphere Lage des mächtigen Bistums Minden entgegengewirkt. Und
solche Gesichtspunkte werden Karl den Großen vielleicht doch geleitet
haben.
Am interessantesten und aufschlußreichsten für die strategischen
Linien in dieser Weserberglandschaft ist seine Idee, in Herstelle, nicht weit
unterhalb von Karlshafen ein Bistum zu gründen. Er hat den Ort nach
Heristal in seiner Heimat an der Maas genannt; und seine, später nicht zur
Ausführung gekommene Absicht war, mit diesem Bistum einen
militärischen Endpunkt für die Diemellinie zu schaffen, an der das
heutige Marsberg, die alte Eresburg, die Karl gleich auf seinem ersten Zuge
erobern mußte, allein uns schon darauf hinweist, welche Bedeutung diesem
südlichen Frontabschnitt des Sachsenlandes zukommt.
Zwanzig Kilometer weserabwärts liegt Corvey, dessen Name von
dem französischen Kloster Corbie abgeleitet ist. Auch seine
Gründung bezeichnet einen der wichtigsten Punkte des Weserberglandes.
Von Westen her erreicht hier die Straße von Westfalen und Paderborn, die
bei Driburg die Egge im Schutz einer alten germanischen Burg, der Iburg,
überschreitet, dem Tale der Nethe folgend die Weser, flankiert von der
Brunsburg, die Karl bei seinem zweiten [123] Sachsenzug hat erobern
müssen, als ihm die Sachsen hier den Übergang über die
Weser verlegen wollten.
[102]
Corvey (Weser). Eingang zum ehemaligen Benediktinerstift (gegründet 822).
|
Einer direkten Fortsetzung der Straße nach Osten stellt sich der
Solling in den Weg, eine ohne jedes Quertal bis zu 528 Meter
Höhe ansteigende Buntsandsteinwölbung. Von Höxter bis
Hameln zeugen die dunkelvioletten Sandsteinplatten der Dächer von der
Leistungsfähigkeit der Steinbrüche in Solling. Seine
Oberfläche ist zu 80 Prozent mit Wald bedeckt, vorwiegend
Nadelhölzer; und weit nach Süden über Uslar und nach
Norden über Holzminden müssen die Wege ausholen, um an ihm
vorbei nach Osten weiterzukommen. Die Abtei Corvey, die natürlich zum
Bistum Paderborn gehörte, beherrschte also eine der wichtigsten
Straßengabeln des Weserberglandes.
Es ist demgegenüber durchaus verständlich, daß die weltliche
Herrschaft am anderen Ufer, das welfische Braunschweig sich bemüht hat,
jedenfalls den nördlichen dieser beiden Wege völlig zu beherrschen.
Schon Holzminden ist braunschweigisch; und ganz an der Weser hinauf bis
oberhalb von Corvey streckt sich der eine Arm braunschweigischen Gebietes,
bereit, alle Wege über den Solling abzufangen; an seinem Ende das
Schloß Fürstenberg, wo im 18. Jahrhundert eine
Porzellanmanufaktur eingerichtet wurde. Aber auch weserabwärts begleitet
das braunschweigische Territorium den Fluß und sperrt auf der hohen Kante
des Ith bis auf die Höhe von Hameln jeden Weg nach Osten.
Von Hameln aus aber ist eine Umgehung dieser braunschweigischen
Sperre möglich, und hier führt schon in ältester Zeit eine der
Hauptwege von Westen nach Osten, der Weg nach Hildesheim, der durch den
karolingischen Königshof Coppenbrügge gekennzeichnet wird, und
ein zweiter, der am Deister vorbei direkt nach Hannover führt. Zumal der
letztere, der heute von der Reichsstraße Nr. 1 benutzt wird, hat
Hameln auch in unserer Zeit einen starken Duchgangsverkehr verschafft.
An diesem Ausgang aus dem Weserbergland hat Widukind dem großen
Karl eine seiner schwersten Niederlagen am "Berge Süntel" beigebracht,
und im Siebenjährigen Kriege haben die Franzosen hier durch ihren Sieg
bei Hastenbeck im Jahre 1757 über den Herzog von Cumberland sich den
Eingang nach Hannover erkämpft.
Hamelns älteste Bedeutung hing ebensosehr wie an den
Durchgangsstraßen an der Stromenge des Hamelner Lochs, die einen
Umschlagplatz der Weserschiffahrt an dieser Stelle erforderte und indirekt wohl
auch den Anlaß zur Anlage von Mühlen gab.
Quern-Hameln, Mühlen-Hameln hieß die Stadt im Anfang; und auch
heute arbeiten hier noch große Mühlenwerke.
Hameln ist berühmt als die Stadt der Weserrenaissance, eine Architektur,
deren Verbreitung sich ganz an die Weser knüpft und an die
Transportmöglichkeiten des Werksteins, der vorwiegend in den Bergen bei
Obernkirchen, nicht weit von Bückeburg, gebrochen wurde. Von
Hannoversch-Münden bis Bückeburg und Stadthagen finden sich
verwandte Bauten, schließlich die letzten in Bremen, dem Hauptbezugsort
des Obernkirchener Sandsteins im 16. und 17. Jahrhundert, ab und an auch
noch an den Nebenflüssen der Weser, [124] zumal an der Aller, in
Celle und Gifhorn. Am dichtesten sammeln sie sich um Hameln, in
Hämelschenburg, in Lemgo, in Rinteln, in Vahrenholz.
[103]
Bückeberg. Trachtentanz beim Erntedankfest.
[103]
Bückeberg. Staatsakt am Erntedanktag.
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Die Art dieser Bauten, unter denen das Rattenfängerhaus und das
Hochzeitshaus in Hameln von 1602 und 1610 die berühmtesten sind, ist,
wieder der Gegend entsprechend, eine eher kleinliche als großzügige,
gekennzeichnet durch eine fast schrullenhafte Verliebtheit ins Detail und eine
lebhaft wuchernde Phantasie.
Daß hier, in einem Winkel Deutschlands, der so hartnäckig seine
Eigenarten bewahrt, daß auf dem Bückeberg bei Hameln,
alljährlich das deutsche Erntedankfest gefeiert wird, hat seinen tiefen Sinn.
Drüben im Leinetal wäre ihm schwer ein ebenso passender Platz zu
finden. Wie das Leinetal eigentlich auch keine Landschafte für Kurorte ist.
Das Vorkommen von Sole allein tut's nicht. Es gehört die stille
Abgeschlossenheit einer klein unterteilten Berglandschaft dazu, wie sie Pyrmont
und Eilsen, Driburg, Meinberg und Salzuflen, und selbst das an der Hauptstrecke
liegende Oeynhausen so wohltuend umgibt.
Das Leinetal aber ist von Natur aus Durchgangsstraße. Das ist es
schon gewesen, als im Dreißigjährigen Kriege Tilly sein Heer von
Kassel nicht die Weser hinab, sondern über
Hannoversch-Münden und die Werra zur Leine und von dort nach dem
niedersächsischen Tiefland brachte. Und ist es ebenso heute noch, wo die
Reichsstraße Nr. 3 und die
D-Zugstrecke Hamburg - Süddeutschland es benutzen.
Es ist von Grund auf anders gebaut als das Tal der Weser. Es ist kein Erosionstal,
sondern eine breite, genau von Norden nach Süden laufende Senke; den
"Leinetalgraben" nennen es die Geologen. Und nur in seinem nördlichen
Teil, zwischen Kreiensen und Elze, hat sich der Fluß selbst sein Bett
zwischen den Falten der östlichen Randberge des Weserberglandes
hindurch nagen müssen. Aber da er hier einer Hebungsachse folgen konnte,
so ist das Ergebnis zwar ein schmales, aber zugleich auch ein fast geradliniges
Tal, und von Elze aus öffnet sich schon allmählich das Tiefland.
Am südlichen Ende des Leinetalgrabens erhebt sich auf steilem Bergkegel
die hochmittelalterliche Burg Hanstein. Eine halbe Stunde zu Fuß von ihr
entfernt, näher dem Tal, steht der Arnstein, eine besser erhaltene Anlage
aus späterer Zeit. Unmittelbar zu ihren Füßen liegt der
Bahnhof Eichenberg. Dort trennen sich und treffen sich die Züge,
die vom Leinetalgraben aus zur Fulda nach Kassel, an der Werra entlang nach
Frankfurt und Würzburg und an der oberen Leine entlang, die hier nach
Osten umbiegt, nach Thüringen und Halle-Leipzig gehen.
Was heute ein Eisenbahnknotenpunkt ist, war früher eine Wegekreuzung.
Zwei Burgen an dieser Stelle sagen uns, daß es eine wichtige
Wegekreuzung war. Tilly im Jahre 1626 kam über diesen Eichenberger
[106]
Südhannoversches Bauernhaus.
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Sattel ins Leinetal. Ein Staat also, der die Leine zur Achse seines Territoriums
macht, muß mindestens bis zu dieser Kreuzung reichen. Genau an dem
Bahnknoten entlang läuft die südliche Grenze der heutigen Provinz,
des ehemaligen Königreichs Hannover.
Zwanzig Kilometer im Leinetal nach Norden treffen wir auf Göttingen, die
erste große hannoversche Stadt. Aber die Traufenhäuser seiner
Straßen sehen [125] sehr anders aus als die
einer nordhannoverschen Stadt, als etwa Celles niedersächsische
Giebelreihen. Das Leinetal ist ein bequemer Durchgangsweg nicht nur von
Norden her, sondern ganz besonders auch von Süden gewesen. In
durchschnittlich 10 Kilometer Breite auf dem linken Ufer und auf dem
östlichen Ufer in ganzer Breite bis zum Harz hat sich das mitteldeutsche
Bauernhaus ausgebreitet und ist bis fast zum Ausgang des Engtals
flußabwärts vorgedrungen.
Die Glasindustrie, die an der Leine wie an der Weser auf den
Kalksteinvorkommen aufbaut, arbeitet hier viel für die mitteldeutsche
optische Industrie, während von der Weser aus hauptsächlich die
westlichen Weinbaugebiete mit Flaschen beliefert werden. Die große
Glashütte in Freden an der Leine hat sich erst neuerdings ganz auf optisches
Glas für den mitteldeutschen Bedarf umgestellt.
Die berühmtesten Vertreter der Universität
Göttingen, die 1737 gegründet worden ist, waren in der
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die aus Hanau gebürtigen
Brüder Grimm;
1837 gingen sie beide, die zu den Göttinger Sieben
gehörten, nach Kassel zurück, weil sie sich dem autokratischen
Machtanspruch des hannoverschen Königs nicht fügen wollten.
Man merkt aus vielen Anzeichen: die enge Verkettung des Leinetals bis herunter
nach Eichenberg mit der Stadt im Norden, deren Name ehemals das Land und
jetzt die Provinz trägt, ist eine Machtfrage gewesen. Aber wie wir
angedeutet haben, eine Machtfrage, die notwendig in diesem Sinne entschieden
werden mußte, sollte das Haus des geplanten Staates keine offenen
Türen haben.
Und weit vor diesem südlichen Tor des Leinetals, im Südosten, in
Thüringen konnte sich Hannover denn auch im Jahre 1866 seinem alten
Feinde Preußen zum Kampfe stellen. Bei Langensalza wurde es geschlagen
und vernichtet.
Göttingen ist natürlich von Norden her gegründet worden.
Seine Landesherren waren zunächst die Grafen von Northeim; durch
Erbgang kam es dann an die Welfen. Und in Notfällen verband sich die
allmählich selbständig werdende Stadt, von deren Bedeutung im
16. Jahrhundert noch ihre gut erhaltene Umwallung zeugt, stets mit
niedersächsischen Städten: so mit Goslar, Hildesheim,
Braunschweig, Helmstedt, Hannover, Lüneburg und Uelzen im Jahre 1382.
Also nicht nur dynastischer Machthunger einer Territorialherrschaft hat die
Grenze bis südlich von Göttingen vorgeschoben, sondern das
eigentliche Schutzbedürfnis der selbständigen Stadt schließt
sich ebenso selbstverständlich an den Norden an. Heute lebt sie ganz von
ihrer Funktion als hannoversche Universitätsstadt.
[104]
Göttingen. Die Universität.
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Northeim liegt schon wieder 30 Kilometer weiter abwärts im
Leinetal. Die hauptsächlich von Buchen bewaldeten
Muschelkalkhöhen, die bei Göttingen im Osten am Hainberg das Tal
begleiteten, treten hier im Wieter als steile Wand nahe an den Fluß. Hinter
dieser Wand kommt vom Harz her die Ruhme und fließt bei Northeim in
die Leine. Northeim beherrscht also zwei Wege, den Leinetalweg und die
Abzweigung durch das Ruhmetal nach dem Harz und dem Eichsfeld.
[126] Der Weg nach dem
Harz war im Mittelalter und Nach-Mittelalter sehr wichtig. Denn auf dem Harz
wurde Eisenerz gebrochen, das aber dort nicht verhüttet werden konnte;
man brachte es zu dem Zweck auf den Solling. Der Eingangsort des Oberharzer
Bergreviers war Osterode am Harz, wo im 18. Jahrhundert ein riesiges
hannoversches Kornmagazin zur Versorgung der Bergwerksbetriebe errichtet
worden ist.
Northeim beherrscht zugleich aber auch den Weg nach Westen, der den Solling
südlich umgeht und nach der Diemel und Corvey führt. Kein Wunder
also, daß hier ein mächtiges Grafengeschlecht heranwächst,
das sich schließlich den Welfen verschwägert.
[105]
Einbeck (Hannover).
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Der Weg, der von Corvey her nördlich um den Solling herum führt,
trifft bei Einbeck auf das nördliche Ende des Leinetalgrabens.
Einbeck ist im Mittelalter eine der wichtigsten Städte des Leinetals
gewesen, heute aber, verglichen mit Göttingen, ganz
zurückgeblieben. Natürlich spricht da der Auftrieb mit, den
Göttingen durch die Universität bekommen hat.
Aber auch eine andere Tatsache darf man nicht übersehen. Einbeck liegt
nicht direkt im Leinetal. Vor der Enge, durch die der Fluß bei Salzderhelden
ins Engtal eintritt, hat sich wohl häufig eine Überschwemmung
gebildet; das Tal wird sumpfig gewesen sein. Die mittelalterliche Straße
und übrigens auch die moderne Chaussee haben die Talenge umgangen. Da,
wo diese von Alfeld aus durch die Berge führende Umgehungsstraße
ein wenig seitab den Leinetalgraben wieder erreicht, liegt Einbeck. Aber die
Eisenbahn hat sich den kürzeren Weg durch die Talenge erzwungen und
führt nun etwa fünf Kilometer östlich von Einbeck vorbei, das
nur durch eine Stichbahn angeschlossen ist. Der alte Ruhm seines Bieres, seine
schöne Stiftskirche, sein Rathaus mit den sonderbaren, mitteldeutsch
anmutenden Erkerturmhelmchen, alles das gehört nun einer Vergangenheit
an, von der keine Brücke in die Gegenwart führt, ist aber als Bild um
so unberührter im Kranz seiner alten Wälle erhalten.
Nichts ist bezeichnender für die moderne Eisenbahnbedeutung des
Leinetals, als daß der kleine Knotenpunkt Kreiensen, im
Flußtal selbst, keine 10 Kilometer von Einbeck entfernt, eine ganz
junge Gründung vom Charakter Lehrtes, Eichenbergs und Bebras heute
bekannter ist als das alte seitab liegende Einbeck.
Von Kreiensen bis Elze durcheilt der Zug mit großer Geschwindigkeit ein
geradliniges enges, an seinen Hängen bewaldetes Tal, ohne geschichtlich
bedeutsame Besiedlung außer der kleinen spätmittelalterlichen Stadt
Alfeld.
Elze aber ist wieder ein Punkt von landschaftlicher Wichtigkeit. Wir
haben den dichten Gürtel der östlichen Randberge des
Weserberglandes durchstoßen und kommen in das Gebiet der
nördlich vorgelagerten Hügel. Nach links öffnet sich zwischen
dem Osterwald und der nördlichen Spitze des Ith der Weg über
Coppenbrügge nach Hameln, nach rechts um den Hildesheimer Wald
herum geht ein Weg nach Hildesheim und weiter das
Innerste-Tal aufwärts zum Harz.
Daß Karl der Große an diesem Platz, dem östlichen Ausgang
des Weserberglandes, ein Bistum hat errichten wollen, das denen von Herstelle im
Süden, Osnabrück im Norden, Minden vor dem nordöstlichen
Eingang und Pader- [127] born vor dem
südwestlichen Eingang entsprochen haben würde, ist sehr
wahrscheinlich. Vielleicht ist es auch errichtet worden, aber kurze Zeit
später, bald nach 814 ist es nach Hildesheim verlegt worden. Heute ist der
Ort nur als Eisenbahnknotenpunkt wichtig, ebenso wie Nordstemmen, ein paar
Kilometer weiter flußabwärts, wo heute die Bahn nach Hildesheim
abzweigt.
Bei Nordstemmen treten die Bahn und die Leine gleichzeitig aus dem Bergland in
das nur noch flachgewellte Vorland und damit ins Angesicht des eigentlichen
Tieflandes. Die Grenze ist eine etwa von Südosten nach Nordwesten
verlaufende Linie, gebildet aus dem Hildesheimer Wald, dem Deister
östlich der Leine und wieder weiter östlich von ihm den Rehburger
Bergen. An dieser Linie entlang ist der "Hellweg vor dem Santforde",
die große frühgeschichtliche Verkehrsstraße von der Porta
Westfalica zum Harz gezogen.
Karolingische Burgen, die Heisterburg und die Bennigster Burg auf den beiden
Ecken des Deisters haben ihn gedeckt; auch die vorgeschichtliche Anlage der
Marienburg gegenüber Nordstemmen wird wohl mit dieser Straße,
vermutlich mit ihrem Übergang über die Leine zu tun gehabt haben.
Hannover aber, oder vielmehr sein heutiger damals noch unbebauter Platz, an
dessen östlicher Flanke schon die Moore der Geest beginnen, blieb damals
noch abseits dieser großen Straße liegen.
Nur die Leinetalstraße führte in ihrer Verlängerung nach
Norden an ihm vorbei und überschritt sogar die Leine, die gerade hier,
abgelenkt durch eine Moränenlage, nach Westen abbiegt. Der
Fährverkehr wird hier die erste dörfliche Siedlung, noch unter
anderem Namen, haben entstehen lassen. Vielleicht kam auch schon Schiffahrt
und Handel hinzu. Wir wissen jedenfalls aus späterer Zeit, daß im
12. Jahrhundert friesische Schiffe die Leine herauf bis Elze gefahren
sind.
Der Platz, an dem die Stadt Hannover entstehen soll, wird wichtiger und
zugleich deutlicher festgelegt, als Hildesheim gegründet wird. Denn der
Weg vom Bistum Hildesheim zum Bistum Bremen geht die Innerste
abwärts, die Leine abwärts und, immer auf dem rechten Ufer der
Leine entlang, nach Neustadt, wo die Leine überschritten wird und der Weg
nach Nienburg zur Weser überspringt.
Hildesheimer und Nienburger Straße heißen heute noch die beiden
Straßen, die in der Längsrichtung des Altstadtgrundrisses nach
Hannover herein und wieder hinaus führen. Im 12. Jahrhundert wird
die Marktniederlassung an diesem Straßenzug auf dem rechten Leineufer in
aller Form eingerichtet worden sein; 1241 erhält der junge Ort Stadtrecht;
um 1300 ist die Befestigung in vollem Gang; 1371 entledigt sich die Stadt der
grundherrlichen Zwingburg auf der anderen Leineseite.
Zur gleichen Zeit entstehen die drei Pfarrkirchen und das Rathaus. Der
Backsteinbau des Marktkirchenturmes und die Rathausgiebel sind so norddeutsch
wie irgendwelche verwandten Bauten in Lüneburg. Hannover liegt zwar am
Kopf der Leinestraße, durch die das Mitteldeutsche hereinflutet, aber es
gehört selbst ganz und gar zum norddeutschen Tiefland.
[128] Seine
Bürgerbauten haben Stil, seine kümmerliche Malerei und Skulptur
tritt völlig zurück, wie es bei einer Stadt der Geest nicht anders zu
erwarten ist. Sein bedeutendster Künstler ist Laves, der Architekt des
Klassizismus, der das Gesicht der seit 1820 auf den niedergelegten Wällen
entstehenden Promenaden - der
Georgstraße - bestimmt und der, in Uslar geboren, in Kassel und
Göttingen ausgebildet, sozusagen auf der Leinetalstraße nach
Hannover gekommen ist.
Nachdem das hannoversche Herrscherhaus 1714 den englischen
Königsthron bestiegen hatte, hatte es für ein Jahrhundert geschienen,
als sollte die Stadt, die bis dahin ohne Aufenthalt, aber auch ohne
Überstürzung ihre Größe und Bedeutung erweitert hatte,
mit den französischen Gärten von Herrenhausen und den kleineren
Schlössern längs der Großen Allee nun doch in das stille
Dasein einer gewesenen Residenzstadt versinken. Aber im Jahre 1837 löst
die Thronbesteigung der Königin Viktoria die Personalunion mit England
auf. Hannover wird unter dem Hause Cumberland selbständig und
erhält in Ernst August den starrköpfig konservativsten, aber auch den
energischsten Herrscher des damaligen Deutschland.
In seinen Regierungsjahren beginnt mit der Einführung der Eisenbahn und
der Industrie Hannovers letzter Aufschwung, der es nun mit einem Male an die
Spitze aller konkurrierenden niedersächsischen Städte
trägt.
Die Leinetallinie, die der hannoversche Staat schon im 18. Jahrhundert
durch große Chausseebauten zur Hauptverkehrslinie nach dem Süden
erhoben hatte, wird durch die Eisenbahn endgültig in ihrer Bedeutung
festgelegt. Von Wunstorf und Lehrte her vereinigen sich die Bremer und
Hamburger Linie in Hannover, um von dort in den Richtungen nach
Hameln - Altenbeken, Göttingen,
Hildesheim - Goslar und
Braunschweig - Magdeburg wieder auseinanderzustrahlen. Quer
durch legt sich die große
West-Ost-Achse Köln - Berlin, die moderne Nachfolgerin der
Straße, die im frühen Mittelalter eng an den Rand des Deisters
geschmiegt südlich von Hannover vorbeigeführt hatte.
Die Industrie vereinigt die Vorteile der Gebirgsrandlage: Steinkohle im Deister
bei Barsinghausen und Asphaltgruben in Limmer mit den Bodenschätzen
des Tieflandes: Kali und Salze und Erdöl auf der Lehrter Salzlinie und bei
Nienhagen und Wietze an der Aller. Hannover verfügt über Torf aus
den Mooren, die den ganzen Osten der Stadt umgeben, und liegt nahe genug an
der See, um mit Vorteil eine Industrie aufbauen zu können, die ganz auf
Einfuhr ihrer Rohstoffe angewiesen ist wie die Continental Caoutchuk und
Guttapercha Compagnie. Seine Firmen sind über Deutschland hinaus
berühmt: Günter Wagner Farben, Hanomag Automobile, Bahlsen
Keks.
Seine Einwohnerzahl, die beim Tode Ernst Augusts die 30 000 eben
überschritten hatte, stand 1936 auf 448 000.
Den großartigsten Anblick bietet es dem, der es abends, mit dem Wagen aus
Hameln kommend, von den letzten Hügeln herab erblickt. Das Auge, eben
noch gewohnt, das Blickfeld durch Berge begrenzt zu sehen, taucht auf einmal in
einen grenzenlosen Himmel und in eine grenzenlose Ebene darunter. Den [129-136=Fotos]
[137] Horizont zwischen beiden nimmt die flache und ein wenig
formlos ausgebreitete Masse der Häuser Hannovers ein, überglitzert
von der vergoldeten Kuppel seines Rathauses, überragt von der ernsten
Vertikale des Marktkirchenturmes, und mit den weit herausgeschobenen
Vororten, dem dunklen Fleck der Eilenriede, dem Spiegel des neugeschaffenen
Maschsees und dem Gewirr seiner Schrebergärten sich in der
norddeutschen Tiefebene fast verlierend.
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