Nordwestdeutschland - Georg Hoeltje
Das Münsterland
Auf unserem Wege von Südwesten her haben wir in den Wäldern
des Sauerlandes zum erstenmal das Wort "westfälisch" ausgesprochen. Die
Verse Peter Hilles lockten es auf die Lippen, jene sonderbar formlosen Zeilen, in
denen ein Liebender den Wald feiert.
War es nicht, als ob Gefühle, die unter einer auferlegten Welt von
Götterbildern und Heiligengestalten wie verdeckt gewesen waren, in diesen
Worten wieder ans Licht träten? Als ob den Bauernvölkern, die vor
Jahrtausenden in diesen Wäldern erschauernd ihre Gottheit suchten, die
Zunge wieder gelöst würde?
Zweitausend Jahre - und aus einem Wirbel von vermenschlichten Bildern,
keltischen, römischen, christlichen, taucht das alte bilderlose Gefühl
wieder auf. Nicht sofort - noch einmal beschwört der Dichter am
Anfang die alten Namen... vergeblich. Und erst als es in seinem Herzen namenlos
aufsteigt, kommt das Geahnte zu ihm in "sausender Stille" und "donnerdunklem
Rauschen".
Wie ein ungeheurer, blanker Wasserspiegel, auf dem die ungeschehenen Dinge
der Zukunft schon ihre leisen Wellenringe malen, den "Spökenkiekern"
sichtbar, und die längst versunkenen Vergangenheiten des Volkes noch
zittern, liegt diese Stille der Seele, die eine Stille der Landschaft ist, über
Westfalen.
"Sonderbares Land, in dem alles ewig zu sein scheint", ruft der Magdeburger
Immermann im Jahre 1838 aus. "Ewig" ist die stillstehende Zeit. Und nur wer der
täglich rollenden unendlich ferngerückt ist, dem mag ihr Lauf als
Unbeweglichkeit erscheinen; ihr sausendes Rad klingt dann so leise, daß der
kaum noch hörbare Nachhall einer versunkenen Welt es leicht
übertönt.
Im Sauerland und am Hellweg wird man dieses tiefste und ganz bewegungslose
Westfalen heute vergeblich suchen; und vielleicht lag es hier nie. Im
Münsterland aber, nördlich der Lippe, ist die Stille noch in unseren
Tagen fast ungebrochen.
Hier ist Westfalens Mitte, und wer hier geboren ist, der nennt sich einen
"Stockwestfalen" und "fügt noch Gottseidank hinzu", wie Annette Freiin
von Droste-Hülshoff, die mit diesen Worten im Jahre 1838 die
schöne Beschreibung ihrer Heimat beginnt, im gleichen Jahr, in dem
Immermanns Münchhausen erscheint, und zur selben Zeit, in der
man ringsumher in Deutschland Westfalen zu entdecken anfängt.
[88] Haus Hülshoff
liegt knapp zwei Stunden von Münster entfernt, und Münster ist in
diesem Mittelstück Westfalens nun wieder fast genau der mittelste Punkt.
35 Kilometer weit im Süden fließt die Lippe, bis 1803 die Grenze
für das Fürstbistum Münster und heute für den
gleichnamigen Regierungsbezirk; 35 Kilometer nördlich liegt Rheine,
hinter dem das hannoversche Emsland beginnt, und Bevergern, wo vom
Dortmund-Ems-Kanal der Mittellandkanal abzweigt und um die letzten
Ausläufer des Teutoburger Waldes herum der östlichen Tiefebene
zustrebt.
Der Teutoburger Wald selbst ist der nördliche Arm einer großen
Zange, die, mit dem Schiefergebirge im Süden, das Münsterland von
zwei Seiten umfaßt. Die wichtigste Pforte im Teutoburger Wald ist
Bielefeld, wo infolgedessen auch schon sehr früh eine selbständige
Herrschaft, die Grafschaft Ravensberg, sich erhebt, die 1614 an Preußen
fällt.
Bis Bielefeld sind es von Münster aus etwa 60 Kilometer in der Luftlinie.
Und genau in der gleichen Entfernung nach Westen trifft man die vierte Grenze
des Münsterlandes, die gegen Holland, die uralte Grenze zwischen
sächsischem und fränkischem Stammesgebiet, wo in Vreden 1024
nach dem Tode des letzten Ottonen die Enkelinnen Ottos d. Gr. den
neuen König Konrad II., aus salischem Stamme,
begrüßen, als er, vom Rhein her kommend, Sachsen das erste Mal
betritt.
Hier im Westen scheinen alle Tore des Münsterlandes weit offenzustehen.
Hier treiben die Wolken herein, gleiten über das flache Land, schlagen an
den inselartigen Höhen der Baumberge kurz vor Münster ein wenig
Wasser nieder und ergießen den größten Teil ihrer Fracht an
den höher aufragenden Wänden der Gebirgszange im Osten.
Von dort strömt das Wasser zurück, sucht sich am Rande der Bucht,
deren Boden in der Mitte flach aufgebogen ist wie der Boden eines Tellers, in
zwei Armen: Ems und Lippe seinen Weg und rieselt von den Baumbergen in
vielen Quellbächen, die sich entweder mit Ems und Lippe vereinen oder
selbständig wie Berkel und Vechte ihren Weg nach Westen suchen, dem
allgemeinen Gefälle des Bodens folgend, auf die Niederlande zu, gegen die
der "Teller" auf einer etwa von Rheine nach Dorsten laufenden Linie zackig
abbricht.
Das Gelände sinkt hier unter 50 Meter Meereshöhe und gleich
jenseits der holländischen Grenze unter 25 Meter, und Heide und Moor
beginnen ihre eintönige Herrschaft, so wie sie im Norden hinter Rheine die
Ems empfangen.
Unter dem Boden des Münsterlandes aber spürt man immer die
Struktur der mächtigen Kreidetafel, deren in geologischen Meeren
abgelagerte Schichten, Mergel und Kalkstein, an den Rändern aufgebogen
dem Raum einen festen Rahmen geben und sogar im Innern der Bucht in einigen
Erhebungen, den Baumbergen und den Beckumer Bergen, die dünne Decke
eiszeitlichen Lehms durchstoßend, Steinbrüche und Kalköfen
tragen.
Im großen und ganzen liegen diese Gesteinsschichten flach, die kleinen
Flüsse gehen träge durch das Land; nur wenig mehr als ein Drittel
der Niederschläge fließt mit ihnen ab, etwa zwei Drittel verdunsten
und sättigen die Luft mit Feuchtigkeit. Dieser milden Luft wegen liebte die
Droste das Land: "Der [89] feuchte Boden ist dem
Blumenwuchs und den Singvögeln so zuträglich, daß man in
der schönen Jahreszeit von Düften, Farbe und Gesang berauscht
vergißt, daß alles fehlt, was man sonst von schöner Gegend zu
fordern pflegt - Gebirg, Strom, Felsen." Das Gras wächst
üppig auf den Weiden bei dem stetig milden und feuchten Klima,
allenthalben liegen wiederkäuende Rinder in den von Hecken und
Zäunen umfriedeten Kämpen, und wenn nicht ab und an eine kleine
Bodenwelle den Blick begrenzte, könnte man an Holland
denken.
Man denkt an Holland, wenn man durch Münsters Straßen
geht. Ist es der viele Backstein an den Häusern, sind es die glatten
Wände mit den nüchternen Fenstern oder ist es die helle, saubere und
ein bißchen langsame Art, in der die Straßen laufen? Es ist von allem
etwas: es ist Verwandtschaft. Aber der Himmel ist doch nicht ganz so hoch, der
Boden ist fester, die See ist nicht in der Nähe, und ringsum sind Berge zu
spüren.
Die Menschen lieben hier die Geborgenheit. Hinter Wallhecken liegen die
Wiesenstücke, still und verschlossen wie sonntägliche Zimmer, und
hinter Häusern und Domherrenhöfen steht auf stillem, leerem Platz
der Dom.
Gelbgrau schimmert der Stein zwischen grünen Linden. Im 18. Jahrhundert
hat der fürstbischöfliche Architekt Joh. Konr. Schlaun sie pflanzen
lassen. Zwischen die Wände des Domhofes spannen sie ihr Laubdach.
Wege gehen hin und her durch die Reihen ihrer Stämme, von der Kirche zu
den Häusern und zurück, geborgen unter diesem Gewölbe aus
Blättern und Himmel, Vögeln und Duft. Ein umfriedeter kirchlicher
Garten. Bezaubernde Laubengänge zwischen dem Alltag der Straßen
und dem Eingang ins Heiligtum.
Und der Raum da drinnen, in dessen Dämmerung du eintrittst wie in einen
Wald, scheint ohne Schranken gleich dem natürlichen Raum und ebenso
rund und in sich geschlossen. Man spürt die Luft in den Bogen
körperlich wie die atmosphärische Hülle der Erde, man glaubt
an Stürme, die in den weiten Hallen entstehen könnten.
Ein steinernes Himmelsgewölbe umzirkt den Boden, auf dem die Gemeinde
steht. Solange es eine mittelalterliche Kirche gab, haben westfälische
Baumeister diese Aufgabe schlicht und einfach zu erfüllen versucht.
Schwere breite und einheitliche Hallenkirchen beherrschen die Baukunst des
Landes. In Legden und Billerbeck, in Coesfeld, Lüdinghausen,
Wiedenbrück und Warendorf stehen sie in romanischen und gotischen
Formen.
Und als nach den Stürmen der Reformationszeit und der Glaubenskriege
die alte Kirche wieder neue Blüten treibt, da ist es wieder Westfalens
Boden, wo einer ihrer größten Baumeister lebt, Joh. Konr. Schlaun.
Zwar bedient er sich als Mensch des 18. Jahrhunderts einer Sprache, die mit
italienischen Worten durchsetzt ist. Aber was er meint, ist westfälisch und
alt. Es spricht aus dem Kuppelraum der Clemenskirche in Münster:
machtvolle Einheitlichkeit eines ruhenden, rings umhegten Raumes; und es
spricht ebenso aus den Adelshöfen, die er in Münster gebaut hat.
Münster, der Mittelpunkt des Landes, ist reich an solchen
Stadtpalästen des Landadels. Der Erbdrostenhof, von Schlaun im Jahre
1757 für den Erbdrosten [90] Freiherrn von
Droste-Vischering errichtet, ist der berühmteste. Unbeschreiblich, wie der
Architekt auf engem Raum mitten in den Straßenzügen der alten
Stadt durch ein leises, wieder in Italien erlerntes Zurückbiegen der Fassade
Luft schafft für einen stillen vornehmen Ehrenhof, der hinter Lanzengittern
und Rokokoportal traumhaft verschlossen sich dehnt.
[98]
Münster (Westfalen). Der Schmisinger Hof.
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Die ganze Eigenart einer solchen echt westfälischen Raumphantasie
offenbart sich am Gegensatz zu dem älteren Beverförder Hof. Von
einem Vorgänger Schlauns, dem von dänischen Eltern in
Münster geborenen Gottfried Laurenz Pictorius um 1700 erbaut, steht er
geradlinig, rechtwinklig, glattflächig, sauber und ein wenig nüchtern
an der Straße - auch ein Stück Westfalen, aber eins, das
apathisch dem damals mächtigen Holland folgt, dem Holland des
Klassizismus und Rationalismus.
Das Tor nach Westen steht immer weit offen, und Westfalens Stille gleicht
oftmals aufs Haar der satten Bewegungslosigkeit des reichen Landes an der See.
Aber dann kommt immer wieder ein Schlaun und baut Phantasien, die in
Amsterdam sich sonderbar ausnehmen würden; es kommt eine Annette von
Droste-Hülshoff und facht das glimmende Feuer der Gesichte und
Erscheinungen wieder an, und es kommt eine Fürstin Gallitzin und
versammelt in Münster um sich eine "Heilige Familie"
gläubig-geistiger Männer und Frauen.
Annette von Droste-Hülshoff stammt aus dem Lande selbst. Die Vorfahren
Schlauns waren vom Niederrhein gekommen, saßen aber schon seit zwei
Generationen in Westfalen, wo Schlaun in Noerde bei Warburg geboren wurde.
Der aus Berlin stammenden Fürstin Gallitzin aber wird Westfalen zur
Wahlheimat, als sie im Jahre 1779, des Lebens an den Höfen von Berlin
und dem Haag überdrüssig, 31 Jahre alt nach Münster
kommt.
Der Ruf des Ministers Fürstenberg, der damals im Bistum auf allen
Gebieten der Verwaltung und zumal im Schulwesen musterhafte Reformen im
Sinne der Aufklärung durchführt, hat die Fürstin, die schon
mit 24 Jahren sich entschlossen hat, nur der Erziehung ihrer Kinder und den
Wissenschaften zu leben, nach Münster gezogen. 27 Jahre lebt sie hier,
27mal erlebt sie den Sommer unter den Bäumen von Angelmodde, einem
kleinen Dorf in der Nähe der Stadt. Und diese Frau, die erfüllt von
den philosophischen Ideen des Holländers Hemsterhuis und des Franzosen
Diderot bildungshungrig und wissensdurstig nach Münster gekommen ist,
erlebt in diesen 27 Jahren eine tiefe Verwandlung, die sie auf ihren Grabstein
schreiben läßt: "Ich achte alles für Schaden gegen die alles
übertreffende Erkenntnis Christi."
Als Goethe
1792 auf der Rückreise vom Feldzug in Frankreich die
Fürstin besucht, ist sie schon auf ihrem neuen Wege. Man merkt seinem
Urteil Zurückhaltung an. "Die Fürstin", schreibt er, "kam früh
zum Gefühl, daß die Welt uns nichts gebe, daß man sich in sich
selbst zurückziehen, daß man in einem inneren beschränkten
Kreise um Zeit und Ewigkeit besorgt sein müsse." Aber selbst aus diesen
bewußt verschlossenen Worten steigt das leuchtende Bild der
Münsterschen Landschaft auf, in derem "beschränktem Kreis"
Amalie von Gallitzin die wahre Ewigkeit gefunden hat.
[91] Münster hat die
Wiedertäufer-Revolte erlebt. Die Anführer kamen aus
Holland, und unter ihrer eifernden Hetze wurde, was andernorts in Deutschland
wahrhaft Reformation war, zum wahnwitzigen Zerrbild. Und schwankend wie ein
Zerrbild ist der Spuk dann auch in kurzer Zeit vorübergegangen. Das Land
hat er kaum berührt. Es gehört noch heute fast ohne Ausnahme dem
alten Glauben an.
Man darf es nie vergessen: der Reformator war der Sohn eines Bergmanns; im
Leben der Städte, unter Menschen, die Gewerbe und Handel trieben und
deren Gehirne unruhiger und schneller arbeiteten als die von Bauern, hat er seiner
Lehre die Form gegeben und seine ersten Anhänger gewonnen. Und an den
großen Straßen und in den gewerbereichen Tälern, im
Märkischen Land und an der Ruhr hat die Reformation auch in Westfalen
schließlich den Sieg davongetragen. Das Bauernvolk der Bucht aber,
nördlich der Lippe, rings um Münster, ist bei dem geblieben, woran
seine Väter glaubten.
Das Münsterland ist eine weite Masche im Netz der großen
Verkehrswege des Mittelalters. Nur die Stadt Münster selbst zieht ein paar
Straßen zu sich heran. Aber ganze Stränge von Straßen laufen
dicht verflochten am südlichen Rand längs Lippe, Hellweg und Ruhr
und im Innern des Weserberglandes östlich am Münsterland
vorbei.
Und wenn man heute die großen Eisenbahnlinien betrachtet und zumal die
Dichte des Verkehrs auf ihnen berücksichtigt, so hat sich das Bild kaum
geändert. "Zur Physiognomie der Münsterschen Bucht gehört
in hohem Maße ihre Abgeschlossenheit" (Becker). Eine
bäuerliche Bevölkerung in solchem Raum dem ewigen Kreislauf der
Jahreszeiten folgend - gibt es ein tieferes Sinnbild der Seßhaftigkeit
und Beharrlichkeit?
Noch heute sind im Regierungsbezirk
Münster - wobei wir den Zipfel südlich der Lippe ausnehmen, der ins
Ruhrgebiet hineinragt, geschichtlich nicht zu Münster gehört und
heute mit Recklinghausen und Gelsenkirchen das statistische Bild
verzerrt - 38,4 Prozent der Bevölkerung in
Forst- und Landwirtschaft tätig (gegen 23 Prozent im
Reichsdurchschnitt!) und nur 11,6 Prozent in Handel und Verkehr (gegen
16,9 Prozent im Reichsdurchschnitt und gar 18,6 Prozent in der
Rheinprovinz!).
Vor hundert Jahren war dies Bild noch ausgeprägter, und seine volle
Bedeutung spürt schon Levin Schücking auf, wenn er 1839 schreibt:
"Die Abgeschiedenheit von der Welt, diese entfernt und einsam liegenden
Höfe..., der Mangel an aller Anregung von außen her pflanzten als
Hauptcharakterzüge Selbständigkeit und Unlenksamkeit in das
Gemüt der Eingeborenen... So wuchsen sie denn wie ihre Eichen auf, stark,
harten Holzes und tief in den Boden dessen, was einmal ihnen heimisch
geworden, ihre Wurzeln schlagend. Neues trat nicht in ihren Kreis: so wurde das
Alte ihnen das Ewige und heilig."
Der fürstbischöfliche Baumeister Schlaun ist bestimmt ein Mensch
gewesen, in dessen Gesichtskreis manches Neue getreten ist. Um so erstaunlicher,
daß er im Jahre 1745, als er sich ein kleines Landgut gekauft hat, dort nicht
im modernen [92] französischen
Geschmack eine "maison de plaisance" sich errichtet, sondern ein
Bauernhaus. Denn anders kann man das kleine "Schlößchen"
Rüschhaus nicht nennen. Massiv in Backstein aufgebaut und mit Ziegeln
gedeckt ein niedersächsisches Bauernhaus mit langer tiefer Diele,
Stallungen rechts und links und im Hintergrund eine Feuerstelle.
Und nicht nur der gebildete Architekt, auch Westfalens Dichterin hat hier gelebt.
Die Stadt war für sie nur der Ort, wo die Freunde wohnen, ihre Heimat ist
immer das Land gewesen. Hier in Rüschhaus, das der Mutter seit 1826 als
Witwensitz gehörte, sind ihre Verse, auch die, die sie in Meersburg schrieb,
zu Hause. Die Schatten der Balkendecke gehören zu ihnen, zuckend im
Schein des offenen Herdfeuers, und das Wasser, das schwarz im Graben das Haus
umringt.
Wallhecke und Graben umgeben den großen Bauernhof ebenso wie den
Herrensitz. Wir sind im Land der Wasserburgen. Dem Boden, den die
Eiszeit aufgeschüttet hat, fehlen die markanten Erhebungen, auf denen
Burgen stehen könnten. So läßt man Gräben voll Wasser
laufen und wohnt auf Inseln.
Havixbeck und Westerwinkel, Hülshoff und Gemen, Burg Vischering bei
Lüdinghausen - immer das gleiche Bild: Zugbrücken, ein
Wirtschaftshof, umgeben von Speichern und Scheunen, ein zweiter Graben und
jenseits ein altes graues oder rotes Haus, schlichte Giebel, ein mächtiges
Dach, ein Turm... Rings Busch und Sumpf als Überreste einer freien
ungezähmten Landschaft, und irgendwo in einem solchen Bruch
sogar - bei Merfeld unweit Dülmen - die letzten zweihundert
Wildpferde in Europa.
Eine Ausnahme macht allein das Schloß Nordkirchen, ein
westfälisches Versailles, kurz nach 1700 für einen
Fürstbischof gebaut und mit riesigen regelmäßigen
Flügeln, perspektivisch angeordneten Portalen und mathematischer
Symmetrie ein rationalistisches Schaustück des uns bekannten
G. L. Pictorius.
Sonst aber verleugnet keines dieser Häuser und keine dieser Burgen den
Zusammenhang mit dem bäuerischen Lande. Zwar sind die Mauern ein
wenig fester und auch ein wenig
steiler - aber ein Torhaus hat auch der große Bauer an seinem Hof,
und als Herr fühlt er sich auf seinem Boden ebensosehr.
Diese Bauern sind als "Freischöffen" die Träger der
westfälischen Femgerichte gewesen. Bis um das Jahr 1500 in
Blüte, war diese unabhängige Gerichtsbarkeit der unmittelbare
Ausdruck für das starre unbeugsame Rechtsgefühl der alten "Freien"
im Volke. Aber die Freiheit, die hier gemeint ist, will beileibe nicht als
persönliche Freiheit verstanden werden. Welche Fessel könnte
schwerer wiegen als das "Anerbenrecht", das nur einem Sohne den Hof gibt, die
anderen aber von dannen weist? Und doch haben alle diese Bauerngeschlechter
dies Recht sich auferlegt und getragen um der Freiheit ihres Hofes willen. Die
Sache geht vor der Person.
Sachlich denken ist überhaupt Bauernart. Sachlich beschreibt die Droste in
dem Gedicht "Die Mergelgrube" den Boden der Landschaft:
[93] "Stoß
Deinen Scheit drei Spannen in den Sand,
Gesteine siehst Du aus dem Schnitte ragen,
Blau, gelb, zinnoberrot, als ob zur Gant
Natur die Trödelbude aufgeschlagen.
Kein Pardelfell war je so bunt gefleckt,
Kein Rebhuhn, keine Wachtel so gescheckt
Als das Gerölle, gleitend wie vom Schliff,
Sich aus der Scholle bröckelt bei dem Griff
Der Hand, dem Scharren mit des Fußes Spitze."
Tatbestand und Vorgang werden gleichmäßig anschaulich. So sieht
auch der Spökenkieker die Einzelheiten bevorstehender
Ereignisse von außen wie ein Chronist, er beschreibt den Leiterwagen, der
umschlägt, den hellen Hut, den eine fremde Frau bei der Beerdigung
trägt, und die Uniformen, die kommendes Kriegsvolk
schmücken.
Und alles das geht nicht von ihm aus. Die Bilder haben ihn. Die Gabe, die viel
verbreitet ist, wird von den Betroffenen mehr erlitten als geübt. Es ist
manches von dem stummen Abwarten und Hinnehmen des
Unabänderlichen in ihr, das zur Westfalenart nun einmal gehört.
Der Eifer der Wiedertäufer war fremd in Münster, aber die stille
Bilderreihe der Visionen, die Katharina Emmerich in Dülmen gehabt hat,
gehört ins Münsterland. Mit mittelalterlicher rührender Treue
beschreibt sie Gewänder, Hauben und Schuhe, Größe und
Gestalt des Schleiers, den Maria auf der Flucht nach Ägypten trug und die
Einrichtung ihres Hauses in Ephesus.
So losgelöst mag manche solche Einzelheit nur sonderlich und jedenfalls
alltäglich klingen. Aber vielleicht ist das die tiefste Weisheit des
westfälischen Stammes und Landes, daß keine Sache so gering ist,
daß sie nicht, wenn sie nur innig ergriffen wird, wärmen und leuchten
könnte.
Man muß ein kleines Rätsellied hören, das bei der Flachsernte
gesungen wurde:
"Als ich was jung un schon,
Trug ich eine blaue Kron;
Als ich was alt un stief,
Band man mir'n Strick ums Lief;
Dann ward ich geschunden un geschlagen
Un schließlich von Fürsten und Herren
getragen."
Wie hier, bewußt oder unbewußt, das Leiden Christi einklingt in das
Blühen, Ernten, Streifen und Brechen des Flachses, wie eine tiefe und innig
fühlende Phantasie die einfachsten Dinge und Hantierungen mit Bedeutung
umwebt, das gibt Ahnung von der zarten, ganz innerlichen und eben deshalb
allem äußeren Tun und Denken zugrunde liegenden
Religiosität dieser Menschen.
Die sie am besten kannte, Annette von
Droste-Hülshoff, hat von ihren
Landsleuten gesagt: "Der Münsterländer besitzt den Mut der Liebe
und einer unter dem Schein des Phlegmas versteckten schwärmerischen
Religiosität, [94] sowie er
überhaupt durch Eigenschaften des Herzens ersetzt, was ihm an
Geistesschärfe abgeht..."
Der Münsterländer? Das Münsterland... es ist dies Land voller
Wiesen, in dem Annette ihre traumhaft schönen Verse fand:
"Süße Ruh', süßer Taumel im
Gras,
Von des Krautes Arom' umhaucht,
Tiefe Flut, tief, tieftrunkene Flut,
Wenn die Wolk am Azure verraucht..."
es ist dasselbe Land, das sich früher auf weiten Flächen im Juni und
Juli mit blauen Blüten bedeckte, den Blüten des
Flachses.
Zwar waren es nicht die berühmten Gespinstfasern von Flandern und
Brabant, die man hier und jenseits der Grenze in Holland erntete, aber eine gute
zweite Qualität von Flachs und Hanf brachte das milde Seeklima in
Westfalen doch immer hervor. Heute wird Baumwolle und Jute an ihrer Stelle
versponnen und verwebt.
Der Anbau des Flachses und zumal seine Ernte und Aufbereitung verlangte eine
sehr langwierige und intensive Arbeit, die nicht einmal sehr hoch bezahlt werden
konnte; so begannen, seit im Süden die Fabrikarbeit lockte, die
Arbeitskräfte abzuwandern, und die Flachsfelder nahmen von Jahr zu Jahr
ab.
An ihrer Stelle wuchsen die Kartoffel- und Kornfelder und ganz besonders die
Viehweiden. Denn das Industriegebiet brauchte Nahrungsmittel. Aus mehr als 90
Orten des Münsterlandes rollen täglich Milchwagen ins
Industriegebiet, teilweise über Entfernungen von 100 Kilometern.
Die alte Textiltradition aber hat jedenfalls in der verarbeitenden Industrie eine
Fortsetzung gefunden. Im Anschluß an das Beispiel des benachbarten
holländischen Bezirks der Twente ist hier im Westen des
Münsterlandes ein "Industriegebiet" entstanden. Aber der Name kann
falsche Vorstellungen erwecken. Die Städte, in denen sich die Spinnereien
und Webereien konzentrieren, Bocholt, Gronau, Rheine, Coesfeld, Ahaus,
Burgsteinfurt, haben Einwohnerzahlen, die nicht viel über 30 000
und teilweise sogar unter 10 000 liegen. Zwar verbindet eine
Ferngasleitung auch die abgelegensten: Gronau und Burgsteinfurt mit dem
Ruhrbezirk; und Enschede in Holland, mit seinen 100 000 Einwohnern nur
sechs Kilometer von Gronau entfernt, ist ein
Beispiel - aber zunächst ist die Landschaft noch mächtiger und
beherrscht mit Wiesenniederungen, Mooren und Wäldern das Bild.
Und die einzige Stadt des Münsterlandes, sein namengebender Mittelpunkt
bleibt das alte Münster. Mimigerneford, wie es ehemals
hieß - eine Furt durch die Aa gab den Namen; und wie viele
Städte im Münsterland heißen noch nach ihrer Lage am
Wasser! - Mimigerneford war vermutlich schon in altsächsischer
Zeit ein Kultmittelpunkt des Lands. Wo der Dom heute steht, auf dem
Hügel oberhalb der Furt, sucht man seine alte Stelle.
Dann kamen die Franken und die Bistumsgründung durch Ludger. Die
Sachsen, die so zähen Widerstand geleistet hatten, wurden die treuesten
Bürger [95] des neuen Reiches. Viel
später - als es sich für Westfalen darum handelte, in
Preußen aufzugehen - schrieb Levin Schücking mit klarem
Blick für diese Eigenschaft seiner Landsleute: "Bei dem Festhalten der
Westfalen an dem ihnen einmal ins Bewußtsein übergegangenen ist
zu erwarten, daß sie die treuesten und loyalsten Untertanen des
preußischen Staates sein werden, sobald die Zeit diesen ihnen heimisch und
zu etwas Angestammtem gemacht hat."
Mimigerneford nimmt in christlicher Zeit den Namen Münster an. Das
heißt, sein Schwerpunkt rückt nun ganz ins Kultische, Geistliche,
Geistige - und ist dort bis heute geblieben. Mit 120 000 Einwohnern
in unseren Tagen ist es keineswegs eine Industrie- und Arbeiterstadt. Sitz der
Verwaltung, Sitz des Bischofs und Universitätsstadt, ist es der geistige
Brennpunkt münsterländischen Lebens.
Der Dortmund-Ems-Kanal, der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts an der Stadt
vorüberführt, hat ebensowenig ein wirtschaftliches Fieber in dem
gesunden Körper hervorrufen können, wie die Tatsache, daß
bis vor die Tore der Stadt die Felder für einen in Zukunft etwa
möglichen Abbau der Kohlen vergeben sind, die vorläufig noch
unberührt in 1400 Meter Tiefe unter der Erdoberfläche liegen.
Die Textilindustrie im Westen des Landes hat sich in gesunden Grenzen gehalten
und ebenso im Osten die auch aus alter Flachsverarbeitung entwickelte moderne
Qualitäts-Leinen- und Wäscheindustrie Bielefelds und des
Ravensberger Landes, an die sich organisch Nähmaschinenherstellung und
feinmechanische Werkstätten angeschlossen haben.
Den engsten Zusammenhang mit alter bäuerlicher Tradition aber wahrt
gewiß die Industrie, die sich zwischen Bielefeld und Münster in dem
breiten Heidesandstreifen, durch den die Ems fließt, entwickelt hat: das
Wurst- und Fleischwarengewerbe von Gütersloh, dem sich auch
kleinere Orte wie Versmold mit jährlich
70 000 - 80 000 Schlachtungen würdig an die
Seite stellen.
Der Teutoburger Wald ist nicht weit; die Eichenwälder ehemals dicht und
die Eichelmast gut. Heute sind Kartoffeln, ausländische Futtermittel und
Abfälle der großen Städte an ihre Stelle getreten. Aber die
westfälischen Schinken sind sich gleichgeblieben; und in Steinhagen am
Teutoburger Wald, halbwegs zwischen Versmold und Gütersloh, wird noch
immer der gute Steinhäger gebrannt.
Westfälischer Schinken, westfälischer Steinhäger - und
westfälischer Pumpernickel! Aber das ist eine sehr junge Erfindung. Was
den Namen angeht. Das Brot ist alt. Es hieß bis vor etwa 150 Jahren "dat
growe Braud". Das Weißbrot war das feine Brot. Von ihm galt der Spruch:
"Kristach bäckt't jäidermann, Aeustern dä riike Mann,
Pingsen, wä kann." Dat growe Braud aber war die stetige leibliche
Grundlage des Westfalentums.
Und so sind sie heute noch: ein "grower" Schlag - mit zarter Haut... eine "growe"
Sprache - mit innigen Tönen... und ein Land, in dem ein Peter Hille,
in Münster auf der Schule und in Angelmodde und Rüschhaus
Erinnerungen suchend, ein gut Teil von dem aufgesogen hat, was ihn zu dem
Dichter gemacht hat, der er gewesen ist: ein wenig formlos und sehr ernst.
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