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Westfalen
Heinz Kükelhaus

Über Westfalen hängt das Lächeln der Schöpfung. Gestern, heute und noch. —

Ein Lächeln, das sich durchsichtig und dünnwandig im münsterländischen Grenzmoor auftut und dem der Mond die letzten Hüllen und Wände einreißt. - Hier im Moor, wo die Sumpfgase in den Leerstichen und Kuhlen dumpf brüten und wo der heiße Hauch der Erde den Blitz vom Himmel an sich reißt, hängt das Gesicht des "Spökenkiekers" über der Landschaft.

Ja, das Lächeln der Schöpfung tut sich hier durchsichtig und dünnwandig auf. Durchsichtig, wie die Landschaft im endlosen Plan vor sich hinträumt; und wo die dunklen Moorkanäle das Bild der am Ufer stehenden Krüppelkiefern als Schemen widerspiegeln und die Wolken am Himmel den nebelhaften Sumpfschwaden gleichen, lebt der Moorbauer.

Er ist ein schlichter Mensch. Sein Wollen und Denken ist an die Erde gebunden. Flach geht der Wind über die Ebene, flach an der Erde knistert das Moorfeuer. Kein jähes Feuer ist es. - Ein sanftes Schwelen und ein sich verzehrendes Feuer, das die durchsichtige Flamme nach innen und nach unten zieht.

So ist auch der Moorbauer.

Die große Welt liegt ihm geistab. Er trägt sich nicht mit großen Gedanken herum. Er geht in sich selbst hinein. Er hat sein Leben lang Kanäle gegraben und sticht sie neu aus. Immer nach innen verlaufen die Kanäle, nach unten.

[184] "Je tiefer, je besser", sagt das alte Ohmgesicht; "ein Mensch muß sich mit sich selber beschäftigen können."

Darum verläßt er nachts oft die kleine Kammer und geht unter den Sternenhimmel und sieht durch seine inneren Kanäle seltsame Bilder gleiten. Er sieht endlose Felder voll Stiefel wandern und Kriegshorden das Land überschwemmen. Der Leichengang seiner Freunde offenbart sich dem Seherauge; die blühenden Leiber der jungen Mädchen sieht er schwellen und sieht ihre Niederkunft voraus. Er sieht den Moorbrand kommen - und warnt Freund und Feind. - Der Spuk reißt die Menschen mit sich fort. Des Nachts, wenn der Wind über die "Kolke" fegt, rasen am Kreuzwege die Hexen ihre entsetzlichen Tänze, und der Sand vom Feldrain wird ins Moor gejagt und peitscht die Geister der Raubritter aus dem Lande und verspült ihre Burgen.

So furchtlos wie der Moorbauer im Reiche der Schatten verkehrt, so furchtlos betreibt er auch den Grenzschmuggel. Ware aus Holland will er haben. Die Schranken will er nicht sehen. Die Leidenschaft des Schmuggels ist unausrottbar. Die Feld- und Moorwirtschaft leidet unter dieser Leidenschaft der schlichten Menschen. Oft gehen ganze Familien ins Gefängnis. Und von dort schreit ihre Seele nach dem Moor. Aber das Blut ist ein gar seltsamer Saft. Der rote Faden treibt sie. Er mischt sich mit den endlosen Kanälen und dem endlosen Himmel. Er mischt sich mit den "Witten Wiwkes", die immer wieder neue Söhne ins Land der Moorbauern tragen, Söhne, die immer wieder aufs neue die Lust offenbaren, im Reich der Schatten und auf dem Boden der Gesetzlosigkeit zu weilen, während die "Witten Wiwkes" längst zu alten Müttern geworden sind und auf den Knien liegen und beten, daß nicht der Moorbrand durch ihre Gehöfte rase und ihre Söhne nicht der Leidenschaft der Väter verfallen.

Wollt Ihr sie anders haben? —

Dann schneidet ihnen die Adern auf, daß ihr Blut versickere im Moor oder westwärts fließt und sich vermischt mit dem Bauer um Münster, mit dem Land um Münster, oder weiter hinunterfließt nach Dülmen und Haltern, wo das Lächeln der Schöpfung nicht mehr dünnwandig, sondern etwas schmerzlich betont und rascher zittert. Aber ein leises Wehen bleibt im Blute zurück, wenn längst auch ein Münsterländer Bauer draus geworden ist. Und die Marienbilder und die sanfte Gotik der Kirchen rufen in seinem Blute oft noch ein schmerzliches Echo wach. Aber auch das verliert sich unter dem betonten Lächeln der Schöpfung. Es werden starre Männer, und langsam saugen die roten Erdkrumen und die zehnfältige Bodenfrucht unter dem gebundenen Prinzip des Kruzifixes die letzten Nebelschleier aus ihrem Blute.

Es sind harte Bauern, die um Münster und Dülmen, Lüdinghausen und Haltern, Greven und Lengerich. Sie tragen einen großen Stolz in sich, der aus der Pflichterfüllung und der Erhaltung ihrer Geschlechter herauswächst. - Der Stolz ist nicht Eigenliebe, sondern Wehr und Schild gegenüber zwei Welten: der nahenden Stadt und dem fremden Blute. Liebevoll umfaßt der Dorfschulze seine Äcker, und seine Pferde sind ihm der Inbegriff seines Standes. Hier sind die Häuser noch mit dem Wohnhaus und Tenne und Stall zu einer Einheit verbunden. Und diese Verbundenheit mit den Tieren unter einem Dache ist so groß und so innerlich, daß der Verlust eines Pferdes oder einer Kuh nicht mehr so leicht aus dem Vorderhause weichen kann.

[185] "Kinners, Kinners", sagt hier der sterbende Bauer, "ein Wort noch, bevor ich - scheide. - Den Eichsarg - laßt - bei unserm Tischler machen. Sorgt, daß - alles - gut wird. Kinners - achtet eure Mutter. - Helpt - einander - ümmer. Und - du - Gert, - halt mir die - Pferde gut!"

Das ist der Bauer und rechte Hausvater, der einen Sarg aus der heimatlichen Eiche haben will, der sein Tagwerk noch mit brechendem Auge ordnet. Und nur wie ein Eichbaum läßt er sich fällen und grüßt mit letztem Blick die im üppigen Grün der Eichen und Linden liegenden roten Dächer seiner Freunde und befiehlt sie der Fürsorge. Seine Augen schwanken noch weiter hinunter zu den Emsufern, wo die Weiden ihre grauen Stämme über den Fluß biegen und wo das Schilf seine Blütenbüschel wie sanfte Kerzen hochstreckt.

Weit hinten liegt die Glockenheide, und der Kiefernwald steigt zartblau auf. Das ist die Grenze der engeren Heimat. Die Schöpfung lächelt verträumt über dem Teutoburger Wald. Die Ebene flieht vor dem Berge und wälzt sich wie eine Meeresflut in ihr Bett zurück. Eine andere Welt beginnt mit dem Waldberg, den die westfälische Grenze noch eben erhascht hat und aus dem neben dem Heldengang des Fürsten der Cherusker noch die Sagen der Lindwürmer und Drachen anklingen. Hier aber geht der Bauer einspännig hinter seinem Pflug, denn das Land wird am alten Walde mager. Aber die Wiesen schimmern saftig grün.

Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald.
[185]      Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald.

Die Waldbäche tragen ihren Segen durch die Auen und krümmen sich langsam der Weser zu, die sie siegreich aufnimmt und durch die norddeutsche Tiefebene an den Nordseestrand wirft. Und zurück kommen Schiffe über die Weser gewallt - bis Minden. Sie bringen Fracht aus Schweden und Nowgorod in die handelstüchtige Stadt. Die Porta glänzt über die weiße Weser hinunter in die Hannöversche [186] Ebene. Hier trägt das Lächeln der Schöpfung zwei Gesichter. Ins Westfälische hinein den Traum der alten Wälder - ins Hannöversche das Lächeln der Fruchtbarkeit: "Gehet hin und vermehret Euch."

Das Land springt auf, die See der Ebene rauscht hinunter über Gütersloh, Lippstadt, am Egge-Gebirge vorbei ins Hinterland. Hier liegen Brilon, Frankenberg, Winterberg. Viel kann der Steuersäckel auf dem Hochplateau nicht holen. Der Boden gibt kaum sechsfältige Frucht. Aber der Wald ist stark und schön. Früher stieg der Rauch der Kohlenmeiler über die Wälder, heute holzt man nur noch aus. Die kleinen Städtchen sind arm geworden. Aus der Vergangenheit aber leuchtet das Bild der kleinen Städte anders auf. Zur Zeit der Landgrafen stand Frankenberg in großen Ehren. Es war schön und voll gebaut. Die Häuser waren aus geschnittenem Holz und mit vorspringenden Balken schön verschalt und köstlich geschnitzt. Die Stuben waren nach hinten gelegt. Darum hatten die Häuser große Dielen und viel Raum. Nach vorn trugen sie zwei Fenster und zwei Türen. Sie waren zwei- und dreistöckig. Andere, elende Bauten duldete man nicht. Denn im Hintergrund stand der Wald kreisförmig, der die Menschen beherrschte und von ihnen ein gleiches Gesicht in ihrem Tun und Lassen verlangte, wie er selbst es der Schöpfung zeigen mußte: Gerade und aufrecht, edel und selbstbewußt.

Die Gesandten zum Westfälischen Frieden vor den Toren von Münster.
[183]    Die Gesandten zum Westfälischen Frieden vor den Toren von Münster. Gemälde von Gerhard Terboch.

Hochamt im Dom zu Münster.
[187]      Hochamt im Dom zu Münster.
Das Lächeln der Schöpfung gleitet hinunter bis Iserlohn und Schwerte, wo sich wieder die Ebene auftut. Noch einmal glüht das alte Lächeln auf, betont und rasch, um dann undurchsichtig zu schweigen.

Der Kranz der Städte beginnt. Das Reich der Menschen ersteht, und die Landschaft will fast erlöschen. Hier hat sich der Mensch hineingestellt und mit langen Armen den Wuchs der Erde in seiner Seele ertränkt und ein anderes Bild hervorgezaubert. Er hat sich ein Gleichnis geschaffen, einen Sang, der noch Jahrhunderte anklingen soll. Er wird klingen und abklingen. Die Harfe der Schöpfung wird eine Weile nur ganze leise zittern und warten, bis ein Harfner kommt, der mit Meisterschaft wieder in ihre Saiten greift und die Akkorde der Harmonie um sich streut und nicht mehr verklingen läßt.

Wie ein blutleerer Faden läuft das Grün der Erde durch die Städte. Wohl springen die Blumen über die Straßen, und von den Rändern der Städte leuchtet der Abglanz vergangener Fruchtfolge. Die Kleinbauern liegen wie auf einsamer Warte vor der Stadt und preisen die freundliche Gabe der Schöpfung, die ihnen noch den guten, fetten Acker verliehen hat.

Die Städte aber stehen "vor Ort". Die Menschen stehen "vor Ort". Der Bergarbeiter arbeitet "vor Ort" und haut die Frucht der Stadt unter Tage.

Aber warum ist das Lächeln der Schöpfung undurchsichtig? Liegt nicht eine Fülle der Frucht und des Segens in der Erde? Ist nicht die Größe der menschlichen Aufopferung ein Harmonieakkord von unbegrenzter Schönheit? Ist es nicht edel vom Menschenkind, im Schweiße seines Angesichts unter Tage zu arbeiten, um das Füllhorn der Frucht unter allen deutschen Stämmen zu teilen?

Die Größe der alten Wälder um Dortmund und Hagen, Bochum und Essen sind dahin. Die Abteien und Klöster sind fort. Die großen Bischöfe und Priester sind tot. Neue [187] Kirchen sind erstanden, neue Menschen und Diener des Christentums wirken vor Ort. Gerade flüchtet der mathematische Gedanke der Menschen in ihren Werken. Die westfälische Stadt ist das Sinnbild des Gedankens und der Tat geworden. Kreisförmig, wie Thebens und Roms alte Mauern, schlägt sich Ring um Ring um die Stadt. Es ist organischer Wuchs da - wie ein Baum sich Ring um Ring zulegt. Im Herzen sitzt der Rotor: Die Zeche, und nebenan und rundherum läuft die Fabrik. Aus einem guten Samenkorn entwickelt sich der Kreis. So ist es mit Krupp in Essen. Mit Klönne in Dortmund. Der Ring wächst. Er greift übereinander und ineinander. Die Städte sind eins geworden. Überall vibriert derselbe Ring: die Tat. Sie springt in mancherlei Gestalt ins Leben: In wuchtigen Schornsteinen und Fördertürmen, in klaffenden Schächten, in rauschenden Wässern und klopfenden Turbinen.

Industriegiganten im Westen: Niederrheinische Hütten bei Duisburg.
[182]      Industriegiganten im Westen. Niederrheinische Hütten bei Duisburg.

Es versickert viel Leben, viel Hoffnung, und nicht aller Samen geht auf. Er geht in die Abwässer, unterirdisch, gurgelt und verspült sich und harrt der Auferstehung.

Westfälisches Mädchen.
[188]      Westfälisches Mädchen.
Das undurchsichtige Lächeln der Schöpfung muß erst erforscht werden.

Kurz ist der menschliche Gedanke und kurz ist der Horizont, den das menschliche Auge umspannt.

Es gibt auch armes Hinterland in den Städten. Es gibt edle und gute Menschen - und auch das Gegenteil, genau wie es fruchtbaren und unfruchtbaren Acker gibt.

[188] Wir müssen hier warten, die Schöpfung ist allgegenwärtig und lächelt heute noch undurchsichtig über den Städten. Viel Stämme sind hier heimatlich geworden. Wir müssen eben warten, bis wir das Lächeln enträtseln können.

Aber das ist wahr: Auch die Stadt ist Heimat, westfälische Heimat. Ein Uraltes ist da: Die Heimatsprache; uralt rauschen Bach und Fluß, und wenn die Flußbetten auch korrigiert sind und die Sperrseen sich ausbreiten - es sind Heimatwässer. Vom Winterberg quellt die Ruhr zu Tal und schenkt sich dem Rhein. Nun wohl, Westfalen schenkt überall hin; die Städte schenken, die Menschen beschenken einander, die Äcker tragen noch gute Frucht, die Wurzelarbeiter unter Tage verschenken ihr Leben, die Fabriken ihre Arbeit.

"Vor Ort", dröhnt die Fabrik.

"Vor Ort", gurgelt das Bergwerk.

Und die heiße Glut der Kohle verdampft in den Öfen und steigt durch die Schlote, hinauf in die Höhen, und der ewige Wind trägt's mit sich fort - auf die Ozeane. Verschenken bis zum letzten Rest im großen Kreislauf.

Lächle, du Schöpfungsakt! - Und wie du auch lächelst, Westfalen bleibt dein freies Kind.

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Das Buch der deutschen Heimat, besonders die Kapitel
      "Das Bergisch-Märkische und das Sauerland" und "Das Münsterland".

Deutsches Land: Das Buch von Volk und Heimat
Unter Mitarbeit von Schriftstellern aller deutschen Stämme
herausgegeben von Dr. Eugen Schmahl.
Mit einem Geleitwort von Dr. Hans Steinacher,
Reichsführer des Volksbundes für das Deutschtum im Ausland,
und mit einem Geleitschreiben von Hans Grimm.