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Nordwestdeutschland - Georg Hoeltje

Das Bergisch-Märkische und das Sauerland

Das Flugzeug von Hannover nach Köln überschreitet im Verlauf der ersten halben Stunde den schmalen Wall des Wesergebirges. Die Porta Westfalica bleibt in der Flugrichtung rechts liegen; auch die Eisenbahn, die dort in engen Kurven in das Weserbergland eintritt und es durch den Paß von Bielefeld wieder verläßt, läuft immer zu unserer Rechten.

Nach Überquerung des Teutoburger Waldes scheint nur noch Ebene vor uns zu liegen. Nach Nordwesten und nach Westen, soweit der Blick reicht, ziehen große gerade Straßen durch ein offenes Land, und von Bielefeld her über Gütersloh nähert sich auch die Bahn wieder unserem schnurgeraden Kurs.

Aber vor uns im Süden und im Südwesten steigen von neuem Höhen an. Zuerst noch offene Ackerbreiten, dann schwankt vor einer Wand von Bäumen links ein langgestreckter Wasserspiegel flach vorüber: die Möhnetalsperre; ein breites Flußtal gleitet unter uns durch: die Ruhr; und als die erste Stunde sich ihrem Ende zuneigt, klettert der Höhenmesser des Flugzeuges langsam auf 500 - 600 Meter, und unten ziehen weite Wälder, dicht und undurchsichtig, dahin.

Eine Viertelstunde vergeht, eine halbe Stunde - das Bild ändert sich kaum. Immer die gleiche düstergrüne Decke da unten, ab und an Täler wie Spalten sich öffnend, augenblicksweise nur, nur so lange, daß man auf ihrem schmalen Grunde einen dünnen Wasserfaden blitzen sehen kann, ein paar schwarzweiße Häuser, ein Mühlenrad - dann schließt sich der Spalt, und die gewaltigen Wölbungen der Wälder steigen wieder an und senken sich, gleichmäßig, gleichmütig, wie ein ungeheures Meer, und wie ein kaum bewegtes.

[58] Der abgeflachte Stumpf eines Gebirges ragt mit seinem uralten Gestein, Grauwacke und devonischem Schiefer, unter der Fläche dieses Meeres auf, in Jahrmillionen der Erdgeschichte tischflach planiert und im Tertiär wieder langsam gehoben, so daß er jetzt, ein ungefüger Block von durchschnittlich 400 Meter Höhe und kantig zwischen Ruhr und Rhein zurechtgeschnitten, in die Tiefebene vorspringt: der östliche Flügel des rheinischen Schiefergebirges.

Die Winde führen von Westen die Wolken heran. Der Stein trieft. Einen Meter hoch stände das Wasser in des Meßgefäßen, wollte man's alles zusammenzählen, was im Laufe eines Jahres hier an Regen herunterkommt. Da wächst der Wald - und tausend Rinnsale, Bäche und Flüsse schneiden ihre Furchen scharf in den schiefrigen Stein.

Regen und Bäche und Wald nehmen zu im Süden, wo zu unserer Linken das Ebbegebirge bis zu 665 Meter Höhe aufragt, und hinter ihm gestaffelt die dunkle, drohende fast 800 Meter hohe Wand der Rothaar. Das Sauerland oder Süderland liegt dort für die, die im Norden wohnen. Und die ihm so den Namen geben, zu denen gehört es auch. Westfalen reicht bis dorthin, bis zu den Quellen von Ruhr und Lenne.

Wir haben die Ruhr überquert, wir überschreiten Lenne und Volme, am Ebbegebirge westlich vorbei. Kahle Stellen im Wald: Wiesen- und Ackerstücke; auch einmal Ortschaften, auch einmal Schornsteine; dann wieder dunkles schweigendes Grün.

Schließlich - es bleiben höchstens noch zwanzig Minuten bis Köln - beginnt sich das Bergland zu senken, die Bäche fließen in unserer Richtung, Flüsse eilen mit uns hinab zum Rhein, der Wald wird lichter, hört auf, und vor uns öffnet sich im Sonnenschein, wimmelnd von Straßen und Häusern, die Kölner Bucht. Das Band des Stromes glitzert im Licht, von den eisernen Bändern vieler Schienen begleitet. Pfeilschnell kommen die Nadeln der Domtürme heran, ziehen vorbei, bleiben zurück, und über ein Gewirr von Drähten und Dächern streifend stürzt sich das Flugzeug rasend zum Ziel.

Uns ist, als hätten wir eben, über den dichten Wäldern hängend, eine Zone des Schweigens überflogen. Und der Dichter des Heliands kommt uns in den Sinn, der vor über 1000 Jahren berichtet, daß Christus 40 Tage und Nächte im Walde gelebt habe, bevor er mit Lehren und Wundern in die Städte ging. Im Walde - denn wenn es irgend etwas damals in Deutschland gab, was der biblischen Wüste vergleichbar war, dann war es die menschenleere und unheimliche Dunkelheit seiner Wälder.

Unzugänglich und einsam lag damals auch dieses Bergland da, ein Dickicht, in dem alle Bewegung ersticken muß. Wir kennen die Wälle noch, mit denen im Süden der Rothaar 500 Jahre vor Christi Geburt die Kelten die Bergkuppen des Siegerlandes befestigt hatten, um die Germanen, die von Norden her in die erzreiche Landschaft eindrangen, aufzuhalten. Ein Jahrtausend später kommt an der gleichen Stelle der Vormarsch der Sachsen nach Süden zum Stehen. Das Rothaargebirge wird zur Grenze der Stämme und scheidet heute noch hochdeutsch und niederdeutsch.

[59] Aber eine Lücke klafft in der Mauer. Wo das Rothaargebirge im Süden mit dem Ederkopf endet, da entspringt die Sieg, die zum Rhein fließt. Und mit ihrem nördlichsten Quellfluß reicht sie bis auf ein Kilometer an die obere Olpe heran, die nach Norden dem Lenneknie von Altenhunden entgegenfließt.

Den schmalen Rücken zwischen beiden Tälern zersticht seit 1862 ein Tunnel der zweigleisigen D-Zugstrecke Hagen - Siegen. Verkehrstechnisch und besonders wirtschaftlich - denn durch diesen Tunnel rollt das Siegerländer Erz zum Ruhrgebiet und der Ruhrkoks zur Sieg - ist also eine enge Verbindung zwischen Westfalen und der südlichen Nachbarlandschaft geschaffen, wie ja auch seit dem Wiener Kongreß ein ganzer Zipfel des Siegerlandes bis herunter zum Westerwald zur Provinz Westfalen gerechnet wird. Die Dichter aber, die für die tieferen, unter der Oberfläche der Provinzgrenzen laufenden Zusammenhänge ein Gefühl haben, rechnen noch 1841 (Freiligrath), ja noch 1860 (Levin Schücking in seinen Bildern aus Westfalen) das Siegerland zum Ausland, was es für Westfalen ist und bleibt; denn die Sieg fließt zum Rhein, und mit dem Rhein hat Westfalen nichts zu tun.

So bildet denn auch die Wasserscheide zwischen den Flüssen, die aus diesen Bergen dem Rhein zuströmen, und denen, die zur Ruhr sich wenden, obwohl sie nicht so steil und einsam wie die Rothaar ist, die andere Grenze Westfalens. Die westliche Provinzgrenze hält sich an ihren Lauf, die Mundart wechselt hier vom rheinischen "ich" zum westfälischen "ick", und bis zum Jahre 1805 haben auf dieser Wasserscheide sogar zwei Staaten aneinander gegrenzt, Berg und Mark, die in ihrer Geschichte die Verschiedenheit der beiden Landschaften unmittelbar zum Ausdruck gebracht haben.

Burg an der Wupper. Das Schloß.
[54]      Burg an der Wupper. Das Schloß.
Das Bergische Land im Westen öffnet sich mit allen seinen Flüssen zum Rhein. Die Stammburg der Grafen von Berg liegt in einem dieser Quertäler keine 20 km von Köln entfernt. Altenberg - "Alten-Berg" heißt der Ort heute. Das jüngere Schloß "Burg" steht seit der Mitte des 12. Jahrhunderts an der Wupper.

Der Erzbischof wohnt zu nahe, als daß man bei einer solchen Verlegung des Grafensitzes nicht an einen Zusammenhang mit der Kirche denken sollte. Jedenfalls ist in Altenburg 1135 ein Zisterzienserkloster eingerichtet worden, und der Neubau, den die reich gewordenen Mönche ein Jahrhundert später durch den Kölner Erzbischof weihen lassen, ist eine der schönsten gotischen Kirchen in Deutschland; den "bergischen Dom" nennen ihn die Leute.

Mit dem Ruf "romerike Berga" gehen 1288 die bergischen Truppen in die Schlacht von Worringen; der Kölner Erzbischof wird von ihnen geschlagen, und mit seiner Niederlage hängt es wohl zusammen, daß die Grafen von Berg sich jetzt eine Residenzstadt unten im Tal aussuchen, am Rhein selbst, also an der Front ihres Herrschaftsgebietes gegen das Erzstift Köln.

Damals schlägt Düsseldorfs Stunde. In der kleinen Siedlung an der Mündung der Düssel entsteht ein Schloß, von dem als letzter Rest ein Turm noch heute Wache hält am östlichen Ufer des Rheins. Gegenüber liegt das alte Neuß. Wir sind in der Zone, in der die rheinische Landschaft aus dem un- [60] mittelbaren Bereich von Köln heraustritt. Vielleicht war das auch schon damals ein Grund für die Grafen von Berg gewesen, ihre Burg nach Norden an die Wupper zu verlegen. In Altenberg lassen sich zwar bis auf den letzten ihres Stammes, der 1511 stirbt, alle begraben - aber zu Lebzeiten sitzen sie lieber weiter entfernt von Köln.

Nach 1511 wird Berg mit Kleve vereinigt. Die Reformation kommt; und jetzt muß sich zeigen, ob sich dieses Bergische Land, mit allen seinen Tälern am Rheintal hängend, von Köln, wo die alte Kirche jeden Reformationsversuch selbst der eigenen Bischöfe niederschlägt, weit genug lösen kann, um seine eigenen Wege mit dem übrigen Bergland zu gehen.

Der Herzog von Kleve, der in seinen Ländern die Reformation einzuführen beginnt, muß unter dem Druck des Kaisers davon abstehen. Während nun aber jenseits der Wasserscheide, in der Grafschaft Mark, die auch mit Kleve verbunden ist, die Reformation von den Städten aus langsam und sicher durchgeführt wird, bleibt es im Bergischen bei halben Maßnahmen, und als nach dem Jülich-Klevischen Erbfolgestreit die Grafschaft Berg an Pfalz-Neuburg kommt, stellt sich endgültig in dem katholischen Herrscherhaus und den Jesuiten der weiteren Ausbreitung reformatorischer Gedanken ein schweres Hindernis in den Weg. Berg hat sich vom katholischen Köln nicht lösen können, das Schicksal der Landschaft hat sich erfüllt.

Wo die Gegenreformation siegt, da bekommen die Bauleute, die Tischler und Maler, die Schnitzer, Vergolder und Stukkateure zu tun. Das Schauspiel des Kultus in Kirchen, die Festräumen gleichen, verwöhnt in allen katholischen Landschaften die Sinne, in Flandern, in Bayern, in Schlesien. Die protestantischen Menschen um Soest, Dortmund und Arnsberg aber bleiben spröde und karg wie bisher.

Jedoch auch das Bergische Land - und hier macht sich die stachlige abwehrende Art dieser Wald- und Berg-Natur wieder geltend - bringt im Zeitalter der Gegenreformation keine reiche bildende Kunst hervor. Allein einen eigenartigen Typ bürgerlichen Wohnbaus, das "bergische Haus", nennt diese Landschaft schließlich ihr eigen: schlichte Fassaden, farblos mit Schiefer verkleidet, wozu das reine Weiß der Umrahmung und das schlichte Grün der Läden einen klaren und freundlichen Ton fügt.

Dieser saubere Stil, der früher in Remscheid, Elberfeld und Vohwinkel das Bild der Stadt bestimmt hat und sich in barocken, Rokoko- und Empire-Formen immer gleichgeblieben ist, wirkt wie ein Spiegel der nüchtern gleichmäßigen Welt, in der die Menschen im Tale der Wupper und auf den rauhen Höhen des Bergischen Landes leben.

Aber am Saum des Rheintals, unter dem Atem eines milderen Klimas und auf fruchtbarerem Boden sind die Sinne empfänglicher. Die Residenz an der Düssel wächst zur Kunststadt heran. Den Keim zur späteren Blüte legt die Gesellschaft Jesu. Ein römisch strenges Profil bestimmt das Gesicht ihrer Kirche S. Andreas (1622 - 1629). Und bei Rubens, der in Flandern den Sieg der katholischen Kirche verherrlicht, bestellt der Pfalzgraf Wolfgang Wilhelm die Altarbilder für den Bau.

[61] Populär ist die Gestalt "Jan Wellem's", dessen Denkmal der Italiener Grupello in den Jahren 1703 - 1711 errichtet. Aber nicht der Kurfürst Johann Wilhelm, der dort in Allongeperücke zu Pferd über den Marktplatz reitet, sondern der Mensch Jan Wellem lebt im Volke fort, der Sammler und Bildernarr, von dem man erzählt, daß er sterbend noch nicht sich trennen konnte von seiner letzten Erwerbung, einem kleinen Blumenstück.

Zur Galerie, die er gegründet, kommt dann im Jahre 1767 die Akademie, zur unbekümmerten Freude des Genießers der aufgeklärte Ernst des Fürsten, der sich seiner Pflichten gegen die Kunst bewußt ist, Karl Theodor.

Düsseldorfs Gesicht scheint nun für lange geprägt: Metropole der Kunst in Nordwestdeutschland, mit ästhetisch wirkenden geraden Straßen, Königsallee und Hofgarten, mit den neuen Quartieren der Karlsstadt und dem kleinen Versailles vor den Toren, dem Schloß von Benrath, zu dessen Bau man 1755 den Meister von Schwetzingen, Nicolas de Pigage, kommen läßt.

Aber 1805 - als das Herzogtum Berg an Frankreich abgetreten wird - wandern die Bilderschätze der Düsseldorfer Galerie nach München. Und der junge Stern am Himmel der Kunst, Peter Cornelius, der 1783 als Sohn des Galerieinspektors in Düsseldorf geboren ist, verläßt 1809 die Vaterstadt, macht sein Meisterstück in Rom und geht als Hofmaler und Akademiedirektor nach München.

Die unnatürliche, aus dynastischer Hausmachts- und Kirchenpolitik hervorgegangene Verbindung dieser norddeutschen Landschaft mit Süddeutschland ist zerrissen, und die Kriegsereignisse des kommenden Jahrzehnts werfen schließlich das Land in dieselbe Hand, in die sein Nachbar von der anderen Seite der Wasserscheide schon zwei Jahrhunderte früher gefallen ist, in die Hand Preußens.

Es ist mehr ein pietätvolles Aufnehmen alter Traditionen, wenn Düsseldorf nun zur Hauptstadt eines Regierungsbezirkes erhoben und seine Akademie gefördert wird. Weder Behörden noch Kunstpflege können die lebendige Kraft eines Herrscherhauses, die bis dahin die Stadt gebildet und groß gemacht hat, ersetzen.

Charakteristisch, daß die Akademie nach kurzer Zeit aus der Linie der großen Monumentmalerei und Historienkunst ausscheidet, wie sie an den romantischen Höfen Deutschlands in München und Berlin geübt wird. Die "Düsseldorfer Schule" wird zum Inbegriff bürgerlicher Genrekunst und Kleinmalerei. Die Stadt am Nordwestrand des deutschen Mittelgebirges hat damit die ihr gemäße Verbindung mit den Niederlanden in der Kunst gefunden.

Aber das Schicksal einer kleinen ehemaligen Residenzstadt mit Kunstverein und "Malkasten" wäre in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und zumal in unserer eigenen Zeit doch gewesen, allmählich zurückzubleiben, stiller zu werden und von Erinnerungen zu zehren, wenn nicht auf anderen Wegen neues Leben zuströmte.

Wer das heutige Düsseldorf kennt, weiß, daß dieses neue Leben gekommen ist, und zwar dorther, wo die Residenz- und Kunststadt bisher am wenigsten empfangen hat, aus der umgebenden Landschaft.

[62] Erinnern wir uns, daß gleich nördlich von Düsseldorf die Höhe der Berge, die der Stadt im Osten vorgelagert sind, abnimmt. Es werden also die von Westen und Südwesten kommenden Wege, die bei Köln auf die steile Flanke des Schiefergebirges stoßen, irgendwo hier bei Düsseldorf in weniger steilem Gelände ihren Weg nach Osten und Nordosten fortzusetzen suchen.

Ein Stück rheinabwärts von Düsseldorf liegt auf einer ehemaligen Rheininsel das Kloster Werth oder Kaiserswerth, wie man es später nannte, als die deutschen Kaiser hier Hof hielten in der Pfalz, deren prächtiger Neubau von 1184 heute in Trümmern noch gewaltig sich erhebt. Von hier aus versucht schon am Ende des siebenten Jahrhunderts der heilige Suitbert das Christentum ins Gebiet der Sachsen zu bringen, also genau nach Nordosten. Der Versuch schlägt damals fehl, aber ein Jahrhundert sehen wir den heiligen Ludger mit seiner Klostergründung eine Tagesreise weiter nach Nordosten rücken. Das neue Kloster heißt Werden (Klein-Werth). Von hier aus wird das sächsische Gebiet zwischen Ruhr und Rhein dann endgültig dem Christentum unterworfen. Und auf dem gleichen Wege, über Werden, geht heute die direkte Eisenbahnverbindung zwischen Düsseldorf und Essen.

Kaiserswerth ist übrigens im letzten Jahrhundert wieder ein Ausgangspunkt missionierender Tätigkeit geworden. Eine Diakonissenanstalt, das Mutterhaus des Kaiserswerder Diakonieverbandes ist hier 1836 gegründet worden.

Wir werden also immer im Auge behalten müssen, daß Düsseldorf und seine Umgebung die Bedeutung eines Brückenkopfes nach dem Innern Deutschlands bekommen kann.

Im Mittelalter hat zwar der Kaufmann mit seinem Pferdefuhrwerk in dem Bestreben, den nächsten Weg einzuhalten, von Köln nach Dortmund und sogar nach Soest und Kassel geradenwegs und mit vieler Mühe das Gebirge überquert. An den damaligen Straßen, unbefestigten Karrenwegen, sind im Bergischen Land und auch jenseits der Wasserscheide die ersten kleinen Städte entstanden, Solingen, Lennep, Radevormwald und Breckerfeld, alle auf den Hochflächen des Gebirges gelegen.

Im gleichen Maße aber, wie der Verkehr dichter und regelmäßiger wurde, ging man dazu über - im 18. Jahrhundert - Kunststraßen planmäßig anzulegen und diese nun möglichst unter Umgehung des Gebirges. Damit gewinnen die Städte am Gebirgsrand einen Vorsprung gegenüber denen im Gebirgsinnern, die sogar teilweise zurückgehen.

Am günstigsten wirkt sich diese Veränderung naturgemäß für eine Stadt aus, die nicht nur am Rande des Gebirges, sondern sogar an seiner Ecke liegt. Nun liegt genau genommen die nordwestliche Ecke des Gebirges nicht bei Düsseldorf, sondern bei Duisburg. Aber schon vorher queren allerhand Wege das nicht mehr so steile

Schnelltriebwagen der Deutschen Reichsbahn.
[55]      Schnelltriebwagen der Deutschen Reichsbahn.
Bergland (z. B. Düsseldorf - Werden - Essen). Und der wichtigste dieser Querwege, die große Diagnonalfurche, die fast schnurgerade dem Lauf der mittleren Wupper folgend über den Sattel von Schwelm ins Tal der Ennepe und Volme und damit ins Ruhrtal führt, läßt uns die Ecke des Gebirges im modernen Eisenbahnverkehr jedenfalls doch bei Düsseldorf erkennen.

[63] Die Bergisch-Märkische Bahn, die dieser Furche folgt, ist eine der ersten Bahnen Deutschlands und mit mehr als 21 D-Zugpaaren täglich heute eine der belebtesten Reichsbahnstrecken. Direkt vor ihrem westlichen Ausgang liegt Düsseldorf. Seine Verbindung mit der aufstrebenden Wirtschaft an der Ruhr ist also dreifach geknüpft. Den Verbindungsoffizier des Industriegebietes mit der Kölner Bucht nennt Schrepfer die Stadt.

Düsseldorf. Bürohaus.
[52]      Düsseldorf. Bürohaus.
Selbstverständlich also, daß Frankreich 1921 im Kampf um die Ruhr als Sanktionsstädte nicht nur Duisburg und Ruhrort, sondern auch Düsseldorf besetzt. Von hier aus wird der Einmarsch 1923 dirigiert. Hier werden die Soldaten des passiven Widerstandes gefangengesetzt, und hier auf der Golzheimer Heide fällt am 26. Mai 1923 Albert Leo Schlageter.

Der Verein Deutscher Eisenhüttenleute hat in Düsseldorf seinen Sitz; die Vereinigten Stahlwerke, die Mannesmann-Röhrenwerke und die Rheinische Metallwaren- und Maschinenfabrik beschäftigen fast 15 000 Arbeiter, dazu das übrige Großgewerbe in Holz, Glas und Nahrungsmitteln mit weiteren rund 10 000 Beschäftigten. Und die Persil-Werke!

Das sind die modernen Kräfte der Stadt. Ihr Ausdruck ist das Bürohaus der Vereinigten Stahlwerke. Sein Erbauer ist Bonatz; und neben ihm zeigen Peter Behrens und Kreis und Fahrenkamp, deren Namen mit Düsseldorf eng verbunden sind, wie viele Aufgaben diese lebendige Stadt der Architektur zu stellen hat, zuletzt noch den Komplex der Ausstellungsbauten für die Gesolei. 1929 sind Benrath und Kaiserswerth eingemeindet worden. Die Einwohnerzahl von Groß-Düsseldorf erreicht damit eine halbe Million.

Düsseldorf. Das Planetarium.
[53]      Düsseldorf. Das Planetarium.

Die zweite bergische Großstadt mit über 400 000 Einwohnern ist noch enger mit der Verkehrsfurche des Schiefergebirges verbunden. Sie verdankt der Lage an diesem Naturwege eigentlich alles, und wie aus Dankbarkeit hat die heutige Stadt den Namen der Landschaft selbst angenommen: Wuppertal.

Fünf Gemeinden sind in dem neuen 1929 geschaffenen Gebilde aufgegangen. Zwei von ihnen waren schon vorher in Deutschland bekannt: Elberfeld und Barmen. Aber auch diese beiden sind junge Emporkömmlinge, verglichen mit der Tradition der deutschen Stadt. Elberfeld ist erst 1610, Barmen erst 1808 zur Stadt erhoben worden, beide ursprünglich bäuerliche Webersiedlungen, in denen das Gewerbe als Hausindustrie zusätzlich zur Landwirtschaft trat.

Wenn wir im Bergischen Lande alte Städte suchen, müssen wir auf die Hochflächen hinaufsteigen, über die im Mittelalter die Handelsstraßen liefen. Lenneper Tuche sind schon in der Welt berühmt, als Elberfeld und Barmen noch in bäurischer Stille lagen. Und aus Radevormwald, das heute eine Kleinstadt ist, sind in der Zeit der Glaubenskämpfe die Männer gekommen, die Krefelds raschen Aufstieg bewirkt haben.

Wuppertal. Schwebebahn.
[55]      Wuppertal. Schwebebahn.
Aber diese Städte sind im 17., 18. und 19. Jahrhundert immer weiter zurückgeblieben, und um so mehr, je weiter sie von der lebensspendenden Furche des Durchgangsverkehrs entfernt lagen. Gummersbach, ganz im Süden des Bergischen Landes, bringt es mit Stein-, Holz- und Eisenindustrie auf 17 000 Einwohner, und selbst die alte Tuchwirkerstadt Lennep ist in der günstiger gelegenen [64] Nachbarstadt Remscheid aufgegangen. Das 15 Kilometer lange "Wuppertal" aber beschäftigt heute allein in seinen über 1600 Textilbetrieben mehr als 30 000 Arbeiter; davon allein 5000 in der Bemberg A.-G.

Man kann es im Bergischen Land als Regel aussprechen: von den alten Städten haben nur die den Wettbewerb des 19. Jahrhunderts aushalten können, die den Anschluß ans Wuppertal gefunden haben.

Solingen z. B., dessen Klingen schon im Mittelalter bekannt gewesen sind, ist heute, nach der Vereinigung mit den Gemeinden der Nachbarschaft, die sein Wachstum erreicht hat, eine Großstadt von 140 000 Einwohnern, in der in 3700 Fabriken und Motorwerkstätten Stahl- und Schneidewaren, Rasiermesser und chirurgische Instrumente hergestellt werden. Zusammen mit Remscheid, das auf der anderen Seite der Wupper liegt, hält Solingen die Ränder des wichtigen Tales besetzt, und kein ausdrucksvolleres Symbol für diese klammerartige Verbindung der beiden Gemeinwesen mit der Leitlinie ihrer Landschaft, als die berühmte Müngstener Brücke, eine kühne Eisenkonstruktion, die in spinnwebhafter Feinheit das 107 Meter tiefe waldige Steiltal überspannt.

Bergisches Land. Deutschlands höchste Eisenbahnbrücke bei Müngsten.
[56]      Bergisches Land. Deutschlands höchste Eisenbahnbrücke bei Müngsten.

Auf den Hochflächen aber liegen locker verstreut, von Wald umgeben und von Wiesen durchsetzt, die beiden Städte. Remscheids Spezialität sind Werkzeuge, besonders Feilen, Schlittschuhe, Haushaltsmaschinen, also wie in Solingen Erzeugnisse der Kleineisenindustrie, die, mit der Herstellung von Spaten, Pflugscharen, Messern und Dolchen beginnend, schon seit Jahrhunderten sich in den Städten des Bergischen Landes entwickelt hat.

Das ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für den tiefen und grundlegenden Unterschied zwischen dem Bergisch-Märkischen Industriegebiet und dem an der Ruhr. Hier gibt es eine generationenlange Tradition der Arbeit und des Arbeiters; die Betriebe sind meistens klein - 3700 allein in Solingen! - und in ihnen wird eine Art von industrialisiertem Handwerk getrieben.

Ist es ein Zufall, daß gerade diese Welt, deren ruhiges Wachstum sich so wohltuend von dem unheimlichen Geist wirtschaftlicher Eroberungen und Abenteuer an der Ruhr abhebt, einen Mann hervorgebracht hat, wie [W. K.] Roentgen, von dem man nicht weiß, ob sein besinnliches Gesicht, seine echte Uneigennützigkeit oder seine überragende wissenschaftliche Tat, die Entdeckung der von ihm selbst bescheiden X-Strahlen genannten Strahlen, ihn unvergeßlicher macht? Sein Denkmal steht in seiner Vaterstadt Lennep.

Nichts ist auch bezeichnender für diese Welt, als daß man in ihr der typisch handwerksmäßigen Spezialisierung begegnet. Der Klingenstadt Solingen steht Velbert gegenüber, wo Schlösser und Baubeschläge die Ausbildung des Qualitätsarbeiters beherrschen.

Der schönste Vorzug dieser "Industriestädte", ihre lockere, gründurchsetzte Anlage, ist allerdings nur denen eigen, die für den Vorteil, dem Wuppertal nahe zu sein, nicht ihre alte und natürliche Lage auf der Hochfläche eingetauscht haben. Die jüngeren Städte im Tal, vor allem Wuppertal, leiden an Raumnot. Hier, wo zunächst nur bäuerliche Anwesen Raum und Fortkommen fanden - in Barmen gab es bis zum Ende des 17. Jahrhunderts nur Bauerngehöfte - [65] sucht im 19. Jahrhundert eine Großstadt Platz zu finden. In diesen 100 Jahren steigt die Bevölkerung Barmens allein auf mehr als das Zehnfache.

Die Häuser klettern die Wände des engen, an der Sohle kaum einen Kilometer breiten Tales hinauf. Die Straßenbahn, für die sonst schwer Raum zu schaffen gewesen wäre, folgt an hängenden Schienen dem vielfach gewundenen Fluß. Aber noch phantastischer als alles andere, was an diesem unschönen, aber in seiner Häßlichkeit kühnen und rücksichtslosen Häusergewirr fasziniert, ist der unheimliche Blick vom nächtlichen Bahnhof oder Bahnkörper in der Höhe am Hang hinab in die lichterwimmelnde Tiefe und in die abgründigen Straßenschluchten dieser Stadt der Bänder, Litzen und Kordeln.

Das Tal der Wupper, die im oberen Lauf den Namen wechselt und Wipper heißt, biegt oberhalb der Stadt nach Südosten um. Die Eisenbahn verfolgt die Richtung nach Nordosten und klettert mit uns über den schmalen Sattel von Schwelm auf die andere Seite der Wasserscheide nach Gevelsberg, von wo sie dem Tal der Ennepe bis Hagen folgt.

Hier stehen wir zum erstenmal auf märkischem Boden. Hier hat im Jahre 1225 ein Graf von Isenburg den Erzbischof Engelbert von Köln erschlagen. Die Tat war der grelle Ausbruch eines alten und tiefen Gegensatzes. Der Täter mußte dafür sterben.

Dieser Isenburg war ein jüngerer Graf von Altena. Die Burg Altena liegt an der Lenne, deren Bedeutung für unser Gebiet wir noch kennenlernen werden. Zugleich aber haben die Grafen von Altena die Hand auf der Landschaft nördlich der Ruhr. Ihnen gehört die Burg Mark an der Lippe, östlich von Hamm, von der man heute nur noch die Stelle kennt. Und nach dieser Burg nennen sie sich schon im 13. Jahrhundert Grafen von Mark.

Ihre Herrschaft kommt 1398 an Kleve und mit Kleve 1614 an Preußen. Für zwei Jahrhunderte ist jetzt die Schwelmer Wasserscheide zur Grenze zwischen der jungen Großmacht Ostdeutschlands und den rheinischen Vorposten des katholischen Südens. Heute noch stoßen hier mit Westfalen und der Rheinprovinz zwei Verwaltungsgebiete aufeinander.

Rein äußerlich aber ändert sich zunächst im Tal der Ennepe nicht allzu viel. Die Bahn, die dichte Besiedlung und der Verkehr verschleifen die Gegensätze. Bis Hagen bleibt das Bild im Grunde dasselbe: ein von Häusern, Schornsteinen, Gleisen und Straßen erfülltes Tal, die steilen Hänge von Wald bedeckt. Auch Hagens Geschichte erinnert an die der jungen Städte im Wuppertal. Erst 1661 wird hier die erste Niederlassung von Schmieden gegründet, die der Große Kurfürst von Solingen kommen läßt.

Die älteren Städte liegen auch hier auf den Hochflächen. Im Westen Iserlohn, dessen Ring- und Kettenpanzer im Mittelalter begehrt waren und das seine alte Kriegsindustrie nach dem Ende des Mittelalters auf Drahtfabrikation, Schreibfedern und Nähnadeln umgestellt hat, aber ebensowenig mit der Großstadt Hagen hat Schritt halten können, wie im Süden Lüdenscheid und Breckerfeld, deren Ruf im Mittelalter gleichfalls größer war als heute. 380 Meter, 400 Meter und höher gelegen, waren diese beiden Hansastädte schon im 14. Jahr- [66] hundert wichtige Quellen des märkischen Stahlexports. So kennen wir Urkunden aus dem Jahre 1320, in denen sich Soest als Prinzipalstadt über die Wegnahme einer Ladung Stahlwaren aus Lüdenscheid beim Rat von Southampton beklagt.

Von Hagen hören wir in so früher Zeit nur als einem Hof, der der Kölner Kirche gehört. Aber auch die spätere landesherrliche Ansiedlung der Schmiede aus Solingen wächst zunächst nur langsam. Erst 1746 wird sie zur Stadt erhoben. Mittelalterliche Befestigungen wie Breckerfeld lernt sie nie kennen. Ihre einzige Tradition ist die des Gewerbes, das die Landschaft hervorbringt, der Kleineisenbearbeitung, aus der in Hagen Schrauben und Muttern, Spiralfedern und Waagen als Spezialitäten hervorgehen.

Erst die Eisenbahn befreit alle verborgenen Kräfte dieser Talstadt. Ein schnelles Wachstum beginnt, das in alle Verzweigungen des Talwinkels von Ennepe und Volme hinein und schließlich an den bewaldeten Hängen hinauf schwillt und 1929 mit der Eingemeindung von Haspe und Vorhalle das Tal der Ruhr erreicht. Fast 150 000 Einwohner, 300 Betriebe mit 45 000 Arbeitern - hier hat die Eisenbahn ein Wachstumswunder erzeugt.

Aber die Eisenbahn konnte auch doppelt ansetzen an diesem Punkte. Denn mit der einen Strecke, die vom Rhein her diagonal durchs Gebirge ins Ruhrtal strebt und gleich hinter Hagen, mit Tunneln die steile Nordwand des Tales durchstoßend, nach Dortmund - Hamm und auf der anderen Seite dem Flusse folgend, nach Brilon - Scherfelde - Kreiensen sich auseinanderfaltet, kreuzt sich eine zweite, die von Süden her, vom Siegerland, von der Lahn und dem unteren Main, im Tal der Lenne abwärts nach Norden strebt. Die Lenne mündet fünf Kilometer oberhalb der Volme in die Ruhr, und die Züge Frankfurt - Gießen - Ruhrgebiet machen im Hagener Hauptbahnhof kehrt, um ihr Ziel zu erreichen.

Gegenüber den Mündungen von Lenne und Volme, beide beherrschend, thront auf dem Steilufer des Ruhrtals die Hohensyburg, eine Denkmalsarchitektur des 19. Jahrhunderts. Bis in die Vorgeschichte reichen die Befestigungen dieses Punktes zurück. Karl der Große hat den Widerstand der Sachsen an der Sigiburg im Jahre 775 brechen müssen, und bis ins späte 13. Jahrhundert hat eine mittelalterliche Burg hier die "Lennepforte" bewacht.

Wie vom Stiel eines Blattes die Hauptader ausgeht und mit ihren Verästelungen das Ganze zusammenhält und ernährt, so ist die Lenne die Hauptader und das Rückgrat des Märkischen und des Sauerlandes.

Ein Blick auf die Karte zeigt, wie sich hierdurch allein schon diese Landschaft vom Bergischen Lande unterscheidet. Dort ein schmaler zum Rhein abgedachter Streifen, quer zerteilt durch das Gitter der kurzen Bäche und Flüßchen, denen ein einigender Hauptast fehlt. Hier das über 100 Kilometer lange Tal der Lenne, senkrecht zur Richtung des Randstromes, der Ruhr, die ganze Tiefe des Raumes bis zur Wand des Rothaargebirges durchmessend und alle Teile miteinander verknüpfend.

Allerdings, was uns dort als mangelhafter Zusammenhang erschienen ist, kann sich ebensogut auch als fruchtbare Offenheit für alle Einflüsse von der [67] rheinischen Weltstraße auswirken. Und was für ihre Landschaft die Lenne an Bindung leistet, wird im Lauf der Jahrhunderte ebenso viel zur Abgeschlossenheit und Vereinsamung dieses Berglandes beigetragen haben.

Denn die D-Züge eilen heute fast ohne Aufenthalt durch dieses Tal. Tunnels durchbohren die Sporne des Gebirges und kürzen die Windungen des Flusses ab. In Altena kurzer Aufenthalt; die Stadt zwischen Bergwand und Fluß in langen Kurven aufgefädelt; Werkstätten für Metallbearbeitung; und hundert Meter über den Schieferdächern die Türme der alten Grafenburg.

So still sind sie alle, die wenigen Städte der inneren Flußtäler, Arnsberg an der oberen Ruhr mit seinen Regierungsgebäuden ebenso wie Werdohl an der Mündung der Verse in die Lenne. Das Geräusch der Kleinindustrie wird gleich wieder verschluckt von den langen Strecken Wiesen und Wald, und wer das Haupttal verläßt und einem Bach folgend in die Berge hineinsteigt, den umfängt bald das ununterbrochene zeitlose Schweigen des Waldes.

Der Wald ist nicht fortzudenken aus dem Gefühl dieser Menschen. Im Bergischen, wo die Höhe des Ebbegebirges und der Rothaar fehlen, ist das Bild der Landschaft lockerer und heller; ganze Blütenwälder leuchten im Frühling in den windgeschützten Tälern. Das Sauerland ist auf dunklere Farben gestimmt. Schwärzlich beherrscht das Grün der Fichten die weiten Wölbungen der Hochflächen und bedeckt die Wände der Täler, untermischt im Frühling mit dem rauchigen Rotgrau der kahlen Buchenzweige und dem Gelbbraun vorjährigen Eichenlaubes.

Wer die langen Wege kennt, die im Dämmerlicht der dichten Bestände über Nadelpolster und durch raschelndes Laub führen, wer die Ausblicke im Herzen trägt, die vom Rand der Höhen in einsame dunkelgrüne Täler sich öffnen, der versteht auch das Sausen der Stille, von dem Peter Hille spricht:

    "Wie Deine grüngoldenen Augen funkeln,
    Wald, Du moosiger Träumer!
    Wie so versonnen Deine Gedanken dunkeln,
    Saftstrotzender Tagesversäumer,
    Einsiedel, schwer vom Leben!

    Über der Wipfel Hin- und Wiederschweben:
    Wie's Atem holt und näher kommt und braust
    Und weiter zieht - und stille wird - und saust!
    Über der Wipfel Hin- und Wiederschweben
    Hochoben steht ein ernster Ton,
    Dem lauschten tausend Jahre schon
    Und werden tausend Jahre lauschen...
    Und immer dieses starke, donnerdunkle Rauschen."

Peter Hille stammt von der Weser. Das Sauerland hat in der bildenden Kunst, in der Musik und der Dichtkunst keine berühmten Männer hervorgebracht; und auch dieser Westfale aus der Gegend von Höxter hat keinen Sinn für Form. [68] Aber das starke donnerdunkle Rauschen des Waldes tönt in seinen wenigen formlosen Worten wieder.

Stumme ernsthafte Arbeit ist im Sauerland immer zu Hause gewesen. Arbeit im Wald. Denn heide- und flechtebewachsene Einöden, wie auf dem Gipfel des "Kahlen Astens", der mit 842 Metern Höhe den langgestreckten Zug der Rothaar im Norden um fast 100 Meter überragt, gibt es wenige. Das Holz der endlosen Wälder wandert ins Ruhrgebiet, in die Gruben. So dient es auf neue Weise der Industrie, der es jahrhundertelang als Holzkohle das Erz schmelzen half.

Noch bis 1905 wurden im Siegerland geringe Mengen Spiegeleisen in Holzkohlenöfen erschmolzen, dann hörte auch das auf, und der Steinkohlenkoks des Ruhrgebiets, der täglich zur Sieg rollt, hat die Alleinherrschaft angetreten. So ist dieses ganze Land eng mit dem Industriegebiet verknüpft. Auch der Kalkstein, den die rötlichgelben bis gelbgrauen Steinbrüche, besonders viel an der unteren Lenne, hergeben, geht an die Ruhr, um dort mit dem Erz gemischt in den Hochöfen zu glühen, wo er die Trennung von Eisen und Schlacke unterstützt.

Die engste Verbindung aber knüpft das Wasser, das von allen Höhen des Sauerlandes trieft und strömt. 133 Zentimeter jährlicher Niederschlag im Quellgebiet der Ruhr bei Winterberg auf der Rothaar und ähnlich hohe Zahlen am ganzen Nordwestrand der Rothaar und des Ebbegebirges, ja 108 Zentimeter noch in Altena - diese meteorologischen Tatsachen erheben das Sauerland zum Hauptwasserversorger der Industrie an der Ruhr.

Versickerndes Wasser erschafft in kalkhaltigem Stein die Tropfsteinhöhlen, die das Sauerland berühmt gemacht haben, die Attendorner Höhlen, die Dechenhöhle bei Iserlohn und viele andere. Das Felsenmeer von Sundwig scheint der Rest einer solchen zusammengestürzten Höhle zu sein.

Quellen springen fast überall, Bäche begleiten fast jeden Schritt des Wanderers, bald über Steine mit grünklarem Wasser dahinschießend, bald von einem Wehr gestaut.

In der Zeit, als man auf den Höhen noch Erz grub und Waldschmiede in Renn- oder Wolfsherden das Eisen schmolzen - inzwischen ist der Erzbau aufgegeben bis auf die wichtigen Schwefelbergwerke in Meggen an der Lenne - in der Zeit entstanden in den Tälern die ältesten Wasserräder und trieben die Hammerwerke, in denen der Märker das Eisen reckte, und von denen hier und da in den Tälern von Lenne und Volme noch eines in Betrieb ist.

In unseren Tagen hat die Steinkohle auch im kleinen Betrieb die direkte Ausnutzung der Wasserkraft durch das bequemere Gas, durch Dampf und Elektrizität ersetzt. Aber was als Tradition einmal da war, das Bauen von Sperren, das Stauen von Teichen, das lebt weiter, nur in den vergrößerten Ausdehnungen unserer Zeit.

Von der Möhnetalsperre mit ihren 134 000 000 Kubikmetern bis zu den kleinsten herunter liefert ein Netz von Talsperren in Zeiten der Trockenheit ebenso gleichmäßig wie im Überfluß das Wasser, das die Ruhr braucht. Und die Ruhr braucht viel.

[69] Auf jede geförderte Tonne rechnen die Kohlenzechen heute 2,5 Kubikmeter, d. h. im Jahr allein an die 300 000 000 Kubikmeter Wasser. 231 Wasserwerke sind im Flußgebiet der Ruhr verteilt. Und für die Klärung des zu Trinkwasserentnahme bestimmten Wassers sorgen gewaltige Stau- und Absatzbecken bei Essen, Wetter und am Fuß der Hohensyburg.

Träge fließt der Fluß durch diese künstlichen Seen. Schwimmer und Boote beleben die weiten Flächen im Sommer. In großer Zahl suchen die Menschen aus Essen, Bochum und Dortmund hier ihre Erholung. Moderne Autostraßen kürzen die Entfernungen.

Wer weiter kann, fährt und wandert flußaufwärts in den Tälern von Lenne, Volme und Ruhr, sucht die blinkenden Spiegel der zwölf großen Talsperren auf, die in die dunklen Wälder des Sauerlandes gebettet sind; und im Winter lockt der Schnee die gleichen Menschen aus ihren Städten nach Winterberg und Astenberg in die erfrischende Stille und Weite dieser Landschaft, wo der Kahle Asten 111 Tage im Jahr mit weißer Decke über den dunklen schweigenden Nadelwäldern thront, der stumme Herrscher des Sauerlandes.

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Deutsches Land: Das Buch von Volk und Heimat, das Kapitel "Westfalen".

Das Buch der deutschen Heimat
Hermann Goern, Georg Hoeltje, Eberhard Lutze und Max Wocke