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Nordwestdeutschland - Georg Hoeltje

Neuß und der Niederrhein

Neuß ist im Jahre 12 v. Chr. als römisches Lager gegründet worden. Seine Lage entspricht militärisch der Lage von Bonn. Beide stehen im Dienst von Köln, dessen Flanken an den Enden des Vorgebirges sie schützen.

Aber während bei Bonn die Berge dicht ans Ufer treten, mündet bei Neuß nur der "Graben hinter dem Wall", die Erft in den Rhein. Die Neußer Flanke ist offener. Bonn steht wirklich Wache am Tor, durch das der Rhein den Kölner Raum betritt, Neuß aber liegt wie ein Schiff im breiten Fahrwasser der niederrheinischen Landschaft, und rings um die Stadt strömt es und zieht aus der engen kölnischen Bucht hinaus in das weite norddeutsche Tiefland.

[41] Und während die geistlichen Herren von Köln ihre Residenzstadt Bonn stets in festen Händen gehalten haben, ist ihnen Neuß oft gefährlich geworden.

Neuß. St. Quirinuskirche.
[50]      Neuß. St. Quirinuskirche.
Da steht der Turm von St. Quirin...! Keine Kirche am Rhein - und dies ist eine rheinische Kirche: zungenfertiger und wortgewaltiger ist nirgendwo am Rhein die Sprache der Baukunst gesprochen worden als in den Bogenstaffeln der Westfassade, dem edlen Wohllaut der Apsiden und dem närrischen Schwung dieser Vierungskuppel - aber keine Kirche am Rhein reckt sich so festungshaft klobig und stolz! Diese Geberde läßt an Westfalen denken, an Soest und den unbändigen Freiheitwillen der Sachsen.

Man eckt leicht an, wenn man kantig ist wie dieser Turm. Der Kölner Erzbischof Friedrich von Saarwerden nimmt im 14. Jahrhundert der Stadt den Zoll, der an ihrem Ufer vom Rheinverkehr erhoben wird, und gibt ihn nach Zons, einer kleinen Stadt halbwegs zwischen Neuß und Köln. Aber obwohl er die neue Zollstätte üppig befestigt, stellt sich kein kräftiges Leben in dem Gebilde ein. Die Jahrhunderte gehen spurlos an ihm vorüber, und heute noch ragt mit dem Schwermut alter Schaustücke der geduckte Ring seiner Basalt- und Trachytmauern über die dunstigen Wiesen am Rhein.

Zons bei Neuß. Alte Stadtbefestigung.
[51]      Zons (bei Neuß). Alte Stadtbefestigung.

Neuß aber blüht und wächst - auch ohne den Zoll. Ein Jahrhundert später muß es um sein Leben kämpfen. Der Erzbischof hat den burgundischen Herzog, den gefürchtetsten Kriegsmann seiner Zeit, Karl den Kühnen zu Hilfe gerufen. Einen Sommer lang und auch den Winter durch und wieder bis in den nächsten Sommer hinein halten die Bürger die Stadt gegen 56 Angriffe des mächtigen Feindes. Erst im Juni 1475 kommt ein Reichsheer zu Hilfe. Der tapferen Stadt verleiht der Kaiser den Doppeladler des Reiches im Wappen zu führen.

Der Turm von St. Quirin und der Trotz dieser Bürger - das sind Dinge, die Raum um sich brauchen. Im engen Hals der Kölner Bucht, zwischen Bonn und dem Siebengebirge wäre dafür kein Platz. Aber hier, wo der Mund dieser Bucht sich weit auftut, wo die Berge zurücktreten und hinter dem feinen grauen Strich des Horizonts schon die Unendlichkeit des Meeres sich zu öffnen scheint, hier weht der Wind solcher Taten.

Grenzen zwischen Norden und Süden laufen quer durch die Landschaft um Neuß. Auf der sogenannten Uerdinger oder der Benrather Linie löst das Niederdeutsch des Tieflandes die hochdeutschen Mundarten ab. Eine andere Grenze, von der aus nach Norden das niederdeutsche Einheitshaus und nach Süden das mitteldeutsche oder fränkische Gehöft sich ausbreiten, geht etwa durch Düsseldorf. Und schließlich hat man von Neuß nach Gladbach eine Linie gezogen, von der aus südlich das Dorf als ländliche Siedlungsform vorherrscht, während nördlich von ihr oder in einigem Abstand nördlich von ihr der Einzelhof die Regel bäurischen Wohnens zu werden beginnt.

Was sich auf diesen Linien durch Unterschiede der Mundart, Hausform und Wohnweise voneinander trennt, sind die Menschen. Sie ändern sich an dieser Grenze. Mit der Landschaft und durch die Landschaft.

Nadler hat die Flußlandschaft den großen Gestalter fränkischen Volkstums genannt. Er denkt dabei an das Maintal, an den Rhein zwischen Köln und [42] Bingen und an die Mosel. Zu diesen Landschaften gehören Berge wie die Wände zu einem wohnlichen Raum. Begrenzte, geformte und doch mit dem fließenden Wasser stets bewegte Umwelt ist solche Landschaft, und was wir Franken nennen - im Raum der ripuarischen Franken um Köln zusammengewachsen aus vielen Stämmen, wie den Brukterern, Ampsivariern, Usipetern und Tenkterern - ist im Geist wohl in solcher Umwelt zu denken.

Die Landschaft des Niederrheins aber, die mit Neuß beginnt, muß andere Menschen erzeugen.

Wo der Fluß gewachsenen Stein zerschneidet, erlebt der Mensch den Kampf als formende Kraft in der Landschaft und spürt die Leidenschaft verwandter Kräfte im eigenen Herzen. Im aufgeschütteten Boden der Tiefebene aber gleitet die anschwemmende und fortspülende Tätigkeit des Flusses ineinander über. Ein form- und bestandloses Gewirr von Sumpf und seichtem Wasser wäre das Ende, wenn der Mensch nicht von sich aus Grenzen setzte.

Mit dem Deichbau scheinen die Römer unter Germanicus als Pioniere vorangegangen zu sein. Und es ist, als ob das distanzierte Verhältnis, in dem eine alternde und weitgehend zivilisiertere Gesellschaft zur Natur steht, auf die Bewohner dieses Uferlandes übergegangen sei.

Denn nicht nur die ersten Wasserbauingenieure des Abendlandes hat das Mündungsgebiet des Rheins hervorgebracht, sondern an seinen Rändern entsteht mit den Bildern des Jan van Eijck und seiner Nachfolger zum erstenmal in Europa eine Malerei, die in der stillen und aufmerksamen Betrachtung und Aufzeichnung der Natur das ganze Wesen der Kunst gefunden zu haben glaubt. Eine unpersönliche Zurückhaltung, deren der fränkische Mensch in Würzburg und Nürnberg von sich aus nicht fähig gewesen wäre, da in seiner Landschaft alles in fast menschlichen Gestalten zu ihm spricht, Ufer und Welle, eins mit dem anderen gesellig verbunden und eins von dem anderen geformt.

Am Niederrhein aber "scheinen die mächtigen Deiche, die den Blick vom Strom zum Land und umgekehrt abriegeln..., zwei Welten fast hermetisch zu trennen". (Schrepfer) Von Heerdt an, gleich unterhalb von Neuß, wird der Zug dieser Deiche auf der linken Seite des Stromes bis zur Mündung nicht mehr unterbrochen. Auf dem östlichen Ufer beginnt er erst bei Wesel.

Diese festen Grenzen, zwischen denen die durchschnittlich 400 Meter breite Wassermasse schwärzlichgrau, getrübt vom aufgerührten Bodensatz, dahinzieht, sind allerdings erst jungen Datums. Eng verschlungen reihen sich die halbverwischten Linien alter Stromläufe bis zur Maas. Feuchte Niederungen, Erlenbrüche und Schilf zeichnen ihre Spuren. Totes Wasser steht bei Kalkar, Xanten und Rees.

Und aus den weiten kaum bewegten Flächen der Wiesen und Weiden ragen sonderbar die Inselberge eiszeitlicher Schuttablagerungen auf: die Schaephuysener Höhen nördlich von Krefeld, die Bönninghardt und der Fürstenberg bei Xanten, die Hügel von Kalkar und der Klever Berg, umringelt von alten Flußtälern und mit Wäldern bedeckt, von denen der ausgedehnteste der schon in karolingischer Zeit dem König gehörende Reichswald bei Kleve ist.

[43] Diese 50 - 80 Meter die Ebene überragenden Erhebungen sind in besonderem Sinne Vorposten des norddeutschen Tieflandes. Bis hierher sind in jener Zeit, die wir die Saale-Eiszeit nennen, die skandinavischen Gletscher vorgedrungen, die damals ganz Norddeutschland bis hinein in das Mittelgebirge bedeckt und mit ihren Schuttablagerungen das Gesicht des Tieflandes zwischen Elbe und Rhein geschaffen haben.

Die gleiche Eismasse hat damals den Rhein, der bis dahin den Lauf der heutigen Alten Ijssel folgend geradenwegs zur Nordsee strebte, nach Westen abgelenkt. Der Beginn seines Deltas - in römischer Zeit bei Wesel und Xanten, heute unterhalb von Emmerich - lag damals noch bei Neuß. In vielen Armen, deren einer dem Lauf der heutigen Niers entsprach und andere zwischen den Inselbergen in mannigfaltigen Windungen ihren Weg sich suchten, bog dann die Wassermasse am Eisrand entlang nach Westen um.

Damit ist die Entstehung eines mächtigen Schwemmlandes, dessen Gesicht nach Westen, auf den Kanal und das freie Meer gerichtet ist, vorbereitet worden. Und die spätere politische Abtrennung dieses Gebietes vom Deutschen Reich trotz gleichartiger Bevölkerung ist keimhaft eben in dieser Wendung enthalten.

Und mit diesem Gebiet hängt die Landschaft am deutschen Niederrhein aufs engste zusammen. Keine natürliche Grenze trennt die bei Kleve über 35 Kilometer breite Stromaue vom holländischen Polderland, durch das der gleiche Strom nur unter anderem Namen fließt. Auf seinen Wellen herauf kommt der Schwanenritter der Sage zur Burg von Kleve gezogen, und den Fluß hinunter fährt Siegfried, der Held aus Xanten, nach Island, um Brunhild zu freien. Und keine zwanzig Kilometer stromab von Kleve liegt Nymwegen, wo auf dem Valkhof die Kaiserpfalz Karls des Großen gestanden hat.

Erst der Wiener Kongreß zieht mitten zwischen beiden Städten die abstrakte Linie der Staatengrenze, die allerdings im Laufe der letzten hundert Jahre auch zur Sprachgrenze geworden ist. Aber noch 1827 muß das erzbischöfliche Ordinariat von Münster auf den Wunsch der preußischen Regierung ausdrücklich untersagen, das Holländische im Religionsunterricht und als Kanzelsprache zu gebrauchen.

Auch die Sprache der Kunst und des Handwerks in der Vergangenheit redet holländische Mundart. Tuchwirkerei wie in Brabant hat die Städte des Mittelalters hier groß gemacht. Das stille Kalkar von heute ist damals eine blühende Stadt gewesen. Und als zu Dürers Zeit Antwerpen ganz Norddeutschland mit üppig geschnitzten Altären versorgte, da ist auch in Kleve, Kalkar und Xanten eine berühmte Schnitzerschule tätig, deren bekanntester Meister, Heinrich Douvermann, im Xantener Victorsdom die phantastische Wurzel Jesse, eins der verwirrendsten Werke der deutschen Spätgotik, schnitzt.

Zur vollen Blüte ist die Kultur dieser Landschaft erst im Herbst des Mittelalters gekommen. Zwar hat in der Zeit des Minnesanges auf der Schwanenburg in Kleve Heinrich von Veldecke einen Teil seiner "Eneide" geschrieben; zwar knüpft sich die gleiche Sage vom alten Troja auch an Xanten, das, vom Kaiser Trojan gegründet, sich im Mittelalter "Klein-Troja" nennt und erst [44] später endgültig den christlichen Namen Xanten = "ad sanctos" annimmt. Aber diese ganze legendenverklärte Vergangenheit, die bei allen vier Städten eigentlich mit einem römischen Posten beginnt, versinkt vor dem Reichtum und Luxus, den Gewerbe und Handel und die Nachbarschaft Flanderns und Brabants unter dem mit Burgund verschwägerten Herrscherhaus der Klevischen Herzöge ins Land bringen.

Es ist ein behäbiges Land. Die Feuchtigkeit der Luft ertränkt das genaue Ebenmaß der Form, aber um so satter leuchten die Farben. Und weithin beherrscht die glühende Farbe des Backsteins das Land.

Das schöne Wasserschloß zwischen Kleve und Kalkar ist holländisch nicht nur seinem Namen nach: Moyland (moij land = schön land), auch die roten Ziegelflächen seiner Mauern reden die gleiche Sprache.

Gewachsener Stein ist eine Kostbarkeit hierzulande und wird zu Schiff weither geholt. Für das Rathaus in Wesel hat man den Sandstein von den Baumbergen bei Münster auf der Lippe herangeschafft, zum Rathausbau in Rees ist der Tuffstein im Brohltal bei Andernach gebrochen, und ebenfalls aus Tuffstein haben die Xantener ihren Victorsdom, das größte gotische Bauwerk am Niederrhein, errichtet.

Am schönsten aber ist es, wenn man wie in Kalkar sich mit dem am Orte gefundenen Baustoff begnügt. Lehm hat die Eiszeit genügend abgelagert; man gräbt ihn gleich vor der Stadt. Und Wald ist auf den Moränenhügeln in der Nähe genug, um Holz zum Brennen der Ziegel zu schlagen. So wachsen die Häuser, die Kirchen, das Rathaus mit ihren glatten Wänden, den hohen schlanken Fenstern mit den kleinen Scheiben, den getreppten oder gerundeten Giebeln aus den gleichen Ziegeln auf, mit denen die Wege gepflastert werden. Roter Ziegel, weißer Kalk, grüne Wiesen ringsum...

Auch die einzelnstehenden Bauernhäuser, Einheitshäuser von niedersächsischem Typ, nur mit einem quergestellten Anbau, der dem Ganzen T-Form im Grundriß verleiht, sind stets aus Ziegeln errichtet.

Noch heute bestimmen die Ziegeleien das Bild des Stromes. Mit ihren langgestreckten niedrigen Dächern liegen sie wie Faktoreien an der belebten Straße der Schiffe, eine neben der anderen. Eine Anlegestelle, ein paar Lastkähne am Ufer, Gleise, eine Lehmgrube und der Rauch der Schlepper stromauf und stromab.

Dies ist die andere Welt, die von jener ersten so hermetisch getrennt ist. Und der Anschluß an diese Welt, an die Schiffsstraße ist die Lebensfrage aller Städte am Niederrhein.

Als der Strom noch ohne Deiche und Kribben vagabundierte, war das Schicksal einer Stadt besiegelt, wenn er sich von ihr abwendete. Xanten ist auf diese Weise verödet, es liegt heute zwei Kilometer landeinwärts und hat noch knapp 5000 Einwohner. Kleve dagegen hat die Verbindung mit dem sechs Kilometer entfernten Fluß durch einen Kanal künstlich aufrechterhalten und ernährt mit lebhafter Industrie (Schuhe, Margarine, Tabak) über 20 000 Einwohner.

[45] Ihm geht es ähnlich wie Neuß, von dem der Rhein sich gleichfalls fortgewendet hat. Und auch Neuß hat sich durch eine Kanalisierung der alten Erftmündung einen Zugang zum Strom erhalten. Seine Bevölkerungsziffer von über 50 000 Menschen ist nicht denkbar ohne seine Industrie, die sich auf die ausgedehnte Landwirtschaft der Umgebung eingestellt hat: Mehl- und Ölmühlen, Teigwaren- und Margarinefabriken, Branntweinbrennereien, Zucker und Schokolade und landwirtschaftliche Maschinen.

Manche Städte hat man auch künstlich vom Fluß getrennt. So hat Preußen, zwischen dessen klevischen und moersischen Ländereien die kurfürstlich kölnische Stadt Rheinberg als Enklave lag, den Rhein oberhalb der Stadt in ein anderes Bett gelenkt und den Wohlstand der unbequemen Rivalin damit vernichtet. Heute gehört Rheinberg zu den vielen Städten am Niederrhein, die im Angesicht ihrer großen Vergangenheit wie verstummt erscheinen, Festungswälle voller Kastanien und stilles Wasser in den nutzlosen Gräben.

Im gleichen Maße, wie der Strom sein Bett im zweiten christlichen Jahrtausend immer mehr nach Osten verschiebt, gewinnen die jüngeren Städte am nichtrömischen Ufer wachsende Bedeutung. Manche helfen dabei energisch nach. So sollen die Emmericher geradezu einen Graben auf ihre Stadt hin angelegt haben, durch den dann auch in der Hochflut des Jahres 1227 der Rhein brausend geschossen kam. Allerdings kostete dieser Streich die Westfront der Martinskirche, die von der Flut unterspült zusammenstürzte.

Xanten und Wesel haben am anschaulichsten mit dem Wechsel des Stromes ihre Bedeutung getauscht. Beide sind einmal angelegt worden mit Rücksicht auf die Mündung der Lippe.

Der Lippe entlang, die ursprünglich am Fuße des Fürstenberges unmittelbar vor der Castra Vetera bei Xanten in den Rhein mündete, öffnet sich ein seit vorgeschichtlicher Zeit verhältnismäßig waldfreier Weg ins Innere Germaniens, den die Römer auf vielen Zügen beschritten haben und an dem sie beim heutigen Haltern zwischen 11 v. Chr. und 9 n. Chr. nacheinander mehrere Lager errichtet haben. Nach der Niederlage im Teutoburger Walde ist dieser weit vorgeschobene Brückenkopf wieder aufgegeben worden. In der Folge haben Castra Vetera und nach seiner Zerstörung durch Claudius Civilis die Colonia Trajana, die Keimzelle des späteren Xanten, die Lippepforte Deutschlands bewacht.

Die Grafen und Herzöge von Kleve sind als mittelalterliche Territorialherren auf kleinere Räume eingestellt als die Strategen des Imperium Romanum. Trotzdem messen auch sie der Lippemündung als dem Brückenkopf nach Westfalen große Bedeutung bei, nur daß die Lippe jetzt bei Wesel mündet und diese Stadt in den Mittelpunkt des Interesses tritt. Ihr Rathaus und die Willibrordikirche mit den üppigen Netz- und Sterngewölben erzählen von Reichtum und Macht im 14. und 15. Jahrhundert.

In den Zusammenhang großzügiger Pläne aber tritt die Lippemündung erst wieder, als aus dem Jülich-Klevischen Erbe Brandenburg Kleve mit Wesel bekommt. Zum erstenmal faßt damit die werdende Großmacht des Ostens Fuß am Rhein, und der Große Kurfürst und die ersten preußischen Könige haben [46] die entscheidende Lage Wesels sofort erkannt und die Stadt immer mächtiger befestigt.

Die Wälle und Tore von damals bestimmen noch heute das Bild. Das Berliner Tor von 1722, mit "Luppia" und "Rhenus" im Bogenfeld, im kühlen straffen Klassizismus des Jan de Bodt, der das Berliner Zeughaus vollendet hat, ist ein Stück preußischen Stiles am Rhein. Was einmal die "Rheinprovinz" werden soll, nimmt im 17. Jahrhundert hier seinen Anfang.

Das Gesicht des preußischen Wesel ist nach Westen gekehrt. Die Lippestraße ist jetzt Anmarschweg zum Rhein. Elf preußische Offiziere rücken von Osten her im Jahre 1809 in die Stadt; sie kommen als französische Gefangene und sterben hier; aber sie ziehen ganz Preußen nach sich, einige Jahre nachher.

Damals hat Wesel zum letztenmal nach Osten gesehen. Der Eroberer Napoleon hatte es zur stärksten Festung seines Reiches an der niederrheinischen Grenze gemacht und später zum Eckpfeiler des an der Lippe entlang bis Haltern und von dort über Minden nach Hamburg greifenden französischen Küstenkorridors.

Seit Preußen aber in voller Breite bis zum Niederrhein reicht, ist Wesel wieder Brückenkopf nach dem Westen. Die einzige feste Brücke - zwischen dem Ruhrgebiet und der holländischen Grenze - führt hier über den Rhein, im Kriege gebaut und mit ihrem feinen Eisengitterwerk und den zwei mächtigen Steinpfeilern ein eindrucksvolles Dokument der stromüberbrückenden Bedeutung dieser Stadt. Eisenbahnknotenpunkt mit starkem Verkehr, ernährt Wesel heute rund 25 000 Einwohner.

Kalkars Nachfolgerin auf der anderen Stromseite: Rees, hat im 19. Jahrhundert den Anschluß an die Eisenbahn verpaßt. Nur durch eine Stichbahn hat die Stadt Zugang zur Hauptlinie vom Industriegebiet über Wesel - Emmerich nach Holland. So ist sie trotz guter Stromlage klein geblieben und ist neben Zons wohl eins der idyllischsten Städtchen am Niederrhein. Seine weißgekalkten giebeligen Häuser, dicht am Wasser hinter die trutzige Stadtmauer geduckt, bleiben dem Vorüberfahrenden lange im Gedächtnis.

Daß Emmerich größer geworden ist, muß nicht allein die Folge des schon 1227 bewiesenen Unternehmungsgeistes seiner Bürger gewesen sein. Die Reeser können sich trösten, daß jedenfalls im 19. Jahrhundert die Gunst der Lage auf seiten von Emmerich gewesen ist. Fünf Kilometer von hier ist die holländische Grenze, und den Zollhafen von Emmerich passieren in unserer Zeit jährlich 75 000 - 80 000 Fahrzeuge!

Ins alte Bild der Stadt haben sich Fabrikschornsteine geschoben, Öle, Fette, Maschinen, Leder, Papier und Chemikalien werden hergestellt, und die weite Wasserfläche, die einen halben Kilometer breit an Emmerichs alten Häusern und Kirchen, an den schlanken und spitzen Türmen von Aldegundis und Martini vorüberzieht, ist von Kähnen und Schleppern belebt wie ein verkehrsreicher Meeresarm.

Fünfzig Kilometer stromauf legt sich die Industrielandschaft des Ruhrgebiets quer über den Strom. Von dorther schleppen die Kähne die Kohlen nach Rotterdam, nach dorthin bringen sie Erze von Übersee.

[47] Die Kohlenflöze des Ruhrreviers greifen weit ins linksrheinische Land. Unter den Wiesen von Kalkar, unter den Niederungen der Niers und den Heideflächen der Sand- und Kiesberge der Bönninghardt, überall liegt Kohle. Aber an wenigen Stellen ist der Abbau begonnen. Die Überlagerung der flözführenden Schichten durch ein besonders mächtiges, stark wasserführendes Deckgebirge erschwert das Abteufen. Das Niederbringen einer normalen Schachtanlage verschlingt bis zum Beginn der Förderung etwa 50 - 60 Millionen Mark (1925), also etwa doppelt soviel wie jenseits des Rheins.

So hat bisher nur an einigen Stellen die Industrialisierung Fuß gefaßt, und 521 000 Bergwerksarbeitern im Ruhrgebiet stehen erst 18 000 (1923) im linksrheinischen Revier gegenüber. Aber die Industrialisierung wird auch hier weitergehen, und der Rauch der Schlote hängt wie eine dunkle Drohung über der friedlichen Landschaft des Niederrheins.

Nicht nur die Landschaft wird sich dann ändern, auch die Menschen werden ein anderes Gesicht bekommen. Heute noch sehen sie denen ähnlich, die jener Jan, der aus Maaseijck nicht weit von jenseits der Grenze stammt, vor einem halben Jahrtausend gemalt hat: wie sie mit klugen Augen vor der Madonna knien, den Mund fest verschlossen und die Hände ruhig gefaltet halten und mit unendlich empfänglichen Sinnen das Wunder - die weite Landschaft und die stille Frau - in sich hinein zu trinken scheinen.

Heute noch... aber wenn erst Gerüste rings sich erheben, Zahlen und Maße immer wichtiger werden, werden dann diese Menschen dem Schicksal entgehen, das den anderen jenseits des Rheins schon seit Jahrzehnten auferlegt ist: sich wandeln zu müssen; durch den Einfluß der Zuziehenden, in einer veränderten Umwelt und der alten vertrauten Landschaft beraubt. Sich wandeln zu müssen, gewandter und schneller zu werden und vor allem: leichter?

Wer schwer ist, versinkt von selbst. Und die Fähigkeit der Versenkung ist die schönste Gabe, die das eintönige und ungeformte Tiefland seinen Söhnen mitgibt. Denen am Niederrhein, die dem Westen nah, aus fränkischem Stamm und römischem Erbe leben, wächst aus der tiefen Stille solcher Versunkenheit stets eine neue Gewißheit des Sehens zu.

Wie ein Bild liegt die Welt, wie ein Bild liegt alles Geschehene vor ihren Augen, und indem sie seine Existenz gelassen hinnehmen, beginnen sie selbstlos alles eigene Gestalten mit ehrfürchtiger Nachahmung.

"Nachahmung Christi" heißt ein Buch, das in alle Sprachen der Welt übersetzt ist, und der es schrieb, ist in Kempen geboren. Thomas a Kempis ist ein Sohn der niederrheinischen Landschaft. Im Tal der Ijssel, durch das in der Vorzeit der Rhein zum Meere strömte, liegt Deventer, wo Thomas zur Schule gegangen ist und die "Brüder vom gemeinsamen Leben" kennengelernt hat, nicht weit davon bei Zwolle ihr Kloser Agnetenberg, wo er bis zu seinem Tode 1471 gelebt hat.

Der gleiche Dunstkreis des Niederrheins hat schon am Ende des 12. Jahrhunderts, in der Zeit der großen Ketzerbewegungen, die "Beginen" hervorgebracht. Ohne Klostergelübde und Ordensregel lebten unter diesem Namen [48] fromme Frauen in frei gewählter Gemeinschaft, mit praktischer Nächstenliebe und erbaulichen Betrachtungen beschäftigt; der Rücktritt in die Welt stand ihnen immer offen.

Solche Mischung von Nüchternheit und Schwärmerei, tatsächlicher Gemeinschaft und persönlicher Ungebundenheit trägt die Prägung dieser Landschaft; der gangbaren Münze kirchlicher Form gegenüber sehr bald verdächtig und in der Inquisition mit Feuer und Schwert verfolgt. Es ist, als ob das ausgeschüttete und unbestimmte Wesen dieses Strom- und Wasserlandes auch das religiöse Gefühl ins Weite, ins Grenzenlose, in Schwärmerei und Schrankenlosigkeit verlockte.

Nicht der straffe, fast soldatische Geist des Zisterzienserordens ist hier gewachsen. Die Türme von Kamp sind das Signal einer französischen Bewegung, die mit dieser Abtei sowie gleichzeitig mit Altenberg bei Köln und Ebrach in Franken sich zum Sprung ins innere Deutschland bereit macht (1125). Mit 40 Töchter- und Enkelklöstern hat sich Kamp von seiner Stellung an der Lippemündung aus bis Doberan, Pelplin an der Weichsel und Dünamünde im deutschen Osten ausgebreitet. Hinter diesem Erfolg steht nicht die gelassene Kraft des Niederrheins, sondern der scharfe Geist und die klare Luft von Citeaux und Morimond in Burgund.

Aus dem feuchten Schwemmland dagegen treibt das religiöse Leben andere Formen hervor.

Der König der Wiedertäufer im nahen Münster ist ein Niederländer aus Leijden; ein kurzes Stück die Lippe aufwärts, gleich hinter Haltern, liegt das Städtchen Dülmen, wo die stigmatisierte Katharina Emmerich gelebt und Clemens Brentano ihre Visionen beschrieben hat; und im Tal der Niers, auf halbem Weg zwischen Kempen und Goch, wo 1547 ebenfalls die Wiedertäufer Fuß fassen konnten, steht in Kevelaer das wundertätige Gnadenbild, zu dem seit 1642 die Prozessionen mit Kerzen und gläubigen Bitten kommen.

Die "spintisierende Nation der Schuster" (Raabe) hat den Deutschen einen Poeten und einen Philosophen geschenkt - diese Landschaft dagegen, in der die Religion so krause und farbige Blüten treibt, ist voll von einem anderen, nicht weniger besinnlichen Gewerbe: der Weberei. Woll- und Leinenweberei im Mittelalter auf Grund der Schafzucht und des Flachsbaus, Baumwoll- und Seidenindustrie in unserer Zeit auf Einfuhr ausländischer Rohstoffe eingestellt. Früher Hausindustrie, weit übers flache Land verbreitet, winters in den Händen der Familien, die im Sommer den Acker bestellten und das Vieh weideten; jetzt in einigen Städten konzentriert mechanische Spinnereien und Webereien, bedient von ausgebildeten Arbeiterschaften.

In Gladbach an der Niers, das sich zum Unterschied von seinem bergischen Namensvetter nach den Mönchen der alten Abtei München-Gladbach genannt hat, und in seinen Nachbarstädten Rheydt und Odenkirchen laufen rund eine Million Spindeln. Es ist der Mittelpunkt der Baumwollindustrie, ein "rheinisches Manchester".

In Krefeld und Uerdingen leben rund 165 000 Menschen, von denen über ein Fünftel im Textilgewerbe und davon allein 12 000 in der Seidenindustrie tätig [49-56=Fotos] [57] sind, die erst um 1650 von einer bergischen Industriellen-Familie, den von der Leyens, hierher verpflanzt worden ist. Die von der Leyens sind Mennoniten gewesen, ebenso die Scheuten und ter Meer und andere, die damals ihres Glaubens wegen aus dem bergischen Lande auswanderten.

Durch die geraden, hellen, gleichförmigen Straßen der Stadt ist schon der erste preußische König gefahren, und Friedrich der Große besichtigt 1751 die Krefelder Manufakturen, die damals schon 2800 Arbeiter beschäftigten. In den 100 Jahren von 1720 - 1820 nimmt Krefelds Bürgerschaft fast regelmäßig alle 10 Jahre um 1000 Köpfe zu. Zugleich wächst die Stadt, die Produktion, der Umsatz und die Steuererträge.

Und so helfen Glaubenskraft und Erwerbssinn dieser niederrheinischen Bürger, die als südlichste Vorposten Preußens im Rheinland stehen, schon im 18. Jahrhundert beim wirtschaftlichen Aufbau der Provinz, die erst nach den Zerstörungen der Zeit um 1800 den alten natürlichen Anschluß an das Innere der Kölner Bucht, nun aber im Zusammenhang des größten deutschen Staates, wiederfinden soll.

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Deutsches Land: Das Buch von Volk und Heimat, das Kapitel "Das Rheinland".

Das Buch der deutschen Heimat
Hermann Goern, Georg Hoeltje, Eberhard Lutze und Max Wocke