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Nordwestdeutschland - Georg Hoeltje

Der Hellweg und das Ruhrgebiet

Es ist eine eigene Sache mit den Grenzen der Heimat. Wer vom Niederrhein stammt, wird nur im Dunstkreis des Stromes Heimatluft atmen, und wer in der Eifel aufgewachsen ist, wird am Rande der einsamen Hochflächen anhalten.

Der Mensch im Ruhrgebiet aber wird, wenn er versucht die Grenzen seiner Heimat abzuschreiten, umsonst die Augen gebrauchen: weder der Herrschaftsbereich eines Flusses noch die Scheide von Bergland und Ebene bestimmt seine Heimat - mit der Wünschelrute in der Hand müßte er dem unterirdischen Dunkel sich zuwenden, in dem die Kohle ruht.

Vermoderter Wald und vergangene Zeit zeichnen sich für den wissenden Blick unter den Wiesen und Feldern ab. Im lebenden Ruhrgebiet spiegelt sich diese verborgene einstmals gewesene Landschaft wieder in dem Maße, wie sie ans Licht steigt.

So ist das Ruhrgebiet ein Werdendes, die Ruhr ist weder Grenze noch Rückgrat, sie ist nur die Linie, von der einst der Vormarsch begann, auf der einst die ersten Kohlen aus der Erde geholt sind. Und mit der fortschreitenden Kenntnis der Lager und zumal mit der steigenden Möglichkeit sie zu erschließen, hat das Gebiet des Bergbaus sich stetig nach Norden erweitert und hat sogar in unseren Tagen, nachdem die ersten Fundstellen erschöpft worden sind, den Boden des Anfangs wieder aufgegeben.

Das Gebiet wächst also nicht nur: es wandert. Und mit ihm wandern die eisernen Fördertürme und stecken wie unheimliche Meßplatten den heute gültigen Umfang ab.

[70] Im Werden begriffen und gleichfalls heute ganz anders als noch vor einer Generation ist auch die Bevölkerung des Bezirks. Ein großer Teil ist gar nicht im Revier geboren sondern zugewandert, allein in Hamborn 42 000 Menschen in nur 10 Jahren (1900-1910).

Aber auch die hier Geborenen haben Eltern, die von auswärts gekommen sind; oder jedenfalls sind die Großeltern nicht hier zuhause. Und wie wenige bleiben schließlich über, denen das Land, in dem sie wohnen, Heimat nicht nur ist, weil sie dort arbeiten und sich ernähren, sondern Heimat im schönen und natürlichen Sinn der Überlieferung, die, vom Großvater auf den Enkel übertragen, diesem das Land verklärt, in dem schon jener spielend seine ersten und tiefsten Eindrücke empfangen hat.

Aber das sind wohl Begriffe, die wandernde Völker notgedrungen vernachlässigen müssen. Und wir stehen im Ruhrgebiet vor dem Ereignis einer gewaltigen Wanderung, die, nur den großen Wanderzügen germanischer Völker um Christi Geburt oder den Siedlerwanderungen des Mittelalters vergleichbar, sich in den letzten hundert Jahren vollzogen hat.

Von Osten her, aus Mitteldeutschland, Ostpreußen und Schlesien, ja aus Polen sind zunehmend seit dem vierten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts die Menschen hierher geströmt. Schon um 1870 erreicht die Bevölkerung des Ruhrgebiets 800 000 und hat sich seitdem durch weiteren wachsenden Zuzug und sogar sehr hohe Geburtenziffern auf fast 4 000 000 erhöht.

Die erste Generation der Einwanderer hat sich in dem Streifen zwischen Ruhr und Emscher festgesetzt, wo die Städte Essen und Bochum liegen. Um 1870 wohnen die Menschen hier schon so dicht, daß man bis zu 500 auf den Quadratkilometer zählt; für damalige Zeit eine ungeheure Zahl. In den folgenden Jahren wird die Emscher überschritten, und als stärkster Magnet für die Zuwandernden erweist sich Gelsenkirchen, das 1818 erst 505 Einwohner, 1936 aber 330 000 zählt, also in etwas mehr als hundert Jahren um das 665fache zugenommen hat. In den letzten Jahrzehnten beginnen die Arbeitersiedlungen auch im nördlichen Streifen des Reviers dichter zu werden. Bei Dorsten erreicht und überschreitet die industrielle Landschaft die Lippe.

Die durchschnittliche Bevölkerungsdichte, die sich für das gesamte von Ruhr und Lippe umschlossene Industriegebiet zwischen Hamm im Osten und dem Rhein im Westen errechnen läßt, ist mit 1467 Menschen auf dem Quadratkilometer schon außerordentlich hoch. Da aber in diesem verhältnismäßig weitgefaßten Raum der ländlichere Charakter einiger Kreise - wie Hamm mit 294 pro Quadratkilometer - die weit größere Dichte der rein industriellen Kreise - wie Gelsenkirchen mit 5442 pro Quadratkilometer - mehr als ausgleicht, dürfte das treffendste Bild von der Dichte der Bevölkerung entstehen, wenn man sich klar macht, daß im Herzen des Gebiets auf der breiten Fläche zwischen Ruhr und Emscher mehr als 2400 Menschen auf dem Quadratkilometer wohnen.

Duisburg-Ruhrort.
[73]      Duisburg-Ruhrort.

Hier spannt sich zwischen Dortmund und Duisburg über eine Entfernung von 50 Kilometern in der Luftlinie und in einer Breite von durchschnittlich [71] 10 Kilometern ein Netz aus Schienen, Straßen und Kanälen. In seinen Maschen stecken Häuser, Fabriken, Bahnhöfe und Kinos. Menschen fluten in regelmäßigen Bewegungen hindurch. Wo die Vorstädte von Dortmund aufhören und der Rand von Bochum beginnt, ist nicht zu erkennen.

Industrieanlage im Ruhrgebiet.
[74]      Industrieanlage im Ruhrgebiet.

Aber es ist auch nicht wie in Berlin, wo Charlottenburg und die Friedrichsstadt so miteinander verwachsen sind, daß man an der straffen Form ihrer Verbindung noch die Energie erkennen kann, mit der eine zentrale Kraft nach außen greifend sich dem gesamten Umkreis unterworfen hat.

Das Ruhrgebiet wächst nicht von einem Zentrum aus. Wo die Initiative und Energie einzelner Unternehmer Zugänge zu den Schätzen unter der Erde öffnet, da entstehen magnetisch Punkte, auf die sich Geleise, Straßen und Gebäude ausrichten.

Weit verstreut im Revier und immer wieder unterbrochen von Feldern, Waldstücken und Weiden ist in den letzten hundert Jahren an vielen solchen Punkten städtisches Leben aufgeflackert. Städtisch aber nur in dem Sinn, in dem das 19. Jahrhundert diesen Begriff aufzufassen sich gewöhnt hat: charakterisiert durch Industrie, Geschäfte, Straßenbahnen, Kanalisation, Gas- und Stromversorgung. Städtisch nicht in dem Sinn, wie wir ihn aus der Tradition her kennen: als eine planmäßig schon in der Anlage der Baulichkeiten zum Ausdruck kommenden ordnende Kraft, als eine Art konzentriertes Zusammengehörigkeitsgefühl, das in der Blütezeit städtischen Lebens im Bau der Stadtmauer gipfelte, aber auch noch in unserer Zeit im geistigen Umriß einer Stadt erkennbar bleibt.

Solche Städte gibt es auch im Ruhrgebiet. Die Namen Essen, Duisburg und Dortmund lassen im Gedächtnis des historisch Gebildeten ganz bestimmte Umrisse erscheinen. Selbst durch das graue und geschäftige Vielerlei, das in unseren Tagen diese alten Städte überspinnt, scheinen die einmal geprägten Formen hindurch.

Essen, wo einst eine Enkelin Ottos d. Gr. als Äbtissin des Stiftes residierte, das dann bis 1803 sich seine reichsunmittelbare Selbständigkeit bewahrt hat und noch heute in der Schatzkammer der fast 1000jährigen Münsterkirche einen der schönsten deutschen Kirchenschätze birgt, Essen ist, obgleich unter den Feldern von Wattenscheid und Kray ebensoviel oder noch mehr Kohle liegt, der wirtschaftliche Kopf und damit der Sitz der wichtigsten Selbstverwaltungsorgane des Industriegebietes geworden. Hier sitzt das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat, das R. W. E. (Rhein. Westf. Elektrizitätswerk), der Bergbauverein, die Gasversorgung, der Ruhrgroßhandel, der Ruhrsiedlungsverband und die Emschergenossenschaft.

Duisburg, die von den Franken auf einem Hügel am Rhein im achten Jahrhundert angelegte Deusoburg, deren Schiffe, bevor der Rhein sich 1270 von ihren Mauern fortwendete, bis ins offene Meer hinaus mit Waren fuhren, und in deren still gewordenen Mauern 1558-1592 der Geograph und Seekartenzeichner Gerhard Mercator wohnte, dieses Duisburg ist in unseren Tagen Hafen des Reviers und mit einem Umschlag von über 27 000 000 Tonnen im [72] Jahre 1913 der größte Binnenhafen Europas geworden, eine Stadt, in welcher der Geruch und Dunst von Wasser, Teer und Schiffen die Phantasie auf weite Reisen schickt.

Und im tausendjährigen Dortmund, wo schon unter Otto d. Gr. eine Zoll- und Münzstätte bestand, wo in den Gewölben des alten Rathauses im 13. Jahrhundert die Tuchballen sich häuften und die Hansa tagte, wo der Fehmestuhl stand und wo Meister Konrad von Soest geboren wurde und als Maler tätig war, in diesem bürgerlich behäbigen Dortmund steht heute noch beherrschend und charakteristisch eine echt bürgerliche Industrie, das Braugewerbe, beherrschend neben Eisen und Kohle. Die Dortmunder Brauereien haben 1928/29 fast 5 000 000 Hektoliter erzeugt und erreichen damit hinter München, Berlin und Nürnberg die vierte Stelle in Deutschland.

Diese drei Städte sind Persönlichkeiten. Ein Dortmunder ist anders als ein Essener; dem Mann aus Hamborn oder Oberhausen fehlt solch ein Profil. Und nicht, weil er nicht nach Duisburg eingemeindet worden ist wie die Ruhrorter. Denn das sind keine Fragen der Eingemeindung, sondern der Zugehörigkeit.

Das Gefühl der Zugehörigkeit formt die Städte. Und dieses Gefühl kann eines Tages - vielleicht - auch einmal formen, was im Ruhrgebiet zwischen den Städten liegt. Wie wichtig das wäre, zeigt die Tatsache, daß es noch 79 000 polnisch Sprechende im Ruhrgebiet gibt. Das wird sich zwar in der nächsten Generation verwischen. Aber ob in der nächsten Generation auch aus den angegliederten Häuserhaufen Städte werden?

Daß es stets so bleiben wird wie jetzt, ist allerdings nicht anzunehmen. Denn schließlich sind diese Erscheinungen doch wohl in erster Linie auf das überstürzte Wachstum zurückzuführen und werden verschwinden, wenn ruhigere Zeiten im Ruhrgebiet eintreten.

Auf 282 Milliarden Tonnen wird der gesamte Kohlenvorrat geschätzt. Bei gleichbleibender Förderung dürfte er erst in 800 - 1000 Jahren erschöpft sein. Dem Ruhrgebiet stehen also noch ebensoviel Jahrhunderte bevor, wie sie die deutschen Städte in der Regel hinter sich haben.

Und was dort in zwei- bis dreimaligem völligem Neubau aller Gebäude schließlich an Einheit erreicht worden ist, braucht auch dem Industriegebiet nicht versagt zu bleiben, wenn erst einmal an die Stelle der hastigen Besitzergreifung der ruhige Ausbau tritt. Dann wird man erkennen, daß aus dem Boden, den die ersten Unternehmer mit Füßen treten mußten, um vorwärts zu kommen, Korn und Bauwerk, Nahrung und Wohnung wächst und daß er immer noch zu verbinden bereit ist, wie er von jeher verbunden hat.

Es gab eine Zeit - und es war die Blütezeit der alten Städte - da war der ganze Streifen Land nördlich von Ruhr und Möhne von Duisburg über Essen nach Dortmund und weiter bis in die Gegend von Soest eine fruchtbare Ackerbaulandschaft.

Auf dem flachgeneigten Abhang, mit dem die Berge des Ruhr- und Möhnetals sich nach Norden in die Niederungen von Emscher und Lippe verlieren, [73-80=Fotos] [81] hat die Eiszeit den fein verteilten Löß abgelagert. Dieser trockene durchlässige Boden hat wahrscheinlich schon früh einen langgezogenen Streifen offener Steppenlandschaft quer durch den vorgeschichtlichen Urwald entstehen lassen.

In ihm lief dann in geschichtlicher Zeit der "Hellweg", der Königsweg der Karolinger, dessen Namen bis in unsere Tage moderne Chausseen führen. Es gab einen Osten- und einen Westenhellweg, die sich in der Mitte der Stadt Dortmund noch heute begegnen. Der östliche Teil scheint der ältere zu sein; jedenfalls ist er wohl schon von den Römern im Anschluß an ihre vom Rhein und Xanten-Castra Vetera heranführende Lippestraße benutzt worden.

Unter Karl dem Großen werden Königshöfe als Etappenstationen errichtet - z. B. Erwitte und Geseke auf dem weiteren Wege nach Paderborn - der Wald wird planmäßig gerodet und so nicht nur die Straße verbessert und vielleicht ihr westlicher Teil erst angelegt, sondern auch die Ackerflächen vergrößert.

In der folgenden Hauptrodungsperiode des deutschen Mittelalters entsteht allmählich das Landschaftsbild, das bis zum Beginn der Industrialisierung sich nicht mehr verändert: von Duisburg bis Paderborn in offener Ackerbaulandschaft aufgereiht an der langen geraden Straße einige zehn größere Städte, die meisten aus karolingischen Keimen entstanden.

Wo das Industriegebiet nicht hingekommen ist, sehen wir heute noch dies alte Bild. Genau in der Mitte zwischen Dortmund und Soest ist seine Ausdehnung zum Stehen gekommen. Von Südwesten nach Nordosten gerichtet verläuft hier die Grenze der Steinkohle.

In der Soester Gegend beginnen andere Bodenschätze, Salze und Solen und eine alte Industrie, Salinen und Bäder. Sassendorf östlich von Soest eröffnet ein Reihe von Badeorten, die sich mit Westernkotten, Salzkotten, Paderborn und Lippspringe fortsetzt. Aber die Gradierwerke und Kurhäuser stören den Klang der weiten flachgewölbten Landschaft nicht, ebensowenig wie im Mittelalter die steinernen Öfen, in denen in Soest das feste weiße Salz aus der Sole gewonnen wurde, wie uns ein arabischer Reisender des 10. Jahrhunderts berichtet.

Salz und Korn sind die natürlichen Gaben des Bodens. Nahrung spendend tritt im Mittelalter der Hellweg dem Bergland gegenüber, dessen karger Boden seine Bewohner zu handwerklicher Betriebsamkeit nötigt. Südlich der Ruhr liegt das bergisch-märkische Industriegebiet, nördlich des Flusses aber zwischen Duisburg und Paderborn eine reine Agrarlandschaft, in deren Städten sich der natürliche Reichtum des Landes sammelt.

Heute erfüllt nur die Soester Börde noch diese alte Aufgabe, Kornkammer der Industrie zu sein. Und unter den Städten ist es auch wieder Soest, das sein altes Gesicht am wenigsten verändert hat.

In der schon im sechsten Jahrhundert ansehnlichen dörflichen Siedlung an dem "Großen Teich", der heute noch in der Mitte der Stadt liegt, gründet 630 ein Kölner Erzbischof die älteste christliche Kirche, die Peterskirche. Aber noch dreihundert Jahre später klagt man, das Christentum sei in der Stadt noch nahezu unbekannt. Man möchte danach gerne glauben, daß die Bevölkerung [82] der Stadt doch wohl überwiegend sächsisch und nicht fränkisch gewesen ist, was übrigens nicht feststeht.

Soest. Die Wiesenkirche.
[80]      Soest. Die Wiesenkirche (14. Jahrhundert).
Sächsisch und besonders westfälisch in seiner wortkargen Wucht ist jedenfalls der Turm der Stiftskirche S. Patroklus. Dieses Wahrzeichen von Soest, wie alle seine Bauten in dem grüngrauen Mergelstein der nahen Haarstrangberge errichtet, der den Baumeister zu breiter Großflächigkeit zwingt, kommt schon aus dem 13. Jahrhundert, und das ist das Jahrhundert von Soests Blüte. Über Lübeck und früher schon über Schleswig treiben Soester Kaufleute Handel bis nach Riga und ins Innere Rußlands.

Als kühnste, aber in ihrer äußerst zerbrechlichen Form schon mit dem Stigma des Verfalls gezeichneten Schöpfung dieser reichen und mächtigen Bürgerschaft erhebt sich im folgenden Jahrhundert die gotische Halle der Wiesenkirche. Im 15. Jahrhundert leitet dann die "Soester Fehde", ein Aufstand der Stadt gegen ihren Landesherrn, den Erzbischof von Köln, den Niedergang der Stadt ein.

Bis fast auf ein Viertel sinkt die Bevölkerung im 18. Jahrhundert, und die vielen Gärten im Inneren der Stadt zeigen heute noch an, wieviel Hausplätze nicht wieder bebaut worden sind.

Die Eisenbahnen haben schließlich auch noch den Hauptstrom des Verkehrs auf ihren die Ebene liebenden Schienen von Soest fortgeführt. Was früher den Hellweg wichtig gemacht hat, daß er am Fuß des bis zu 300 Metern ansteigenden Haarstrangs entlang sich stets über der Hochwassergrenze der Lippe hält, so daß z. B. Soest in einer Höhenlage von knapp 100 Metern doch noch 30 Meter über dem Niveau der Lippeniederung liegt, das fällt im 19. Jahrhundert nicht mehr ins Gewicht.

Und so erfährt die Stadt denn auch nur eine geringe und jedenfalls maßvolle Belebung, die sie vor den Unausgeglichenheiten bewahrt, die das Schicksal des Industriegebiets geworden sind. Im Kranz der mittelalterlichen Befestigung liegt sie heute als Kleinod deutscher Stadtbaukunst vor uns.

Wenn Dortmund das erste Drittel des Hellwegs, vom Rhein ab gerechnet, bezeichnet und Soest das zweite, so setzt Paderborn, wieder 50 Kilometer weiter nach Osten, den Schlußpunkt.

Weißgrau sind die Steine seines Doms, aus Kalkstein besteht die Hochfläche, an deren Rand die Stadt sich erhebt, Kalkwerke sind in Betrieb.

Die Lippe - die der Pader zuströmt - ist hier ganz nahe; 10 Kilometer nordöstlich liegt Lippspringe. Hinter der Hochfläche ragt im Osten die 400 Meter hohe Mauer der Egge auf, im Norden der Teutoburger Wald.

Im Tunnel von Altenbeken durchstößt die Bahn das östliche Gebirge, bei den Externsteinen führt ein Paß die Fernverkehrsstraße Nr. 1, "Reichsgrenze - Gumbinnen", die bis Paderborn dem Hellweg folgt, über die nördlichen Berge. Der Hellweg aber ist zu Ende. Jenseits der Berge liegt eine andere Welt; den weiten Blick auf die westfälische Bucht haben wir von Paderborn das letzte Mal.

Diese Stadt im Scheitel der Bucht, von der aus man die beiden einzigen Flußlinien der Bucht, Lippe und Ems, beherrscht, Kopfstation des Hellwegs [83] und zugleich Riegel vor den Gebirgspässen ins Weserbergland, diese Stadt ist ein Schlüsselpunkt historischen Geschehens. In Elsen bei Paderborn hat man das Aliso der Römer erkennen wollen, und Karl d. Gr. hat hierher den Bischof gesetzt, das heißt in seiner Zeit: die geistliche und militärische Macht in einer Person.

Bischofsstadt ist Paderborn. Das macht seinen Unterschied gegenüber Soest. Das läßt den Domturm so viel herrischer alles andere überragen, was sich sonst in der Stadt noch erhebt. Und das hat dem alten Glauben im 16. Jahrhundert Rückhalt gegeben und im 17. Säkulum eine Jesuitenkirche entstehen lassen. Noch heute ist das Land bis herauf zum Teutoburger Wald, bis herüber zur Weser und herunter bis zur Rothaar fast rein katholisch.

Der Verkehr, den die Verwaltung eines Bistums heranzieht und einige Industrie: Tabakfabriken und Färbereien haben im letzten Jahrhundert ein gewisses Wachstum der alten Stadt begünstigt. Die alten Grenzen sind nicht mehr so unberührt wie in Soest. Die Bevölkerung hat 33 000 erreicht statt 20 000 dort.

Aber Paderborn wie Soest sind Kleinstädte geblieben; die Landschaft zwischen ihnen - denn die wasserarme Kalkhochfläche im Rücken von Paderborn ist unfruchtbar - ist die alte Bauern-, Korn- und Viehlandschaft geblieben; die Wege der östlichen und der westlichen Hälfte des Hellwegs sind auseinandergegangen.

Das 18. Jahrhundert, das mit der französischen Revolution, der Aufklärung und dem Klassizismus ebensoviele alte Zusammenhänge zerrissen hat, löst schließlich mit der Erfindung der Dampfmaschine auch die gewaltige Umwälzung aus, die das Ruhrgebiet zu dem gemacht hat, was es heute ist.

Es war im Jahre 1784, als ein neuer preußischer Bergrat, ein Freiherr von und zum Stein, auf der Burg in Wetter an der Ruhr in die Amträume einzog.

Damals war die Ruhr die Achse des Bergbaus. In ihren südlichen Quertälern treten die nach Norden immer tiefer versinkenden, Steinkohle führenden Schichten des Gebirges an die Oberfläche der Erde. Zunächst in leichtem Tagebau, dann am nördlichen und südlichen Ufer in Stollen kann hier die Kohle gewonnen werden, ohne daß tiefe Schachtbauten nötig wären, die wieder Anlagen zur Hebung und Fortführung des Grundwassers erfordern würden.

Und zunächst genügt die Kohlenmenge, die auf solche Weise gefördert wird, für den Bedarf der bergisch-märkischen Kleineisenindustrie und für die Ausfuhr auf Ruhr und Rhein. Da die Kapitalien, die man in die Anlage eines solchen Stollens stecken muß, nicht sehr groß sind, bleibt es fast überall bei kleinen, man möchte sagen: handwerklichen oder beinahe heimindustriellen Betrieben, und das Bild im Großen ändert sich jedenfalls kaum: die Ruhr als Kohlentransportstraße trennt die großen Industriestädte des Südens - Solingen 1816: 20 000 Einwohner - von dem stillen Agrarland im Norden mit seinen klein gewordenen Städten - Dortmund 1806: 4000 und Bochum 1810: 2000 Einwohner.

Aber tief unter dem Boden dieser Städte wartet die Kohle.

[84] Das Zauberwort, durch das mit einem Schlag der Weg zu diesen Schätzen gangbar und unumgänglich gemacht wird, hat in den zwei Jahren, die er in Wetter residierte, der 27jährige Bergrat ausgesprochen und aufgeschrieben: die Dampfmaschine! Und 14 Jahre später, 1799 stellt die erste Zeche an der Ruhr eine solche Maschine auf, wie sie England schon seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Bergbau verwendet.

Damit wird auch in den Bergbau das Prinzip der theoretischen Grenzenlosigkeit getragen, der Grenzenlosigkeit des Fortschritts und der Leistung, mit dem auf allen Gebieten des menschlichen Schaffens lockend die neue Zeit beginnt. Unbegrenzt sind die Mengen Wasser, die solch eine Maschine aus dem Schacht heben kann: man wird tiefer und tiefer gehen können...! Mit der hypnotischen Gewalt einer schnurgeraden Perspektive glitzert dieser Gedanke damals in vielen Gehirnen auf.

Und die neuen Maschinen fordern zugleich, daß man tiefer geht und mehr fördert. Denn sie fressen Kohle, ob sie nun Pumpen treiben und Wasser heben oder Seilscheiben drehen, Schiffsschaukeln und ‑schrauben in Bewegung setzen oder selbst auf Rädern über endlose Schienen rollen. Und überallhin, wohin Kanäle und Flüsse nicht reichen und der Transport auf dem Pferdefuhrwerk zu kostspielig wäre, ziehen sie mühelos Wagenreihen voll Kohle und steigern den Absatz des geförderten Gutes ins Unabsehbare.

Das Zeitalter der Dampfmaschinen hat begonnen. Und nur sechs Jahre, nachdem der alte Freiherr vom Stein, nach Westfalen zurückgekehrt, auf dem Schloß Kappenberg bei Lünen gestorben ist, treibt 1837 der Bergwerksbesitzer Franz Haniel in Essen den ersten Tiefbauschacht durch den Mergel, der von Essen und Bochum an die Kohle in immer größerer Stärke bedeckt.

Der Weg, den Stein gemeint hat, ist damit endgültig beschritten. Der Bergbau ist auf dem Marsch nach Norden. Er folgt der Kohle in immer größere Tiefen.

Den Namen Haniel lesen wir am Beginn des 19. Jahrhunderts unter dem Kaufvertrag, in dem die Witwe Krupp die Gutehoffnungshütte an die Herren Haniel und Huyssen verkauft. Da haben wir im Jahre 1808 drei Träger der tüchtigsten Namen beieinander, die mit dem nun beginnenden phantastischen Wachstum der Industrie verbunden sind - und alle drei im Revier geboren.

Unsere Wehrmacht. Die Luftwaffe.
[75]      Unsere Wehrmacht. Die Luftwaffe.

Unsere Wehrmacht. Die Nachrichtentruppe.
[79]      Unsere Wehrmacht. Die Nachrichtentruppe.
Wie viele auch zuströmen später, als die Bewegung erst einmal im Gang ist - die Führer und Unternehmer stammen fast alle von hier, von der Grenze zwischen Westfalen und Rheinland, die etwa durch Essen läuft und an der sich die Temperamente beider Stämme fruchtbar verbinden: die wortkarge Beharrlichkeit des Westfalen mit der leichten Auffassungsgabe des Franken und zugleich die alte gewerbliche Tradition des bergisch-märkischen Landes mit der unverbrauchten Naturkraft der weiten Wiesen- und Ackerlandschaft des Hellwegs.

Hier auf diesem neuen Boden Führer sein, das verlangt Ideen und die Zähigkeit sie festzuhalten. Und der wichtigsten dieser Ideen, der einen, ohne die das Ruhrgebiet gar nicht oder jedenfalls ganz anders wäre als es heute ist, hat der junge Essener Friedrich Krupp, nachdem er im Jahre 1811 den ersten Ent- [85] schluß gefaßt hat, schließlich sein ganzes Vermögen geopfert und sie, mit noch nicht 40 Jahren sterbend, 1826 seinem Sohne Alfred hinterlassen, dem das Geschick es vergönnt, sie zum Siege zu führen: die Idee, im Ruhrgebiet Gußstahl zu fabrizieren.

Diese Idee heißt: Kampf mit England. Und nach weiteren 25 Jahren hat der Sohn den harten Kampf entschieden: 1851 in London auf der Weltausstellung wird der Name der Kruppschen Gießerei durch einen Gußstahlblock von 43 Zentnern Gewicht mit einem Schlage weltberühmt.

Die Stahl- und Eisenindustrie ist im Ruhrgebiet bodenfremd. Abgesehen von einigen Rasenerz verarbeitenden Betrieben der Frühzeit ist das Ruhrgebiet stets auf die Einfuhr von Erzen angewiesen geblieben. Zunächst auf deutsche, zumal aus dem Siegerland, dann auch auf ausländische, und diese bekommen schließlich sogar das Übergewicht, besonders seit uns die 1918 abgetretenen lothringischen Erzgruben fehlen. 1913 kam ein Viertel des Erzbedarfs aus Lothringen.

Nur ein Neuntel ist jetzt noch deutscher Herkunft; acht Neuntel liefern Schweden und Spanien, ja über den Atlantik sogar Neufundland. Diese Erze kommen auf dem Wasserwege, und da das Verhältnis von Koks und Erz im Hochofen infolge besserer Wärmewirtschaft sich immer mehr zugunsten des Erzes verschiebt, wandern die Hochöfen an die Stellen, wo das Erz landet.

Unsere Wehrmacht. Panzerwagen im Gelände.
[78]      Unsere Wehrmacht. Panzerwagen im Gelände.

Unsere Wehrmacht. Leichte Artillerie.
[77]      Unsere Wehrmacht. Leichte Artillerie.

Unsere Wehrmacht. Eine Flakabteilung.
[76]      Unsere Wehrmacht. Eine Flakabteilung.

Um die Duisburg-Ruhrorter Häfen drängen sich Hütten und Walzwerke am dichtesten: Gutehoffnungshütte, Vulkan, Harkort, Rheinische Stahlwerke, der Phoenix und die Friedrich-Alfred-Hütte.

Wie ägyptische Säulenreihen ragen die Winderhitzer auf, in denen die Luft vorgewärmt wird, die durch gewundene Rohre dem Hochofen zugeführt und durch den glühenden Koks geblasen wird, bis bei über 1000 Grad Hitze der Eisenstein Metall ausschwitzt. Die aus Chamottestein aufgemauerten ungefügen Türme der Öfen stecken in Gitterwerk, Aufzüge fahren auf schräger Bahn die Wagen voll Koks, Erz und Kalk auf die Gicht, wo ein riesiger Stöpsel die Füllöffnung verschließt.

Die Gase, die hier oben entweichen, ließ man früher verbrennen. Die weithin sichtbaren flackernden rötlichen Flammen erhellten die Nacht. Inzwischen aber hat man gelernt, auch diese Kräfte im Betrieb zu verwerten. Die Flammen sind erloschen.

Aber am Fuß der Öfen, wenn ein Abstich gemacht wird, schleudert die fließende Glut Hitze und flackerndes Licht nach allen Seiten, sprudelt in zauberhaften Strahlen in dickwandige Kübel, die mit ihrer heißen Last ins Stahlwerk fahren. Dort wird in Bessemerbirnen Phosphor und Schwefel aus dem Eisenbrei herausgeblasen, brauner und gelblicher Qualm erhebt sich in dicken Wolken, und Funken regnen, ein schauriges Feuerwerk der Nacht.

Und unheimlich gleiten die rotglühenden Stahlschlangen über die Rollen des Walzwerks.

Unheimlich ist eigentlich diese ganze Welt, weil feste Grenzen überall fehlen. Die Räume, in denen gearbeitet wird, sind ein schwebendes Mittel zwischen [86] gedeckten Höfen und offenen Hallen. In dunklen Winkeln leuchtet Glut, und trüb sieht ein blasser Himmel durch eine geöffnete Wand oder durch das halb offen stehende Dach.

Ein warmer Sommertag läßt dich frösteln, wenn du aus der Hitze vor den Öfen kommst; aber es gibt zwischen Ruhr und Lippe auch keine harten Wintertage. Die mittlere Temperatur im Januar liegt über 1 Grad Wärme.

Es ist ein Land, in dem alle harten Gegensätze fehlen. Wir stehen am Rand der weiten Schuttlandschaft der Eiszeit. Bis auf die Höhe der Ruhrberge haben die Gletscher einmal gereicht, und vom Abhang, an dem Essen liegt, geht der Blick nach Norden ungehemmt über eine dunstige, flachgewellte Tiefebene, in welcher Sumpf an der Emscher, Sand an der Lippe, Heide und Moor, Weiden und Waldstücke mit Äckern wechseln.

Wie große gelbe und graue Wunden klaffen die Einschnitte der Eisenbahnen im weiten Land, mit Gras vernarbt, an dem die Ziegen der Bergleute weiden; Eisenbahndämme erheben sich über die Fläche; Schornsteine stecken in dichten Reihen Entfernungen ab; neue weiße Häuser und schmutzige alte stehen verstreut zwischen jungem Korn, grauen Betonstraßen und schlackenbestreuten Höfen; Schutthalden ragen auf, manche sind planiert und tragen zwischen zartem Birkengrün, das ihre traurigen Flanken bedeckt, einen Sportplatz.

In bezaubernder Klarheit stehen die gewaltigen Prismen der Gasbehälter neben den Gittertürmen der Fördergerüste, und die Fachwerkbauten langgestreckter Montagehallen aus Stahlskelett und Ziegelfüllung blinken mit den parallelen Glasreihen ihrer Dächer.

Nirgendwo wächst soviel saubere Ordnung aus einer Landschaft, die so schweigend duldet wie hier. Es ist, als habe dieses eintönige Land nur darauf gewartet konstruiert zu werden.

Aber vorerst ist es noch nicht zu Ende konstruiert und auch noch nicht restlos verschwunden. Immer noch sind Flüsse da, wenn sie auch wie die Emscher kanalartig in gemauertem Bett, eine 70 Kilometer lange Rinne, die Abwässer sämtlicher Werke fortführt, Rasen und Ränder rostbraun färbend. Immer noch sind kleine Bachtäler, "Siepen" da, in denen schwarzweiße Bauernhäuser stehen, und Buchenwälder, deren Wege noch nicht mit Asche befestigt städtischen Spaziergängern dienen.

Und so ist das Unheimliche wohl an diesem Land, daß es mitten in einer erschütternden Bewegung zu sein scheint. Hier ist nichts, hier wird alles. Und nur daß es wird, ist zu rühmen, und nur was es einmal werden wird, kann vielleicht rechtfertigen, was heute da ist oder da zu sein scheint.

Wie märchenferne Überreste eines wirklich einmal Gewesenen stehen alte Burgen, rußgeschwärzte Backsteinhäuser, von stillen Wassergräben umzogen zwischen Schienen und Straßen. Dieses Land war einmal eine ganze in sich geschlossene Welt von Pflanzen, Tieren, Bauern, Bürgern und Adeligen, wie wir sie aus der Geborgenheit vergangener Zeiten kennen und wie sie jenseits der Lippe im Münsterland heute noch da ist.

[87] Dieses Land ist heute ein Vormarsch durch Trümmer und Schutt. Und der Gedanke, daß irgendwann einmal eine neue Welt, ein Dasein voll Sinn und Ordnung und Ruhe aus diesem ständigen Vormarsch werden könnte, dieser Gedanke allein weckt in den ungeordneten Tönen zerspringenden Schrotts, polternder Kohlen, fauchenden Dampfs, rollender Räder, klirrender Schienen und hallender Schritte eine geheime zauberhafte Musik.

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Zehn Jahre Versailles, das Kapitel "Gebietsbesetzung: Rhein-, Main- und Ruhrgebiet".

Das Buch der deutschen Heimat
Hermann Goern, Georg Hoeltje, Eberhard Lutze und Max Wocke