Nordwestdeutschland - Georg Hoeltje
Das Harzvorland
Wie eine Bastion springt der Harz aus dem nach Südosten abweichenden
Zug der Mittelgebirge in die Ebene vor. Und wie zu einer Festung ein Glacis
gehört, so gehört zum Harz das Harzvorland.
Nach Osten hin verliert das Gebirge seinen Charakter allmählich; kein
Steilabfall erhebt sich hier beherrschend über die Ebene; weich
ineinandergeschoben verwachsen die letzten Ausläufer des Harzes mit der
bewegten Oberfläche des mitteldeutschen Raumes.
Nach Norden aber fließt der Blick des wissenden Betrachters vom Rande
des gewaltigen Gebirgsstocks bis weit in das norddeutsche Tiefland. Hier dehnt
sich zwischen der Bode im Osten und der Innerste im Westen das eigentliche
Harzvorland. Wie zwei ausgebreitete Arme begleiten die beiden Flüsse es
nach Norden, die Bode zwar nur bis Ischersleben, wo sie, einem alten Urstromtal
folgend, nach Südosten umbiegt; aber 10 Kilometer nördlich
von ihrem Knickpunkt entspringt die Aller und verlängert, nach
Nord-Nordwesten fließend, die östliche Grenzlinie des
Harzvorlandes, die Grenze gegen die Elbe und den deutschen Osten.
Vier Städte teilten im hohen Mittelalter die Machtsphäre dieser
Landschaft untereinander: Hildesheim und Halberstadt, Goslar und Braunschweig.
Paarweise verbunden ergeben sie ein Kreuz, dessen einer Balken auf der
Harzfront senkrecht steht, während der andere zu ihr parallel läuft.
Wenn wir den Vergleich mit den Armen beibehalten wollen, so wären
Hildesheim und Halberstadt die Hände; die Richtung
Goslar - Braunschweig aber zielt wie Kopf und Gesicht vom
Bergland aus in die Ebene.
Gewiß sind das nur Vergleiche; aber ein wenig helfen sie uns doch
vielleicht den Sinn dieser vier für Geschichte und Geschehen dieser
Landschaft so wichtigen Punkte besser einzusehen: in Goslar saß der
Kaiser, in Braunschweig sein stärkster weltlicher Rivale, der Welfenherzog,
in Hildesheim und Halberstadt aber die Bischöfe dieses Landes, die im
Sinne des hohen Mittelalters als erste Beamte des Kaisers hier walten sollten.
Fast genau auf der Linie Goslar - Braunschweig stößt die Oker in das
Harzvorland hinein. Bei Braunschweig tritt sie hinaus in die wirkliche
norddeutsche Flachlandschaft, in den Schutt der Eiszeitgletscher, unter dem die
energisch bewegten Profile gefalteter Täler und Berge begraben liegen.
[138] Braunschweigs
Bedeutung ist somit: am nördlichen Rand des Harzvorlandes zu liegen,
noch teilzuhaben am Flachland. Und das heißt heute: Reichsautobahn von
Berlin über Hannover nach dem Ruhrgebiet; und das heißt weiter:
Hafen am Mittellandkanal. Allerdings liegt Braunschweig nicht so günstig
wie Hannover - am "Nordkap" der deutschen
Mittelgebirge - und so geht die Haupteisenbahn vom Industriegebiet nach
Berlin noch weiter nördlich über Oebisfelde. Braunschweig selbst
liegt nur an der weniger wichtigen Linie über Magdeburg. Aber das
hängt schon mit der Eisenbahnpolitik Preußens nach 1866 zusammen
und ist somit nur indirekt eine Folge der landwirtschaftlichen Eigenart, aus der in
mannigfaltiger Geschichte der braunschweigische Staat erwuchs, das
Harzvorlandsterritorium, zu dessen Umgehung der Flachlandstaat Preußen
nach der Einverleibung Hannovers die direkte Eisenbahnlinie über
Oebisfelde - Stendal schaffen mußte.
Mehr als tausend Jahre Geschichte trennen dieses Herzogtum Braunschweig von
den Anfängen geschichtlicher Besiedlung des Harzvorlandes; und nicht nur
dieses eine Jahrtausend, sondern noch mehr die vielen tausend Jahre
vorgeschichtlichen menschlichen Lebens in diesem Raum weisen uns immer
wieder auf die Bedeutung jenes Nordrandes hin, an dem Braunschweig liegt: er ist
zugleich der nördliche Grenzrand der Lößverbreitung.
Diese Grenze, die vor der Mündung der Innerste in die Leine in
genau westöstlicher Richtung auf Braunschweig zu läuft, dort die
Oker überschreitet und kurz hinter Helmstedt die Aller schneidet, diese
Grenzlinie trennt ein Gebiet natürlicher Fruchtbarkeit im Süden, das
eigentliche Harzvorland von dem teils sandigen, teils moorigen, künstlicher
Düngung bedürftigen Boden im Norden. Heute noch, nachdem dieser
Unterschied sich schon seit mehreren Generationen zu verwischen beginnt,
wohnen "auf dem platten Lande" (= in Gemeinden mit weniger als
2000 Einwohnern) südlich dieser Linie durchschnittlich 90 Menschen
auf dem Quadratkilometer, nördlich aber nur 30. Und auf einer Karte der
Verteilung des Gartenlandes steht großen, beinahe leeren Flächen im
Norden ein dichtes Gedränge im Süden gegenüber.
Aber die Fruchtbarkeit des Bodens hat im Harzvorland nicht nur eine sehr
frühe und dichte Besiedelung ermöglicht, sondern auch fremde
wandernde Stämme angelockt, so daß wir leicht einen
Zusammenhang erkennen, wenn wir von Braunschweig aus nach dem Harz zu den
Anteil der blonden und blauäugigen Menschen in der Bevölkerung
abnehmen sehen.
Schon einmal im 3. Jahrtausend vor Christi Geburt, also in der Steinzeit,
gehörte das ganze Harzvorland zu einem aus dem Süden Europas bis
hierher reichenden Kulturkreis (der Bandkeramik), und erst nördlich der
Lößgrenze begann das Herrschaftsgebiet der nordischen
Völker, die ihre Toten in den Riesensteingräbern der Heide
beisetzten.
Immer wieder ist dann der Kampf zwischen Süden und Norden um dieses
begehrte Stück Erde entbrannt. Am Eingang der geschichtlichen Zeit finden
wir die Thüringer in seinem Besitz. Und als das Thüringerreich 535
zusammenbricht, schieben sich von Norden her sächsische Kolonisten in
das Harzvorland. [139] Rodersdorf nennt die
unter Anführung eines Roderich stehende Schar ihr Dorf, Gersdorf die
Schar des Gerwig das ihre. Diese auf
‑dorf und ‑dorp endigenden Ortsnamen lassen uns noch heute
erkennen, wie die Neuankömmlinge zwischen den thüringischen,
auf ‑ingen und ‑leben getauften Siedlungen Platz genommen
haben.
Norddeutsche und mitteldeutsche Art vermischte sich hier im Schatten des
Harzes. "Osterleute" hieß die Bevölkerung bei den alten Sachsen.
Aber zum sächsischen Nordwestdeutschland gehören sie doch auch,
und diese Zugehörigkeit bekommt ihren staatlichen Ausdruck, als Karl der
Große das ganze Volk der Sachsen unterwirft und mit ihnen auch das
Harzvorland dem Frankenreiche einverleibt. Die Gruppe der "Ostfalen" steht jetzt
gleichberechtigt neben den Engern an der Weser und den Westfalen in der
Münsterschen Bucht.
Als neue Siedlungsschicht legen sich nun über das Land die Dörfer,
deren Namen auf ‑haus und ‑hausen
endigen - hier standen feste Häuser zum Schutz der neuen
Herrschaft - und die mit der Endigung ‑rode. Denn die
planmäßige Rodung und Besiedlung des Harzrandes kommt jetzt
nach 800 in Gang.
Und auch zu den ersten Städten des Landes werden jetzt die Keime gelegt.
Es sind die Bischofssitze, von denen aus das dicht besiedelte Land
[130]
Halberstadt. Der Fischmarkt.
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verwaltet werden soll. Westlich der Oker entsteht Hildesheim, östlich das
Bistum Halberstadt. Beide, zuerst an anderen Punkten gegründet, werden
nach Karls d. Gr. Tode an ihre heutigen Stellen übertragen. Und in beiden
wird die Domburg zu einer geschlossenen Zelle in der späteren Stadt.
Nichts ist für Halberstadt charakteristischer, als daß man die
Stadt, den Hauptstraßen folgend, durchstreifen kann, die behäbigen
Traufenhäuser mit den langen Reihen ihrer Fachwerkkonsolen bewundern,
Fischmarkt und Holzmarkt mit Rathaus und Roland, die städtischen
Kirchen S. Paul und S. Martin und S. Katharinen betrachten
und erst nach einer Stunde durch einen kleinen Durchgang oder eine enge Gasse
den Zugang finden mag zum Domplatz, der wie eine langgestreckte Insel von
rund geführten Häuserreihen eingedeicht im Strom der Straßen
und der Märkte liegt.
Eine Welt voll Ruhe und voll Majestät. Hundert Meter lang der Dom, eine
gotische Kathedrale, deren Doppelturmfassade und westliche Joche zum Reinsten
und Edelsten gehören, was die beginnende Gotik in Deutschland
hervorgebracht hat. Im Inneren eins der schönsten romanischen
Triumphkreuze, eine bezaubernde sitzende Madonna aus der
spätromanischen Zeit und hochromanische Teppiche, in deren Gewebe
Figuren von seltsam großartiger Feierlichkeit sich bewegen.
Ein paar hundert Schritt führen uns am anderen Ende der Domfreiheit in
den stillen Kreuzgang der Liebfrauenkirche und zu den adelig schönen
Gestalten der Apostel an den Chorschranken des romanischen Innenraumes. Die
einfache und edle Rundung ihrer Gesichter, der schwungvolle Wurf der
Gewänder verleihen diesen Reliefbildern einen Hauch antiken Lebens, der
uns halb unbewußt daran erinnert, wie oft der Süden bis in diese
Gegend gewirkt hat.
Wir treten aus der kühlen Kirche ins Freie. Wir blicken vom Huy, der im
Norden Halberstadts, eine Stunde Fußweg von der Stadt entfernt sich
erhebt. [140] Wie eine
langgestreckte Schanze liegt sein 310 Meter hoher
Muschelkalksteinrücken etwa 15 Kilometer weit vor dem Harz, und
zwischen ihm und dem blauen Steilabfall des Gebirges ragen die acht
Turmspitzen der alten Bischofsstadt in den Himmel, ein Bild der Geborgenheit:
die flache weich gewölbte Mulde fruchtbarer Erde, die an Korn und
Früchten reiche Ernten bringt, und mitten darin die alten grauen Kirchen, in
deren Bildwerken eine ähnliche Geborgenheit sich mit der großen
Form der Berge, die im Süden greifbar ragen, harmonisch und
glücklich verbindet.
[110]
Hildesheim.
Taufbecken im Dom (13. Jahrhundert)
[109]
Hildesheim. Ein Renaissance-Haus.
[108]
Hildesheim. Der Zuckerhut.
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Auch Hildesheim liegt "im Potte", wie der Hannoveraner in unseren
Tagen sagt. Von mäßigen Bergzügen rings umgeben ist der
Ort; nur nach Nordwesten geben sie den Weg frei zur Ebene. Ein breites Tor,
durch das die Innerste zur Leine fließt. Das Tal, aus dem sie kommt, ist
enger, führt in ein paar großen Windungen ansteigend direkt zur
Nordwestecke des Harzgebirges und ist wirklich der westliche, viel
umkämpfte Arm des Harzvorlandes. Hier bei Lutter am Barenberge
erzwang sich Tilly 1626 den Eingang nach Norddeutschland. Hier liegen die alten
Burgen und befestigten Klöster des Hildesheimer Stifts, Marienburg und
Derneburg.
An der engsten Stelle des Tales, zugleich an seinem Ende der Ebene zu liegt
Hildesheim. Auf einem Hügel an der Innerste die alte Domburg. Und
wieder hat sich wie in Halberstadt um ihre rings geschlossenen Mauern
städtisches Leben nach und nach entwickelt, besonders im Norden und
Nordosten. Im Süden und Westen ist Überschwemmungsgebiet.
Wichtige Straßen vom Westen, von Paderborn und Minden her
überschritten hier im Mittelalter - vielleicht schon vor Karls d. Gr.
Zeit - die Innerste und führten in der Richtung
flußaufwärts entlang nach Braunschweig. An ihrem Zuge bilden sich
kurz hinter dem Innersteübergang allmählich Märkte,
gekrönt schließlich von Hildesheims städtebaulichem
Schaustück, dem Altstadtmarkt mit Rathaus, Knochenhaueramtshaus,
Templer- und Wedekindhaus.
Die drei letzteren beweisen, daß in Stein und Holz in Hildesheim der Giebel
schon wieder das Gesicht des Hauses bestimmt; wir nähern uns dem Gebiet
des reinen Niedersachsenhauses. Und wenn in den Straßen der Stadt oft
noch ganze Zeilen die Traufe zeigen, so ist um Hildesheim herum auf dem Lande
doch die Grenze erreicht, bis zu der das mitteldeutsche Bauernhaus auf seinem
Siegeszuge von Süden her hat vordringen können.
Ein Museum bürgerlicher Baukunst, besonders aus dem 16. und
15. Jahrhundert sind Hildesheims Straßen. In das eigentliche
Mittelalter aber führen uns seine Kirchen, die
Godehardi- und Andreaekirche und unter barocker Fassade versteckt ein
besonders ehrwürdiger Zeuge frühester Vergangenheit, die
Kreuzkirche. Der Ruhm der Stadt beruht zutiefst auch gar nicht auf der verwirrend
reichen Blüte bürgerlicher Baukunst aus den Zeiten der
Spätgotik und Renaissance, sondern vielmehr auf den ein, zwei
Gebäuden, mit denen sie noch in eine Zeit des Mittelalters
zurückreicht, die mit Glanz erlebt zu haben, wenig Städte sich in
Deutschland rühmen können. Es sind die alten Keimzellen [141] Hildesheims, der Dom
auf seinem Hügel und das Kloster S. Michael auf einer kleinen
Erhebung am Rande der alten Stadt.
Und wie in Halberstadt trennt der Friede einer abgeschlossenen Welt diese
Bezirke von der späteren Stadt und macht ihr Bild so unvergeßlich.
Und vielleicht tönt hier einmal in dem Worte Heimat ein fast
erschreckender Nachhall von Geschichte und Vergangenheit mit. Denn es ist doch
nicht nur die gegenwärtige breite und kräftige Sprache der baulichen
Form, mit der uns der Raum der Michaeliskirche begrüßt, nicht nur
der unheimlich erregende Spuk der Figuren, die in den bronzenen Landschaften
der Domtür sich jagen, mit einem Wort: nicht nur die sonderbare
Schönheit der ästhetischen Form, die sich so unauslöschlich
dem Herzen einprägt. Sondern durch diese Formen redet laut, auf diesem
Boden, wo einst ein Rosenstock den Kaiser Ludwig festgehalten haben soll, ein
toter Mensch zu uns, der größer war als seine künstlerischen
Werke: Erzieher und Ratgeber eines Kaisers, Kirchenfürst und Heiliger, der Bischof Bernward.
Wenn je der Ruf einer Stadt von einem einzelnen Menschen geprägt
worden ist, dann ist es in Hildesheim durch das Leben dieses sächsischen
Adligen geschehen, der um 975 hier in die Domschule ging, als Lehrer Ottos d.
Gr. am Hofe der Kaiserin Theophanu lebte und 996 als Bischof nach Hildesheim
zurückkam. In seiner Gestalt verkörpert sich der leidenschaftlich
persönliche Geist der ottonischen Zeit in einer zugleich glühenden
und festen Form. Seine Bauten und Bildwerke stehen am Beginn einer deutschen
Geschichte der Kunst, so wie das Kaisertum, dem er diente, am Beginn einer
deutschen Staatsgeschichte steht.
[131]
Quedlinburg. Schloß und Dom von Südwesten.
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Und dieses ottonische Kaisertum ist hier am Harz zu Hause. Schon zu
Karls d. Gr.
Zeit waren die Ahnherren, die Ludolfinger hier begütert. Den
Finkenherd, an dem Herr Heinrich
saß, sucht man bei Quedlinburg. Den
Burgfelsen dieser Stadt, eine steile Sandsteinkuppe im Tale der Bode befestigte
dieser erste deutsche König aus sächsischem Stamm, und
Quedlinburg muß ihm in seinem Kampfe gegen die Ungarn einer der
wichtigsten Stützpunkte an der östlichen Flanke des Harzvorlandes
gewesen sein.
Hier liegt der Begründer des Deutschen Reiches auch begraben. Wie leere
Kulissen einer gewaltigen Bühne stehen steile Felswände in der
Nähe der Stadt, teilweise von vorgeschichtlichen Fluchtburgen
gekrönt. In einiger Entfernung erheben sich die waldigen Mauern des
Harzes. Wir spüren: diese Stadt und ihre Umgebung waren einmal ein
Eckpfeiler der deutschen Geschichte.
Der Sohn Heinrichs I., Otto d. Gr.,
liegt in Magdeburg begraben. Er hatte in einem
Menschenleben die Grenzen Deutschlands in weiter Ausdehnung nach Osten
vorgeschoben, gestützt auf den Harz. Und das Harzvorland, das nun nicht
mehr Eckpfeiler zu sein brauchte, sollte unter ihm und seinen Nachfolgern zum
Mittelpunkt Deutschlands werden. In Goslar, nicht weit von dem
Punkte, wo die Oker das Gebirge nach Norden verläßt, entsteht eine
Kaiserpfalz. Der Rammelsberg bei Goslar liefert königlichen Reichtum.
Seit spätestens 970 ist hier der Silberbergbau im Gang, der heute noch
neben Blei- und Zink-, Kupfer- und Goldbergbau betrieben wird.
[112]
Reichsbauernstadt Goslar. Die Kaiserpfalz (11. Jahrhundert).
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[142] Goslar ist heute eine
kleine Stadt. Im Kranze seiner kolossalen Rundtürme, im grauen Kleid
seiner schieferigen Wände und Dächer wirkt es fast unscheinbar.
Aber im Kaiserhaus ruht das Herz eines Kaisers, Heinrichs III., der obwohl
selbst nicht mehr vom Harz stammend hier mit seinem Herzen zu Hause war. Und
der Adlerbrunnen auf dem Markt, das kostbarste Evangeliar im Rathaus, die
doppeltorige Eingangshalle an dem Dom, den Heinrich III. gebaut hatte und
den erst die unkaiserlichste Zeit unserer Geschichte, das 19. Jahrhundert
hat abbrechen lassen, reden heute noch zu jedem, der es hören will, vom
alten Glanz der Kaiserstadt.
Kaiserlicher Glanz liegt über dem ganzen Harzvorland. Ob in der
Schatzkammer der Stiftskirche von Quedlinburg das entzückte Auge
Reliquienkästen und Gobelins, würdig einer Kaisertochter oder
Äbtissin, bewundert oder in der vom Markgrafen Gero gestifteten,
bezaubernd luftigen Klosterkirche Gernrode die edlen Figuren des Heiligen
Grabes, ob aus der späten Zeit des staufischen Kaisertums die hoheitsvollen
Schmuckfiguren am Portal des Goslarer Domes oder die ähnlich stolzen
Apostel an den Chorschranken von S. Michael in Hildesheim, in allen
diesen Bildern spiegelt sich die reiche Harmonie der Landschaft, die im Einklang
weitgespannter Gegensätze, fruchtbarer Mulden und steinerner
Bergwände sich aufbaut.
In diesem Lande, in dem sich die Kulturen des Südens und Nordens von
altersher berühren, in diesem Lande konnte ein Kaisergeschlecht, in dessen
Adern sich griechisches Blut mit deutschem mischte, den stolzen Versuch
unternehmen, ein römisches Reich deutscher Nation zu verwirklichen. Wer
will sagen, ob solche Versöhnung, die in der Kunst wie in der Politik ihren
Ausdruck gefunden hat, ganz ohne Spuren an dem Lande vorübergegangen
ist? In Quedlinburg jedenfalls wird "in der Fülle der Zeiten... der erste
große sächsische Dichter" geboren, der zugleich "seit
500 Jahren wieder der erste große gemeindeutsche Dichter" ist
(Nadler). Es ist Friedrich
Gottlieb Klopstock, mit dessen Gedichten der Knabe Goethe aufwächst.
Aber zunächst ist es nach dem Glanz der Kaiserzeit besonders still um
dieses Land geworden. Die Stadt Goslar, die heute als Reichsbauernstadt in aller
Munde ist, hat fast 500 Jahre lang einen Dornröschenschlaf gehalten.
Hildesheim und Halberstadt sind als Stätten geistigen Lebens und
Mittelpunkte kirchlicher Territorien immer lebendiger geblieben, aber weder von
Bauten noch von Taten weiß der Chronist besonderes aus diesen
Jahrhunderten zu berichten. Eine nach der anderen fallen die alten Städte
mit ihren Landschaften dem heranwachsenden Staat des Tieflandes zu.
Halberstadt wird 1648 preußisch, Quedlinburg 1698, Hildesheim und
Goslar erst 1803 durch die Säkularisierung (endgültig erst 1866).
Heute noch lauscht man in Goslar und am Harzrand aufmerksamer als anderswo
auf den Vogelsang; ganz wie zu Zeiten König Heinrichs. Nur sind es heute
außer den Finken auch die Kanarienhähne, die man züchtet
und von denen der Besucher, wenn er Glück hat, einmal einen frei in
Goslars Straßen herumflattern sehen kann. Und heute wie zu alten Zeiten
gibt der Boden zwischen [143] dem Harz und der
Heide fruchtbare Ernten. Nur sind es jetzt in erster Linie die Zuckerrüben,
die man anbaut. Im ganzen Gebiete, besonders aber um Hildesheim herum gibt es
Zuckerfabriken; und der Stichkanal, der die Bernwardsstadt mit dem
Mittellandkanal verbindet, dient dem Gewerbe einer auf ihre Landwirtschaft
gestützten geschäftigen Mittelstadt von 64 000 Einwohnern.
Auch Halberstadts 50 000 Bewohner leben hauptsächlich von der
Landwirtschaft der Umgebung. Die Kleinstadt Quedlinburg hat sich ganz auf
Gartenbau und Samenzucht eingestellt. Und dazu haben alle die kleineren
Städte des Harzrandes Fremdenverkehr,
Wintersport- und Sommerfrischengäste: Wernigerode, Blankenburg,
Harzburg und natürlich auch das alte Goslar.
Völlig anders ist das Schicksal von Braunschweig und seiner
Umgebung, und das ist nicht anders zu erwarten bei seiner exponierten Lage.
Seine Geschichte kennt notwendigerweise nicht diesen Glanz der Kaisertage. Den
lieblichen Gestalten der Hildesheimer und Halberstädter Schranken steht
hier die fast furchteinflößende Maske des
Imerward-Kreuzes im Dom gegenüber; und der reichen Schar der
Gönner nur die eine leidenschaftlich ernste und gewalttätige Gestalt Heinrichs des Löwen. Sein Wappentier
steht seit 1166 in Bronze, hart und
scharf geschnitten auf dem Burgplatz und peitscht mit dem langen Schweif die
Platte des Sockels. Gegenüber erhebt sich düster, auch im Innern
dunkel und drückend, aber dabei gewaltig und ernst der Dom, den Heinrich
bei seinem Tode 1195 im wesentlichen vollendet hinterließ.
[129]
Braunschweig. Alte Waage mit Andreaskirche.
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Auf dem schweren romanischen Unterbau erhebt sich erst im folgenden
Jahrhundert die in ihrer knappen und straffen Profilierung unübertrefflich
schöne Doppelturmfassade, die zum Vorbild der drei größten
Braunschweigischen Stadtkirchen werden sollte, S. Martini,
S. Andreae und S. Katharinen. Allein die ungefähr gleichzeitige
Erbauung dieser drei bedeutenden Hallenkirchen, von anderen kleineren
kirchlichen Bauten gar nicht zu reden, läßt die
Leistungsfähigkeit der jungen Stadt im 13. und 14. Jahrhundert
erkennen. Dreifach wiederholt in diesen Fassaden die Bürgerschaft die
Form des Löwendomes, ein stummer Dank an den großen Politiker,
der seiner Residenzstadt, die aus kleinen dörflichen Siedelungen des
9. Jahrhunderts nur langsam heranwuchs, im 12. Jahrhundert durch
energische Erweiterungen und rücksichtslose Begünstigung ihres
wirtschaftlichen Lebens Kraft und Raum zu ihrer bedeutenden Entfaltung
gesichert hatte.
Es mag an dieser Hilfe liegen, es mag auch die Landschaft und die im Angesicht
der Tiefebene weiterdenkende, großzügiger planende
Bevölkerung ein Wort dabei mitgeredet haben, jedenfalls bewegt sich
Braunschweigs Lebenslinie nicht wie die von Hildesheim und Halberstadt und
Goslar im späten Mittelalter langsam abwärts, sondern steigt, wenn
auch allmählich, zu immer größerer Bedeutung und
Wirksamkeit.
Seine Entwicklung ähnelt in ihrer Beharrlichkeit am ehesten der
Nachbarstadt Hannover. Nur mag es die Mischung mit beweglicherem
leidenschaftlicherem mitteldeutschem Volkstum bewirkt haben, daß die
Braunschweiger, als der Landesherr, der inzwischen in Wolfenbüttel
residierte, im
17. Jahr- [144] hundert die reiche Stadt
sich wieder botmäßig machen wollte, nicht mit sauren Mienen ihre
Tore öffneten, sondern mit ebensoviel Trotz wie Leichtfertigkeit den Kampf
aufnahmen. Dem besser ausgerüsteten Fürsten mußten sie
unterliegen, und im Jahre 1671 hat sich die Stadt ergeben. Nun ziehen in rascher
Folge die Ämter der Regierung hier ein, und nach knapp 80 Jahren
wird auch die Hofhaltung nach Braunschweig verlegt.
Für die Stadt Wolfenbüttel - ein wenig
okeraufwärts - deren ganze Bedeutung im Grunde auf ihrem
Residenzdasein beruhte, beginnt damit die lange Einsamkeit, in der das
Städtchen heute noch mit der Landesbibliothek, in der Lessing tätig
war, mit dem reizenden Wohnhaus des Bibliothekars aus dem
18. Jahrhundert, mit seiner
Renaissance-Stadtkirche und seinem malerischen Schloß und Zeughaus
verharrt.
Braunschweigs Entwicklung aber knüpft an die glorreichen Abschnitte
seiner mittelalterlichen Geschichte, an das Renaissancejahrhundert seines
Gewandhauses und seiner stolzen traufengeschmückten
Bürgerhäuser die neue Epoche der fürstlichen Baukunst mit
Schloß Richmond, dem Landschaftlichen Haus, den Wohnbauten eines
David Gilly und Krahe und Ottmers Schloß- und Bahnhofsbauten an.
Relativ begünstigt von seiner landschaftlichen Lage gerät es nie ganz
in eine abseitige Stellung zu den großen Verkehrswegen und entwickelt
zumal in den letzten hundert Jahren eine reiche und vielseitige Industrie, die
einem großen Teil der 170 000 Einwohner Brot und Arbeit gibt. Die
Spargel des nördlich anschließenden Sandbodens ebenso wie die
Gemüse und Obstsorten aus den südlichen
Lößbodenbezirken verarbeitet seine in Deutschland berühmte
Konservenindustrie; seine Wurst-Fleischwaren- und Zuckerfabriken bauen
gleichfalls auf der Landwirtschaft der Umgebung auf. Die Maschinenfabriken und
Waggon- und Automobilwerkstätten dagegen setzen die
Eisenerzschätze und Braunkohlenlager voraus, die der Boden des Landes
Braunschweig in immer größerer Menge hergibt.
Es ist ein anderes Bild, als wenn am Harzrande auf irgendwelchen Erzvorkommen
kleine Industrien in Thale und in Oker sich erheben; irgendwie paßt das alte
Bild der Waldschmiede noch auf diese Gebilde, das Landschaftsbild vermag sie
noch in seine großen Formen einzuordnen. Zwischen den buchenbestandenen
weichgewölbten Höhenzügen von Elm und Lappwald
dagegen, in den verfließenden
Ackerbau- und Wiesentälern zwischen Helmstedt und Schöningen
brechen die oft 90 Meter tief in die Erde greifenden Tagebaue der
Braunkohlengruben wie riesige Wunden auf.
30 Kilometer lang zieht sich in nordwest-südöstlicher Richtung
zwischen den beiden Bergwäldern das etwa 50 Meter tief versunkene
tertiäre Waldmoor hin. Und über seiner Ausdehnung wächst
ein Industriegebiet mit allen Erscheinungen solcher Gebiete: Arbeitersiedlungen,
Kraftwerke, Brikettieranlagen, Seilbahnen, Schornsteine. Das läßt
sich nicht mehr einordnen. Das macht sich breit zwischen der idyllischen
Schönheit der Halberstädter Mulde, dem stillen Frieden des Klosters
Hamersleben und der kleinstädtischen Ruhe des uralten [145] Helmstedt, wo schon in
karolingischer Zeit der Hl. Ludgerus eine Missionskapelle errichtete, von
der noch heute Reste zu sehen sind, wo 1576 der braunschweigische Herzog
Julius eine protestantische Universität gründete, deren um 1595
errichtete Renaissancegebäude noch stehen, und wo wie in alten Zeiten
heute noch in den Höfen und Ställen der Klosterdomäne die
riesigen Schafherden sich drängen.
So bewirkt hier die Industrie ein Auseinanderfallen der Landschaft. Und ganz
ebenso im Westen von Braunschweig. An der Grenze zum preußischen
Gebiet, südlich von Peine, das den Nutzen davon hat, werden dort von der
Ilseder Hütte große Eisenerzlager ausgebeutet und vom
Peiner Walzwerk weiter verarbeitet. Andere Lager, vierfach und fünffach
so groß und noch kaum in Angriff genommen, finden sich in der Gegend
von Salzgitter, am Ostrande des Innerstetales.
Nehmen wir hinzu, daß in der gleichen Landschaft auch zahlreiche
Salzstöcke bis in abbauwürdige Tiefe unter der Erdoberfläche
anstehen, Salzquellen aufsprudeln - Salzgitter und Salzdetfurth bezeugen es
mit ihren Namen - so fügt sich damit die letzte Ergänzung in
das industriell beeinflußte Bild dieser Landschaft ein: der Kalibergbau mit
seinen Fördertürmen, Aufbereitungsanlagen,
Gleisanschlüssen. Seltenere Erdölvorkommen stehen wohl in
Verbindung mit den reicheren Erdölgebieten an der Aller bei Nienhagen
und Wietze-Steinförde.
Irgendwie scheint hier in der Landschaft selbst eine Disposition zur Zersplitterung
zu liegen. Nicht nur, daß zwischen dem Innerstebergland, dem Oderwald an
der Oker, der Asse, dem Elm und dem Lappwald rings um Braunschweig die
Oberfläche der Erde in unzusammenhängende Talabschnitte zerlegt
ist, es drängen auch noch aus der Tiefe die Bodenschätze und
zerstreuen punktartig die Kräfte des menschlichen Lebens auf die
Schächte, Gruben und Quellen.
Und ist die Geschichte dieses ganzen Landes denn etwas anderes als eine
fortgesetzte Bestätigung dieser Disposition? Nicht kaiserliche Sammelung
wie im Schatten des Harzes, sondern unruhige, kampferfüllte
Aktivität. Ein Kaiser kam von hier: Lothar von Süpplingenburg.
Süpplingenburg im heutigen Braunkohlengebiet. Aber er hat keine Dynastie
begründen können. Zu seinem Schwiegersohn hat er einen Welfen
gemacht, den Bayern Heinrich den Stolzen, dem er dann auch das Herzogtum
Sachsen verlieh. Dessen Sohn, Lothars Enkel ist der ruhelose und
schließlich unglücklich endigende Heinrich der Löwe. Er hat
übrigens die Grabkirche Lothars, die feierlich strenge Stiftskirche
Künigslutter am Elm vollendet.
Und die Geschichte dieses nun welfischen Territoriums? Zuerst ein
leidenschaftliches Ausgreifen nach Norden und Osten. Die weiten Flächen
der Heide und des Elbstromlandes locken. Eine ins Weite und Große
schweifende Phantasie, der vielleicht der Sinn für Maß und
Verhältnis fehlte. Eine Aktivität, die mit der kaiserlichen auf den
Harz gegründeten Stellung zusammenstoßen mußte. Der
Löwe wird zu Boden geschlagen. Von seinem riesigen Kolonialgebiet
bleibt ihm nichts, nur das Eigengut seines Hauses.
[146] Zwischen Aller und
Innerste, nördlich kaum den Lößrand überschreitend,
südlich am Bruchgraben, einem alten Urstromtal zwischen Oschersleben
und Hornburg, anhaltend, liegt heute noch der Kern des braunschweigischen
Landes. Splitter greifen um Blankenburg und Harzburg in den Harz hinein und
westlich von Goslar um den Harz herum. Der Rest verliert sich mit schmalen
Landbrücken über Gandersheim ins Weserbergland.
Hier ist kein einheitliches politisches Gebilde entstanden, wie es etwa das Bistum
Halberstadt in seiner Mulde und Hildesheim im Tal der Innerste von Anfang an
waren. Der leidenschaftliche Wille hat in der Geschichte nicht erreichen
können, was in der Landschaft nicht vorgebildet war.
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