[84]
Braunschweig
Konrad Beste
Wer auf der Karte das Braunschweigische Gebiet aus seinen zehn versprengten
Stücken zwischen Heide und Harz, zwischen Weser und Aller
zusammensucht, dem drängt sich die Frage auf, mit welchem Recht von
diesem Haufen bunt zusammengewürfelter Fetzen als von der Einheit eines
"Landes" gesprochen werden kann, das seinen Platz innerhalb einer
Gesamtwürdigung der deutschen Landschaften und Stämme
beansprucht.
Die politische Idee des Braunschweigischen Staates, des letzten verwirklichten
Restes von Heinrichs des
Löwen großem dynastischen Traum, ist als
eine reine Angelegenheit des welfischen Fürstenhauses mit dem November
1918 erloschen. Die wirtschaftliche Sonderexistenz des Landes ist, zumal in der
Not unserer Tage, zu einem Luxus geworden. Aber dennoch lebt dieses Land. Es
lebt ganz einfach durch die Liebe, und so beweist es wieder, daß die
unfaßbaren Kräfte des Lebens mächtiger sind als die
Erwägungen der Vernunft und der Zweckmäßigkeit. Es ist die
Liebe zu einem Lande, das, so zerrissen immer es daliegt, und so unterschiedlich
in Stammesart und Temperament die Bevölkerung sich gibt, doch alle seine
Kinder im Bann einer großen tausendjährigen Geschichte und
schicksalhaft gewordenen kulturellen Gemeinschaft zusammenhält.
[85]
Der Löwe von Braunschweig.
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Und diese Fünfhunderttausend werden noch fester zusammengeschlossen
durch das stolze Bewußtsein, mit ihrem vielgegliederten Land eine
unvergleichliche Fülle von Schönheiten erfaßt zu haben und
nun als "Braunschweig" zu besitzen. Auf dem engen Raum von etwa hundert
Kilometern im Geviet ist hier eine richtige Musterkarte deutscher
Landschaftsbilder ausgebreitet: im Osten, um die Städte Braunschweig,
Wolfenbüttel, Helmstedt schwelgt das Land laut in fruchtbaren
Äckern, im Norden begrenzt es sich mit dem schweigenden Saum der
Lüneburger Heide, im Süden erhascht es sein Teil vom Mittelgebirge,
vom dunklen Raunen der Fichten unter der Herrschaft des Brockens, hoch oben
vor Bremens Toren reicht es mit dem Amt Thedinghausen ins fette Marschland
hinein - im Westen aber erlöst es sich aus der Düsternis des
Harzes und dem schweren Ernst der Ebene im heiter geöffneten Stromtal
der Weser, findet es eine Grenze voll zarter Verweisungen in die endlos
verblauende Ferne der westfälischen Uferberge.
[94]
Hünengrab auf dem Bierberg bei Latdorf.
|
Braunschweig ist aber nicht nur ein schönes, es ist auch ein
ungewöhnlich reiches Land. Bodenschätze und wirtschaftliche Werte
sind in verschwenderischer Fülle und zudem in erstaunlicher
Mannigfaltigkeit vorhanden. Es ist beinahe so, als ob die alten Herzöge,
einem über 700 Jahre wirkenden unbewußten Streben folgend, in
ihren unaufhörlichen Fehden aus dem größeren Niedersachsen
jene Stücke unter ihrer Herrschaft zusammengebracht hätten, deren
Erträgnisse ihnen eine Art "Autarkie" gestatteten. Es gehört [85] vielleicht zum Wesen
dieses "Unbewußten", und es erhöht auch seinen Wert, daß
manche dieser Gebietsteile Möglichkeiten in sich bargen, die erst viel
später in modernen Industriebetrieben und Förderungsarten zum
Leben kommen sollten. Sind etwa Erzbau und Steinbrüche im Harz, Solling
und Hils uralte Wirtschaftszweige, so haben Kali, Asphalt und Erdöl erst in
unseren Tagen den Weg and Licht gefunden. —
Das Weserland ist die Erfüllung der Braunschweigischen Seele. Freilich
dürfen wir nicht auf jene Beamten hören, die, aus dem
Landeshauptteil um die Stadt Braunschweig nach Holzminden versetzt, die neue
Wirkungsstätte als ein Exil bezeichnen, geschaffen, die also Verbannten in
einer hoffnungslosen Entfernung vom Hirn des Landes verkümmern zu
lassen. Wir haben es erfahren, daß die Seele oft genug die Nachbarschaft
des Hirnes ängstlich meidet, um sich ihre abseitigen Bezirke
unberührt zu sichern - so hat sie denn auch in unserem Braunschweig
vor dem "Haupt" des Landes sich so weit verkrochen wie es ihr irgend
möglich war.
Das Weserland ist die Seele Braunschweigs, und es ist gewiß kein Zufall,
daß es den Dichter des Landes geboren hat.
Wie dieses Land entstanden ist, in unvordenklichen Zeiten geformt durch die
Fluten des Urmeers und, freigegeben, mächtig durchwühlt vom
Strome, zerfressen durch die Regenstürme der Erdzeitalter, im
üppigen Faltenwurf seiner Täler so kraus gestaltet wie kaum eine
andere deutsche Landschaft, scheint es nur geworden und gereift, um im Werk
dieses einen Raabe
von sich und seinem Sinn zu künden.
Wer Raabes Land erleben will, tut gut daran, es sich langsam zu erobern. Er tut
gut daran, einen letzten Gruß des Harzgebirges und seines Vorlandes mit
hinüberzunehmen auf den Gang nach der
Weser - so wie der Dichter in seinem Werk aus Düsternis und
[86] Kargheit leise erst
hineinfindet zu seinem befreiten Lächeln. Der Wanderer ins Weserland
möge etwa in Wenzen, einer kleinen Station am Abhang des Hilsgebirges,
den von Braunschweig nach Holzminden führenden Zug verlassen und so,
zwischen den Ausläufern des Harzes und den Vorläufern der
Weserberge, noch einmal Ausschau halten nach Osten und Westen. Hinter dem
wuchtigen Riegel des Elfasgebirges, der ihm gegenüber das Tal begrenzt,
sieht er zur Rechten die blaue Masse des in eine Windung der Weser
geschmiegten Sollinger Waldes sich mit dem Himmel vermählen, zur
Linken aber grüßt fernher vom Harze der Vater der Landschaft, der
alte Brocken mit einer oftmals noch winterlich weißen Haube. Aus dem
Bann dieses Tales bald entlassen, folgt der Wanderer dem scharfen Bogen des
Hilsgebirges ins lieblich sich öffnende Tal der Lenne, des kleinsten
Nebenflusses der mächtigen Weser. Aufatmend spürt er, wie die
abseitige, dumpfe Schwere des verlassenen Tales sich löst im ersten
befreienden Hauch des großen Stromes. Er sieht die weit
zurückweichende Grenze des Lennetals, den Rücken des Ithgebirges,
der wie ein ausgestreckter Arm einladend hinweist zur fernen Weser. Vor ihm,
in der Senkung des Tales, liegt Eschershausen, Raabes Geburtsstadt, und hinter
dem Städtchen wuchtet die waldige Masse des Vogelers. Auf steiler
gewundener Straße westlich der Stadt erklimmt er das "Odfeld", und nun
liegt mit einem Male weit aufgeschlagen das Weserland vor seinen trunkenen
Blicken. Er sieht in dieses blaue Meer bewaldeter Kuppen, darüber der
große Himmel sich wölbt. Im nahen Tale vor ihm liegt das Kloster
Amelungsborn, eine der ältesten Zisterziensergründungen im
ehemaligen welfischen Hoheitsgebiet, eine geistliche Bildungsstätte,die
für die Christianisierung des slawischen Ostens und damit auch für
seine Germanisierung das Größte geleistet hat. Es liegt zwischen
zwei steilen Höhen, auf denen die feindlichen Herren der Ebersteiner und
der Homburger saßen; ihre hundertjährigen blutigen Fehden tobten
um den Frieden dieses Klosters herum. Am flachen Aufstieg des Sollings liegt das
Dorf Deensen, der Geburtsort des großen Pädagogen Joachim
Heinrich Campe. Sein Geschlecht sitzt noch heute auf dem Stadtgut des nahen
Stadtoldendorf, des Raabeschen "Altershausens".
Mit dem Gewoge der Landschaft auf und nieder führt nun der Weg nach der
Weserstadt Holzminden. Er führt durch reiche Dörfer, in denen, dem
Strome entgegen, immer mehr das alte niedersächsische Bauernhaus zur
Herrschaft kommt: das "Einhaus", das Menschen, Vieh und Tenne unter einem
Dache birgt. Weiß leuchtet das Fachwerk zwischen dem tragenden
Gerüst des wettergedunkelten Eichengebälks, darüber liegt
warm und traulich das schwere Dach aus den moosüberwucherten
Sandsteinplatten des Sollings.
[87]
Niedersächsisches Bauernhaus.
|
Die letzte Geländewelle verklingt in dem
nunmehr beglückend geweiteten Talgrund der Weser, die vor Urzeiten hier
einen riesigen See gebildet hat, bis sie sich einen Durchgang nach Norden
fraß. Weit weichen die Berge des westfälischen Ufers zurück,
beherrscht vom Köterberge, auf dem, wie auf dem größeren
Bruder Brocken, die Hexen ihre Walpurgisnacht feiern. Die gigantisch ausladende
Arena kulissenblau ineinandergeschichteter Berge schließt das Tal, indem
sie hinter den fernen Türmen von Corvey sich dicht bis ans Flußufer
hinschiebt - indessen diesseits der Solling im weichen Zug seiner Felder
und Wiesen nur sehr gemächlich sich loslöst vom Ufer...
Vor den Toren Holzmindens liegt Bevern, mit dem verschwenderischen Prunk
seines [87] Renaissance-Schlosses,
das einst ein Freiherr Statius von Münchhausen in fröhlicher
Überschätzung seiner Verhältnisse während neun
kostspieliger Baujahre
(1603-12) errichtete. Er geriet denn auch pünktlich in
Vermögensverfall, und seine Erben mußten den Märchenbau
an die Braunschweigischen Herzöge verkaufen. Diese fröhliche
Überschätzung seiner
selbst - kann sie wunder nehmen angesichts einer Landschaft, die sich in
gelöster Anmut über sich selber erhebt und im endlos fortwogenden
Fluß ihrer Berge alle Grenzen sprengt...? Kann es wunder nehmen,
daß auf diesem Boden ein Nachfahr des sorglos bauenden Statius
erwuchs: der edle Herr Hieronymus von Münchhausen auf Bodenwerder an
der Weser...? wenn sein Ahn nur in Steinen sich überbaute, so erlag sein
Enkel, ganz im Banne der Landschaft, dem süßen Drange, die
lustigen Mauern seiner unsterblichen Lügenschlösser in
schalkhaftester Übersteigung des eigenen Erlebens gen Himmel zu
türmen.
Und dieses Geistes Kinder sind eigentlich alle Bewohner des Weserlandes. Wie
sie im nahen Holzminden eine kühne, weitverzweigte Industrie geschaffen
haben, die zum Teil (in zwei Riechstoffwerken) Weltgeltung errang, zum Teil
aber auch nach hoffnungsvolle Anfängen jäh zusammenbrach,
scheinen sie ganz getragen vom Sinn dieser Landschaft. Die heitere
Liebenswürdigkeit dieser Menschen, ihre unbeschwerte Lebensauffassung
unterscheidet sich merklich von den anderen Bewohnern des Braunschweiger
Landes. So konnte ein Hermann Bahr bekennen, daß er nur bei den
Bewohnern des Weserlandes die ihm vertrauten Züge des
österreichischen Humors wiedergefunden habe. Und so weiß auch
Goethe in
seinen Tagebuchblättern über die Reise von Einbeck nach
der Weser zu vermerken, daß ihm die Bewohner des Landes durch eine
besondere Höflichkeit sehr angenehm aufgefallen seien. Und zeigt sich nicht
Raabe, wenn er den Bitten des [88] Vaterunsers die eine
hinzugefügt sehen möchte: "Unsere tägliche
Selbsttäuschung gib uns heute!", auch hier wieder als ein Sohn seiner
Heimat...?
Wenn der große Dichter uns ins Weserland geleitet, so mag er uns auch den
Weg nach dem Harze weisen. Wir kehren zum Ausgangspunkt unserer Weserfahrt
zurück und wenden uns nunmehr nach Osten, dem Braunschweigischen
Harzrande zu, den Raabe
so oft besungen hat. Wir durchkreuzen das Tal der Leine
und kommen zunächst nach Gandersheim, das still seinen
tausendjährigen Schlaf träumt. Schweigend, fast ein wenig
bedrückt, ganz ohne die Spuren modernen Wirtschaftslebens, liegt es mit
der Unversehrtheit seines alten Städtebildes im Schatten der
berühmten Abtei, in der die Nonne Hrosvitha ihre Komödien
schrieb... Erst die sehr kräftige Solquelle, die Gandersheim zum "Bad"
erhoben hat, verheißt einen Weg zu neuzeitlichem Aufstieg.
Die Gegend hier ligt noch im lastenden Bann des Überganges zum
düsteren Harzwald - aber der nördliche Rand des Gebirges,
der nun nicht mehr fern ist, regt sich wie ein frohes Erwachen aus schwerem
Traum:
"Wo das Harzgebirge seine Vorberge gleich lustig grünen Vorwachten
hinaussendet in die norddeutsche Ebene, da spürt man's in jedem Wasser
und Wässerlein, das hervorsprudelt aus den Tannenwäldern und
Buchenwäldern und dem Laufe der Täler folgt, wie eine Ahnung in
jeder Welle, daß der gewaltige ewige Reigentanz dieses Elementes, das
Meer nicht allzu fern und nun kein Fels und Abhang mehr zu überspringen
sei, um die Heimat, den lustigen Festplatz zu erreichen. Mit verhaltenem Jauchzen
und einem allerliebsten, lachenden Leichtsinn,wie vierzehnjährige
Mädchen aus der Schule, hüpfen die Bäche und kleinen
Flüsse hervor: die Ilse und die Bode, die Oker und die Radau, die Selke und
die Holzemme, und keine der ausgelassenen Dirnen weiß ihrer Lust genug
zu tun bis mitten in das flache Land." So Raabe.
Freilich ist dieser Harzrand in seinem westlichsten Teile zerfressen durch
Hüttenwerke und die ihnen folgenden Industrien, aber dann bricht aus den
dunklen Bergen der Glanz der alten Kaiserpfalz Goslar hervor, von
Braunschweigs Gebiet umklammert. Nicht fern ist die Schwesterstadt Goslars, das
braunschweigische Weltbad Harzburg. Hier wohnt, zu wenig beachtet von seiner
Umgebung und leider noch immer vom großen lesenden Deutschland, der
Dichter Rudolf Huch, triefkräftig und wurzelfest, der stille Bruder der
glückhafteren Ricarda... Der Ort ist das Haupteinfallstor in den Harz,
für sommerliche Wanderer in gleichem Maße wie für die
Wintersportler. So stark dieser Durchgangsverkehr nun flutet, so üppig die
Fülle glanzvollen Badelebens sich über die Hauptstraßen
ergießt, so bald führen die heimlicheren Pfade von hier ins
unberührte Schweigen des Hochwaldes. Wie schnell ist das Lärmen
der großen Welt verklungen, wie wesenlos fern nur ruft eine letzte
Hupe - wie eindringlich stehen die Laute des Waldes nun auf: das Murmeln
des Baches in dunkler Schlucht, darüber das schwere Rauschen der
großen Tannen sich breitet, der schrille Katzenschrei des Bussards
über den Klippen des Eckertales...! Wie ein Wandeln im Urwald wird
manchmal der Weg, wie ein Bild aus dem Märchen erscheint es dem
staunenden Blicke, wenn im Dämmern der alten moosbärtigen
Fichten die Köhlerhütte ersteht... Aber der finstere Hüter des
Meilers verschwendet kein Wort an die müßige Neugier des
Eindringlings...
[89]
Grabmal der Äbtissin Hedwig
in der Sankt Cyriakikirche zu Gernrode.
|
[89] Dies aber sieht nur der
Wanderer auf den abseitigen Pfaden. Wer dem Strome der Menge folgt, der wird
auf den Brocken geschoben und wird von ihm, im seltenen Glücksfall
günstiger Sicht, mit hundert anderen Augen den Blick in die turmreiche
Ebene teilen - im anderen Fall aber wird er enttäuscht mit dem
Schub in eines der wildzerklüfteten Täler gleiten, ins Tal der Oker
oder der Bode. So herrlich immer sie schwelgen in der prunkvollen Romantik
ihrer steilgetürmten Felsenmassen, so will es dem Freunde der Stille doch
scheinen, als wäre vom Blick der Abermillionen Augen und
photographierenden Linsen ein wenig von ihrer Seele abgewetzt... Und folgt er
dem Laufe der Bode, so mag es ihm auch mit den berühmten Stätten
der Roßtrappe und des Hexentanzplatzes ähnlich ergehen, die
über die Talschlucht hinweg ihre jähen Schroffen einander
entgegenlagern.
Hier beginnen die prächtigen Wälder um die Pensionopolis
Blankenburg am Harzrande, eine der schönsten Braunschweigischen
Städte, gleich berühmt durch seine Teufelsmauer wie durch seine
Institute für höhere Töchter, aber auch bestens bekannt als die
Geburtsstadt Oswald Spenglers und August Winnigs. Zwei
Trümmerstätten ruhmreichen mönchischen Lebens bewachen
das Gebiet des ehemaligen Fürstentums Blankenburg: im Norden das
Kloster Michaelstein und am Südrand des Harzes, schon hinabblickend in
die Senkung zum Thüringerwalde, das von den Scharen Thomas
Münzers verwüstete Kloster Walkenried mit seinem
berühmten Kreuzgang aus der Reifezeit der
Gotik.
Die Bevölkerung des Braunschweigischen Harzgebietes ist
in sich weniger einheitlich als die der anderen Landesteile. Am Rande und in den
nördlichen Bezirken sitzen reine Niedersachsen, und in den Dörfern
wird plattdeutsch gesprochen, aber schon im Oberharz setzt mitteldeutscher
Einschlag ein, während die zum Hoheitsgebiet der ehemals
reichs-unmittelbaren Zisterzienserabtei Walkenried gehörende
Bevölkerung nach Rasse und Mundart ausgesprochen thüringisch
ist.
Auch die Bewohner des nördlich vom Harz gelegenen Landeshauptteiles
sind kaum von einheitlicher Rasse. Weist aber der Harz die unvermischten
Bestandteile verschiedener Stämme auf, so hat sich in jenem Teil aus
Niedersachsen und Slawen eine so feste Mischung gebildet, daß der geringe
wendische Einschlag sich nur noch durch eine, allerdings sehr
ein- [90] drucksvolle,
Schattierung des Volkscharakters verrät. So scheint auch die Sprache hier
typisch für eine Mischung, die aus einander ursprünglich sehr
fremden Elementen gebildet wurde. Daß diese Sprache mit ihren unreinen
Vokalen (man höre sich vor allem das "a" an, aus dem "Raabe" einen
"Räöbe" macht, mit Hilfe einer wirklich verflixten Mischung aus
"ä" und "ö") eigentlich schön sei, wird selbst der
Braunschweiger nicht behaupten wollen. Daß aber gerade in diesen
"märigen" Lauten sehr viel Behagen und Witz zum Ausdruck kommt, wird
niemand leugnen, der einmal die nähere Bekanntschaft dieses
Volksstammes gemacht hat. Die Gegensätze, die ursprünglich vor
der Mischung zwischen den Rassen bestanden, sind jetzt vielleicht in die Seele
des Einzelnen verlegt. Und wenn man davon reden wollte, daß dieser
Einzelne in einer Art Fortsetzung uralten Rassenhaders die in ihm lebenden
Widersprüche zu bekämpfen suche, so könnte man den
Ausdruck solchen Kampfes in der sehr charakteristischen Selbstironie des
Braunschweigers entdecken. Dieses Nebeneinander von Gegensätzen hat
denn auch glücklich in den Nachbarländern die Meinung gezeitigt:
"Der Braunschweiger ist falsch." Er ist aber nicht "falsch", er ist sehr echt, ist nur
komplizierter als der nördlichere Niedersachse. Er ist nicht so einfach, wie
er auf den ersten Blick wohl erscheint, wenn er seinen massiven Wirklichkeitssinn
bekundet, sein Behagen an Würsten, Spargeln und Kornbranntweinen,
seinen Sinn für Dreschmaschinen, Lastautos und letzhin für die
Methoden einer exakten Parteipolitik. Seine "Vieldeutigkeit" verbirgt sich gern
hinter einer fast banalen Geste, aber wenn sich's innen dann einmal jäh
verschiebt, der dröge Ernst ganz unverhofft in Eulenspiegels Lachen
hinüberwechselt, das Behagen in grausamen Spott, dann eben ist jenes
"Schillern" da, das manchmal mißdeutet wird. Wenn über dem
Weserlande befreiend das Lächeln Raabes schwebt und die heiter
zutraulichen Lügen des Barons Münchhausen, so sind hier die
Menschen gleichsam springbereit abwartend, und ihre Heiterkeit ist leicht etwas
von der endgültig aller Illusion der Kreatur ein Ende setzenden Art des
großen Wilhelm Busch zugesetzt. Sie sind spottkundig bis zur
Genialität, großartig in jenem Aufweisen der Gegensätze, das
sich selbst in einer sanften Neutralität verhält, mit einem tiefen Hang
zum "Relativismus", der so zum faustischen Menschen wie auch zum fruchtlosen,
rein ironischen Genießer seiner selbst führen kann.
Wenn der Braunschweiger in diesem engeren Sinne wurde, was er nun ist, so kam
ihm bei seinem Werdegang die Gestalt der Landschaft sehr entgegen. Dieser
Mensch konnte nur auf einem fetten Weizen- und Zuckerrübenboden
erwachsen und nur in einer Ebene, deren spärliche Höhenzüge,
so reizvoll sie sich mit ihren schönen Buchenwäldern in Elm, Asse,
[93]
Eulenspiegelhaus und Flohwinkel in Braunschweig.
|
Oder erheben, nichts sind als machtlose Lyrismen im Wuchten der nutzbaren
Fläche. Das Gesicht dieses Landes wird durch die Fülle der
Städte bestimmt. Selbst die kleinste dieser Städte,
Schöppenstedt am Fuße des Elms, hat sich durch die seinen
Bürgern zugeschriebenen, höchst braunschweigischen "Streiche"
Weltruhm erworben. Und vielleicht stammt auch jener Ritter aus Schöppenstedt,
der im nahen Walde den Ablaßhändler Tetzel so witzig zu
übertölpeln wußte... Daß endlich die Wiege Till
Eulenspiegels (soweit er nicht nur ein Mythos ist) im Dorfe Kneitlingen vor
Schöppenstedts Toren stand, legt weiter Zeugnis für Geist und
Witz dieses Landes ab.
Ernsthafter waren sie an der anderen Seite des Elmes. Dort haben sie in
Süpplingenburg [91] nicht nur einen Kaiser
hervorgebracht, sie haben in Helmstedt auch eine berühmte
Universität gegründet, von der freilich in der Erinnerung des Volkes
nichts lebendig geblieben ist als "jener problematische Mann", den Goethe eigens
zu besuchen kam. Der Professor und Hofrat Gottfried Christoph Beireis,
Mediziner, Physiker und Chemiker, eine Art Vetter im Geist der Eulenspiegel und
Münchhausen, war zwar ein anerkannter tüchtiger Arzt, dabei aber
ein mystizierender Windbeutel, von dem Goethe vermerkte: "Beireis habe sonst
auch wohl gelegentlich zu verstehen gegeben, er wüßte, durch das
»Universale« ausgesuchte Maikäfer in junge Krebse zu
verwandeln, die er denn auch nachher durch besondere spagirische Nahrung zu
merkwürdiger Größe heranzufüttern verstehe."
Der letzte sichtbare Zeuge des verklungenen Universitätsruhmes ist die
Behausung der Hochschule, das von dem großen Baumeister Paul Franke
geschaffene "Juleum", ein bemerkenswerter Renaissancebau. So ragt es ein wenig
beziehungslos in Helmstedts Gegenwart hinein, die ihren kräftigeren
Ausdruck ein einem bedeutenden Braunkohlenbergbau vor den Toren der Stadt
findet.
Hat Frankes Schaffen der Stadt Helmstedt im "Juleum" ein museales Stück
Sehenswürdigkeit hinterlassen, so trägt das stille
Wolfenbüttel, Braunschweigs alte Hauptstadt, in seinem Innern, dem
Frankes berühmte Marienkirche das ragende Wahrzeichen gibt, den Hauch
eines einzigen großen Museums. Alle Spuren unserer Tage in modernen
Wohnbauten und Industrieanlagen sind aus dem Bannkreis der alten
Festungswälle verwiesen. Drinnen aber scheint die Zeit seit Lessing stehen
geblieben, und die von Braunschweig kommende Straßenbahn, die sich
mühsam durch die engen Gassen windet, wirkt wie ein schriller
Anachronismus. Aber sie setzt ja die Stadt auch nur alle halbe Stunde in
Aufregung. Zwischendurch schläft sie.
[92] Es schlafen die
dreihunderttausend Bände und Handschriften in Lessings Bibliothek, es
schläft der Codex Carolinus, der Weißenburger Katechismus
und Karls des Großen Capitulare de villis, es schläft Lessings
Häuschen am Tore des Bibliothekgartens, es schlafen die fachwerkbunten
Straßen, und schläfrig gluckst das Wasser der Okerarme, die hier als
verdeckte Kanäle, dort als offene Flußläufe die Stadt
durchziehen. Es schläft das alte Schloß der Herzöge, in dem
nun Lyzeum und Mädchenalumnat untergebracht sind, und wenn der
Schwarm seiner jungen Bewohnerinnen aus dem ehrwürdigen Portal sich
auf die moosgrüne Steinbrücke des dunklen Flusses ergießt,
dann blüht es wie flüchtige Blumen aus diesem alten
Gemäuer.
Auch einen Traum hat dieser große Schlaf - das ist der Frühling, der
immer wieder mit unvergleichlichem Leuchten hindurchzieht. Der
Frühling, der sich gerade um diese schlafende Stadt mit
unerschöpflicher Fülle entfaltet. Da ist der Ring der zu Parkanlagen
verwandelten alten Festungswälle, und um ihn ist ein breiter Gürtel
von Gärten gelagert. Dann schlägt im Mai das Feuer der
Abermillionen Blüten zu einer einzigen mächtigen leuchtenden
Flamme zusammen: die Kastanien, die dichten langen Mauern des Flieders, der
Goldregen und der Holunder, die Weigelie und die bunte Vielfalt der anderen
Ziersträucher auf dem Walle, die Weißdornhecken, das Meer der
Obstbäume in den Gärten, das alles strömt ineinander zu
buntem, süßestem Überschwang und brandet berauschend
gegen die alten Mauern. Dieses träumende Wolfenbüttel ist ein
Schattengewächs in der erdrückenden Nähe einer großen
Stadt. Nur zehn Kilometer von Braunschweig entfernt, konnte es ein eigenes
Wirtschaftsleben nicht entfalten. Es ist das Kennzeichen Braunschweigs,
daß diese Stadt Heinrichs des
Löwen bei einer wunderbaren Wahrung
ihres mittelalterlichen Gesichtes mit neuzeitlichen Wirtschaftsimpulsen geladen
ist und auch so jenes seltsam lebendige Nebeneinander von Gegensätzen
bekundet.
Hier ist die romantische Burg Dankwarderode, die gotische "Alte Waage", der
prunkvolle Renaissancebau des
"Gewandhauses" - dort sind die Büssingschen Lastautowerke, die
ersten der Welt, die Jüdelschen Eisenbahnsignalwerke, die in allen
Ländern der Erde arbeitenden Mühlenbauwerke
Amme-Giesecke. Da ist St. Blasien, der uralte Dom des Löwen und die
Fülle der anderen romantischen
Kirchen - dort sind die Grimme-Natalis-Werke mit ihren welterobernden
Rechenmaschinen und die Unzahl der
Wurst- und Konservenfabriken. Hier ist das Geburtshaus von [Carl] Friedrich
Gauß, Till Eulenspiegels historischer Bäckerladen, das Hoftheater, in
dem der "Faust" seine Uraufführung
erlebte - dort sind die großen
Pianoforte-Fabriken, die Mumme- und Bierbrauereien, hier ist das Museum, ist
Rembrandts "Familienbildnis", Vermeers "Mädchen mit dem Weinglase",
sind die alten ruhmreichen Verlagshäuser von Vieweg und Westermann, in
denen Gottfried Keller und Theodor Storm
zuerst erschienen, dort ist die
Reichsschule für Flugzeugführer, sind die großen
Dampfkessel- und Gasometerfabriken.
Zwar singt dieses Volk:
Brunswick, du leiwe Stadt
Vor veel dusend Städten,
Dei sau schöne Mumme hat,
Wo ick Wost kann freten...
[93] Und in den vielen
Bierstuben und Schlachterläden hat es sich auch eine erquickende
Fülle von Stätten eines animalischen Behagens geschaffen, in denen
die Zwiespältigkeit seines Wesens sich so gerne einlullen läßt.
Aber die Dämonen des inneren Widerspruchs schlummern nur, es ist seit
1200 kaum ein Jahrhundert vergangen, in dem nicht der blutige Aufruhr durch
diese schönen alten Straßen johlte. Da wurden den Ratsherren die
Köpfe vor die Füße gelegt, und ihre Partei wiederum ließ
es sich bei guter Gelegenheit nicht nehmen, eine phantastische Rache zu
üben und etwa einen Henning Brabandt auf öffentlichem Markte in
bestialischer Weise zu Tode zu foltern... Da wurde, gleichsam im letzten
Auswirken der ewigen Stadtfehden wider die Landesfürsten, noch im
vorigen Jahrhundert ein verschwenderischer Herzog aus dem Lande gejagt und
sein Schloß in Asche gelegt.
Immer wieder sehen wir die Seele des Braunschweigers im bunten Schillern der
Gegensätze. Da räkeln sich, als Akteure eines saftigen
Volkspossenspiels, ein Kunststopfer und [94] eine Garderobiere in den
Ministersesseln des Staates, indessen Wilhelm von Bode, ein anderes Kind
Braunschweigs, als Generaldirektor der preußischen Museen von Berlin aus
die Weltpolitik der Kunstgeschichte beeinflußt und Braunschweigs Tochter
Ricarda Huch von München aus das große Werk ihrer reinen,
zeitlosen Kunst über die Lande sendet.
Und wie sie da liegt, diese ganze wundervolle und reiche Stadt, so bunt sie ist und
so nutzbar, so wild und so zähe, so trunken und nüchtern, so alt und
so neu - wie sie da liegt und ihr Schmunzeln endlich über das ganze
Braunschweigische Land hingebreitet hat, scheint sie in ihrem Antlitz die
Züge dieser vier großen niedersächsischen Lächler zu
spiegeln und in ihrem Zeichen sich selber zu feiern: im Zeichen der Raabe, Busch,
Münchhausen und Eulenspiegel.
|