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Braunschweig
Konrad Beste

Wer auf der Karte das Braunschweigische Gebiet aus seinen zehn versprengten Stücken zwischen Heide und Harz, zwischen Weser und Aller zusammensucht, dem drängt sich die Frage auf, mit welchem Recht von diesem Haufen bunt zusammengewürfelter Fetzen als von der Einheit eines "Landes" gesprochen werden kann, das seinen Platz innerhalb einer Gesamtwürdigung der deutschen Landschaften und Stämme beansprucht.

Die politische Idee des Braunschweigischen Staates, des letzten verwirklichten Restes von Heinrichs des Löwen großem dynastischen Traum, ist als eine reine Angelegenheit des welfischen Fürstenhauses mit dem November 1918 erloschen. Die wirtschaftliche Sonderexistenz des Landes ist, zumal in der Not unserer Tage, zu einem Luxus geworden. Aber dennoch lebt dieses Land. Es lebt ganz einfach durch die Liebe, und so beweist es wieder, daß die unfaßbaren Kräfte des Lebens mächtiger sind als die Erwägungen der Vernunft und der Zweckmäßigkeit. Es ist die Liebe zu einem Lande, das, so zerrissen immer es daliegt, und so unterschiedlich in Stammesart und Temperament die Bevölkerung sich gibt, doch alle seine Kinder im Bann einer großen tausendjährigen Geschichte und schicksalhaft gewordenen kulturellen Gemeinschaft zusammenhält.

Der Löwe von Braunschweig.
[85]      Der Löwe von Braunschweig.

Und diese Fünfhunderttausend werden noch fester zusammengeschlossen durch das stolze Bewußtsein, mit ihrem vielgegliederten Land eine unvergleichliche Fülle von Schönheiten erfaßt zu haben und nun als "Braunschweig" zu besitzen. Auf dem engen Raum von etwa hundert Kilometern im Geviet ist hier eine richtige Musterkarte deutscher Landschaftsbilder ausgebreitet: im Osten, um die Städte Braunschweig, Wolfenbüttel, Helmstedt schwelgt das Land laut in fruchtbaren Äckern, im Norden begrenzt es sich mit dem schweigenden Saum der Lüneburger Heide, im Süden erhascht es sein Teil vom Mittelgebirge, vom dunklen Raunen der Fichten unter der Herrschaft des Brockens, hoch oben vor Bremens Toren reicht es mit dem Amt Thedinghausen ins fette Marschland hinein - im Westen aber erlöst es sich aus der Düsternis des Harzes und dem schweren Ernst der Ebene im heiter geöffneten Stromtal der Weser, findet es eine Grenze voll zarter Verweisungen in die endlos verblauende Ferne der westfälischen Uferberge.

Hünengrab auf dem Bierberg bei Latdorf.
[94]      Hünengrab auf dem Bierberg bei Latdorf.

Braunschweig ist aber nicht nur ein schönes, es ist auch ein ungewöhnlich reiches Land. Bodenschätze und wirtschaftliche Werte sind in verschwenderischer Fülle und zudem in erstaunlicher Mannigfaltigkeit vorhanden. Es ist beinahe so, als ob die alten Herzöge, einem über 700 Jahre wirkenden unbewußten Streben folgend, in ihren unaufhörlichen Fehden aus dem größeren Niedersachsen jene Stücke unter ihrer Herrschaft zusammengebracht hätten, deren Erträgnisse ihnen eine Art "Autarkie" gestatteten. Es gehört [85] vielleicht zum Wesen dieses "Unbewußten", und es erhöht auch seinen Wert, daß manche dieser Gebietsteile Möglichkeiten in sich bargen, die erst viel später in modernen Industriebetrieben und Förderungsarten zum Leben kommen sollten. Sind etwa Erzbau und Steinbrüche im Harz, Solling und Hils uralte Wirtschaftszweige, so haben Kali, Asphalt und Erdöl erst in unseren Tagen den Weg and Licht gefunden. —

Das Weserland ist die Erfüllung der Braunschweigischen Seele. Freilich dürfen wir nicht auf jene Beamten hören, die, aus dem Landeshauptteil um die Stadt Braunschweig nach Holzminden versetzt, die neue Wirkungsstätte als ein Exil bezeichnen, geschaffen, die also Verbannten in einer hoffnungslosen Entfernung vom Hirn des Landes verkümmern zu lassen. Wir haben es erfahren, daß die Seele oft genug die Nachbarschaft des Hirnes ängstlich meidet, um sich ihre abseitigen Bezirke unberührt zu sichern - so hat sie denn auch in unserem Braunschweig vor dem "Haupt" des Landes sich so weit verkrochen wie es ihr irgend möglich war.

Das Weserland ist die Seele Braunschweigs, und es ist gewiß kein Zufall, daß es den Dichter des Landes geboren hat.

Wie dieses Land entstanden ist, in unvordenklichen Zeiten geformt durch die Fluten des Urmeers und, freigegeben, mächtig durchwühlt vom Strome, zerfressen durch die Regenstürme der Erdzeitalter, im üppigen Faltenwurf seiner Täler so kraus gestaltet wie kaum eine andere deutsche Landschaft, scheint es nur geworden und gereift, um im Werk dieses einen Raabe von sich und seinem Sinn zu künden.

Wer Raabes Land erleben will, tut gut daran, es sich langsam zu erobern. Er tut gut daran, einen letzten Gruß des Harzgebirges und seines Vorlandes mit hinüberzunehmen auf den Gang nach der Weser - so wie der Dichter in seinem Werk aus Düsternis und [86] Kargheit leise erst hineinfindet zu seinem befreiten Lächeln. Der Wanderer ins Weserland möge etwa in Wenzen, einer kleinen Station am Abhang des Hilsgebirges, den von Braunschweig nach Holzminden führenden Zug verlassen und so, zwischen den Ausläufern des Harzes und den Vorläufern der Weserberge, noch einmal Ausschau halten nach Osten und Westen. Hinter dem wuchtigen Riegel des Elfasgebirges, der ihm gegenüber das Tal begrenzt, sieht er zur Rechten die blaue Masse des in eine Windung der Weser geschmiegten Sollinger Waldes sich mit dem Himmel vermählen, zur Linken aber grüßt fernher vom Harze der Vater der Landschaft, der alte Brocken mit einer oftmals noch winterlich weißen Haube. Aus dem Bann dieses Tales bald entlassen, folgt der Wanderer dem scharfen Bogen des Hilsgebirges ins lieblich sich öffnende Tal der Lenne, des kleinsten Nebenflusses der mächtigen Weser. Aufatmend spürt er, wie die abseitige, dumpfe Schwere des verlassenen Tales sich löst im ersten befreienden Hauch des großen Stromes. Er sieht die weit zurückweichende Grenze des Lennetals, den Rücken des Ithgebirges, der wie ein ausgestreckter Arm einladend hinweist zur fernen Weser. Vor ihm, in der Senkung des Tales, liegt Eschershausen, Raabes Geburtsstadt, und hinter dem Städtchen wuchtet die waldige Masse des Vogelers. Auf steiler gewundener Straße westlich der Stadt erklimmt er das "Odfeld", und nun liegt mit einem Male weit aufgeschlagen das Weserland vor seinen trunkenen Blicken. Er sieht in dieses blaue Meer bewaldeter Kuppen, darüber der große Himmel sich wölbt. Im nahen Tale vor ihm liegt das Kloster Amelungsborn, eine der ältesten Zisterziensergründungen im ehemaligen welfischen Hoheitsgebiet, eine geistliche Bildungsstätte,die für die Christianisierung des slawischen Ostens und damit auch für seine Germanisierung das Größte geleistet hat. Es liegt zwischen zwei steilen Höhen, auf denen die feindlichen Herren der Ebersteiner und der Homburger saßen; ihre hundertjährigen blutigen Fehden tobten um den Frieden dieses Klosters herum. Am flachen Aufstieg des Sollings liegt das Dorf Deensen, der Geburtsort des großen Pädagogen Joachim Heinrich Campe. Sein Geschlecht sitzt noch heute auf dem Stadtgut des nahen Stadtoldendorf, des Raabeschen "Altershausens".

Mit dem Gewoge der Landschaft auf und nieder führt nun der Weg nach der Weserstadt Holzminden. Er führt durch reiche Dörfer, in denen, dem Strome entgegen, immer mehr das alte niedersächsische Bauernhaus zur Herrschaft kommt: das "Einhaus", das Menschen, Vieh und Tenne unter einem Dache birgt. Weiß leuchtet das Fachwerk zwischen dem tragenden Gerüst des wettergedunkelten Eichengebälks, darüber liegt warm und traulich das schwere Dach aus den moosüberwucherten Sandsteinplatten des Sollings.

Niedersächsisches Bauernhaus
[87]      Niedersächsisches Bauernhaus.

Die letzte Geländewelle verklingt in dem nunmehr beglückend geweiteten Talgrund der Weser, die vor Urzeiten hier einen riesigen See gebildet hat, bis sie sich einen Durchgang nach Norden fraß. Weit weichen die Berge des westfälischen Ufers zurück, beherrscht vom Köterberge, auf dem, wie auf dem größeren Bruder Brocken, die Hexen ihre Walpurgisnacht feiern. Die gigantisch ausladende Arena kulissenblau ineinandergeschichteter Berge schließt das Tal, indem sie hinter den fernen Türmen von Corvey sich dicht bis ans Flußufer hinschiebt - indessen diesseits der Solling im weichen Zug seiner Felder und Wiesen nur sehr gemächlich sich loslöst vom Ufer...

Vor den Toren Holzmindens liegt Bevern, mit dem verschwenderischen Prunk seines [87] Renaissance-Schlosses, das einst ein Freiherr Statius von Münchhausen in fröhlicher Überschätzung seiner Verhältnisse während neun kostspieliger Baujahre (1603-12) errichtete. Er geriet denn auch pünktlich in Vermögensverfall, und seine Erben mußten den Märchenbau an die Braunschweigischen Herzöge verkaufen. Diese fröhliche Überschätzung seiner selbst - kann sie wunder nehmen angesichts einer Landschaft, die sich in gelöster Anmut über sich selber erhebt und im endlos fortwogenden Fluß ihrer Berge alle Grenzen sprengt...? Kann es wunder nehmen, daß auf diesem Boden ein Nachfahr des sorglos bauenden Statius erwuchs: der edle Herr Hieronymus von Münchhausen auf Bodenwerder an der Weser...? wenn sein Ahn nur in Steinen sich überbaute, so erlag sein Enkel, ganz im Banne der Landschaft, dem süßen Drange, die lustigen Mauern seiner unsterblichen Lügenschlösser in schalkhaftester Übersteigung des eigenen Erlebens gen Himmel zu türmen.

Und dieses Geistes Kinder sind eigentlich alle Bewohner des Weserlandes. Wie sie im nahen Holzminden eine kühne, weitverzweigte Industrie geschaffen haben, die zum Teil (in zwei Riechstoffwerken) Weltgeltung errang, zum Teil aber auch nach hoffnungsvolle Anfängen jäh zusammenbrach, scheinen sie ganz getragen vom Sinn dieser Landschaft. Die heitere Liebenswürdigkeit dieser Menschen, ihre unbeschwerte Lebensauffassung unterscheidet sich merklich von den anderen Bewohnern des Braunschweiger Landes. So konnte ein Hermann Bahr bekennen, daß er nur bei den Bewohnern des Weserlandes die ihm vertrauten Züge des österreichischen Humors wiedergefunden habe. Und so weiß auch Goethe in seinen Tagebuchblättern über die Reise von Einbeck nach der Weser zu vermerken, daß ihm die Bewohner des Landes durch eine besondere Höflichkeit sehr angenehm aufgefallen seien. Und zeigt sich nicht Raabe, wenn er den Bitten des [88] Vaterunsers die eine hinzugefügt sehen möchte: "Unsere tägliche Selbsttäuschung gib uns heute!", auch hier wieder als ein Sohn seiner Heimat...?

Wenn der große Dichter uns ins Weserland geleitet, so mag er uns auch den Weg nach dem Harze weisen. Wir kehren zum Ausgangspunkt unserer Weserfahrt zurück und wenden uns nunmehr nach Osten, dem Braunschweigischen Harzrande zu, den Raabe so oft besungen hat. Wir durchkreuzen das Tal der Leine und kommen zunächst nach Gandersheim, das still seinen tausendjährigen Schlaf träumt. Schweigend, fast ein wenig bedrückt, ganz ohne die Spuren modernen Wirtschaftslebens, liegt es mit der Unversehrtheit seines alten Städtebildes im Schatten der berühmten Abtei, in der die Nonne Hrosvitha ihre Komödien schrieb... Erst die sehr kräftige Solquelle, die Gandersheim zum "Bad" erhoben hat, verheißt einen Weg zu neuzeitlichem Aufstieg.

Die Gegend hier ligt noch im lastenden Bann des Überganges zum düsteren Harzwald - aber der nördliche Rand des Gebirges, der nun nicht mehr fern ist, regt sich wie ein frohes Erwachen aus schwerem Traum:

"Wo das Harzgebirge seine Vorberge gleich lustig grünen Vorwachten hinaussendet in die norddeutsche Ebene, da spürt man's in jedem Wasser und Wässerlein, das hervorsprudelt aus den Tannenwäldern und Buchenwäldern und dem Laufe der Täler folgt, wie eine Ahnung in jeder Welle, daß der gewaltige ewige Reigentanz dieses Elementes, das Meer nicht allzu fern und nun kein Fels und Abhang mehr zu überspringen sei, um die Heimat, den lustigen Festplatz zu erreichen. Mit verhaltenem Jauchzen und einem allerliebsten, lachenden Leichtsinn,wie vierzehnjährige Mädchen aus der Schule, hüpfen die Bäche und kleinen Flüsse hervor: die Ilse und die Bode, die Oker und die Radau, die Selke und die Holzemme, und keine der ausgelassenen Dirnen weiß ihrer Lust genug zu tun bis mitten in das flache Land." So Raabe.

Freilich ist dieser Harzrand in seinem westlichsten Teile zerfressen durch Hüttenwerke und die ihnen folgenden Industrien, aber dann bricht aus den dunklen Bergen der Glanz der alten Kaiserpfalz Goslar hervor, von Braunschweigs Gebiet umklammert. Nicht fern ist die Schwesterstadt Goslars, das braunschweigische Weltbad Harzburg. Hier wohnt, zu wenig beachtet von seiner Umgebung und leider noch immer vom großen lesenden Deutschland, der Dichter Rudolf Huch, triefkräftig und wurzelfest, der stille Bruder der glückhafteren Ricarda... Der Ort ist das Haupteinfallstor in den Harz, für sommerliche Wanderer in gleichem Maße wie für die Wintersportler. So stark dieser Durchgangsverkehr nun flutet, so üppig die Fülle glanzvollen Badelebens sich über die Hauptstraßen ergießt, so bald führen die heimlicheren Pfade von hier ins unberührte Schweigen des Hochwaldes. Wie schnell ist das Lärmen der großen Welt verklungen, wie wesenlos fern nur ruft eine letzte Hupe - wie eindringlich stehen die Laute des Waldes nun auf: das Murmeln des Baches in dunkler Schlucht, darüber das schwere Rauschen der großen Tannen sich breitet, der schrille Katzenschrei des Bussards über den Klippen des Eckertales...! Wie ein Wandeln im Urwald wird manchmal der Weg, wie ein Bild aus dem Märchen erscheint es dem staunenden Blicke, wenn im Dämmern der alten moosbärtigen Fichten die Köhlerhütte ersteht... Aber der finstere Hüter des Meilers verschwendet kein Wort an die müßige Neugier des Eindringlings...

Grabmal der Äbtissin Hedwig in der Sankt Cyriakikirche zu Gernrode.
[89]      Grabmal der Äbtissin Hedwig
in der Sankt Cyriakikirche zu Gernrode.
[89] Dies aber sieht nur der Wanderer auf den abseitigen Pfaden. Wer dem Strome der Menge folgt, der wird auf den Brocken geschoben und wird von ihm, im seltenen Glücksfall günstiger Sicht, mit hundert anderen Augen den Blick in die turmreiche Ebene teilen - im anderen Fall aber wird er enttäuscht mit dem Schub in eines der wildzerklüfteten Täler gleiten, ins Tal der Oker oder der Bode. So herrlich immer sie schwelgen in der prunkvollen Romantik ihrer steilgetürmten Felsenmassen, so will es dem Freunde der Stille doch scheinen, als wäre vom Blick der Abermillionen Augen und photographierenden Linsen ein wenig von ihrer Seele abgewetzt... Und folgt er dem Laufe der Bode, so mag es ihm auch mit den berühmten Stätten der Roßtrappe und des Hexentanzplatzes ähnlich ergehen, die über die Talschlucht hinweg ihre jähen Schroffen einander entgegenlagern.

Hier beginnen die prächtigen Wälder um die Pensionopolis Blankenburg am Harzrande, eine der schönsten Braunschweigischen Städte, gleich berühmt durch seine Teufelsmauer wie durch seine Institute für höhere Töchter, aber auch bestens bekannt als die Geburtsstadt Oswald Spenglers und August Winnigs. Zwei Trümmerstätten ruhmreichen mönchischen Lebens bewachen das Gebiet des ehemaligen Fürstentums Blankenburg: im Norden das Kloster Michaelstein und am Südrand des Harzes, schon hinabblickend in die Senkung zum Thüringerwalde, das von den Scharen Thomas Münzers verwüstete Kloster Walkenried mit seinem berühmten Kreuzgang aus der Reifezeit der Gotik.

Die Bevölkerung des Braunschweigischen Harzgebietes ist in sich weniger einheitlich als die der anderen Landesteile. Am Rande und in den nördlichen Bezirken sitzen reine Niedersachsen, und in den Dörfern wird plattdeutsch gesprochen, aber schon im Oberharz setzt mitteldeutscher Einschlag ein, während die zum Hoheitsgebiet der ehemals reichs-unmittelbaren Zisterzienserabtei Walkenried gehörende Bevölkerung nach Rasse und Mundart ausgesprochen thüringisch ist.

Auch die Bewohner des nördlich vom Harz gelegenen Landeshauptteiles sind kaum von einheitlicher Rasse. Weist aber der Harz die unvermischten Bestandteile verschiedener Stämme auf, so hat sich in jenem Teil aus Niedersachsen und Slawen eine so feste Mischung gebildet, daß der geringe wendische Einschlag sich nur noch durch eine, allerdings sehr ein- [90] drucksvolle, Schattierung des Volkscharakters verrät. So scheint auch die Sprache hier typisch für eine Mischung, die aus einander ursprünglich sehr fremden Elementen gebildet wurde. Daß diese Sprache mit ihren unreinen Vokalen (man höre sich vor allem das "a" an, aus dem "Raabe" einen "Räöbe" macht, mit Hilfe einer wirklich verflixten Mischung aus "ä" und "ö") eigentlich schön sei, wird selbst der Braunschweiger nicht behaupten wollen. Daß aber gerade in diesen "märigen" Lauten sehr viel Behagen und Witz zum Ausdruck kommt, wird niemand leugnen, der einmal die nähere Bekanntschaft dieses Volksstammes gemacht hat. Die Gegensätze, die ursprünglich vor der Mischung zwischen den Rassen bestanden, sind jetzt vielleicht in die Seele des Einzelnen verlegt. Und wenn man davon reden wollte, daß dieser Einzelne in einer Art Fortsetzung uralten Rassenhaders die in ihm lebenden Widersprüche zu bekämpfen suche, so könnte man den Ausdruck solchen Kampfes in der sehr charakteristischen Selbstironie des Braunschweigers entdecken. Dieses Nebeneinander von Gegensätzen hat denn auch glücklich in den Nachbarländern die Meinung gezeitigt: "Der Braunschweiger ist falsch." Er ist aber nicht "falsch", er ist sehr echt, ist nur komplizierter als der nördlichere Niedersachse. Er ist nicht so einfach, wie er auf den ersten Blick wohl erscheint, wenn er seinen massiven Wirklichkeitssinn bekundet, sein Behagen an Würsten, Spargeln und Kornbranntweinen, seinen Sinn für Dreschmaschinen, Lastautos und letzhin für die Methoden einer exakten Parteipolitik. Seine "Vieldeutigkeit" verbirgt sich gern hinter einer fast banalen Geste, aber wenn sich's innen dann einmal jäh verschiebt, der dröge Ernst ganz unverhofft in Eulenspiegels Lachen hinüberwechselt, das Behagen in grausamen Spott, dann eben ist jenes "Schillern" da, das manchmal mißdeutet wird. Wenn über dem Weserlande befreiend das Lächeln Raabes schwebt und die heiter zutraulichen Lügen des Barons Münchhausen, so sind hier die Menschen gleichsam springbereit abwartend, und ihre Heiterkeit ist leicht etwas von der endgültig aller Illusion der Kreatur ein Ende setzenden Art des großen Wilhelm Busch zugesetzt. Sie sind spottkundig bis zur Genialität, großartig in jenem Aufweisen der Gegensätze, das sich selbst in einer sanften Neutralität verhält, mit einem tiefen Hang zum "Relativismus", der so zum faustischen Menschen wie auch zum fruchtlosen, rein ironischen Genießer seiner selbst führen kann.

Wenn der Braunschweiger in diesem engeren Sinne wurde, was er nun ist, so kam ihm bei seinem Werdegang die Gestalt der Landschaft sehr entgegen. Dieser Mensch konnte nur auf einem fetten Weizen- und Zuckerrübenboden erwachsen und nur in einer Ebene, deren spärliche Höhenzüge, so reizvoll sie sich mit ihren schönen Buchenwäldern in Elm, Asse,

Eulenspiegelhaus und Flohwinkel in Braunschweig.
[93]    Eulenspiegelhaus und Flohwinkel in Braunschweig.
Oder erheben, nichts sind als machtlose Lyrismen im Wuchten der nutzbaren Fläche. Das Gesicht dieses Landes wird durch die Fülle der Städte bestimmt. Selbst die kleinste dieser Städte, Schöppenstedt am Fuße des Elms, hat sich durch die seinen Bürgern zugeschriebenen, höchst braunschweigischen "Streiche" Weltruhm erworben. Und vielleicht stammt auch jener Ritter aus Schöppenstedt, der im nahen Walde den Ablaßhändler Tetzel so witzig zu übertölpeln wußte... Daß endlich die Wiege Till Eulenspiegels (soweit er nicht nur ein Mythos ist) im Dorfe Kneitlingen vor Schöppenstedts Toren stand, legt weiter Zeugnis für Geist und Witz dieses Landes ab.

Ernsthafter waren sie an der anderen Seite des Elmes. Dort haben sie in Süpplingenburg [91] nicht nur einen Kaiser hervorgebracht, sie haben in Helmstedt auch eine berühmte Universität gegründet, von der freilich in der Erinnerung des Volkes nichts lebendig geblieben ist als "jener problematische Mann", den Goethe eigens zu besuchen kam. Der Professor und Hofrat Gottfried Christoph Beireis, Mediziner, Physiker und Chemiker, eine Art Vetter im Geist der Eulenspiegel und Münchhausen, war zwar ein anerkannter tüchtiger Arzt, dabei aber ein mystizierender Windbeutel, von dem Goethe vermerkte: "Beireis habe sonst auch wohl gelegentlich zu verstehen gegeben, er wüßte, durch das »Universale« ausgesuchte Maikäfer in junge Krebse zu verwandeln, die er denn auch nachher durch besondere spagirische Nahrung zu merkwürdiger Größe heranzufüttern verstehe."

Der letzte sichtbare Zeuge des verklungenen Universitätsruhmes ist die Behausung der Hochschule, das von dem großen Baumeister Paul Franke geschaffene "Juleum", ein bemerkenswerter Renaissancebau. So ragt es ein wenig beziehungslos in Helmstedts Gegenwart hinein, die ihren kräftigeren Ausdruck ein einem bedeutenden Braunkohlenbergbau vor den Toren der Stadt findet.

Hat Frankes Schaffen der Stadt Helmstedt im "Juleum" ein museales Stück Sehenswürdigkeit hinterlassen, so trägt das stille Wolfenbüttel, Braunschweigs alte Hauptstadt, in seinem Innern, dem Frankes berühmte Marienkirche das ragende Wahrzeichen gibt, den Hauch eines einzigen großen Museums. Alle Spuren unserer Tage in modernen Wohnbauten und Industrieanlagen sind aus dem Bannkreis der alten Festungswälle verwiesen. Drinnen aber scheint die Zeit seit Lessing stehen geblieben, und die von Braunschweig kommende Straßenbahn, die sich mühsam durch die engen Gassen windet, wirkt wie ein schriller Anachronismus. Aber sie setzt ja die Stadt auch nur alle halbe Stunde in Aufregung. Zwischendurch schläft sie.

Das Lessinghaus in Wolfenbüttel.
[91]      Das Lessinghaus in Wolfenbüttel.

[92] Es schlafen die dreihunderttausend Bände und Handschriften in Lessings Bibliothek, es schläft der Codex Carolinus, der Weißenburger Katechismus und Karls des Großen Capitulare de villis, es schläft Lessings Häuschen am Tore des Bibliothekgartens, es schlafen die fachwerkbunten Straßen, und schläfrig gluckst das Wasser der Okerarme, die hier als verdeckte Kanäle, dort als offene Flußläufe die Stadt durchziehen. Es schläft das alte Schloß der Herzöge, in dem nun Lyzeum und Mädchenalumnat untergebracht sind, und wenn der Schwarm seiner jungen Bewohnerinnen aus dem ehrwürdigen Portal sich auf die moosgrüne Steinbrücke des dunklen Flusses ergießt, dann blüht es wie flüchtige Blumen aus diesem alten Gemäuer.

Auch einen Traum hat dieser große Schlaf - das ist der Frühling, der immer wieder mit unvergleichlichem Leuchten hindurchzieht. Der Frühling, der sich gerade um diese schlafende Stadt mit unerschöpflicher Fülle entfaltet. Da ist der Ring der zu Parkanlagen verwandelten alten Festungswälle, und um ihn ist ein breiter Gürtel von Gärten gelagert. Dann schlägt im Mai das Feuer der Abermillionen Blüten zu einer einzigen mächtigen leuchtenden Flamme zusammen: die Kastanien, die dichten langen Mauern des Flieders, der Goldregen und der Holunder, die Weigelie und die bunte Vielfalt der anderen Ziersträucher auf dem Walle, die Weißdornhecken, das Meer der Obstbäume in den Gärten, das alles strömt ineinander zu buntem, süßestem Überschwang und brandet berauschend gegen die alten Mauern. Dieses träumende Wolfenbüttel ist ein Schattengewächs in der erdrückenden Nähe einer großen Stadt. Nur zehn Kilometer von Braunschweig entfernt, konnte es ein eigenes Wirtschaftsleben nicht entfalten. Es ist das Kennzeichen Braunschweigs, daß diese Stadt Heinrichs des Löwen bei einer wunderbaren Wahrung ihres mittelalterlichen Gesichtes mit neuzeitlichen Wirtschaftsimpulsen geladen ist und auch so jenes seltsam lebendige Nebeneinander von Gegensätzen bekundet.

Hier ist die romantische Burg Dankwarderode, die gotische "Alte Waage", der prunkvolle Renaissancebau des "Gewandhauses" - dort sind die Büssingschen Lastautowerke, die ersten der Welt, die Jüdelschen Eisenbahnsignalwerke, die in allen Ländern der Erde arbeitenden Mühlenbauwerke Amme-Giesecke. Da ist St. Blasien, der uralte Dom des Löwen und die Fülle der anderen romantischen Kirchen - dort sind die Grimme-Natalis-Werke mit ihren welterobernden Rechenmaschinen und die Unzahl der Wurst- und Konservenfabriken. Hier ist das Geburtshaus von [Carl] Friedrich Gauß, Till Eulenspiegels historischer Bäckerladen, das Hoftheater, in dem der "Faust" seine Uraufführung erlebte - dort sind die großen Pianoforte-Fabriken, die Mumme- und Bierbrauereien, hier ist das Museum, ist Rembrandts "Familienbildnis", Vermeers "Mädchen mit dem Weinglase", sind die alten ruhmreichen Verlagshäuser von Vieweg und Westermann, in denen Gottfried Keller und Theodor Storm zuerst erschienen, dort ist die Reichsschule für Flugzeugführer, sind die großen Dampfkessel- und Gasometerfabriken.

Zwar singt dieses Volk:

    Brunswick, du leiwe Stadt
    Vor veel dusend Städten,
    Dei sau schöne Mumme hat,
    Wo ick Wost kann freten...

[93] Und in den vielen Bierstuben und Schlachterläden hat es sich auch eine erquickende Fülle von Stätten eines animalischen Behagens geschaffen, in denen die Zwiespältigkeit seines Wesens sich so gerne einlullen läßt. Aber die Dämonen des inneren Widerspruchs schlummern nur, es ist seit 1200 kaum ein Jahrhundert vergangen, in dem nicht der blutige Aufruhr durch diese schönen alten Straßen johlte. Da wurden den Ratsherren die Köpfe vor die Füße gelegt, und ihre Partei wiederum ließ es sich bei guter Gelegenheit nicht nehmen, eine phantastische Rache zu üben und etwa einen Henning Brabandt auf öffentlichem Markte in bestialischer Weise zu Tode zu foltern... Da wurde, gleichsam im letzten Auswirken der ewigen Stadtfehden wider die Landesfürsten, noch im vorigen Jahrhundert ein verschwenderischer Herzog aus dem Lande gejagt und sein Schloß in Asche gelegt.

Immer wieder sehen wir die Seele des Braunschweigers im bunten Schillern der Gegensätze. Da räkeln sich, als Akteure eines saftigen Volkspossenspiels, ein Kunststopfer und [94] eine Garderobiere in den Ministersesseln des Staates, indessen Wilhelm von Bode, ein anderes Kind Braunschweigs, als Generaldirektor der preußischen Museen von Berlin aus die Weltpolitik der Kunstgeschichte beeinflußt und Braunschweigs Tochter Ricarda Huch von München aus das große Werk ihrer reinen, zeitlosen Kunst über die Lande sendet.

Und wie sie da liegt, diese ganze wundervolle und reiche Stadt, so bunt sie ist und so nutzbar, so wild und so zähe, so trunken und nüchtern, so alt und so neu - wie sie da liegt und ihr Schmunzeln endlich über das ganze Braunschweigische Land hingebreitet hat, scheint sie in ihrem Antlitz die Züge dieser vier großen niedersächsischen Lächler zu spiegeln und in ihrem Zeichen sich selber zu feiern: im Zeichen der Raabe, Busch, Münchhausen und Eulenspiegel.

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Das Buch der deutschen Heimat, besonders die Kapitel "Das Harzvorland" und "Der Harz".

Deutsches Land: Das Buch von Volk und Heimat
Unter Mitarbeit von Schriftstellern aller deutschen Stämme
herausgegeben von Dr. Eugen Schmahl.
Mit einem Geleitwort von Dr. Hans Steinacher,
Reichsführer des Volksbundes für das Deutschtum im Ausland,
und mit einem Geleitschreiben von Hans Grimm.