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[Bd. 2 S. 262]
Justus Möser, 1720 - 1794, von Werner Pleister

Justus Möserå.
[272a]      Justus Möser.
Gemälde von Ernst Gottlob, um 1775.
Aus dem Freundschaftstempel
im Gleimhaus zu Halberstadt.

[Bildquelle: Theodor Müller, Königsberg.]
Dem Reisenden, der die Verbindung zwischen Berlin und Holland sucht, öffnet sich hinter Minden eine schönheitsreiche, satte Landschaft. Er durchfährt die Porta Westfalica, und sein Blick findet in dem Tal zwischen dem Teutoburger Wald und dem Wiehengebirge Wälder, Wiesen, Höfe und Dörfer in mannigfaltiger Abwechselung. Einsam liegen Bauernsitze, überschattet von mächtigen Eichen. An ihrem Gipfel ragen die Irminsule oder die gekreuzten Pferdeköpfe, uraltes germanisches Brauchtum, das in der Gegenwart noch seinen Platz behauptet. Vom Teutoburger Wald her schimmert das Denkmal Hermanns des Befreiers. Hier wurden die Römer geschlagen. Kundige Gelehrte bemühen sich seit Jahrhunderten, das Schlachtfeld zu finden. Man sucht es bei Detmold, ebenso in der Nähe Osnabrücks, oder in den Wäldern von Tecklenburg. Vom Wiehengebirge grüßt hinter Melle eine Burgruine, die Diederichsburg. Von hier holte sich Heinrich I. seine Frau. Sie war ein Nachkomme Wittekinds, dessen Heimat der Zug durcheilt. In Enger liegt der Sachsenherzog begraben, nahe bei Osnabrück wird noch heute im Nettetal die "Wittekinds-Burg" gezeigt, mag auch die Wissenschaft die Erdwälle auf der Höhe des dichten Buchenwaldes anders deuten. Überall in dieser Landschaft sind Hünengräber verstreut, die mit dem Stammesherzog in Verbindung gebracht werden. In einem sucht der Volksglaube heute noch seinen in einem goldenen, silbernen und eisernen Sarg geborgenen Leib, ein anderer Grabstein ist durch Karl den Großen mit der Reitpeitsche gespalten, als er dem zweifelnden Wittekind die Macht des Christengottes zeigen wollte. Schwere große Menschen wohnen in dieser Gegend. Sie lassen sich an Treue nicht übertreffen. Auf der Burg Iburg besehen sich die Bauern noch heute das Gewand des Bischofs Benno von Osnabrück, der Heinrich IV. auf dem mühsamen schweren Alpenübergang nach Canossa begleitete.

"Aber bei euch in Westphalen ist das ein Wust von runden ehrlichen Leuten, die man ohne Schaden nach dem Gewicht verkaufen könnte; man erstickt bei eurer vielen Gesundheit, und eure sogenannten Damen haben eine Physiognomie, wobei einem angst und bange werden sollte, wenn sie nicht zum Glück für uns vernünftig wären. Sie haben nichts von dem sanften Gelispel, nichts von der zärtlichen Mattigkeit, nichts von der zitternden Empfindsamkeit, und überhaupt nichts von der unaussprechlich Morbidezza, welche die geringste Bürgerin in Paris sich, so oft sie will, zu geben weiß.... Ich begreife gar nicht, wie es sich in einem solchen Lande leben läßt, [263] wo die Leute nichts thun, als arbeiten, essen, schlafen und sich wohl befinden; wo man keinen König zu bedauern, keinen Minister zu verfluchen, keine Gräfin zu kreuzigen, keine Commis zu spießen, keine Verordnung zu stoppen, keine Freunde zu stürzen, keine Großen zu hassen, keine Parteien zu erheben und keine Krankheiten zu erzählen hat; wo es keine Männer zu betrügen, keine Weiber zu verführen, keine Tugend zu kaufen oder zu verkaufen, keine Patrioten zu erhandeln und keine Betrüger zu verehren gibt; kurz, wo die Übertretung aller zehn Gebote Gottes einem so wenig Ansehen als Vergnügen gibt."

So läßt im achtzehnten Jahrhundert ein Schriftsteller die Bewohner dieser Gegend schildern. Das sind die Bauern des Osnabrücker Landes, wie sie heute noch auf ihren Höfen sitzen. Der sie im Zeitalter der Aufklärung schon so in ihrem eigenen Wert erkannte, ihre Gewohnheiten erforschte, ihre Tradition und ihre Ehre als Muster der Zeit hinzustellen wagte, ist Justus Möser, aus dessen Beiträgen zu den Osnabrücker Intelligenz-Blättern die eben angeführten Zitate stammen. Diese Zeitungsaufsätze erlangten schon zu ihrer Zeit eine große Berühmtheit. Sie wurden gesammelt herausgegeben unter dem Titel Patriotische Phantasien, und mancher Gebildete der Gegenwart erinnert sich ihres Verfassers als eines Mannes, dem der Geruch des Bodens anhaftet, der im Rufe eines Patriarchen der Stadt Osnabrück steht, der einen Entwurf zur Neugestaltung der deutschen Geschichte vorlegte, und der – doch das wissen schon nur noch wenige – es zu seiner Zeit wagen durfte, die deutsche Sprache und Dichtung gegen Friedrich den Großen in einer Schrift zu verteidigen, die von den Zeitgenossen als die beste Antwort gegen einen falschen Angriff gewertet wurde und heute noch so gelten darf.

So wird Mösers Name seit dem Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts immer wieder genannt, wenn von Volkstum, von deutscher Geschichte, von Würde und Ehre des Staates gesprochen wird; von niemandem klingender und treffender als von Goethe, der in "Dichtung und Wahrheit" von dem Eindruck dieser kleinen Zeitungsaufsätze auf seine Entwicklung folgendes Zeugnis ablegt: "Mißfiel es nun dem jungen Autor keineswegs als ein literarisches Meteor angestaunt zu werden, so suchte er mit freudiger Bescheidenheit den bewährtesten Männern des Vaterlands seine Achtung zu bezeigen, unter denen vor allen andern der herrliche Justus Möser zu nennen ist. Dieses unvergleichlichen Mannes kleine Aufsätze staatsbürgerlichen Inhalts waren schon seit einigen Jahren in den Osnabrücker Intelligenzblättern abgedruckt und mir durch Herder bekannt geworden, der nichts ablehnte, was irgend würdig zu seiner Zeit, besonders aber im Druck sich hervortat. Mösers Tochter, Frau von Voigts, war beschäftigt, diese zerstreuten Blätter zu sammeln. Wir konnten die Herausgabe kaum erwarten. Und ich setzte mich mit ihr in Verbindung, um mit aufrichtiger Teilnahme zu versichern, daß die für einen bestimmten Kreis berechneten wirksamen Aufsätze, sowohl der Materie als der Form nach, überall zum Nutzen und Frommen dienen würden." Die längere Schilderung der Möserschen Arbeit schließt mit folgendem Ausblick: "Ein [264] solcher Mann imponierte uns unendlich und hatte den größten Einfluß auf eine Jugend, die auch etwas Tüchtiges wollte und im Begriff stand, es zu erfassen. In die Formen seines Vortrages glaubten wir uns wohlauf finden zu können; aber wer durfte hoffen, sich eines so reichen Gehalts zu bemächtigen und die widerspenstigen Gegenstände mit so viel Freiheit zu handhaben?" Das schmale Bändchen dieser berühmten Aufsätze wurde für Goethe von entscheidender Bedeutung. Bei der ersten Unterhaltung, die er mit dem jungen Herzog von Weimar hatte, lagen die Patriotischen Phantasien auf dem Tisch. "Frisch geheftet, unaufgeschnitten. Da ich sie nun sehr gut, die Gesellschaft sie aber wenig kannte, so hatte ich den Vorteil, davon eine ausführliche Relation liefern zu können, und hier fand sich der schicklichste Anlaß zu einem Gespräch mit einem jungen Fürsten, der den besten Willen und den besten Vorsatz hatte, an seiner Stelle entschieden Gutes zu hören."

Keine Begebenheit mag besser die praktische Wirkung des Osnabrücker Staatsmannes zeigen, der in seinem Leben nur selten die Grenzen seines kleinen Vaterlandes, das viereinhalb Meilen im Geviert betrug, überschritten hat. Dieser Mann hat wahrlich den Besten seiner Zeit genug getan. Hamann und Herder , Lessing – es hieße alle bedeutenden Männer des achtzehnten Jahrhunderts in Deutschland aufzählen – wollte man alle nennen, die ihm Bewunderung und Dank zollten. Seine Wirkung auf die Nachfolger ist bis heute unablässig. Varnhagen von Ense bezeugt ihm nach den Freiheitskriegen, "daß seit der Befreiung von der Fremdherrschaft im deutschen Staats- und Volksleben nichts Wichtiges vorgegangen, wobei nicht die Ideen Mösers mit tätig gewesen, ja sich als ausgesprochene Richtungen mehr oder minder geltend gemacht hätten". Die neue Geschichtsschreibung verehrt ihn als den ersten Künder einer wirklichen Volksgeschichte, die in der Vergangenheit die Voraussetzung der Gegenwart sieht. Roscher sah in ihm den Vater der historischen Rechtsschule. Dilthey nannte ihn den Begründer der modernen Nationalökonomie. Savigny pries ihn, daß er "mit großartigem Sinn überall die Geschichte zu deuten suchte". Lujo Brentano würdigte ihn noch 1897 als den Vater der preußischen Agrarreform. Im achtzehnten Jahrhundert steht sein Name auf einem der ehrwürdigsten Bücher der Geschichte des deutschen Geistes: Die Schrift Von deutscher Art und Kunst, mit der 1773 von Straßburg aus die "Deutsche Bewegung" eingeleitet wurde, enthielt neben Goethes Aufsatz über den Meister des Straßburger Münsters und Herders Abhandlung über das Volkslied Mösers Einleitung zur Osnabrückischen Geschichte.

Dieser außerordentliche Mann ist nicht denkbar ohne seine Heimat, ohne ihre Einrichtung, Menschen und Gebräuche. Er war kein Bücherschreiber, kein Theoretiker, kein Räsonneur. In allem anders als seine Bewunderer und schreibenden Zeitgenossen. Er schrieb ungern, begann seine Entwürfe zwanzigmal, wendete den zu behandelnden Gegenstand hin und her, betrachtete ihn nach Advokatenweise von verschiedenen Seiten. Alle seine Forschungen erfolgten nach den Bedürfnissen [265] der Praxis. Er füllte den Beruf eines Advokaten und Regierungsvertreters mit ganz neuem Leben. Er forschte in der Vergangenheit, um die Gegenwart zu verstehen. Er faßte das lebendige Leben und suchte ihm sein Recht zu geben. Er vermied abstrakte, starre Formen und suchte das Besondere jedes überlieferten Brauches oder jeder bestehenden Rechtsgewohnheit. Er sah – wie es der junge Goethe vom neuen historischen Sinn sagt – "Vergangenheit und Gegenwart in eins". An die Stelle des Schemas, der verstandesmäßigen Konstruktion wagte er das Leben, das tief gefühlte Geheimnis zu setzen. Er findet, daß es "ein so gar übler Tausch nicht sei, wenn man ein Stück Herz statt Hirns von der Natur erhalten hat" (in einem bisher unveröffentlichten Brief an Sophie La Roche). Hier liegt seine große Bedeutung für das achtzehnte Jahrhundert, daß er der wahren Stimme des Herzens wieder Ausdruck gab. Für die mitreißende, fast umstürzlerische Genialität des Sturmes und Dranges war er zu früh geboren. Die Arbeit des Tages und eine nicht leicht erworbene Selbstbeherrschung und Pflichtbejahung ließen ihn zurückhaltend sein. "Die jungen Genies wissen die gemeinsten Sachen nicht anzugreifen. Sie sind allumfassend und allzugewaltig, besitzen Horn- und Stoßkraft, wollen die Natur gebären helfen und können kein Protokoll fassen." So stand er vermittelnd zwischen zwei großen Bewegungen. Er überwand die Aufklärung und gab die Kraft des Herzens, der Tradition und der Ehre einer jüngeren Generation weiter. Goethe bekannte von dem alten Möser, der das deutsche Volk vor der Welt in der Verteidigungsschrift gegen Friedrich den Großen pries: "Er hat uns doch eigentlich in dieses Land gelockt und uns weitere Gegenden mit dem Finger gezeigt, als zu durchstreifen erlaubt werden wollte." Es war kein einfacher und gerader Weg, den der Osnabrücker Staatsmann, Journalist und Historiker gehen mußte, um diese geistige Befreiung für sich und den deutschen Geist zu vollbringen.

Mösers Geburtshaus.
[265]      Mösers Geburtshaus am Marktplatz von Osnabrück.
[Bildquelle: Grete Schmedes, Berlin.]
Das Haus, in dem Justus Möser am 14. Dezember 1720 geboren wurde, liegt am Markte der alten Hansestadt Osnabrück. Es wird überragt von den schlanken gotischen Türmen der evangelischen Marienkirche. Ihm schräg gegenüber liegt das [266] breite Rathaus, dessen Vorderfront geschmückt ist mit den Standbildern der deutschen Kaiser und Könige, die der Gründung Karls des Großen Rechte und Privilegien verliehen. Als Zeugnis der Wirksamkeit Karls überschatten die wuchtigen romanischen Türme des katholischen Doms den engen, von hohen Giebelhäusern umsäumten Markt. Hier trieb der Sohn des Kanzleidirektors und Konsistorialpräsidenten, der Enkel des Pastor primarius an St. Marien und des Bürgermeisters der Stadt seine ersten Spiele. Hier umfing ihn die Welt, die der Stadt ihre Gesetze gab. Von der dem Rathaus breit vorgelagerten Treppe war 1648 der Westfälische Friede verkündet worden, dessen Bestimmungen das Stift Osnabrück zu einem der eigentümlichsten Gemeinwesen der Zeit gemacht hatten. Über das Stift Osnabrück hatte keine Einigung erzielt werden können. Konfessionelle Gegensätze, ständische Privilegien, landesherrliche Befugnisse waren unvereinbar. So wurde eine Kompromißform gefunden, die Capitulatio perpetua: es sollte abwechselnd ein frei zu wählender katholischer Bischof und ein protestantischer Bischof aus dem braunschweig-lüneburgischen Hause regieren, wobei konfessionelle Toleranz vorausgesetzt wurde. Den Ständen wurden ihre Privilegien und Vorrechte garantiert. Dem Landesherrn direkt unterstand nur das landesfürstliche Beamtentum. Geistliche, Stände und Bürger, die den Hauptteil der Beamten und unzähligen Advokaten stellten, waren die widerstrebenden Gewalten dieser Regierungsform eines kleinen Bezirkes, der nach Mösers Schätzung 110 000 Seelen umfaßte. Hier mußte der Weizen der Advokaten blühen. Bei einer Einwohnerzahl von 6000 Menschen waren in der Stadt Osnabrück 33 Advokaten tätig.

Der Sohn des Kanzleidirektors des protestantischen Bischofs konnte auch nichts anderes werden als Jurist. Schon die kindlichen Spielereien zeigten Advokatenform. Die Schulbildung auf dem Gymnasium des Rates erzog zu eleganter Eloquenz, machte vertraut mit lateinischer und griechischer Klassik, führte ein in die Popularphilosophie des Aufklärers Wolff. Der Abiturient Möser verlas als Abschiedsrede ein großartiges Carmen heroicum, in dem er schwer losfuhr gegen die "große Masse von Büchern, durch die die literarische Welt bedrückt wird". Unter einer Last von Büchern ist der junge Student nicht erstickt. Er hörte in Jena Geschichte und Recht, machte sich seine eigenen Gedanken zur Lehrweise der Professoren, die am Nachmittag Geschichte lesen "in Hoffnung, die Annehmlichkeit des historischen Vortrags werde vermögend sein, den durch bereits getane Arbeit oder durch die genossenen Speisen einigermaßen unterdrückten Geist zu erwecken und aufzumuntern". Von der großen, in der Gegenwart wirkenden Macht der Geschichte konnte der junge Student von den Universitätsprofessoren seiner Zeit nichts erfahren.

Auch in Göttingen, das er nach den Jenenser Semestern besuchte, war es nicht besser. Er lernte die Reichshistorie in neun Perioden, nach den Regierungszeiten der Kaiser abgeteilt, mit besonderer Berücksichtigung der menschlich-absonderlichen Umstände und galanten Erlebnisse, Todesursachen und merkwürdiger sonstiger [267] privater Schicksale der historischen Personen. Nationale Lebenszusammenhänge fehlten. Deutschland war nur ein Name. Unzählige Kleinstaaten verzettelten die Kräfte des Imperiums, das repräsentiert wurde durch die sich ständig häufenden, verstaubten Aktenberge des Reichskammergerichts in Wetzlar und die endlosen Diskussionen des Reichstages zu Regensburg. Wie ein Blitz zuckte in diese räsonnierende Langeweile der Staaten die Tat des jungen Preußenkönigs, der einen Krieg zur Vertretung seiner Rechte wagte und 1742 Österreich seine Forderungen durch die Tat abverlangen konnte. Sofort entzündet sich das Herz des jungen Rechtsstudenten Justus Möser aus dem Stift Osnabrück zu einer Ode zum Preise "der weisen und tapferen Regierung Seiner Königlichen Majestät in Preußen Friederichs". Es ist ein erstes Aufflammen der Verehrung historischer Größe des Königs, dem der alte Möser am Schlusse seines Lebens wieder die Hand hinreichen sollte in einer gemeinsamen deutschen Verbundenheit. Der Student mußte allerdings, bevor er diese eigenen Wege fand, noch lange im Irrgarten der spielerisch-tändelnden Gesellschaftsdichtung der Zeit umherirren. Denn so sehr er auf das juristische Berufsziel, dauernd ermahnt durch den besorgten Vater, ausgerichtet sein mochte, seine Neigung gehörte der Dichtung. Und noch lange nachdem er in Osnabrück in die Zahl der Advokaten aufgenommen und zum Sekretär der Ritterschaft bestellt worden war, klagte er über die Berufsfesseln, die ihn am Dichten hinderten. Er wollte zu den Dichtern à la mode gehören und gab ein Wochenblatt im Stile der eleganten Welt heraus: "Versuch einiger Gemählde von den Sitten unserer Zeit." Seine Absicht: "dieses angenehme Betragen (das der Franzose ein gewisses ich weiß nicht was – nennt), möchten wir auch gern in unsere Gesellschaft einführen. Wir wollen, daß ein jeder von Ihnen nach der Lesung unserer Blätter sich selbst schöner, lebhafter und vernünftiger vorkäme als vorher." Das stand noch weit ab von dem Lebenswerke des Mannes, dessen dreißig Jahre später veröffentlichte Aufsätze etwas ganz anderes erstrebten: "Jeder Landmann sollte sich hierin fühlen, sich heben und mit dem Gefühl seiner eigenen Würde auch einen hohen Grad von Patriotismus bekommen. Jeder Hofgesessener sollte glauben, die öffentlichen Anstalten würden auch seinem Urteil vorgelegt; der Staat gäbe auch ihm Rechenschaft von seinen Unternehmungen, und zu den Aufopferungen, die er von ihm fordere, würde auch seine Überzeugung erfordert." Der junge Advokat mußte erst die ganze Stufenleiter der Aufklärung durchmessen, um zu dieser Beschränkung auf das wirkliche Leben zu kommen, die seinen Gedanken allerdings die Vertiefung gab, die ewige Dauer gewährleistet.

Der elegante junge Schriftsteller versuchte sich zunächst weiter auf dem Umwege über die Dichtung, griff sich aber doch für ein Drama ein vaterländisches Thema, den Arminius, allerdings nur um zu versuchen, "die wahre Menschenliebe von einer gewissen Seite zu schildern". Gleichwohl rückten dabei dem werdenden Staatsmann Probleme des Verhältnisses von Politik und Moral in den Vordergrund, und den Historiker interessierte plötzlich das Leben der Vorfahren. Er hatte [268] in der Berufsarbeit seine Landsleute auf den Bauernhöfen kennengelernt und fand bei der Lektüre des Tacitus, daß sie sich seit der alten Zeit nicht so sehr geändert hatten. Er stellte unter diesem lebendigen Eindruck eine kämpferische These auf, mit der er die Meinung bekämpfte, "daß unsere Vorfahren solche Klötze gewesen, als man sich gemeiniglich bei dem ersten Anblick des Tacitus einzubilden pflegt". Er entwarf mit vielen Bemühungen, mit allgemein menschlichen Erwägungen, Deutung aufgefundener Münzen und Wahrscheinlichkeitsschlüssen ein Bild der damals schon hochstehenden germanischen Kultur und legte besonderen Wert darauf, nachzuweisen, daß sie der der Römer in keiner Weise nachstand. Diese Vorrede zu dem Drama "Arminius" ist wichtiger als das mühselig zusammengebaute Stück, das es allerdings zu einer Aufführung in Wien brachte. Möser hat sich später noch manchmal theatralisch versucht, aber mehr gelegentlich als mit ernstem dichterischem Aufwand. Zwei Komödien sind verlorengegangen. Wir werden ihren Verlust nicht zu bedauern haben. Am "Arminius" ist heute nur noch die Beobachtung wertvoll, wie schon bei diesem großangelegten dichterischen Versuch, eine rechte Tragödie zu schreiben, sich der Historiker, der Forscher, der Deuter der Vergangenheit und der Vorfahren vor den spekulativen Poeten drängte. Fast gleichzeitig mit dem Arminius-Drama verfaßte der junge Advokat denn auch verschiedene gelehrte Abhandlungen: einen historischen Versuch über die Religion der alten Germanen, eine Dissertatio de Theologia mystica et populari, verschiedene kleine historische Arbeiten mit Aktenveröffentlichungen, um dann zu zwei großen Abhandlungen auszuholen, in denen er entscheidende Ansätze zur Überwindung der Aufklärung fand. Einmal verteidigte er Luther gegen Voltaire, in der Methode noch aufklärerisch, aber doch schon mit einem Gefühl für die Bedeutung der lutherischen Sprache und Persönlichkeit, und zum andern wagte er eine große Auseinandersetzung mit Rousseau, die in dem aus historischer Überlegung und inzwischen mehr und mehr gewachsener Ehrfurcht vor dem Irrationalen wurzelnden Ausruf gipfelte: "O, mein wertester Herr Vikar! Glauben Sie gewiß, Ihre natürliche Religion ist gut, aber sie ist nicht hinlänglich."

Mit diesem Schreiben hatte er seinen historischen Blick gefunden. Er sah das, was ist, nicht das, was sein sollte. Und das, was ist, muß Sinn haben. Er wußte, daß es möglich ist, ihn theoretisch zu widerlegen. Aber ebenso fest stand ihm, daß nach Praxis und Erfahrung das Recht auf seiner Seite ist. Er benutzte die philosophischen Systeme der Zeit, die er genau kannte, nur noch, um seine Erfahrungen zu verdeutlichen, nicht, um nach ihnen die Welt zurechtzubiegen. Es ist die Haltung, die ihn von Karl dem Großen sagen ließ: "Ob seine Unternehmungen gerecht oder ungerecht gewesen, ist nach dem Siege eine vergebliche Untersuchung. Glück und Größe überheben ihn einer gemeinen Rechenschaft." Dieser Satz steht in der Osnabrückischen Geschichte, an der er inzwischen zu arbeiten begonnen hatte.

Neben den schriftstellerischen und gelehrten Arbeiten hatte der Sekretär der Ritterschaft seinen Beruf keineswegs versäumt. Schon 1747 wurde ihm die Stelle [269] eines Advocatus patriae übertragen. Man hat später aus diesem Namen eine Ehrenbezeichnung machen wollen. Aber er bedeutete nichts anderes als den Auftrag, zusammen mit zwei katholischen Advokaten die Prozesse des Staates zu führen. Als Sekretär der Ritterschaft übernahm Möser die Vertretung der ständischen Rechte. 1762 erhielt er noch eine juristische Aufgabe, er wurde Kriminaljustitiar beim Kriminalgericht. Ein Jahr vorher war der katholische Bischof Clemens August verstorben. Eine Neuwahl verzog sich während der Wirren des Siebenjährigen Krieges, der Osnabrück zum Heerlager der verschiedenen Parteien machte. Statt des Domkapitels, das gesetzliche Regierungsansprüche während dieser Zeit hatte, übernahm Georg III. von England die Regierungsgewalt und behielt sie bei, als 1764 sein unmündiger zweiter Sohn zum Bischof von Osnabrück gewählt wurde. Die Regierung wurde zwei hannoverschen Räten übertragen, denen Möser als Konsulent zugeteilt war, bis er 1768 offiziell zum Regierungsreferendarius ernannt wurde. Er hatte den Auftrag, der Regierung über alle Vorgänge Bericht zu erstatten. Damit war er der eigentlich maßgebende Mann des Stiftes und blieb es bis an sein Lebensende. Er diente also eigentlich gleichzeitig mehreren Herren. Es war seine Aufgabe, zu vermitteln, Recht zu suchen, wo er es finden konnte, hin und her zu rücken, um aus Mißverhältnissen Ordnung zu machen, um Entscheidungen zu treffen, wo dem Gegner mit Verzögerung gedient war, ein Beruf, der alle Gefahren der Unentschiedenheit, diplomatischen Verschlagenheit und Verfeindung in sich barg. Möser löste diese Schwierigkeiten beispielhaft. Er konnte am Schlusse seines Lebens von sich selbst aus schreiben: "Ich kann mit Wahrheit sagen, daß mich in den fünfzig Jahren vieles erfreuet, wenig betrübt und nichts gekränkt habe, ungeachtet ich in sehr besonderen Verhältnissen stehe, indem ich Herren und Ständen zugleich diene, für diese die Beschwerden und für jene die Resolutionen angebe, et sic vice versa. Aber was kann man nicht, wenn man ein langjähriges Vertrauen für sich hat? Am Ende ist doch für Kläger und Beklagte der liebe Friede das Beste, und zu diesem Zwecke kann man wohl mehreren Herren zugleich dienen."

Aus dieser Äußerung darf nicht geschlossen werden, man habe es hier mit einem Kompromißler oder Paktierer zu tun. Die verschiedenen gegeneinander kämpfenden Gewalten des politischen Bezirks, in dem Möser tätig sein mußte, sind gekennzeichnet. Ein einheitliches Recht gab es nicht. Zumal den ländlichen Schwierigkeiten, der Regelung des bäuerlichen Besitzes, Erbfolge, Mitgift, Sterbeversorgung war das bestehende formale Recht, am wenigsten das römische Recht gewachsen. Hier hieß es zurückgehen auf bestehende Gewohnheiten, auf verliehene Privilegien, ja auf mündliche Überlieferung. Es galt, ein lebendiges Recht da zu schaffen, wo das tote Recht offensichtlich falsch und unzureichend blieb. Was sollten die Bauern in dieser Lage tun? "Mit Betrübnis sah ich es an, wie die armen Leute, wenn sie in einen Rechtshandel verwickelt wurden, in der Stadt umherirrten und einen guten Rat suchten." Hier entfaltete sich Justus Mösers [270] reiche Menschlichkeit zu farbiger Mannigfaltigkeit. Er lernte das Volk kennen, und nun war er bemüht, daß das Volk auch die Regierung kennenlernte, daß es sich einem Gemeinwesen zugehörig fühle und wisse, welche Verantwortung in den staatlichen Entscheidungen liege.

Justus Möser.
Justus Möser.
Mezzotint von Johann Huck.
[Bildarchiv Scriptorium.]
Der Advokat wurde zum Journalisten. Er gründete eine neue Zeitung, diesmal aber nicht für die elegante oder gelehrte Welt, sondern eben für das Volk: die wöchentlichen Osnabrückischen Intelligenzblätter, die später den Namen "Westphälische Beiträge zum Nutzen und Vergnügen" erhielten. Hier schrieb er wöchentlich den Leitartikel, unendlich wechselnd in der Form, als Erzählung, als Dialog, als Gutachten, als Briefwechsel, immer nur um das eine bemüht, dem Volke verständlich zu sein und das Volk in seinem Eigenleben und seinen Sonderrechten, seiner Erfahrung und seiner Tradition verständlich zu machen. Die Sammlung dieser Aufsätze, herausgegeben unter dem Titel Patriotische Phantasien, darf als eines der wichtigsten Bücher des achtzehnten Jahrhunderts gewertet werden. Es ist schwer, einen nur einigermaßen erschöpfenden Überblick zu geben über den Reichtum an praktischer Lebensweisheit, Volkskenntnis, politischer Erziehung und historischer Deutung, die hier in einer so lebendigen Sprache gegeben wird, daß man an manchen Stellen denken könnte, das sei unmittelbar für den heutigen Tag, ja direkt als Antwort auf heute brennende Probleme geschrieben. Einige Überschriften: "Reicher Leute Kinder sollen ein Handwerk lernen", "Klagen eines Mannes über den Putz seiner Frau", "Gedanken über die Mittel, den übermäßigen Schulden der Unterthanen zu wehren", "Trostgründe bei zunehmendem Mangel des Geldes", "Johann konnte nicht leben. Eine alltägliche Geschichte", "Schreiben eines westphälischen Schulmeisters über die Bevölkerung seines Vaterlandes", "Schreiben einer Frau an ihren Mann im Zuchthause", "Von der Neigung der Menschen, eher das Böse als das Gute von anderen zu glauben", "Sie tanzte gut und kochte schlecht", "Über die zu unseren Zeiten verminderte Schande der Huren und Hurkinder", "Unterschied zwischen der Ehre in großen und kleinen Städten", "Es ist allzeit sicherer, Original als Kopie zu sein", "Sollte nicht in jedem Staate ein obrigkeitlich angesetzter Gewissensrath sein?", "Über die Feierstunde der Handwerker", "Vom Hüten der Schweine", "Ein westphälisches Minnelied", "Was ist die Liebe zum Vaterlande?", "Der Wirt muß vorauf! Von einer Landwirthin", "Große Herren dürfen keine Freunde haben wie andere Menschen". Man könnte die Aufstellung unendlich fortsetzen. Hier ist ein Meister der Journalistik am Werk gewesen, dessen Artikel nach Form und Inhalt beispielgebend sind und die nicht zu kennen auch heute noch für jeden Pressevertreter ein empfindlicher Nachteil ist. Aber darüber hinaus sind Mösers Gedanken wichtig für den Historiker, den Germanisten, für jeden, der sich um die Entwicklung und die Gestalt des deutschen Volkstums bemüht.

Es ist schwierig, aus diesen vielfältig verstreuten Aufsätzen ein Grundsystem Möserscher Lehre abzuleiten. Die große Zahl der verschiedenartigsten Abhandlungen [271] über Mösers Verhältnis zu Staat, Wirtschaft, Recht, Geschichte, Volkstum, Pädagogik, Dichtung, zu Goethe, Lessing, Herder zeigen ein vielfältiges Bemühen. Es kam Möser aber selbst nicht so sehr darauf an, eine Doktrin zu entwickeln. Man kann ihm kein System unterschieben. Deutlich und überall gleich ist nur die Haltung, aus der heraus er schrieb und die ihn weit abrückt von dem verstandesmäßigen Räsonnement des achtzehnten Jahrhunderts. In der Sprache des Herzens verteidigte er überall das Recht der Überlieferung, der Erfahrung, des lebendigen Eindrucks. Er schrieb aus praktischer Einsicht, die er erworben hatte in politischen Verhandlungen mit Vertretern aller Stände, in menschlicher Verbindung mit den Bauern und Bürgern des Osnabrücker Landes, auf einer ihn stark beeindruckenden Reise nach England. "Indem der Deutsche schreiben muß, um Professor zu werden, geht der Engländer zur See, um Erfahrungen zu sammeln." "Warum ich den praktischen Unterricht dem wissenschaftlichen vorziehe? Der wissenschaftliche Unterricht ist viel zu langsam; er läßt uns dasjenige nur stückweise erfahren, was wir im praktischen Unterricht auf einmal und im ganzen Zusammenhang erfassen." "So ist überall, wo die Gesetzgebung auf Erfahrung gebaut wird, Freude und Arbeit vermischt, und die eine dient der anderen mit mächtiger Hand."

In zahllosen Beispielen belegte Möser diese Behauptungen. Er handelte als praktischer Politiker, und während seiner Bemühungen um die Erkenntnis dieser Erfahrungen, ihrer Grundlagen, ihrer Wurzeln fand er plötzlich den Weg zu der Geschichte seines Volkes. Er beseitigte den Trennungsstrich, den die Aufklärung zwischen sich und der vorangehenden Geschichte gezogen hatte. Er sah plötzlich das Mittelalter nicht mehr als eine dunkle Brutstätte entsetzlicher Barbarei. Er hatte schon in seinen früheren Jahren mittelalterliche Poesie gesammelt und Schritte zur Herausgabe mittelhochdeutscher Lyrik unternommen, deren Handschriften in seinem Besitze waren. Nun lernte er auch die politische Größe dieser Zeit erkennen und ihre wirkende Bedeutung für die Gegenwart, in der er lebte. Er begriff, daß die neuen Zeiten "durchaus das Licht der alten nötig hätten". Er merkte die Unzulänglichkeit der bisherigen Geschichtsauffassung, wurde über diesen Überlegungen zum Geschichtstheoretiker, entwarf einen neuen Plan zu einer deutschen Geschichte und begann auf Reisen während des Siebenjährigen Krieges im Wagen mit den Skizzen zu einer "Geschichte des Osnabrücker Landes".

"Die Geschichte von Deutschland hat meines Ermessens eine ganz neue Wendung zu hoffen, wenn wir die gemeinen Landeigenthümer als die wahren Bestandteile der Nation durch ihre Veränderungen verfolgen, aus ihnen den Körper bilden und die großen und kleinen Bedienten dieser Nation als böse oder gute Zufälle des Körpers betrachten. Wir können sodann den Ursprung, den Fortgang und das unterschiedliche Verhältnis des Nationalcharakters unter allen Veränderungen mit weit mehrerer Ordnung und Deutlichkeit entwickeln, als wenn wir bloß das Leben und die Bemühungen der Ärzte beschreiben, ohne des kranken Körpers zu gedenken."

[272] Nun teilt er die Entwicklung des deutschen Volkskörpers nach der Entwicklung der Freiheit ein. Er gab vier Epochen. Die erste, ihm die "güldene", ist die, wo jeder Ackerhof einen Eigentümer hatte, "wo nichts als hohe und gemeine Ehre in der Nation bekannt war". In der zweiten Periode werden die Gemeinden den Geistlichen, Bedienten und Reichsvögten aufgeopfert. In der dritten Periode verschwindet die gemeine Ehre völlig. Der ganze Reichsboden verwandelt sich in Lehn-, Zins- und Bauerngut, so wie es dem Reichsoberhaupte und seinen Dienstleuten gefällt. "Alle Ehre ist im Dienst... die Ehre verlor sogleich ihren äußerlichen Werth, sobald der Geldreichtum das Landeigentum überwog. Die vierte Periode hat dann schließlich die glückliche Landeshoheit oder vielmehr ihre Vollkommenheit entwickelt." Der tragende Grund der deutschen Geschichte, der eigentliche Geist der deutschen Verfassung, ist aber die "gemeine Ehre". Ihr Verlust schien Möser unersetzbar, und es gibt keine heftigere Kritik seiner Zeit als diese, mit der er die Klagen über das Schwinden der Ehre beschloß: "Religion und Wissenschaft hoben immer mehr den Menschen über den Bürger; die Rechte der Menschheit siegten über alle bedungene und verglichene Rechte. Eine bequeme Philosophie unterstützte die Folgerungen aus allgemeinen Grundsätzen besser als diejenigen, welche nicht ohne Gewährsamkeit und Einsicht gemacht werden konnten. Und die Menschenliebe ward mit Hülfe der christlichen Religion eine Tugend, gleich der Bürgerliebe, dergestalt, daß es wenig fehlte, oder die Reichsgesetze selbst hätten die ehrlosesten Leute aus christlicher Liebe ehrenhaft und zunftfähig erklärt."

Diese Einleitung zu einer Lokalgeschichte, die in ihrem Gedankenreichtum die gesamtdeutsche Geschichtsschreibung entscheidend zu beeinflussen vermochte, wurde der breiteren deutschen Öffentlichkeit 1773 in dem Büchlein Von deutscher Art und Kunst vorgelegt und übte schon auf die Zeitgenossen einen mächtigen Einfluß aus. Es besagt demgegenüber wenig, daß ihr Verfasser selbst nicht Zeit und Kraft fand, diesen großartigen Plan zu verwirklichen, und daß auch seine Osnabrückische Geschichte bis auf einzelne Ansätze noch ganz in der alten, von ihm angegriffenen Weise steckenblieb. Es war für den Stand der historischen Wissenschaft von größter Bedeutung, daß die Forderung nach einer einheitlichen Darstellung der Geschichte überhaupt erst einmal aufgestellt wurde und die Möglichkeit erschien, die Geschichte des Volkes in nationaler Wendung anzusehen. Als die vornehmste Regel für den Geschichtsschreiber bezeichnete Möser in einem unveröffentlichten Brief an seinen jungen Freund, den Professor Thomas Abbt: "Die Kunst, einer Reihe von tausendjährigen Geschichten jene glückliche Einheit zu geben, welche von so mächtiger Wirkung auf die Erzählung und den Stil ist und bisher nur noch von Griechen und Römern blos bei einzelnen Kriegen und zusammenhängenden Begebenheiten gebraucht worden. Die Kunst, den Staat zu personifizieren und sein Verhalten in den mancherlei Krankheiten zu zeigen, ist noch nicht bekanndt, und muß sehr schwer seyn, ob wir schon, wenn wir die Geschichte eines Reichs von tausend [273] Jahren aus der Ferne betrachten, die Möglichkeit vollkommen einsehen."

Immer wieder zeigen diese erst jetzt bekanntgewordenen Briefe an Abbt, wie deutlich Möser sich der Neuheit seiner Geschichtsauffassung bewußt war. "Kurz, ich werfe Historie, Geographie und jus publicum über den Haufen. Ist das nicht eine verfluchte Verwegenheit von einem Oßnabrücker?" Und dann formulierte er noch einmal seine Forderungen: "Ich verlange die Geschichte des Volkes und seiner Regierungsform; und sehe den Regenten als einen zufälligen Umstand an, der blos insofern wesentlich wird, als er einigen Stoff zur Veränderung in diesem oder jenem giebt. Insofern spielt er also seine Rolle in der Erzählung; im übrigen ist er nur ein Meilenzeiger, der an der Seite der Heerstraße stehen muß. Sie werden viel Raum gewinnen und mächtig seyn können, wenn Sie solchergestalt tableaux historiques des périodes geben; und dann die Meilenzeiger nachschleppen."

Die Geschichte des Volkes forderte dieser mutige Kritiker der bisherigen geschichtlichen Leitfäden. Dieses Volk sah er nicht als eine beliebig zusammengelaufene Herde, die durch den contrat social die Formen ihres Zusammenlebens verstandesmäßig regelte. Er faßte zwar den Menschen nie als Einzelwesen, sondern nur in seinen volklichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen. Aber er bedeutete ihm für den Staat nichts ohne den ihm eigenen Boden. Der Grundbesitz ist die tragende Grundlage des Staates. Persönlicher willkürlicher Verfügung ist dieser Besitz entzogen. Das Land gehört dem Staat. Möser verglich ihn mit einer Handelskompanie. Der Bauernhof wird als eine Aktie betrachtet. Ihr Besitzer ist vollwertiges Mitglied des Staates. Er ist verpflichtet, seinen Besitz so zu verwalten, daß er dem Staate Nutzen einbringt. Er hat erhöhte Pflichten auf Grund seines sachlichen Besitzes. Ein Knecht ist nichts anderes als ein Mensch im Staate ohne Aktie. Der Dienst im Staate und die sich daraus ergebende Stellung des einzelnen erfolgt nach sachlicher Wertung der Aktie, des verwalteten, vom Staate in Erbpacht genommenen Grundbesitzes. Menschenliebe und Religion haben hier keine Bedeutung. Es ist nicht angängig, den Aktionisten oder Bürger mit dem Menschen oder Christen zu verwechseln. An die Stelle des Personenrechtes muß das Sachenrecht treten; und die Sache ist vorzustellen unter dem Begriff der Aktie, des Besitzes. Hier wird der Begriff der Nation ganz neu geformt. Er wird Leben, und in der Kritik einer aufklärerischen Schrift über den deutschen Nationalgeist zeigte Möser deutlich diese neue, auf Tatsachen gegründete Anschauung: "Allein am Hofe lebt nicht der Patriot, sondern der gedungene Gelehrte, der sich schmiegende Bediente und der Chamäleon, welcher alle Zeit die Farbe annimmt, welche ihm untergelegt wird." An den Höfen, in den Städten fand Möser den Nationalgeist nicht. Wieder schilderte er bei diesem Anlaß das "güldene" Zeitalter. "Die Zeit, wo jeder Franke und Sachse paterna rura (d. i. sein allodiales, freies, von keinem Lehens- oder Gutsherrn abhängendes Erbgut) baute und in eigener Person verteidigte, wo er von seinem Hofe zur gemeinsamen Landesversammlung kam, und der Mensch, der keinen solchen Hof [274] besaß, wenn er auch der reichste Krämer gewesen wäre, zur Klasse der armen und ungeehrten Leute gehörte, diese Zeit war imstande, uns eine Nation zu zeigen."

Die abstrakte Theorie des beziehungslosen Sozialkontraktes, die das staatliche und historische Denken des achtzehnten Jahrhunderts beherrschte, ist mit dieser unerbittlichen Bindung an die sachlichen Werte des Bodenbesitzes überwunden. Möser stellte zwar auch noch die Theorie auf, aber er verdoppelte sie. Er setzte zwei Sozialkontrakte ein. Einen, den die ersten Eroberer unter sich schlossen, und einen anderen, den diese ihren Nachgeborenen oder den späteren Ankömmlingen zugestanden haben. Diese Theorie benutzte er aber nur dazu, um die Lehre vom gleichen Recht aller Menschen zu widerlegen. Er bezeichnete es als Erbschleichung, wenn die Minderberechtigten durch Mehrheitsbeschluß die festgelegten Bestimmungen ändern und sich als gleichen Menschen gleiche Rechte mit denen, die den ersten Kontrakt als Eroberer und Besitzer geschlossen haben, beilegen würden. Man sieht deutlich, wie die Erkenntnis der realen Tatsachen seines Berufes, der geschichtlichen Voraussetzung der Lage seiner Mandanten, der Besitzer der Höfe, der Inhaber von Privilegien, der von staatsrechtlichen Verträgen abhängigen Bürger alle Theorien vertrieb, wie ihm unter den Verträgen, Gutachten, Verteidigung und Angriff schreibenden Händen das historische Material zuwuchs, und wie er erkennen lernte, daß Handeln und Denken nicht auseinanderklaffen, sondern daß eines das andere bedingt. Er wurde dabei keineswegs zum bindungslosen Realpolitiker, der sich je nach Sachlage der Dinge umstellen könnte. Er sah zwar die Dinge immer wieder von neuem an. Aber er sah sie nicht nach den Bedürfnissen des Tages und der Stunde, sondern in ihrem historischen Zusammenhang: "Er ringt bis zuletzt mit der naturrechtlichen Theorie auch des Sozialkontrakts. Seine eigene Fassung der Lehre vom Sozialkontrakt dient Möser als wirksame Waffe eben gegen den Geist der mit dem rein persönlichen Sozialkontrakt arbeitenden Demokratie der Französischen Revolution. Allein das Ergebnis dieses Ringens ist nicht eine Vergewaltigung des Historischen durch die Logik eigener Gedanken, sondern in zunehmendem Maße eine andächtige Hingabe an das Wirkliche, um aus ihm das Vernünftige zu lernen. Und eben dieses bedeutet den großen Schritt aus dem herrischen Übermut der Aufklärung zu der wissenschaftlichen Demut der historischen Schule" (Brandt).

Diese Demut vor der Macht der Geschichte vermittelte ihm die Beurteilungsmöglichkeit historischer Werte. Er sah die Entwicklung des Volkes mit kritischen Augen. Er stellte nicht nur fest, er ordnete, tadelte und förderte. Der Geheime Regierungsreferendar des Hochstifts Osnabrück beschränkte sich nicht auf die Politik seines Vaterländchens. Er hatte in England gesehen, was Nationalcharakter ist. Er hatte etwas von der politischen Größe eines Volkes gespürt. Hier fand er den Gedanken der Freiheit des einzelnen, den er im Gegensatz zum Despotismus sah, besonders entwickelt. Er bemerkte aber auch, daß die Engländer alle staatlich dachten, daß jeder von ihnen zuerst das große Ganze bedachte und das "allgemeine Wohl zu seiner Privatangelegenheit machte". Er sah hier alle [275] Poesie, alle Kunst auf den Staat bezogen und das Leben des Volkes durch "große Bewegungsgründe" gestärkt und gefördert. Im Gegensatz dazu fand er die deutsche nationale Entwicklung immer wieder gehemmt. Er behauptete sogar, daß zu allen Zeiten gegen den deutschen Nationalgeist ein "feindseliges Genie" gestritten habe. Wäre die Territorialhoheit nicht gegen die Vereinigung der Städte oder Gemeinwesen zu Handlungskompanien eingetreten – er griff in diesem Zusammenhang Karl den Großen an, dessen "besorgte Eifersucht" schon den Vorfahren kaum ihre Schiff- und Brandassekurationsgesellschaften gegönnt habe – so würde es anders in der Welt aussehen. "Nicht Lord Clive, sondern ein Ratsherr von Hamburg würde am Ganges Befehle erteilen."

So wie er in der Geschichte den Mangel einer einheitlichen Betrachtung erkannte, so bedauerte er die Deutschen, daß sie es nie zum gemeinsamen großen Handeln gebracht haben. Die besonderen großen Ereignisse, die ein Volk erst groß machen, sind seiner Meinung nach den Deutschen nie nachhaltig beschert worden. Für seine Gegenwart sah er besonders dunkel. Es gebe höchstens Vaterstädte und ein gelehrtes Vaterland, "was wir als Bürger oder als Gelehrte lieben. Für die Erhaltung des Deutschen Reichs stürzt sich bei uns kein Curtius in den Abgrund... es ist eine besondere Sache um uns arme Deutsche; ohne Hauptstadt sollen wir ein eigenes Nationaltheater, ohne Nationalinteresse Patriotismus und ohne ein allgemeines Oberhaupt unseren eigenen Ton in der Kunst erlangen". Immer wieder drängte es ihn aus seinem engen Osnabrücker Bezirk, dem er sich freiwillig verschrieben hatte und aus dem ihn keine noch so günstigen Berufsangebote nach Braunschweig, Hannover oder Göttingen wegziehen konnten, in die Weite des ganzen deutschen Landes. Es ist wie der schicksalshafte Kreislauf eines sich langsam mit Beginn und Ende zusammenfügenden Ringes, wenn eine seiner letzten großen Ansprachen vor der breiten Öffentlichkeit sich wieder an den großen Preußenkönig wandte, dem er als junger Student seine ersten poetischen Versuche gewidmet hatte, in dessen Siebenjährigem Kriege er zum erfahrenen Staatsmann und zum Geschichtsschreiber herangereift war. Als Student hatte er den kriegerischen Erfolg des jungen Königs begeistert gepriesen, er hatte ihm aber auch gehuldigt als dem Förderer der Musen und schönen Künste. Als alter Mann antwortet er den Angriffen Friedrichs auf das deutsche Schrifttum: "Es geht mir als einem Deutschen nahe, ihn, der in allem übrigen ihr Meister ist, und auch in deutscher Art und Kunst unser aller Meister sein könnte, hinter Voltairen zu erblicken." Der König sei da, wo er sich als Deutscher zeige, größer, als in dem Wetteifer mit den Ausländern um den Preis in ihren Künsten. Der Osnabrücker Staatsmann empfand mit dem preußischen König aus einer als gemeinsam vorausgesetzten deutschen Verantwortung. Er sprach davon, daß sich der historische Stil in dem Verhältnis gebessert habe, als sich der preußische Name ausgezeichnet habe und "uns unserer eigenen Geschichte wichtiger und werth gemacht". In dem kurzen Aufsatze zeigte Möser noch einmal in seiner klaren, geschliffenen Sprache, worin [276] er die Eigenarten der deutschen Art und Kunst erblickt. Es gilt, den Weg zur Mannigfaltigkeit der allmächtigen Schöpfung zu wählen und nicht stehenzubleiben bei Einförmigkeit, konventionellem Geschmack und dem sogenannten guten Ton. Deutschland ist nur so zurückgeblieben, weil es von lateinisch gelehrten Männern erzogen ist, die sich lieber mit fremden Mittelmäßigkeiten abgeben, als deutsche Art und Kunst zur Vollkommenheit zu bringen. Aber der Deutsche braucht seine eigene Kunst.

Der Historiker und Staatsmann befreit in wundervoller, für die Zeit verblüffender Selbstverständlichkeit die Kunst von ihrer Isolierung durch Ästhetik und Mode. "Der beste Gesang für unsere Nation ist unstreitig ein Bardiet, den sie zur Verteidigung ihres Vaterlandes in der Schlacht singt; der beste Tanz, der sie auf die Batterie führt, und das beste Schauspiel, was ihnen hohen Muth giebt; nicht aber, was dem schwachen Ausschusse des Menschengeschlechtes seine leeren Stunden vertreibt oder das Herz einer Hofdame schmelzen macht... Der entnervende Gesang, der wollüstige Tanz und die entzückenden oder bezaubernden Vorstellungen mögen Völkern gefallen, denen sie besser als uns dienen und bekommen; in denen aber auch der König nicht die Härte, nicht die Dauer und nicht das Herz seiner Grenadiere finden wird."

Auf diese mutige Schrift fand Möser viel Echo. Friedrichs Staatsminister, Graf von Herzberg, versicherte ihm, daß er mit seinen Ansichten voll übereinstimmen müsse, und Goethe, dessen "Götz von Berlichingen" ein Teil dieser Abhandlungen galt, dankte ausführlich in einem Schreiben an Mösers Tochter: "Auch diesmal hat Ihr Herr Vater wieder als ein reicher Mann gehandelt, der jemand auf ein Butterbrod einlädt und ihm dazu einen Tisch auserlesener Gerichte vorstellt." Mit diesem Wort Goethes schließt unsere Beschreibung eines Lebens, das scheinbar ganz arm ist an äußeren Ereignissen,

Denkmal für Justus Möser.
Denkmal für Justus Möser.
Osnabrück, 1836 enthüllt.
[Nach wikipedia.org.]
das nicht weit hinausführte über die engen Bezirke von Stadt und Land Osnabrück, vor dessen innerem Reichtum wir aber immer wieder staunend verharren und dessen wirkende Kraft bis heute noch nicht erlosch.

Möser wurde etwas über 73 Jahre alt. Er war immer gesund. Als er ans Sterben kam, sagte er gleichmütig: "Ich habe den Prozeß verloren." Seine Freunde hatten ihm nämlich widersprochen, als er die ihn quälenden Schwindelanfälle für eine Wohltat der Natur hielt, die dem Körper nützen könne. "Er gab ruhig noch einige Aufträge, ließ seiner vortrefflichen Tochter, der zweiten Hälfte seines Herzens, für alle Beweise ihrer Zärtlichkeit danken und sagte, er sei nun müde und wolle schlafen."

Er liegt begraben in der Marienkirche zu Osnabrück. Seine Heimatstadt setzte ihm ein Denkmal. Die Besten seines Volkes haben ihn nie vergessen und sowohl seinem Amtstitel wie dem Thema seines besten Buches einen Unterton verehrender Liebe gegeben. Sie nennen den Patriarchen von Osnabrück im weitesten Sinne einen Advocatus patriae, einen Fürsprech des Vaterlandes, und ihr Herz schlägt höher, wenn sie den Buchtitel sprechen: Patriotische Phantasien.




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Die großen Deutschen: Neue Deutsche Biographie.
Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz