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Bd. 3: Die
grenz- und volkspolitischen Folgen
des Friedensschlusses
I. Gegnerische Gebietsforderungen
und ihre Vorgeschichte (Teil 3)
3) Die Dänen
Dr. Fritz Hähnsen
Flensburg
Mit dem Erwachen des Nationalbewußtseins im Grenzlande beginnt
die innere Geschichte der Teilung Schleswigs. Die romantische Bewegung
Dänemarks hatte sich auf das nationale Eigenleben ihres Landes und Volkes
besonnen und den seit dem Mittelalter unaufhaltsamen deutschen Kulturstrom nach
Norden unterbrochen. Reichsdänische Kräfte waren es, die sich in den
dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts zum Ziel setzten, den
dänischsprechenden Norden des Herzogtums Schleswig bewußt
nationaldänisch zu erwecken. So kam die "Erweckung" Nordschleswigs von
außen. Diese Bestrebungen der "Aufdänung" der nordschleswigschen
Bevölkerung begegneten sich seit dem Anfang der vierziger Jahre mit den
nach Nordschleswig übertragenen
liberal-demokratischen Strömungen des jungen Dänemark, im
Gegenspiel zu den Verfassungsforderungen
Schleswig-Holsteins. In dem Kampf mit dem deutschen Wesen in der Weckung
und Ausbreitung dänischen Volkstums in Schleswig verbanden sich die
Gegensätze Romantik und Liberalismus zu dem territorialen Programm des
dänischen Nationalismus im Eiderdänentum: "Dänemark bis
zur Eider".
Die Gefahr für den Besitzstand der "deutschen Provinzen" Dänemarks
hatte als erster Uwe Jens Lornsen erkannt, der dieser Entwicklung durch eine
entschieden demokratische Verfassungspolitik vorbeugen wollte. Er baute seine
Hoffnung darauf, man werde gegenseitig einsehen, daß es sich bei der
deutschen Frage
Schleswig-Holsteins "für die Zukunft nicht um den Gegensatz zwischen
Dänemark und
Schleswig-Holstein, sondern um den höhern zwischen Skandinavien und
Deutschland handelt". Sonst schien ihm schon im Jahre 1832 die
Möglichkeit, zwischen Dänemark und
Schleswig-Holstein eine Einigkeit herbeizuführen, mit bitterer Klarheit nur
in dem Aufgeben der historischen Grenzen seines Heimatlandes gegeben:
"Einigkeit ist aber nur denkbar bei Anerkennung wenn auch nicht des vollen
historischen, so doch des natürlichen Rechts, d. h. es kann dahin
kommen, daß wir die Ämter Hadersleben, Lügumkloster und
Apenrade abtreten." Ein Jahrzehnt später, nach der entscheidenden
Wendung des nordschleswigschen liberalen Führers Peter Hjort
Lo- [26] renzen zum Dänentum, stellte der
Führer der deutschen Schleswiger Wilhelm Beseler in der Schleswigschen
Ständeversammlung den Antrag, gegen den Austausch der jütischen
Anteile auf den Inseln Sylt und Föhr das Amt Hadersleben an
Dänemark abzutreten.
[26]
Dänemark.
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Zwar lag hierin zugleich eine taktische
Berechnung, man glaubte, die Nordschleswiger würden einer Einverleibung
in das Königreich Dänemark widerstreben. Bis zum Vorjahre der
schleswig-holsteinischen Erhebung hatten die reichsdänischen "Erwecker"
einen zähen Kampf gegen die gerade von den dänischsprechenden
Nordschleswigern immer betonte rein schleswigsche Sonderart vergeblich
geführt. Die stärkste Willenskundgebung der dänischen
Bevölkerung, geführt von [27] dem späteren ersten dänischen
Abgeordneten im Deutschen Reichstag, Hans Andreas Krüger, bedeutete
zugleich eine Niederlage des Eiderdänentums: "Wir wünschen am
liebsten, zu bleiben, was wir gewesen sind; wir wünschen nicht in
Dänemark, aber noch viel weniger in Deutschland einverleibt zu
werden".
Der Wille zu einer nationalen Lösung der nordschleswigschen Frage ging
von deutscher Seite aus. Noch am Tage der Verwirklichung des
eiderdänischen Programmes durch den König, der Einverleibung
Schleswigs in Dänemark am 22. März 1848, erklärte die nach
Kopenhagen entsandte
schleswig-holsteinische Deputation als einziges Vergleichsmittel, "daß
Schleswig sich kirchspielsweise zwischen Deutschland und Dänemark
entscheiden möge". In ihrer "Ansprache an die dänische Nation" vom
31. März 1848 wiederholte die Provisorische Regierung
Schleswig-Holsteins dieses Anerbieten und proklamierte damit zum ersten Male in
der Geschichte den Grundsatz des freien Selbstbestimmungsrechtes der
Völker: "Wir wollen nur unsere Nationalität schützen, nicht
fremde Nationalitäten angreifen! Mag der Norden Schleswigs sich
demnächst frei erklären, ob er als Provinz dem dänischen
Staate einverleibt oder dem deutschen Vaterlande folgen
wolle - wir werden seinem Willen keinen Zwang antun!" Auf der Grundlage
einer Teilung Schleswigs versuchten dann die europäischen
Großmächte Preußen, Rußland und England vergeblich
einen Ausgleich der nationalen Gegensätze. Am Widerstande
Dänemarks scheiterten alle Vorschläge. Vielmehr begann unter Bruch
der Zusicherungen im Londoner Protokoll die systematische Unterdrückung
des deutschen Volkstums im Herzogtum Schleswig durch die Sprachreskripte, die
eine sprachliche und verwaltungsmäßige Basis für die
Schaffung des Eiderstaates bildeten. Das in den Versailler Friedensverhandlungen
als Sachverständigengutachten vorgelegte Handbuch des Britischen
Auswärtigen Amtes betonte: "Es war das Versagen Dänemarks in der
Einlösung dieser Bürgschaften, das alle Unruhen der nächsten
12 Jahre
(1852-1864) herausforderte und schließlich zu den Katastrophen der Jahre
1863-66 führte." Als Regierungssystem brach das Eiderdänentum
durch die machtpolitische Niederlage von 1864 endgültig zusammen. Mit
dem Zugeständnis der Annahme eines Teilungsvorschlages, nach welchem
die Schleilinie die Höchstgrenze sei, hatte es sein eigenes starres Prinzip
schon selbst aufgegeben, ohne in seiner äußeren Überhebung
und inneren Schwäche den preußischen Grundsatz der Teilung nach
nationalen Linien durch Befragung der Bevölkerung anerkennen zu wollen.
Bismarck
war schließlich sogar bereit und wies den preußischen
Botschaften Grafen von Bernstorff an, "nach Entgegenkommen mit einer
nördlicheren Linie...
Flensburg—Tondern (beide Städte für Deutschland
einschließend) zuzugeben als Äußerstes und daran unbedingt
[28] festzuhalten". - Selbst diese Bismarcksche
Minimalforderung auf der Londoner Konferenz, die
"Bernstorff-Linie", wurde nach einer Entwicklung von mehr als einem halben
Jahrhundert durch die Grenzziehung von 1920 nach dem Versailler Diktat
übertroffen.
Für Dänemarks Regierung und Volk gab es bis zum Ausgang der
preußisch-österreichischen Befreiung der Herzogtümer keine
nord-schleswigsche, sondern nur eine auf dynastischen Ansprüchen
begründete schleswigsche Frage. Erst als nach dem Wiener Frieden und der
Abtretung Schleswig-Holsteins Dänemark, mehr noch als nach dem Verluste von
Norwegen im Jahre 1814, aus der europäischen Politik ausgeschieden war,
entdeckte die dänische Regierung als ihr einziges aktives
außenpolitisches Ziel: die Erwerbung von Nordschleswig. Diese
staatspolitische Aufgabe wurde zum Brennpunkt aller dänischen
Regierungspolitik während eines halben Jahrhunderts. Doch nur
während ihrer ersten Periode, bis zum Jahre 1879, solange die
nordschleswigsche Frage traktatmäßig nicht zwischen Preußen
und Österreich geklärt war, lag hierin für die dänische
Diplomatie eine aktive praktische Aufgabe vor. Durch die von Napoleon III. als
formale Anerkennung des Nationalitätenprinzips bewirkte Aufnahme der
Klausel im Art. III der Nikolsburger Friedenspräliminarien, dem Art. V des
Prager Friedens, über
die Abtretung der Rechte auf
Schleswig-Holstein, "mit der Maßgabe, daß die Bevölkerungen
der nördlichen Distrikte von Schleswig, wenn sie durch freie Abstimmung
den Wunsch zu erkennen geben, mit Dänemark vereinigt zu werden, an
Dänemark abgetreten werden
sollen" - war ein völkerrechtlicher Vertrag geschlossen, der weder
Dänemark noch der dänischen Bevölkerung einen
Rechtsanspruch verschaffte. Im Widerspruch zu den unwahren Behauptungen der
französischen, englischen und amerikanischen
Sachverständigengutachten an die belgisch-schleswigsche Kommission in
Versailles und das Ultimatum der Entente
vom 16. Juni 1919 muß die Geschichtsforschung die Bereitwilligkeit
Bismarcks zu einer friedlichen Auseinandersetzung über eine Neugestaltung
der Nordgrenze anerkennen. Die eingehenden mündlichen Verhandlungen
vom Herbst 1867 und Frühjahr 1868 hatten nur deshalb kein Ergebnis, weil
Wunsch des einen, Verpflichtung des anderen Teils nicht übereinstimmen
wollten. Dänemark wünschte nach einer offiziellen geheimen
Denkschrift von 1866 eine Abstimmung bis weit in Mittelschleswig hinein, zur
Gewinnung einer, über die nationale hinausgehenden, "natürlichen"
Grenze; Preußen war willens, den Art. V soweit auszuführen, wie er
zur Zeit der Abfassung des Vertrags mit Österreich als Kontrahenten, mit
Frankreich als Vertragsschöpfer verabredet war. Darüber hinaus
wollte Bismarck gegen bestimmt formulierte Garantien für den Schutz der
auf jeden Fall zurückbleibenden deutschen Minderheiten eine Linie [29] bis zu einer Südspitze der Gjennerbucht
festsetzen, also den Kreis Hadersleben abtreten. Dieses preußische Angebot,
das weiter sekundär zur Erfüllung des Vertrages die einfache
Abtretung des nordwestlichen Teiles, des Törninglehn, ohne jegliche
Gegenleistung enthielt, erschien aber den Dänen im Verhältnis zu den
von ihnen geforderten positiven Leistungen des Minderheitenschutzes als zu
gering. Nach den Erfahrungen des letzten Jahrzehnts fürchtete man
überdies sich dadurch freiwillig eine neue Quelle der Einmischung in die
eigenen Souveränitätsrechte zu schaffen, während Bismarck
umgekehrt nach den Maßnahmen des dänischen Regiments zwischen
den Kriegen, nach den dreizehn Leidensjahren der deutschen Bevölkerung
Schleswigs eine genügende Gewähr des Minderheitenschutzes in der
demokratischen Verfassung Dänemarks allein nicht erblicken konnte. So
scheiterte die Ausführung des Art. V im letzten Grunde an dem
Unvermögen der Zeit, trotzdem der Staatsmann Bismarck das
völkische Problem so tief erkannte, diese Probleme staatsrechtlich für
beide Seiten erträglich zu meistern.
Um der Gewinnung Nordschleswigs willen war die dänische Regierung vom
Wiener Frieden bis zum Beginn des Weltkrieges zweimal vor die Entscheidung
eines militärischen Bündnisses gestellt. In dem drohenden Konflikt
zwischen Preußen und Österreich hatte der dänische
Außenminister schon im Jahre 1865 den Gesandten in Paris angewiesen, "zu
untersuchen, welche Politik, die Dänemark befolgen sollte, Frankreich
wünschte, wenn der Krieg ausbräche". In der ausgesprochenen
Absicht, "keinen Schritt in Berlin zu unternehmen ohne Frankreichs Billigung",
folgte Dänemark 1866 willenlos einem französischen Vorschlage, auf
einer vom französischen Außenminister bezeichneten Grundlage,
Preußen ein Bündnis gegen Österreich anzubieten. Trotz
wiederholten Angebots lehnte es Bismarck besonders mit Rücksicht auf die
öffentliche Meinung ab. Zudem war in dem Angebot des
Unterhändlers ein Anspruch auf die Stadt Flensburg enthalten, eine
Forderung, die Bismarck stets als undiskutierbar bezeichnet
hatte. - In den Julitagen 1870 war Dänemark der einzige
europäische Staat, mit dessen Eintritt in den Krieg auf seiten Frankreichs
Bismarck rechnete. Das Bündnisangebot Frankreichs beschränkte sich
keineswegs auf das Nationalitätenprinzip, sondern gab vielmehr
Dänemark ein Selbstbestimmungsrecht, ob es ganz Schleswig oder nur
gewisse Teile behalten wolle. Die Mehrheit des Ministeriums war für die
Annahme des Bündnisses, die Volksstimmung wartete nur auf die Revanche
für Düppel, erst die rasch aufeinanderfolgenden deutschen Siege
bestimmten die Neutralität Dänemarks.
Nachdem der deutsch-österreichische Vertrag vom 13. April 1878
über die Aufhebung der Vereinbarung im Art. V des Prager Friedens im
Februar 1879 veröffentlicht worden war, erklärte der dänische
[30] Außenminister dem deutschen
Geschäftsträger ausdrücklich, daß Dänemark ein
Recht auf Abstimmung nicht gehabt hätte, eine Erklärung, die aber in
den vertraulichen außenpolitischen Mitteilungen an das Folkething nicht
wiedergegeben wurde. Bis zum Übergang Dänemarks zum
parlamentarischen System, im Jahre 1901, blieb die dänische
Regierungspolitik, erfüllt von den unaufhörlichen
Verfassungskämpfen im Inneren, nach außen hin völlig passiv.
Man kann nicht behaupten, daß die dänischen Regierungen zu
irgendeinem Zeitpunkte dieser Periode eine kriegerische Revanchepolitik gegen
Deutschland geführt haben. Zwar waren die Familienverbindungen mit den
einflußreichsten Fürstenhöfen Europas in der Absicht
geschlossen, der dänischen Dynastie eine Rückenstärkung zu
gewähren, aber Beweise, die das Mißtrauen Bismarcks gegen die fast
alljährlichen Zusammenkünfte der Schwiegersöhne des
dänischen Königs, des russischen Zaren, des Prinzen von Wales
(nachmals Eduard VII.), des Herzogs von Cumberland, in Fredensborg
bestätigen, liegen nicht vor. Zweifellos hielten sie aber die Hoffnung auf
eine Lösung der nordschleswigschen Frage, als einer latenten
großpolitischen, wach. Alle politischen Parteien Dänemarks hielten
vielmehr zu einer gleichmäßigen Neutralitätspolitik des
Königreiches. Sie unterschieden sich nur hinsichtlich der Mittel zu ihrer
Aufrechterhaltung, ob als bessere Garantie durch militärische
Rüstungen, zwischenstaatliche Verträge oder gar international
anerkannte Neutralität des Landes. Indessen, seit der Schaffung des Kieler
Kriegshafens und in stärkerem Maße seit dem Bau des
Nordostseekanals lag Dänemark tatsächlich in der deutschen
Machtsphäre. Hinzu kam eine wachsende Abhängigkeit der
dänischen Volkswirtschaft vom deutschen Markte. So wurde
Dänemarks Verhältnis zur Weltpolitik allmählich
überwiegend bestimmt durch sein Verhältnis zu Deutschland. Der
parlamentarische Systemwechsel um die Jahrhundertwende schuf im Grunde keine
neue Außenpolitik, nur die in den letzten beiden Jahrzehnten sich
entwickelnden Linien wurden stärker unterstrichen durch aktiveres
Handeln.
Die dänische Linke übernahm die Regierung mit dem
außenpolitischen Ziel, während eines europäischen Krieges die
Neutralität Dänemarks zu sichern und dafür nach
Möglichkeit die Anerkennung der Großmächte zu erlangen. Die
als Ergebnis der zahlreichen Monarchenbegegnungen
und -besuche im Jahre 1908 abgeschlossenen
Nordsee- und Ostseeabkommen, in denen die beteiligten Mächte den
Grundsatz der Aufrechterhaltung des Status quo anerkannten, garantierten
Dänemark die territoriale Integrität. Wichtiger als diese offiziellen
Verhandlungen, über deren Resultat der englische Gesandte in Kopenhagen
urteilte, "es würden sich wohl wenige Leute finden, die naiv genug
wären, diesen papiernen Abmachungen irgendeinen [31] Wert beizumessen", waren die auf Initiative des
Führers der Linken, damaligen Kultusministers J. C. Christensen, im Herbst
1902 begonnenen geheimen diplomatischen Besprechungen, die ohne
Fühlungnahme mit dem dänischen Gesandten der Hauptmann
Lütken mit dem deutschen Generalstabschef von Moltke in Berlin
führte und als Departementschef des dänischen Kriegsministeriums
von 1906-1907 fortsetzte. Sie geschahen im Einverständnis mit dem
dänischen König, dem Ministerpräsidenten J. C. Christensen,
zugleich als Kriegsminister, und dem Außenminister, Grafen
Raben-Levetzau, jedoch ohne Kenntnis der übrigen Minister oder gar des
Folkethings. Ihr Zweck war nicht nur die Erlangung bestimmter deutscher
Zusagen, zur Abwendung einer Kriegsgefahr für Dänemark, die
übrigens im Gegensatz zum dänischen Volke, das sich
überwiegend von Deutschland bedroht glaubte, die Regierung wesentlich
von Englands Seite befürchtete, sondern auch ein deutliches Angebot einer
Militärkonvention gegen eine Gebietsabtretung in Nordschleswig. In der
Instruktion des dänischen Unterhändlers war an sich wohl eine solche
Militärkonvention als sehr bedenklich hingestellt, der sich das Land nicht
aussetzen dürfe, es sei denn, daß es wesentliche Vorteile als
Gegenleistung erhielte. Demgegenüber sprach General Moltke nicht den
Wunsch nach einer formellen Militärkonvention aus, er betonte immer
wieder, "wie das Einzige, was wichtig ist, wenn der Krieg einmal eintreten sollte,
eine klipp und klare Antwort auf die Frage ist: Freund oder Feind. Weiter ist nichts
nötig... Wir müssen uns aber darauf einrichten, daß uns einmal
der Krieg aufgezwungen werden könnte, und in dem Fall müssen wir
wissen, wie sich der Nachbar vor der Tür zu uns stellt". Grenzregulierungen
in Schleswig könnten nach seiner Meinung kaum früher erfolgen, als
nach einem Kriege, in dem Dänemark auf Deutschlands Seite gestanden
hätte. Als außerhalb seines Gebietes liegend wollte er aber die Frage
den Diplomaten weitergeben, worauf indessen der Däne bat, damit noch zu
warten. Übereinstimmend mit diesen Erklärungen ging aus der einige
Monate später stattfindenden daran anschließenden Unterredung des
Generalstabschefs mit König Frederik VIII. gleichfalls hervor, daß
Deutschland auch vor Abschluß einer Militärkonvention einer
Grenzänderung nicht unbedingt abgeneigt war. Abschließend glaubte
Lütken Ende März 1907 mit besonderem Nachdruck versichern zu
können, "daß sich jetzt bei allen verantwortlichen dänischen
Staatsmännern die Überzeugung stark geltend machte, daß
Dänemark unter keinen Umständen auf der Seite von Deutschlands
Gegnern stehen dürfte und daß, wenn sich die Aufrechterhaltung der
Neutralität Dänemarks bei einem
deutsch-englischen Krieg als unmöglich herausstellen sollte,
Dänemark dann mit Deutschland gehen würde". Der für diese
Erklärung verantwortliche Minister
J. C. Chri- [32] stensen hat zwar im Jahre
1919 diese eindeutige Zusage als "sehr bedenklich" desavouieren zu sollen
gemeint, eine Berichtigung dieser angeblichen Überschreitung der
Kompetenz Lütkens ging allerdings der deutschen Regierung nicht zu;
für General Moltke galt, wie er Lütken schrieb, "das Wort eines
Ehrenmannes mehr als geschriebene Verträge". Durch eine passive
zweideutige Politik war es geglückt, nach den Worten Lütkens, das
Wohlwollen Deutschlands gegenüber Dänemark "zu erhalten, ohne
das Land durch Bündnisse oder Abmachungen in irgendeinem Punkte zu
binden". Etwa ein Jahr später gelang es auch die Haltung Englands zu
erkunden; König Eduard VII. gab zu verstehen, "daß Dänemark
nicht so schnell mit einer aktiven Hilfe seitens Englands rechnen darf, daß
eine Besetzung Dänemarks verhindert werden kann. Eine Entsendung der
englischen Flotte in die dänischen Gewässer ist eine gefährliche
Sache und kann nicht erwartet werden, in jedem Falle nicht in der ersten Phase des
Krieges."
Die Moltke-Lütkenschen Verhandlungen bilden den Schlüssel zum
Verständnis der dänischen Neutralitätspolitik im Kriege. Nicht
umsonst ist von namhaften dänischen Politikern verschiedentlich als das
Gesamtergebnis die Auffassung des dänischen Unterhändlers
bestätigt worden: "Hier liegt der Hauptgrund dafür, daß es
möglich gewesen ist, während des Weltkrieges neutral zu sein." Zu
keiner Zeit hat Deutschland versucht, die dänische Neutralität im
Kriege zu kränken, weder im August 1914, noch im Herbst 1916. Am
2. August überreichte der deutsche Gesandte Graf
Brockdorff-Rantzau gemäß ihm früher zugestellter Order die
folgende Erklärung: "Deutschland hat keinerlei Absichten, den Bestand des
dänischen Staates zu gefährden, aber ohne Wollen und Zutun
Deutschlands könnten die Kriegsereignisse ein Übergreifen der
Operationen in die dänischen Gewässer zur Folge haben.
Dänemark muß sich des Ernstes der Situation bewußt werden
und darauf gefaßt sein, welche Stellung es eventuell einnehmen will."
Während die Leitung des dänischen Militärwesens hierin ein
"Ultimatum" erblickte, faßte das Ministerium die Vorfrage mit Recht als eine
Fortsetzung früherer Verhandlungen auf, d. h. eben der
Moltke-Lütkenschen, von denen außer dem Außenminister zu
diesem Zeitpunkt allerdings noch keiner der Minister unterrichtet war. Die von
Dänemark dann auf die deutsche Forderung durchgeführte Sperrung
der Belte mit Minen hatte eine wesentliche politische Bedeutung, militärisch
verschlechterte sie auf die Dauer nur die strategische Stellung der deutschen Flotte,
die auf die Benutzung der
Nordsee-Eingänge durch Kattegat und Skagerrak als zweites Ausfallstor
verzichten mußte. England, dessen König sofort von dem
dänischen König telegraphisch verständigt wurde, erhob auch
deshalb begreiflicherweise keine Einwendungen, vermied [33] aber seinerseits zu Beginn des Krieges jede
Anerkennung der dänischen Neutralität. Die von dänischen
Politikern im innerpolitischen Kampfe um die Wehrgesetze, insbesondere von
dem früheren deutschen Reichstagsabgeordneten H. P. Hanssen, gern
betonte Verdächtigung der deutschen Kriegsführung im Herbst 1916,
ebenso wie zu Beginn des Krieges, als einer Invasionsgefahr für
Dänemark, ist von dem derzeitigen dänischen Wehrminister P. Munch
selbst mehrfach als unbegründet zurückgewiesen worden. Die in
dieser Zeit angelegte Sperrbefestigung an der nordschleswigschen Grenze, die mit
den Sicherungsmaßnahmen gegen die holländische Grenze zugleich
fertiggestellt wurde, sollte nur der Verteidigung gegen eine mögliche
englische Landung dienen, eine Besorgnis, die nach den Enthüllungen
Churchills durchaus gegeben war. Über diese Möglichkeit ist indessen
in den dänischen Erörterungen der Nachkriegszeit in Parlament und
Presse nie die Rede gewesen. Die deutsche Politik zu Kriegsanfang band die
dänische Neutralität gemäß den Vorkriegsabmachungen,
die Skagerrakschlacht
sicherte sie bis Kriegsende. Es ist heute noch nicht das Urteil
der öffentlichen Meinung in Dänemark, sondern nur eine vereinzelte
Stimme, wenn ein konservativer dänischer Politiker im Jahre 1919
eingestand, "daß es eigentlich General Moltke und Reichskanzler
Fürst Bülow waren, denen der Dank dafür zukam, daß
Dänemark beim Kriege außenvorgehalten
wurde". —
Auf dem großpolitischen Hintergrunde, als eine Auswirkung der
Moltke-Lütkenschen Verhandlungen, deren Ergebnis von deutscher Seite als
eine bewußte Annäherung beider Länder aufgefaßt wurde,
ist auch der Abschluß des
preußisch-dänischen Optantenvertrages vom 11. Januar 1907 zu
bewerten. Sachlich war Preußen allein der gebende Teil. Es ist von
dänischer Seite stets eingeräumt worden, daß der Vertrag das
nordschleswigsche Dänentum durch die Aufnahme von etwa 4000 Optanten
in die preußische Staatsangehörigkeit wesentlich verstärkte.
Dafür gab Dänemark allein in den Eingangsworten die bereits im
Jahre 1879 vom dänischen Außenminister ausgesprochene
Erklärung nunmehr zum ersten Male öffentlich und in aller Form ab,
daß "durch den Wiener Friedensvertrag vom 30. Oktober 1864 und durch die
Dispositionen, die S. M. der König von Preußen und S. M. der Kaiser
von Österreich im Verfolg des genannten Vertrages getroffen haben, die
Grenzen zwischen Preußen und Österreich festgestellt worden
sind..."
Im Herbst 1906 hatte der dänische Außenminister Graf
Raben-Levetzau dem deutschen Staatssekretär von Tschirschky versichert,
er habe es als seine Mission betrachtet, die Beziehungen zu Deutschland zu
verbessern und sie zu einem wirklichen freundschaftlichen Verständnis zu
gestalten. Es sei ja für ihn wie für jeden denkenden Politiker in
Dänemark außer jedem Zweifel, daß der engste Anschluß
[34] an Deutschland die einzig richtige Politik
für sein Land wäre. Und im folgenden Jahre hatte er dem deutschen
Gesandten in Kopenhagen seine Meinung über die dänische
Nordschleswigpolitik dahin kundgegeben, daß mit Art. V des Prager
Friedens in Dänemark ein dem Ablaßschwindel ähnlicher
Unfug getrieben werde. In derselben Linie der dänischen Regierungspolitik
gegenüber Deutschland lag schließlich der auf Veranlassung des
Außenministeriums mit Kenntnis und Zustimmung des dänischen
Abgeordneten im deutschen Reichstag von einem dänischen Historiker, dem
Generalzolldirektor Marcus Rubin, geschriebene und im Jahre 1911 in den
Preußischen Jahrbüchern anonym veröffentlichte Artikel:
"Deutschland, Nordschleswig und Dänemark", dessen Hauptsätze das
Bekenntnis, also der dänischen Regierung und der parlamentarischen
Vertretung der dänischen Nordschleswiger, enthielten: "Nur Toren und
Leute ohne Einfluß denken in Dänemark an ein Wiedererwachen des
Art. 5 oder dergleichen" ... "in Dänemark hat man jetzt 1864 als eine
geschichtliche, definitive Tatsache einregistriert". Es schien, als ob eine
Wiederholung der "Signalfehde" vom Anfang der siebziger Jahre sich jetzt
anbahnen sollte, als der Norweger Björnstjerne Björnson den
Skandinaviern auf seine Frage: "Haben wir mit Frankreich oder Rußland
eine Zukunft oder mit Deutschland?" die Antwort gab: "Es sind die Signale, die
verändert werden müssen. Die meisten Reden, die Deutschland jetzt
von Dänemark hört, sind die Reden des Hasses, des
Völkerhasses. - Ich melde mich aus dem Haßbund
aus." —
In denselben Jahren der offiziellen
deutsch-dänischen Entspannung hatte der Verband der
"Zusammenwirkenden Süderjütischen Vereine" die
französische Textausgabe seines Historischen Handbuches der Frage
Schleswigs (1906) herausgegeben, das von nun an die Quelle für zahlreiche
französische und englische Zeitschriftenaufsätze und Abhandlungen
war und nach dem Kriege eine der bestimmenden Grundlagen für die
Arbeiten der Friedenskonferenz in Versailles bildete, auf der die amerikanischen
und französischen Delegierten ihre Auffassung bauten. Hierin wird zum
ersten Male in einem Aufsatz des dänischen Geographen und Historikers
H. V. Clausen die nach ihm als
"Clausen-Linie" benannte Grenzlinie nach der Entscheidung von 1920:
nördlich Flensburg — südlich
Tondern als Südgrenze "Nordschleswigs"
dargestellt und begründet. Es ist dieselbe Linie, die der Führer der
dänischen Nordschleswiger H. P. Hanssen bereits im Januar 1895 in einer
Aussage vor dem Apenrader Amtsgericht bezeichnete: "... ich gebe mich nur mit
dem erreichbaren Ziele der Ausbreitung der dänischen Nationalität in
Nordschleswig von der Königsau bis zur Flensburger Föhrde und bis
Tondern ab. Dieses ist die Grundbedingung für eine Vereinigung
Nordschleswigs mit Dänemark." Bis zum Zusammenbruch des Deutschen
Reiches hat [35] H. P. Hanssen, der als Hospitant der
Fortschrittlichen Volkspartei unter den deutschen Abgeordneten der Linken ein
besonderes Ansehen gewann, nie wieder weder im Reichstag noch im Landtag sein
politisches Ziel so klar ausgesprochen. Als Opportunist mochte er die Fassung der
Eingangsformel des Optantenvertrages und die Sätze des Rubinartikels
billigen, fünfundzwanzig Jahre vor der Entscheidung enthüllte er sein
Programm der Erwerbung Nordschleswigs:
"...Aber wenn durch einen Krieg mit
Deutschland eine dauernde Vereinigung Nordschleswigs mit Dänemark
herbeigeführt würde, was ich zunächst für
unmöglich halte, so würde ich dieser Lösung der
nordschleswigschen Frage nicht entgegentreten. Ich würde jede Vereinigung
mit Dänemark, welche ich als dauernd ansehe, für
wünschenswert halten und ihr zustimmen. ... Keine Maßregel der
deutschen Regierung auf Einführung dänischer Sprache in Kirche,
Schule und vor Behörden würde mir Genüge sein und mich von
der Agitation abhalten. Die dauernde Trennung Nordschleswigs von Deutschland
ist das Ziel meiner Wünsche."
Anfang September 1914 auf der Hinfahrt zu
Verhandlungen des Reichstages ließ Hanssen, wie er in seinem Tagebuch
erzählt, seinen Wagen am Kupfermühlenbach halten, eine kurze
Strecke nördlich des heutigen Grenzüberganges bei Krusau, wenige
Kilometer von der Stadt Flensburg entfernt: "Wir waren uns darüber einig,
daß hier Dänemarks Grenze nach dem Kriege gesetzt werden
würde, wenn der § 5 des Prager Friedens, wie wir beide hofften,
ausgeführt werden
würde." - Im Jahre 1915 zeigte er einem fortschrittlichen
Reichstagsabgeordneten auf einer Karte die von ihm gewünschte
"Grenzkorrektur": "eine Linie von der Südspitze von Kekenis in die
Flensburger Förde hinein und weiter nach
Westen" - d. h. die heutige Grenze. - Im folgenden Jahre
verabredete er mit den Mitgliedern der polnischen Fraktion: "Sie wollen, ebenso
wie ich, im Reichstag die nationale Fahne enthüllen, sobald der geeignete
Zeitpunkt kommt." Um diese Stunde vorzubereiten, berief er seit Ende 1916 die
dänischen Organisationen in Nordschleswig wieder ein, traf Vorkehrungen
zur Sammlung von dänischen und internationalen Erklärungen
über die
nord-schleswigsche Frage: "Die Entwicklung geht jetzt [Dezember 1917] in einer
Richtung, die es nötig macht, daß wir uns darauf vorbereiten, im
gegebenen Fall eine schnelle Aktion vornehmen zu
können." - Anfang Februar 1918 führte er den in seiner
Auswirkung schwersten Schlag gegen das Deutsche Reich, "als eine Aktion, die
unternommen wurde, um ein schnelleres Ende des Krieges herbeizuführen".
Die Veröffentlichung der Lichnowskyschen Denkschrift im Auslande ist das
Werk H. P. Hanssens, der sie nach seinen eigenen Tagebuchaufzeichnungen "nach
eindringlicher Aufforderung eines größeren Kreises
Mißvergnügter aller Parteien über die Grenze ins Ausland
[36] zu schaffen versprochen hatte". Die
deutschfeindliche Stockholmer Zeitung Folkets Dagblad Politiken, deren
Redakteur, der sozialdemokratische Bürgermeister Lindhagen, ein Freund
Hanssens war, begann im März mit dem Abdruck der Anklageschrift, die
sofort von der Presse der Entente verbreitet wurde, neben den Reden Wilsons und
den Kriegsgreuelflugschriften "das wichtigste Propagandamittel, das zur
Bekämpfung Deutschlands zur Verfügung gestanden
hat". - All dies hinderte den Reichstagsabgeordneten Hanssen nicht, sich
selbst noch bis zum 5. Oktober 1918 "korrekt als deutschen Staatsbürger" zu
betrachten.
Die radikale dänische Regierung war während des Krieges
bemüht, die öffentliche Erörterung der nordschleswigschen
Frage zu unterbinden, ja sie ging im Jahre 1915 so weit, Äußerungen
von Ententeseite über deren Kriegsziele, in denen auch eine "Befreiung
Schleswigs" erwähnt wurde, durch die Zensur zu unterdrücken. Dem
Gesandten in Berlin ließ der Außenminister Erik Scavenius im
November 1914 sagen: Dänemarks Haltung wäre von der
Rücksicht auf die eigenen vitalen Interessen des Landes diktiert, und
hierfür erwartete man keine Entschädigung, weder von dem einen
oder dem anderen kriegführenden Teil. Ganz in ihrem Sinne antwortete der
in Europa am stärksten gehörte große Anwalt der
dänischen Nordschleswiger Georg Brandes, der vor dem Kriege die
preußischen Verwaltungsmethoden in Nordschleswig aufs schärfste
gegeißelt hatte, in seiner Fehde mit seinem ehemaligen Freunde Clemenceau
im März 1915: "Wir könnten nicht wünschen, selbst diesen
[dänischsprechenden und dänischgesinnten Teil Schleswigs] nach
einer Demütigung Deutschlands zu erhalten. ... Nur nach einer friedlichen
Verständigung mit Deutschland könnte der Besitz des
dänischen Schleswig gesichert sein." In den zahlreichen von neutraler Seite
einberufenen Konferenzen der Jahre 1916 und 1917 zur Vorarbeit für einen
dauerhaften Frieden war die nordschleswigsche Frage allgemein nicht in die
Verhandlungen einbezogen, sie stand trotz der besonders regen Beteiligung
skandinavischer Politiker nirgends auf der Tagesordnung zur Lösung der
durch den Krieg hervorgerufenen nationalen Fragen. Die alleinige Ausnahme
bildete das Stockholmer Manifest der Internationalen Sozialistischen Konferenz
vom 15. September 1917. Während auf der Vorkonferenz überhaupt
nicht darüber verhandelt worden war, bewirkte das Eingreifen des
deutschfeindlichen schwedischen Sozialistenführers Hjalmar Branting gegen
das Gutachten der deutschen sozialdemokratischen Abordnung die
Einfügung eines neuen Programmpunktes in die "Besonderen
Bedingungen": "Gütliche Lösung der nordschleswigschen Frage durch
Einvernehmen der beteiligten Staaten [d. h. auch nach der späteren
Erläuterung Brantings von Mitte Oktober 1918 allein: Dänemarks und
[37] Deutschlands] auf Grundlage einer
Grenzberichtigung und nach (!) Befragung der Bevölkerung."
Schließlich war die nordschleswigsche Frage weder in den
Erklärungen der Alliierten vom 30. Dezember 1916 und 10. Januar 1917
noch in den Kundgebungen Wilsons, der Kongreßbotschaft vom 8. Januar
und 11. Februar 1918, seiner Rede vom 27. September 1918 oder in den Vierzehn
Punkten Wilsons mit einem Worte oder selbst nur andeutungsweise erwähnt.
Auch Temperleys großer Kommentar zum Wilsonprogramm enthält
kein Wort über Nordschleswig. Die
Schleswig-Bestimmungen des Versailler Vertrages bedeuten einen klaren
Rechtsbruch der Friedensbedingungen des Vorwaffenstillstandsvertrages vom 5.
November 1918.
Die von der Sozialdemokratie gestützte radikale dänische Regierung
war zunächst unmittelbaren
deutsch-dänischen Verhandlungen nicht abgeneigt; zum mindesten legte sie
anfangs besonderen Wert auf eine Grenzordnung im Einverständnis mit der
deutschen Regierung. Mit ihrer ausdrücklichen Zustimmung verfaßte
ein politischer Kreis von ihren Anschauungen nahestehenden
Persönlichkeiten die sogenannte "Oktoberadresse" zur Schaffung einer
öffentlichen Meinung über die vorzunehmende Lösung der
Grenzfrage. Diese private oder offiziöse Oktoberadresse, die in durchaus
versöhnlichem Ton gehalten war, enthielt nichts, was nicht auch nach der
Annahme des Wilsonschen Friedensprogrammes durch die deutsche Regierung
dem nationalen Selbstbestimmungsrecht bei Anwendung seiner Grundsätze
auf Nordschleswig entsprochen hätte. Sie betonte in erster Linie, daß
Nordschleswig in dem Umfange mit Dänemark vereinigt werden sollte, als
seine Bevölkerung "durch eine freie Abstimmung nach dem allgemeinen
und gleichen Stimmrecht es fordern sollte":
"... Wir wollen durch unsern Wunsch der
Wiedervereinigung Nordschleswigs mit Dänemark dem deutschen Volk
nicht zunahe treten. Wir wünschen nur, daß die Bevölkerung zu
Dänemark kommen soll, die dänisch spricht, dänisch
fühlt und dänisch sein will, daß das ganze dänische
Nordschleswig, aber nur das dänische Nordschleswig, nichts darüber,
mit Dänemark vereinigt werden möge.
Es wird nördlich der nationalen Grenze in einer
dänischen Bevölkerung zerstreut eine deutsche Minderheit
zurückbleiben, selbst wenn man durch die gerechteste
Abstimmungsgrundlage und durch praktische, humane Vorkehrungen sie so klein
wie möglich zu machen sucht. Es muß dieser Minderheit in weitestem
Umfange Sicherheit für ihre nationalen Rechte gewährleistet werden
im Geiste der neuen Zeit.
Wir dänischen Männer und Frauen wenden
uns an das deutsche [38] Volk mit der eindringlichen Hinwendung,
hochherzig und klug der nationalen Gerechtigkeit auch unserm Volke
gegenüber Genüge geschehen zu lassen."
Indessen schon vor ihrer Veröffentlichung wurde diese Adresse, die eine
letzte Grundlage zu einer gemeinsamen Auseinandersetzung der Nachbarstaaten
hätte bilden können, nach mehrmaliger Abschwächung ihres
ursprünglichen Wortlauts schließlich zu Fall gebracht durch eine
lebhafte eiderdänische Gegenagitation der "Zusammenwirkenden
Süderjütischen Vereine" im Königreich. Dazu kam, daß
zur gleichen Zeit die dänische Regierung auf eine Note des englischen
Gesandten in Kopenhagen am 14. Oktober vor irgendwelchen weitern
Plänen unmittelbarer Verhandlung mit Deutschland zurückwich und
diese sogar in Abrede stellte. Einer weiteren französischen Forderung vom
20. Oktober, die eine offizielle dänische Erklärung zur
Nordschleswigfrage vermissen ließ, beugte man sich am 23. Oktober durch
eine Entschließung des Folkethings in geheimer Sitzung, die, jede Art der
Regelung offen lassend, im wesentlichen nur feststellte, "daß keine
andere Änderung der gegenwärtigen Stellung Schleswigs als
eine Regelung nach dem Nationalitätsprinzip mit dem Wunsch,
Gefühl und Interesse des dänischen Volkes übereinstimmt".
Zur Umgehung der Schwierigkeiten sowohl der außenpolitischen wie
innerpolitischen Lage fanden sich die Parteien in der einigenden Formel, daß
die Entscheidung den dänischen Nordschleswigern selbst überlassen
bleiben müsse.
Die Verantwortung für den "Umweg über Versailles" trägt der
damalige taktische Führer der dänischen Nordschleswiger, der
Reichstagsabgeordnete H. P. Hanssen, der die Zusammenkettung der
nord-schleswigschen mit der polnischen und
elsaß-lothringischen Frage bei den internationalen Friedensverhandlungen
wünschte und die noch schwankenden
Elsaß-Lothringer in letzter Stunde zur gleichen Forderung bestimmte. Am
23. Oktober 1918, demselben Tage, an dem der dänische
Außenminister in der Geheimsitzung des Folkethings jedweden historischen
Rechtsanspruch Dänemarks auf Nordschleswig zurückwies und
hervorhob, daß Deutschland "nicht ohne Recht den Besitz der
nordschleswigschen Kreise als historisch begründet ansehen" könne,
forderte der spätere süderjütische Minister desselben Kabinetts
als Abgeordneter im deutschen Reichstage "im Namen des Rechts und der
Gerechtigkeit die Durchführung des § 5 des Friedensvertrages zu Prag und
damit bei dem bevorstehenden Friedensschluß die endgültige
Lösung der nordschleswigschen Frage auf Grund des
Selbstbestimmungsrechtes der Völker". Dieselbe historische
Rechtsbegründung kehrt regelmäßig in den
Sachverständigengutachten der
belgisch-schleswigschen Kommission wieder, sie wird wiederholt in dem
Ultimatum der Entente vom 16.
Juni 1919. [39] Indessen, Hanssens Berufung auf den Art. V
entsprang wie so oft nur einer taktischen Berechnung; hier eine
preußisch-deutsche "Kriegsschuldfrage" zu konstruieren, ließ sich gut
einfügen in das Kriegslegendenbild von Schuld und Sühne, es war
lediglich die Rücksicht auf die Entente, die ihn dazu bestimmte. Nachdem
der Staatssekretär Solf am 24. Oktober, in entsprechender Weise wie der
dänische Minister am vorhergehenden Tage, die Auffassung als
irrtümlich zurückgewiesen hatte, "daß wegen der
nordschleswigschen Landesteile aus dem Prager Frieden her ein positiver
Rechtsanspruch auf eine Volksabstimmung bestünde", gab der
Unterstaatssekretär Dr. David dem Abgeordneten Hanssen vertraulich die
Erklärung ab, daß diese Zurückweisung nur die formale
juridische Seite betreffe und "daß die Einleitung der
Regierungserklärung, wonach die Grundsätze des Wilsonprogramms
loyal nach allen Richtungen und in allen Einzelheiten durchgeführt werden
sollen, auch für Nordschleswig gilt". Die deutsche Regierung mußte
zu diesem Zeitpunkt annehmen, daß damit nur eine unmittelbare
Verständigung zwischen den beiden germanischen Nachbarstaaten gemeint
sein konnte, und gab dem deutschen Gesandten in Kopenhagen entsprechende
Anweisungen. Sie konnte nicht wissen, daß die drei dänischen
parlamentarischen Vertreter in Berlin bereits zu Anfang des Monats die Grenze auf
einer Karte gezogen hatten, die im Jahre 1920 die neue Grenze werden sollte. Man
wollte keine Abstimmung in ganz Schleswig, da man dann eine Mehrzahl der
deutschen Stimmen voraussah und die Stellung in Nordschleswig gefährdet
werden könnte. Auch bei einer Einbefassung Flensburgs und eines Teiles
von Mittelschleswig (also der späteren zweiten Zone) in ein
zusammenhängendes Abstimmungsgebiet mit Nordschleswig (der
späteren ersten Zone) befürchtete Hanssen eine deutsche
Stimmenmehrheit. Selbst wenn Flensburg Dänemark national näher
stünde als die Stadt Tondern, so war die daraus sich entwickelnde
"Nationalaufgabe" zu schwer. Sie war leichter im überwiegend deutschen
Tondern: "Tondern war nur klein und würde sich leichter aufsaugen lassen."
Das Resultat dieser Erwägungen für ein "Selbstbestimmungsrecht"
Nordschleswigs faßte Hanssen am 9. November in einer Denkschrift an die
Vertrauensleute des nordschleswigschen (dänischen) Wählervereins
zusammen: "Ich halte dafür, daß wir erst Nordschleswigs
Südgrenze festsetzen müssen, die als künftige Landesgrenze
gewisse geographische Forderungen erfüllen muß. Wenn diese Grenze
als Nordschleswigs Südgrenze gebilligt ist, bildet Nordschleswig ein
Ganzes, das mit Ja oder Nein stimmt und dadurch bestimmt, ob es an
Dänemark abgetreten oder bei Deutschland verbleiben soll." Diese
vorgefaßte Linie, die genau das Programm des dänischen
Führers von 1895 und der Clausenlinie des dänischen Handbuchs zur
schleswigschen Frage
ent- [40] sprach, erübrigte ein
Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung. Sie hob die Zusage der deutschen
Regierung auf und machte, als gegen die Bestimmungen des Vorvertrages vom 5.
November verstoßend, die
deutsch-dänische Grenze von 1920 zu einem Machtgebot der Entente. Der
französische Außenminister Pichon konnte am 24. September 1919 in
der französischen Deputiertenkammer im Hinweis auf die
Schleswig-Bestimmungen des Versailler Vertrages erklären: "Ein Friede,
der Dänemark seine dänischen Provinzen in Schleswig wiedergibt, ist
ein französischer
Frieden." - "Dieser Friede ist nicht nur französisch in seinen
Ergebnissen, er ist es in seinem Gedankengang und in seinem Geist."
Schrifttum
(Vgl. die besten ausführlichen Zusammenstellungen der Literatur zur
schleswigschen Frage von V. Pauls in Grenzland Schleswig (s. u.) und von S.
Dahl in Sönderjylland, red. af S. Dahl og A. Linvald, Bd. II, Kopenhagen
1919.)
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1926 ff.
Ders., "Die Schleswig-Bestimmungen des Versailler Vertrages", im
Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie von Hatschek und
Strupp. Band II. Berlin 1925.
H. V. Clausen, För Afgörelsen.
Kopenhagen 1918.
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M. Mackeprang. Band VIII. Kopenhagen 1929.
Hierin: P. Engelstoft, Mellem Systemskiftet og Verdenskrigen. P.
Munch, Under Verdenskrigen.
Fr. le Sage de Fontenay, Det Slesvigske Spörgsmaals Diplomatiske Historie
1914-1920. Kopenhagen 1922.
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Nordslesvigs Genforening med Danmark. Band I. Kopenhagen 1921.
Ders., Det Nordslesvigske Spörgsmaal 1864-1879. Aktstykker og Breve til
Belysning af den danske Regerings Politik. 2 Bde. (bis 31. Dez. 1870).
Kopenhagen 1925.
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deutsch-dänischen Frage herausgeg. von H. M. Johannsen. Crimmitschau
1926. (Quellen und Studien zur Kunde des Grenz- und Auslandsdeutschtums herausgeg.
im Auftrage des Instituts für Auslandskunde, Grenz- und
Auslandsdeutschtum, Leipzig, von H. Grothe. B. Volkstümliche Reihe,
Band II).
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Prager Friedens. Die deutschen Akten zur Frage der Teilung Schleswigs
(1863-1879). 2 Bde. Breslau 1929.
H. P. Hanssen, Graensespörgsmaalet.
Kopenhagen 1920.
Ders., Fra Krigstiden. Dagbogsoptegnelser. 2 Bde.
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A. Köster, Der Kampf um Schleswig. Berlin
1921.
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Jessen. Kopenhagen 1906.
W. Platzhoff, K. Rheindorf, J. Tiedje, Bismarck und die
Nordschleswigsche Frage 1864-1879. Die diplomatischen Akten des
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Berlin 1925.
E. Schröder, Nordschleswig. 2. Aufl. Berlin 1929.
(Taschenbuch des [41] Grenz- und Auslandsdeutschtums, herausgeg. von
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H. Scavenius, Af de sidste Aars sönderjyske Politik. Kopenhagen
1923.
Slesvig delt... Det dansk-tyske Livtag efter Verdenskrigen, red. af L. P.
Christensen. 2. Aufl. Flensburg 1923.
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v. Jessen, Slesvig paa Fredskonferencen Januar 1919 - Januar 1920.
Kopenhagen 1926.
J. Tiedje, Denkschrift über die Schleswigsche Frage. Teil I:
Geschichtlicher Überblick. Teil II: Die territoriale Frage. Drucksache Nr. 43
der Geschäftsstelle für die Friedensverhandlungen. Berlin 1919.
Ders., Die deutsche Note über Schleswig. Charlottenburg 1920.
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