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Bd. 3: Die grenz- und volkspolitischen Folgen
des Friedensschlusses

I. Gegnerische Gebietsforderungen und ihre Vorgeschichte   (Teil 3)

3) Die Dänen

Dr. Fritz Hähnsen
Flensburg

Scriptorium merkt an:
Ein Buch zu den Gebiets- und Bevölkerungsverlusten des Deutschen Reiches und Deutsch-Österreichs nach dem Jahre 1918 finden Sie hier!
Mit dem Erwachen des Nationalbewußtseins im Grenzlande beginnt die innere Geschichte der Teilung Schleswigs. Die romantische Bewegung Dänemarks hatte sich auf das nationale Eigenleben ihres Landes und Volkes besonnen und den seit dem Mittelalter unaufhaltsamen deutschen Kulturstrom nach Norden unterbrochen. Reichsdänische Kräfte waren es, die sich in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts zum Ziel setzten, den dänischsprechenden Norden des Herzogtums Schleswig bewußt nationaldänisch zu erwecken. So kam die "Erweckung" Nordschleswigs von außen. Diese Bestrebungen der "Aufdänung" der nordschleswigschen Bevölkerung begegneten sich seit dem Anfang der vierziger Jahre mit den nach Nordschleswig übertragenen liberal-demokratischen Strömungen des jungen Dänemark, im Gegenspiel zu den Verfassungsforderungen Schleswig-Holsteins. In dem Kampf mit dem deutschen Wesen in der Weckung und Ausbreitung dänischen Volkstums in Schleswig verbanden sich die Gegensätze Romantik und Liberalismus zu dem territorialen Programm des dänischen Nationalismus im Eiderdänentum: "Dänemark bis zur Eider".

Die Gefahr für den Besitzstand der "deutschen Provinzen" Dänemarks hatte als erster Uwe Jens Lornsen erkannt, der dieser Entwicklung durch eine entschieden demokratische Verfassungspolitik vorbeugen wollte. Er baute seine Hoffnung darauf, man werde gegenseitig einsehen, daß es sich bei der deutschen Frage Schleswig-Holsteins "für die Zukunft nicht um den Gegensatz zwischen Dänemark und Schleswig-Holstein, sondern um den höhern zwischen Skandinavien und Deutschland handelt". Sonst schien ihm schon im Jahre 1832 die Möglichkeit, zwischen Dänemark und Schleswig-Holstein eine Einigkeit herbeizuführen, mit bitterer Klarheit nur in dem Aufgeben der historischen Grenzen seines Heimatlandes gegeben: "Einigkeit ist aber nur denkbar bei Anerkennung wenn auch nicht des vollen historischen, so doch des natürlichen Rechts, d. h. es kann dahin kommen, daß wir die Ämter Hadersleben, Lügumkloster und Apenrade abtreten." Ein Jahrzehnt später, nach der entscheidenden Wendung des nordschleswigschen liberalen Führers Peter Hjort Lo- [26] renzen zum Dänentum, stellte der Führer der deutschen Schleswiger Wilhelm Beseler in der Schleswigschen Ständeversammlung den Antrag, gegen den Austausch der jütischen Anteile auf den Inseln Sylt und Föhr das Amt Hadersleben an Dänemark abzutreten.

Dänemark.
[26]      Dänemark.

Zwar lag hierin zugleich eine taktische Berechnung, man glaubte, die Nordschleswiger würden einer Einverleibung in das Königreich Dänemark widerstreben. Bis zum Vorjahre der schleswig-holsteinischen Erhebung hatten die reichsdänischen "Erwecker" einen zähen Kampf gegen die gerade von den dänischsprechenden Nordschleswigern immer betonte rein schleswigsche Sonderart vergeblich geführt. Die stärkste Willenskundgebung der dänischen Bevölkerung, geführt von [27] dem späteren ersten dänischen Abgeordneten im Deutschen Reichstag, Hans Andreas Krüger, bedeutete zugleich eine Niederlage des Eiderdänentums: "Wir wünschen am liebsten, zu bleiben, was wir gewesen sind; wir wünschen nicht in Dänemark, aber noch viel weniger in Deutschland einverleibt zu werden".

Der Wille zu einer nationalen Lösung der nordschleswigschen Frage ging von deutscher Seite aus. Noch am Tage der Verwirklichung des eiderdänischen Programmes durch den König, der Einverleibung Schleswigs in Dänemark am 22. März 1848, erklärte die nach Kopenhagen entsandte schleswig-holsteinische Deputation als einziges Vergleichsmittel, "daß Schleswig sich kirchspielsweise zwischen Deutschland und Dänemark entscheiden möge". In ihrer "Ansprache an die dänische Nation" vom 31. März 1848 wiederholte die Provisorische Regierung Schleswig-Holsteins dieses Anerbieten und proklamierte damit zum ersten Male in der Geschichte den Grundsatz des freien Selbstbestimmungsrechtes der Völker: "Wir wollen nur unsere Nationalität schützen, nicht fremde Nationalitäten angreifen! Mag der Norden Schleswigs sich demnächst frei erklären, ob er als Provinz dem dänischen Staate einverleibt oder dem deutschen Vaterlande folgen wolle - wir werden seinem Willen keinen Zwang antun!" Auf der Grundlage einer Teilung Schleswigs versuchten dann die europäischen Großmächte Preußen, Rußland und England vergeblich einen Ausgleich der nationalen Gegensätze. Am Widerstande Dänemarks scheiterten alle Vorschläge. Vielmehr begann unter Bruch der Zusicherungen im Londoner Protokoll die systematische Unterdrückung des deutschen Volkstums im Herzogtum Schleswig durch die Sprachreskripte, die eine sprachliche und verwaltungsmäßige Basis für die Schaffung des Eiderstaates bildeten. Das in den Versailler Friedensverhandlungen als Sachverständigengutachten vorgelegte Handbuch des Britischen Auswärtigen Amtes betonte: "Es war das Versagen Dänemarks in der Einlösung dieser Bürgschaften, das alle Unruhen der nächsten 12 Jahre (1852-1864) herausforderte und schließlich zu den Katastrophen der Jahre 1863-66 führte." Als Regierungssystem brach das Eiderdänentum durch die machtpolitische Niederlage von 1864 endgültig zusammen. Mit dem Zugeständnis der Annahme eines Teilungsvorschlages, nach welchem die Schleilinie die Höchstgrenze sei, hatte es sein eigenes starres Prinzip schon selbst aufgegeben, ohne in seiner äußeren Überhebung und inneren Schwäche den preußischen Grundsatz der Teilung nach nationalen Linien durch Befragung der Bevölkerung anerkennen zu wollen. Bismarck war schließlich sogar bereit und wies den preußischen Botschaften Grafen von Bernstorff an, "nach Entgegenkommen mit einer nördlicheren Linie... Flensburg—Tondern (beide Städte für Deutschland einschließend) zuzugeben als Äußerstes und daran unbedingt [28] festzuhalten". - Selbst diese Bismarcksche Minimalforderung auf der Londoner Konferenz, die "Bernstorff-Linie", wurde nach einer Entwicklung von mehr als einem halben Jahrhundert durch die Grenzziehung von 1920 nach dem Versailler Diktat übertroffen.

Für Dänemarks Regierung und Volk gab es bis zum Ausgang der preußisch-österreichischen Befreiung der Herzogtümer keine nord-schleswigsche, sondern nur eine auf dynastischen Ansprüchen begründete schleswigsche Frage. Erst als nach dem Wiener Frieden und der Abtretung Schleswig-Holsteins Dänemark, mehr noch als nach dem Verluste von Norwegen im Jahre 1814, aus der europäischen Politik ausgeschieden war, entdeckte die dänische Regierung als ihr einziges aktives außenpolitisches Ziel: die Erwerbung von Nordschleswig. Diese staatspolitische Aufgabe wurde zum Brennpunkt aller dänischen Regierungspolitik während eines halben Jahrhunderts. Doch nur während ihrer ersten Periode, bis zum Jahre 1879, solange die nordschleswigsche Frage traktatmäßig nicht zwischen Preußen und Österreich geklärt war, lag hierin für die dänische Diplomatie eine aktive praktische Aufgabe vor. Durch die von Napoleon III. als formale Anerkennung des Nationalitätenprinzips bewirkte Aufnahme der Klausel im Art. III der Nikolsburger Friedenspräliminarien, dem Art. V des Prager Friedens, über die Abtretung der Rechte auf Schleswig-Holstein, "mit der Maßgabe, daß die Bevölkerungen der nördlichen Distrikte von Schleswig, wenn sie durch freie Abstimmung den Wunsch zu erkennen geben, mit Dänemark vereinigt zu werden, an Dänemark abgetreten werden sollen" - war ein völkerrechtlicher Vertrag geschlossen, der weder Dänemark noch der dänischen Bevölkerung einen Rechtsanspruch verschaffte. Im Widerspruch zu den unwahren Behauptungen der französischen, englischen und amerikanischen Sachverständigengutachten an die belgisch-schleswigsche Kommission in Versailles und das Ultimatum der Entente vom 16. Juni 1919 muß die Geschichtsforschung die Bereitwilligkeit Bismarcks zu einer friedlichen Auseinandersetzung über eine Neugestaltung der Nordgrenze anerkennen. Die eingehenden mündlichen Verhandlungen vom Herbst 1867 und Frühjahr 1868 hatten nur deshalb kein Ergebnis, weil Wunsch des einen, Verpflichtung des anderen Teils nicht übereinstimmen wollten. Dänemark wünschte nach einer offiziellen geheimen Denkschrift von 1866 eine Abstimmung bis weit in Mittelschleswig hinein, zur Gewinnung einer, über die nationale hinausgehenden, "natürlichen" Grenze; Preußen war willens, den Art. V soweit auszuführen, wie er zur Zeit der Abfassung des Vertrags mit Österreich als Kontrahenten, mit Frankreich als Vertragsschöpfer verabredet war. Darüber hinaus wollte Bismarck gegen bestimmt formulierte Garantien für den Schutz der auf jeden Fall zurückbleibenden deutschen Minderheiten eine Linie [29] bis zu einer Südspitze der Gjennerbucht festsetzen, also den Kreis Hadersleben abtreten. Dieses preußische Angebot, das weiter sekundär zur Erfüllung des Vertrages die einfache Abtretung des nordwestlichen Teiles, des Törninglehn, ohne jegliche Gegenleistung enthielt, erschien aber den Dänen im Verhältnis zu den von ihnen geforderten positiven Leistungen des Minderheitenschutzes als zu gering. Nach den Erfahrungen des letzten Jahrzehnts fürchtete man überdies sich dadurch freiwillig eine neue Quelle der Einmischung in die eigenen Souveränitätsrechte zu schaffen, während Bismarck umgekehrt nach den Maßnahmen des dänischen Regiments zwischen den Kriegen, nach den dreizehn Leidensjahren der deutschen Bevölkerung Schleswigs eine genügende Gewähr des Minderheitenschutzes in der demokratischen Verfassung Dänemarks allein nicht erblicken konnte. So scheiterte die Ausführung des Art. V im letzten Grunde an dem Unvermögen der Zeit, trotzdem der Staatsmann Bismarck das völkische Problem so tief erkannte, diese Probleme staatsrechtlich für beide Seiten erträglich zu meistern.

Um der Gewinnung Nordschleswigs willen war die dänische Regierung vom Wiener Frieden bis zum Beginn des Weltkrieges zweimal vor die Entscheidung eines militärischen Bündnisses gestellt. In dem drohenden Konflikt zwischen Preußen und Österreich hatte der dänische Außenminister schon im Jahre 1865 den Gesandten in Paris angewiesen, "zu untersuchen, welche Politik, die Dänemark befolgen sollte, Frankreich wünschte, wenn der Krieg ausbräche". In der ausgesprochenen Absicht, "keinen Schritt in Berlin zu unternehmen ohne Frankreichs Billigung", folgte Dänemark 1866 willenlos einem französischen Vorschlage, auf einer vom französischen Außenminister bezeichneten Grundlage, Preußen ein Bündnis gegen Österreich anzubieten. Trotz wiederholten Angebots lehnte es Bismarck besonders mit Rücksicht auf die öffentliche Meinung ab. Zudem war in dem Angebot des Unterhändlers ein Anspruch auf die Stadt Flensburg enthalten, eine Forderung, die Bismarck stets als undiskutierbar bezeichnet hatte. - In den Julitagen 1870 war Dänemark der einzige europäische Staat, mit dessen Eintritt in den Krieg auf seiten Frankreichs Bismarck rechnete. Das Bündnisangebot Frankreichs beschränkte sich keineswegs auf das Nationalitätenprinzip, sondern gab vielmehr Dänemark ein Selbstbestimmungsrecht, ob es ganz Schleswig oder nur gewisse Teile behalten wolle. Die Mehrheit des Ministeriums war für die Annahme des Bündnisses, die Volksstimmung wartete nur auf die Revanche für Düppel, erst die rasch aufeinanderfolgenden deutschen Siege bestimmten die Neutralität Dänemarks.

Nachdem der deutsch-österreichische Vertrag vom 13. April 1878 über die Aufhebung der Vereinbarung im Art. V des Prager Friedens im Februar 1879 veröffentlicht worden war, erklärte der dänische [30] Außenminister dem deutschen Geschäftsträger ausdrücklich, daß Dänemark ein Recht auf Abstimmung nicht gehabt hätte, eine Erklärung, die aber in den vertraulichen außenpolitischen Mitteilungen an das Folkething nicht wiedergegeben wurde. Bis zum Übergang Dänemarks zum parlamentarischen System, im Jahre 1901, blieb die dänische Regierungspolitik, erfüllt von den unaufhörlichen Verfassungskämpfen im Inneren, nach außen hin völlig passiv. Man kann nicht behaupten, daß die dänischen Regierungen zu irgendeinem Zeitpunkte dieser Periode eine kriegerische Revanchepolitik gegen Deutschland geführt haben. Zwar waren die Familienverbindungen mit den einflußreichsten Fürstenhöfen Europas in der Absicht geschlossen, der dänischen Dynastie eine Rückenstärkung zu gewähren, aber Beweise, die das Mißtrauen Bismarcks gegen die fast alljährlichen Zusammenkünfte der Schwiegersöhne des dänischen Königs, des russischen Zaren, des Prinzen von Wales (nachmals Eduard VII.), des Herzogs von Cumberland, in Fredensborg bestätigen, liegen nicht vor. Zweifellos hielten sie aber die Hoffnung auf eine Lösung der nordschleswigschen Frage, als einer latenten großpolitischen, wach. Alle politischen Parteien Dänemarks hielten vielmehr zu einer gleichmäßigen Neutralitätspolitik des Königreiches. Sie unterschieden sich nur hinsichtlich der Mittel zu ihrer Aufrechterhaltung, ob als bessere Garantie durch militärische Rüstungen, zwischenstaatliche Verträge oder gar international anerkannte Neutralität des Landes. Indessen, seit der Schaffung des Kieler Kriegshafens und in stärkerem Maße seit dem Bau des Nordostseekanals lag Dänemark tatsächlich in der deutschen Machtsphäre. Hinzu kam eine wachsende Abhängigkeit der dänischen Volkswirtschaft vom deutschen Markte. So wurde Dänemarks Verhältnis zur Weltpolitik allmählich überwiegend bestimmt durch sein Verhältnis zu Deutschland. Der parlamentarische Systemwechsel um die Jahrhundertwende schuf im Grunde keine neue Außenpolitik, nur die in den letzten beiden Jahrzehnten sich entwickelnden Linien wurden stärker unterstrichen durch aktiveres Handeln.

Die dänische Linke übernahm die Regierung mit dem außenpolitischen Ziel, während eines europäischen Krieges die Neutralität Dänemarks zu sichern und dafür nach Möglichkeit die Anerkennung der Großmächte zu erlangen. Die als Ergebnis der zahlreichen Monarchenbegegnungen und -besuche im Jahre 1908 abgeschlossenen Nordsee- und Ostseeabkommen, in denen die beteiligten Mächte den Grundsatz der Aufrechterhaltung des Status quo anerkannten, garantierten Dänemark die territoriale Integrität. Wichtiger als diese offiziellen Verhandlungen, über deren Resultat der englische Gesandte in Kopenhagen urteilte, "es würden sich wohl wenige Leute finden, die naiv genug wären, diesen papiernen Abmachungen irgendeinen [31] Wert beizumessen", waren die auf Initiative des Führers der Linken, damaligen Kultusministers J. C. Christensen, im Herbst 1902 begonnenen geheimen diplomatischen Besprechungen, die ohne Fühlungnahme mit dem dänischen Gesandten der Hauptmann Lütken mit dem deutschen Generalstabschef von Moltke in Berlin führte und als Departementschef des dänischen Kriegsministeriums von 1906-1907 fortsetzte. Sie geschahen im Einverständnis mit dem dänischen König, dem Ministerpräsidenten J. C. Christensen, zugleich als Kriegsminister, und dem Außenminister, Grafen Raben-Levetzau, jedoch ohne Kenntnis der übrigen Minister oder gar des Folkethings. Ihr Zweck war nicht nur die Erlangung bestimmter deutscher Zusagen, zur Abwendung einer Kriegsgefahr für Dänemark, die übrigens im Gegensatz zum dänischen Volke, das sich überwiegend von Deutschland bedroht glaubte, die Regierung wesentlich von Englands Seite befürchtete, sondern auch ein deutliches Angebot einer Militärkonvention gegen eine Gebietsabtretung in Nordschleswig. In der Instruktion des dänischen Unterhändlers war an sich wohl eine solche Militärkonvention als sehr bedenklich hingestellt, der sich das Land nicht aussetzen dürfe, es sei denn, daß es wesentliche Vorteile als Gegenleistung erhielte. Demgegenüber sprach General Moltke nicht den Wunsch nach einer formellen Militärkonvention aus, er betonte immer wieder, "wie das Einzige, was wichtig ist, wenn der Krieg einmal eintreten sollte, eine klipp und klare Antwort auf die Frage ist: Freund oder Feind. Weiter ist nichts nötig... Wir müssen uns aber darauf einrichten, daß uns einmal der Krieg aufgezwungen werden könnte, und in dem Fall müssen wir wissen, wie sich der Nachbar vor der Tür zu uns stellt". Grenzregulierungen in Schleswig könnten nach seiner Meinung kaum früher erfolgen, als nach einem Kriege, in dem Dänemark auf Deutschlands Seite gestanden hätte. Als außerhalb seines Gebietes liegend wollte er aber die Frage den Diplomaten weitergeben, worauf indessen der Däne bat, damit noch zu warten. Übereinstimmend mit diesen Erklärungen ging aus der einige Monate später stattfindenden daran anschließenden Unterredung des Generalstabschefs mit König Frederik VIII. gleichfalls hervor, daß Deutschland auch vor Abschluß einer Militärkonvention einer Grenzänderung nicht unbedingt abgeneigt war. Abschließend glaubte Lütken Ende März 1907 mit besonderem Nachdruck versichern zu können, "daß sich jetzt bei allen verantwortlichen dänischen Staatsmännern die Überzeugung stark geltend machte, daß Dänemark unter keinen Umständen auf der Seite von Deutschlands Gegnern stehen dürfte und daß, wenn sich die Aufrechterhaltung der Neutralität Dänemarks bei einem deutsch-englischen Krieg als unmöglich herausstellen sollte, Dänemark dann mit Deutschland gehen würde". Der für diese Erklärung verantwortliche Minister J. C. Chri- [32] stensen hat zwar im Jahre 1919 diese eindeutige Zusage als "sehr bedenklich" desavouieren zu sollen gemeint, eine Berichtigung dieser angeblichen Überschreitung der Kompetenz Lütkens ging allerdings der deutschen Regierung nicht zu; für General Moltke galt, wie er Lütken schrieb, "das Wort eines Ehrenmannes mehr als geschriebene Verträge". Durch eine passive zweideutige Politik war es geglückt, nach den Worten Lütkens, das Wohlwollen Deutschlands gegenüber Dänemark "zu erhalten, ohne das Land durch Bündnisse oder Abmachungen in irgendeinem Punkte zu binden". Etwa ein Jahr später gelang es auch die Haltung Englands zu erkunden; König Eduard VII. gab zu verstehen, "daß Dänemark nicht so schnell mit einer aktiven Hilfe seitens Englands rechnen darf, daß eine Besetzung Dänemarks verhindert werden kann. Eine Entsendung der englischen Flotte in die dänischen Gewässer ist eine gefährliche Sache und kann nicht erwartet werden, in jedem Falle nicht in der ersten Phase des Krieges."

Die Moltke-Lütkenschen Verhandlungen bilden den Schlüssel zum Verständnis der dänischen Neutralitätspolitik im Kriege. Nicht umsonst ist von namhaften dänischen Politikern verschiedentlich als das Gesamtergebnis die Auffassung des dänischen Unterhändlers bestätigt worden: "Hier liegt der Hauptgrund dafür, daß es möglich gewesen ist, während des Weltkrieges neutral zu sein." Zu keiner Zeit hat Deutschland versucht, die dänische Neutralität im Kriege zu kränken, weder im August 1914, noch im Herbst 1916. Am 2. August überreichte der deutsche Gesandte Graf Brockdorff-Rantzau gemäß ihm früher zugestellter Order die folgende Erklärung: "Deutschland hat keinerlei Absichten, den Bestand des dänischen Staates zu gefährden, aber ohne Wollen und Zutun Deutschlands könnten die Kriegsereignisse ein Übergreifen der Operationen in die dänischen Gewässer zur Folge haben. Dänemark muß sich des Ernstes der Situation bewußt werden und darauf gefaßt sein, welche Stellung es eventuell einnehmen will." Während die Leitung des dänischen Militärwesens hierin ein "Ultimatum" erblickte, faßte das Ministerium die Vorfrage mit Recht als eine Fortsetzung früherer Verhandlungen auf, d. h. eben der Moltke-Lütkenschen, von denen außer dem Außenminister zu diesem Zeitpunkt allerdings noch keiner der Minister unterrichtet war. Die von Dänemark dann auf die deutsche Forderung durchgeführte Sperrung der Belte mit Minen hatte eine wesentliche politische Bedeutung, militärisch verschlechterte sie auf die Dauer nur die strategische Stellung der deutschen Flotte, die auf die Benutzung der Nordsee-Eingänge durch Kattegat und Skagerrak als zweites Ausfallstor verzichten mußte. England, dessen König sofort von dem dänischen König telegraphisch verständigt wurde, erhob auch deshalb begreiflicherweise keine Einwendungen, vermied [33] aber seinerseits zu Beginn des Krieges jede Anerkennung der dänischen Neutralität. Die von dänischen Politikern im innerpolitischen Kampfe um die Wehrgesetze, insbesondere von dem früheren deutschen Reichstagsabgeordneten H. P. Hanssen, gern betonte Verdächtigung der deutschen Kriegsführung im Herbst 1916, ebenso wie zu Beginn des Krieges, als einer Invasionsgefahr für Dänemark, ist von dem derzeitigen dänischen Wehrminister P. Munch selbst mehrfach als unbegründet zurückgewiesen worden. Die in dieser Zeit angelegte Sperrbefestigung an der nordschleswigschen Grenze, die mit den Sicherungsmaßnahmen gegen die holländische Grenze zugleich fertiggestellt wurde, sollte nur der Verteidigung gegen eine mögliche englische Landung dienen, eine Besorgnis, die nach den Enthüllungen Churchills durchaus gegeben war. Über diese Möglichkeit ist indessen in den dänischen Erörterungen der Nachkriegszeit in Parlament und Presse nie die Rede gewesen. Die deutsche Politik zu Kriegsanfang band die dänische Neutralität gemäß den Vorkriegsabmachungen, die Skagerrakschlacht sicherte sie bis Kriegsende. Es ist heute noch nicht das Urteil der öffentlichen Meinung in Dänemark, sondern nur eine vereinzelte Stimme, wenn ein konservativer dänischer Politiker im Jahre 1919 eingestand, "daß es eigentlich General Moltke und Reichskanzler Fürst Bülow waren, denen der Dank dafür zukam, daß Dänemark beim Kriege außenvorgehalten wurde". —

Auf dem großpolitischen Hintergrunde, als eine Auswirkung der Moltke-Lütkenschen Verhandlungen, deren Ergebnis von deutscher Seite als eine bewußte Annäherung beider Länder aufgefaßt wurde, ist auch der Abschluß des preußisch-dänischen Optantenvertrages vom 11. Januar 1907 zu bewerten. Sachlich war Preußen allein der gebende Teil. Es ist von dänischer Seite stets eingeräumt worden, daß der Vertrag das nordschleswigsche Dänentum durch die Aufnahme von etwa 4000 Optanten in die preußische Staatsangehörigkeit wesentlich verstärkte. Dafür gab Dänemark allein in den Eingangsworten die bereits im Jahre 1879 vom dänischen Außenminister ausgesprochene Erklärung nunmehr zum ersten Male öffentlich und in aller Form ab, daß "durch den Wiener Friedensvertrag vom 30. Oktober 1864 und durch die Dispositionen, die S. M. der König von Preußen und S. M. der Kaiser von Österreich im Verfolg des genannten Vertrages getroffen haben, die Grenzen zwischen Preußen und Österreich festgestellt worden sind..."

Im Herbst 1906 hatte der dänische Außenminister Graf Raben-Levetzau dem deutschen Staatssekretär von Tschirschky versichert, er habe es als seine Mission betrachtet, die Beziehungen zu Deutschland zu verbessern und sie zu einem wirklichen freundschaftlichen Verständnis zu gestalten. Es sei ja für ihn wie für jeden denkenden Politiker in Dänemark außer jedem Zweifel, daß der engste Anschluß [34] an Deutschland die einzig richtige Politik für sein Land wäre. Und im folgenden Jahre hatte er dem deutschen Gesandten in Kopenhagen seine Meinung über die dänische Nordschleswigpolitik dahin kundgegeben, daß mit Art. V des Prager Friedens in Dänemark ein dem Ablaßschwindel ähnlicher Unfug getrieben werde. In derselben Linie der dänischen Regierungspolitik gegenüber Deutschland lag schließlich der auf Veranlassung des Außenministeriums mit Kenntnis und Zustimmung des dänischen Abgeordneten im deutschen Reichstag von einem dänischen Historiker, dem Generalzolldirektor Marcus Rubin, geschriebene und im Jahre 1911 in den Preußischen Jahrbüchern anonym veröffentlichte Artikel: "Deutschland, Nordschleswig und Dänemark", dessen Hauptsätze das Bekenntnis, also der dänischen Regierung und der parlamentarischen Vertretung der dänischen Nordschleswiger, enthielten: "Nur Toren und Leute ohne Einfluß denken in Dänemark an ein Wiedererwachen des Art. 5 oder dergleichen" ... "in Dänemark hat man jetzt 1864 als eine geschichtliche, definitive Tatsache einregistriert". Es schien, als ob eine Wiederholung der "Signalfehde" vom Anfang der siebziger Jahre sich jetzt anbahnen sollte, als der Norweger Björnstjerne Björnson den Skandinaviern auf seine Frage: "Haben wir mit Frankreich oder Rußland eine Zukunft oder mit Deutschland?" die Antwort gab: "Es sind die Signale, die verändert werden müssen. Die meisten Reden, die Deutschland jetzt von Dänemark hört, sind die Reden des Hasses, des Völkerhasses. - Ich melde mich aus dem Haßbund aus." —

In denselben Jahren der offiziellen deutsch-dänischen Entspannung hatte der Verband der "Zusammenwirkenden Süderjütischen Vereine" die französische Textausgabe seines Historischen Handbuches der Frage Schleswigs (1906) herausgegeben, das von nun an die Quelle für zahlreiche französische und englische Zeitschriftenaufsätze und Abhandlungen war und nach dem Kriege eine der bestimmenden Grundlagen für die Arbeiten der Friedenskonferenz in Versailles bildete, auf der die amerikanischen und französischen Delegierten ihre Auffassung bauten. Hierin wird zum ersten Male in einem Aufsatz des dänischen Geographen und Historikers H. V. Clausen die nach ihm als "Clausen-Linie" benannte Grenzlinie nach der Entscheidung von 1920: nördlich Flensburg — südlich Tondern als Südgrenze "Nordschleswigs" dargestellt und begründet. Es ist dieselbe Linie, die der Führer der dänischen Nordschleswiger H. P. Hanssen bereits im Januar 1895 in einer Aussage vor dem Apenrader Amtsgericht bezeichnete: "... ich gebe mich nur mit dem erreichbaren Ziele der Ausbreitung der dänischen Nationalität in Nordschleswig von der Königsau bis zur Flensburger Föhrde und bis Tondern ab. Dieses ist die Grundbedingung für eine Vereinigung Nordschleswigs mit Dänemark." Bis zum Zusammenbruch des Deutschen Reiches hat [35] H. P. Hanssen, der als Hospitant der Fortschrittlichen Volkspartei unter den deutschen Abgeordneten der Linken ein besonderes Ansehen gewann, nie wieder weder im Reichstag noch im Landtag sein politisches Ziel so klar ausgesprochen. Als Opportunist mochte er die Fassung der Eingangsformel des Optantenvertrages und die Sätze des Rubinartikels billigen, fünfundzwanzig Jahre vor der Entscheidung enthüllte er sein Programm der Erwerbung Nordschleswigs:

      "...Aber wenn durch einen Krieg mit Deutschland eine dauernde Vereinigung Nordschleswigs mit Dänemark herbeigeführt würde, was ich zunächst für unmöglich halte, so würde ich dieser Lösung der nordschleswigschen Frage nicht entgegentreten. Ich würde jede Vereinigung mit Dänemark, welche ich als dauernd ansehe, für wünschenswert halten und ihr zustimmen. ... Keine Maßregel der deutschen Regierung auf Einführung dänischer Sprache in Kirche, Schule und vor Behörden würde mir Genüge sein und mich von der Agitation abhalten. Die dauernde Trennung Nordschleswigs von Deutschland ist das Ziel meiner Wünsche."

Anfang September 1914 auf der Hinfahrt zu Verhandlungen des Reichstages ließ Hanssen, wie er in seinem Tagebuch erzählt, seinen Wagen am Kupfermühlenbach halten, eine kurze Strecke nördlich des heutigen Grenzüberganges bei Krusau, wenige Kilometer von der Stadt Flensburg entfernt: "Wir waren uns darüber einig, daß hier Dänemarks Grenze nach dem Kriege gesetzt werden würde, wenn der § 5 des Prager Friedens, wie wir beide hofften, ausgeführt werden würde." - Im Jahre 1915 zeigte er einem fortschrittlichen Reichstagsabgeordneten auf einer Karte die von ihm gewünschte "Grenzkorrektur": "eine Linie von der Südspitze von Kekenis in die Flensburger Förde hinein und weiter nach Westen" - d. h. die heutige Grenze. - Im folgenden Jahre verabredete er mit den Mitgliedern der polnischen Fraktion: "Sie wollen, ebenso wie ich, im Reichstag die nationale Fahne enthüllen, sobald der geeignete Zeitpunkt kommt." Um diese Stunde vorzubereiten, berief er seit Ende 1916 die dänischen Organisationen in Nordschleswig wieder ein, traf Vorkehrungen zur Sammlung von dänischen und internationalen Erklärungen über die nord-schleswigsche Frage: "Die Entwicklung geht jetzt [Dezember 1917] in einer Richtung, die es nötig macht, daß wir uns darauf vorbereiten, im gegebenen Fall eine schnelle Aktion vornehmen zu können." - Anfang Februar 1918 führte er den in seiner Auswirkung schwersten Schlag gegen das Deutsche Reich, "als eine Aktion, die unternommen wurde, um ein schnelleres Ende des Krieges herbeizuführen". Die Veröffentlichung der Lichnowskyschen Denkschrift im Auslande ist das Werk H. P. Hanssens, der sie nach seinen eigenen Tagebuchaufzeichnungen "nach eindringlicher Aufforderung eines größeren Kreises Mißvergnügter aller Parteien über die Grenze ins Ausland [36] zu schaffen versprochen hatte". Die deutschfeindliche Stockholmer Zeitung Folkets Dagblad Politiken, deren Redakteur, der sozialdemokratische Bürgermeister Lindhagen, ein Freund Hanssens war, begann im März mit dem Abdruck der Anklageschrift, die sofort von der Presse der Entente verbreitet wurde, neben den Reden Wilsons und den Kriegsgreuelflugschriften "das wichtigste Propagandamittel, das zur Bekämpfung Deutschlands zur Verfügung gestanden hat". - All dies hinderte den Reichstagsabgeordneten Hanssen nicht, sich selbst noch bis zum 5. Oktober 1918 "korrekt als deutschen Staatsbürger" zu betrachten.

Die radikale dänische Regierung war während des Krieges bemüht, die öffentliche Erörterung der nordschleswigschen Frage zu unterbinden, ja sie ging im Jahre 1915 so weit, Äußerungen von Ententeseite über deren Kriegsziele, in denen auch eine "Befreiung Schleswigs" erwähnt wurde, durch die Zensur zu unterdrücken. Dem Gesandten in Berlin ließ der Außenminister Erik Scavenius im November 1914 sagen: Dänemarks Haltung wäre von der Rücksicht auf die eigenen vitalen Interessen des Landes diktiert, und hierfür erwartete man keine Entschädigung, weder von dem einen oder dem anderen kriegführenden Teil. Ganz in ihrem Sinne antwortete der in Europa am stärksten gehörte große Anwalt der dänischen Nordschleswiger Georg Brandes, der vor dem Kriege die preußischen Verwaltungsmethoden in Nordschleswig aufs schärfste gegeißelt hatte, in seiner Fehde mit seinem ehemaligen Freunde Clemenceau im März 1915: "Wir könnten nicht wünschen, selbst diesen [dänischsprechenden und dänischgesinnten Teil Schleswigs] nach einer Demütigung Deutschlands zu erhalten. ... Nur nach einer friedlichen Verständigung mit Deutschland könnte der Besitz des dänischen Schleswig gesichert sein." In den zahlreichen von neutraler Seite einberufenen Konferenzen der Jahre 1916 und 1917 zur Vorarbeit für einen dauerhaften Frieden war die nordschleswigsche Frage allgemein nicht in die Verhandlungen einbezogen, sie stand trotz der besonders regen Beteiligung skandinavischer Politiker nirgends auf der Tagesordnung zur Lösung der durch den Krieg hervorgerufenen nationalen Fragen. Die alleinige Ausnahme bildete das Stockholmer Manifest der Internationalen Sozialistischen Konferenz vom 15. September 1917. Während auf der Vorkonferenz überhaupt nicht darüber verhandelt worden war, bewirkte das Eingreifen des deutschfeindlichen schwedischen Sozialistenführers Hjalmar Branting gegen das Gutachten der deutschen sozialdemokratischen Abordnung die Einfügung eines neuen Programmpunktes in die "Besonderen Bedingungen": "Gütliche Lösung der nordschleswigschen Frage durch Einvernehmen der beteiligten Staaten [d. h. auch nach der späteren Erläuterung Brantings von Mitte Oktober 1918 allein: Dänemarks und [37] Deutschlands] auf Grundlage einer Grenzberichtigung und nach (!) Befragung der Bevölkerung."

Schließlich war die nordschleswigsche Frage weder in den Erklärungen der Alliierten vom 30. Dezember 1916 und 10. Januar 1917 noch in den Kundgebungen Wilsons, der Kongreßbotschaft vom 8. Januar und 11. Februar 1918, seiner Rede vom 27. September 1918 oder in den Vierzehn Punkten Wilsons mit einem Worte oder selbst nur andeutungsweise erwähnt. Auch Temperleys großer Kommentar zum Wilsonprogramm enthält kein Wort über Nordschleswig. Die Schleswig-Bestimmungen des Versailler Vertrages bedeuten einen klaren Rechtsbruch der Friedensbedingungen des Vorwaffenstillstandsvertrages vom 5. November 1918.

Die von der Sozialdemokratie gestützte radikale dänische Regierung war zunächst unmittelbaren deutsch-dänischen Verhandlungen nicht abgeneigt; zum mindesten legte sie anfangs besonderen Wert auf eine Grenzordnung im Einverständnis mit der deutschen Regierung. Mit ihrer ausdrücklichen Zustimmung verfaßte ein politischer Kreis von ihren Anschauungen nahestehenden Persönlichkeiten die sogenannte "Oktoberadresse" zur Schaffung einer öffentlichen Meinung über die vorzunehmende Lösung der Grenzfrage. Diese private oder offiziöse Oktoberadresse, die in durchaus versöhnlichem Ton gehalten war, enthielt nichts, was nicht auch nach der Annahme des Wilsonschen Friedensprogrammes durch die deutsche Regierung dem nationalen Selbstbestimmungsrecht bei Anwendung seiner Grundsätze auf Nordschleswig entsprochen hätte. Sie betonte in erster Linie, daß Nordschleswig in dem Umfange mit Dänemark vereinigt werden sollte, als seine Bevölkerung "durch eine freie Abstimmung nach dem allgemeinen und gleichen Stimmrecht es fordern sollte":

      "... Wir wollen durch unsern Wunsch der Wiedervereinigung Nordschleswigs mit Dänemark dem deutschen Volk nicht zunahe treten. Wir wünschen nur, daß die Bevölkerung zu Dänemark kommen soll, die dänisch spricht, dänisch fühlt und dänisch sein will, daß das ganze dänische Nordschleswig, aber nur das dänische Nordschleswig, nichts darüber, mit Dänemark vereinigt werden möge.
      Es wird nördlich der nationalen Grenze in einer dänischen Bevölkerung zerstreut eine deutsche Minderheit zurückbleiben, selbst wenn man durch die gerechteste Abstimmungsgrundlage und durch praktische, humane Vorkehrungen sie so klein wie möglich zu machen sucht. Es muß dieser Minderheit in weitestem Umfange Sicherheit für ihre nationalen Rechte gewährleistet werden im Geiste der neuen Zeit.
      Wir dänischen Männer und Frauen wenden uns an das deutsche [38] Volk mit der eindringlichen Hinwendung, hochherzig und klug der nationalen Gerechtigkeit auch unserm Volke gegenüber Genüge geschehen zu lassen."

Indessen schon vor ihrer Veröffentlichung wurde diese Adresse, die eine letzte Grundlage zu einer gemeinsamen Auseinandersetzung der Nachbarstaaten hätte bilden können, nach mehrmaliger Abschwächung ihres ursprünglichen Wortlauts schließlich zu Fall gebracht durch eine lebhafte eiderdänische Gegenagitation der "Zusammenwirkenden Süderjütischen Vereine" im Königreich. Dazu kam, daß zur gleichen Zeit die dänische Regierung auf eine Note des englischen Gesandten in Kopenhagen am 14. Oktober vor irgendwelchen weitern Plänen unmittelbarer Verhandlung mit Deutschland zurückwich und diese sogar in Abrede stellte. Einer weiteren französischen Forderung vom 20. Oktober, die eine offizielle dänische Erklärung zur Nordschleswigfrage vermissen ließ, beugte man sich am 23. Oktober durch eine Entschließung des Folkethings in geheimer Sitzung, die, jede Art der Regelung offen lassend, im wesentlichen nur feststellte, "daß keine andere Änderung der gegenwärtigen Stellung Schleswigs als eine Regelung nach dem Nationalitätsprinzip mit dem Wunsch, Gefühl und Interesse des dänischen Volkes übereinstimmt". Zur Umgehung der Schwierigkeiten sowohl der außenpolitischen wie innerpolitischen Lage fanden sich die Parteien in der einigenden Formel, daß die Entscheidung den dänischen Nordschleswigern selbst überlassen bleiben müsse.

Die Verantwortung für den "Umweg über Versailles" trägt der damalige taktische Führer der dänischen Nordschleswiger, der Reichstagsabgeordnete H. P. Hanssen, der die Zusammenkettung der nord-schleswigschen mit der polnischen und elsaß-lothringischen Frage bei den internationalen Friedensverhandlungen wünschte und die noch schwankenden Elsaß-Lothringer in letzter Stunde zur gleichen Forderung bestimmte. Am 23. Oktober 1918, demselben Tage, an dem der dänische Außenminister in der Geheimsitzung des Folkethings jedweden historischen Rechtsanspruch Dänemarks auf Nordschleswig zurückwies und hervorhob, daß Deutschland "nicht ohne Recht den Besitz der nordschleswigschen Kreise als historisch begründet ansehen" könne, forderte der spätere süderjütische Minister desselben Kabinetts als Abgeordneter im deutschen Reichstage "im Namen des Rechts und der Gerechtigkeit die Durchführung des § 5 des Friedensvertrages zu Prag und damit bei dem bevorstehenden Friedensschluß die endgültige Lösung der nordschleswigschen Frage auf Grund des Selbstbestimmungsrechtes der Völker". Dieselbe historische Rechtsbegründung kehrt regelmäßig in den Sachverständigengutachten der belgisch-schleswigschen Kommission wieder, sie wird wiederholt in dem Ultimatum der Entente vom 16. Juni 1919. [39] Indessen, Hanssens Berufung auf den Art. V entsprang wie so oft nur einer taktischen Berechnung; hier eine preußisch-deutsche "Kriegsschuldfrage" zu konstruieren, ließ sich gut einfügen in das Kriegslegendenbild von Schuld und Sühne, es war lediglich die Rücksicht auf die Entente, die ihn dazu bestimmte. Nachdem der Staatssekretär Solf am 24. Oktober, in entsprechender Weise wie der dänische Minister am vorhergehenden Tage, die Auffassung als irrtümlich zurückgewiesen hatte, "daß wegen der nordschleswigschen Landesteile aus dem Prager Frieden her ein positiver Rechtsanspruch auf eine Volksabstimmung bestünde", gab der Unterstaatssekretär Dr. David dem Abgeordneten Hanssen vertraulich die Erklärung ab, daß diese Zurückweisung nur die formale juridische Seite betreffe und "daß die Einleitung der Regierungserklärung, wonach die Grundsätze des Wilsonprogramms loyal nach allen Richtungen und in allen Einzelheiten durchgeführt werden sollen, auch für Nordschleswig gilt". Die deutsche Regierung mußte zu diesem Zeitpunkt annehmen, daß damit nur eine unmittelbare Verständigung zwischen den beiden germanischen Nachbarstaaten gemeint sein konnte, und gab dem deutschen Gesandten in Kopenhagen entsprechende Anweisungen. Sie konnte nicht wissen, daß die drei dänischen parlamentarischen Vertreter in Berlin bereits zu Anfang des Monats die Grenze auf einer Karte gezogen hatten, die im Jahre 1920 die neue Grenze werden sollte. Man wollte keine Abstimmung in ganz Schleswig, da man dann eine Mehrzahl der deutschen Stimmen voraussah und die Stellung in Nordschleswig gefährdet werden könnte. Auch bei einer Einbefassung Flensburgs und eines Teiles von Mittelschleswig (also der späteren zweiten Zone) in ein zusammenhängendes Abstimmungsgebiet mit Nordschleswig (der späteren ersten Zone) befürchtete Hanssen eine deutsche Stimmenmehrheit. Selbst wenn Flensburg Dänemark national näher stünde als die Stadt Tondern, so war die daraus sich entwickelnde "Nationalaufgabe" zu schwer. Sie war leichter im überwiegend deutschen Tondern: "Tondern war nur klein und würde sich leichter aufsaugen lassen." Das Resultat dieser Erwägungen für ein "Selbstbestimmungsrecht" Nordschleswigs faßte Hanssen am 9. November in einer Denkschrift an die Vertrauensleute des nordschleswigschen (dänischen) Wählervereins zusammen: "Ich halte dafür, daß wir erst Nordschleswigs Südgrenze festsetzen müssen, die als künftige Landesgrenze gewisse geographische Forderungen erfüllen muß. Wenn diese Grenze als Nordschleswigs Südgrenze gebilligt ist, bildet Nordschleswig ein Ganzes, das mit Ja oder Nein stimmt und dadurch bestimmt, ob es an Dänemark abgetreten oder bei Deutschland verbleiben soll." Diese vorgefaßte Linie, die genau das Programm des dänischen Führers von 1895 und der Clausenlinie des dänischen Handbuchs zur schleswigschen Frage ent- [40] sprach, erübrigte ein Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung. Sie hob die Zusage der deutschen Regierung auf und machte, als gegen die Bestimmungen des Vorvertrages vom 5. November verstoßend, die deutsch-dänische Grenze von 1920 zu einem Machtgebot der Entente. Der französische Außenminister Pichon konnte am 24. September 1919 in der französischen Deputiertenkammer im Hinweis auf die Schleswig-Bestimmungen des Versailler Vertrages erklären: "Ein Friede, der Dänemark seine dänischen Provinzen in Schleswig wiedergibt, ist ein französischer Frieden." - "Dieser Friede ist nicht nur französisch in seinen Ergebnissen, er ist es in seinem Gedankengang und in seinem Geist."


Schrifttum

(Vgl. die besten ausführlichen Zusammenstellungen der Literatur zur schleswigschen Frage von V. Pauls in Grenzland Schleswig (s. u.) und von S. Dahl in Sönderjylland, red. af S. Dahl og A. Linvald, Bd. II, Kopenhagen 1919.)

K. Alnor, Handbuch zur schleswigschen Frage. Band II. Neumünster 1926 ff.

Ders., "Die Schleswig-Bestimmungen des Versailler Vertrages", im Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie von Hatschek und Strupp. Band II. Berlin 1925.

H. V. Clausen, För Afgörelsen. Kopenhagen 1918.

Det danske Folks Historie, red. af A. Friis, A. Linvald, M. Mackeprang. Band VIII. Kopenhagen 1929.

Hierin: P. Engelstoft, Mellem Systemskiftet og Verdenskrigen. P. Munch, Under Verdenskrigen.

Fr. le Sage de Fontenay, Det Slesvigske Spörgsmaals Diplomatiske Historie 1914-1920. Kopenhagen 1922.

A. Friis, Den danske Regering og Nordslesvigs Genforening med Danmark. Band I. Kopenhagen 1921.

Ders., Det Nordslesvigske Spörgsmaal 1864-1879. Aktstykker og Breve til Belysning af den danske Regerings Politik. 2 Bde. (bis 31. Dez. 1870). Kopenhagen 1925.

Grenzland Schleswig. Aufsätze zur deutsch-dänischen Frage herausgeg. von H. M. Johannsen. Crimmitschau 1926. (Quellen und Studien zur Kunde des Grenz- und Auslandsdeutschtums herausgeg. im Auftrage des Instituts für Auslandskunde, Grenz- und Auslandsdeutschtum, Leipzig, von H. Grothe. B. Volkstümliche Reihe, Band II).

F. Hähnsen, Ursprung und Geschichte des Artikels V des Prager Friedens. Die deutschen Akten zur Frage der Teilung Schleswigs (1863-1879). 2 Bde. Breslau 1929.

H. P. Hanssen, Graensespörgsmaalet. Kopenhagen 1920.

Ders., Fra Krigstiden. Dagbogsoptegnelser. 2 Bde. Kopenhagen 1924.

A. Köster, Der Kampf um Schleswig. Berlin 1921.

R. von Laun, "Nationalitätenfrage einschließlich des Minderheitenrechts", im Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie von Hatschek und Strupp. Band II. Berlin 1925.

Manuel historique de la question du Slesvig, publié sous la direction de Franz de Jessen. Kopenhagen 1906.

W. Platzhoff, K. Rheindorf, J. Tiedje, Bismarck und die Nordschleswigsche Frage 1864-1879. Die diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes zur Geschichte des Artikels V des Prager Friedens. Berlin 1925.

E. Schröder, Nordschleswig. 2. Aufl. Berlin 1929. (Taschenbuch des [41] Grenz- und Auslandsdeutschtums, herausgeg. von K. C. von Loesch, Heft 13.)

H. Scavenius, Af de sidste Aars sönderjyske Politik. Kopenhagen 1923.

Slesvig delt... Det dansk-tyske Livtag efter Verdenskrigen, red. af L. P. Christensen. 2. Aufl. Flensburg 1923.

A. Tardieu, i Samarbejde med Franz v. Jessen, Slesvig paa Fredskonferencen Januar 1919 - Januar 1920. Kopenhagen 1926.

J. Tiedje, Denkschrift über die Schleswigsche Frage. Teil I: Geschichtlicher Überblick. Teil II: Die territoriale Frage. Drucksache Nr. 43 der Geschäftsstelle für die Friedensverhandlungen. Berlin 1919.

Ders., Die deutsche Note über Schleswig. Charlottenburg 1920.

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Das Buch der deutschen Heimat, Kapitel "Schleswig-Holstein".

Deutsches Land: Das Buch von Volk und Heimat, Kapitel "Schleswig-Holstein."

Deutschtum in Not! Die Schicksale der Deutschen in Europa außerhalb des Reiches,
besonders das Kapitel "Das Deutschtum in Nordschleswig."

Das Grenzlanddeutschtum, besonders das Kapitel "Nordschleswig."

Gebiets- und Bevölkerungsverluste des Deutschen Reiches und Deutsch-Österreichs nach dem Jahre 1918

Das Versailler Diktat. Vorgeschichte, Vollständiger Vertragstext, Gegenvorschläge der deutschen Regierung

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Zehn Jahre Versailles
in 3 Bänden herausgegeben von
Dr. Dr. h. c. Heinrich Schnee und Dr. h. c. Hans Draeger