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Bd. 3: Die grenz- und volkspolitischen Folgen
des Friedensschlusses

I. Gegnerische Gebietsforderungen und ihre Vorgeschichte   (Teil 4)

4) Die Polen

Dr. Walther Recke
Staatsarchivrat, Danzig

Scriptorium merkt an:
Ein Buch zu den Gebiets- und Bevölkerungsverlusten des Deutschen Reiches und Deutsch-Österreichs nach dem Jahre 1918 finden Sie hier!
Daß der im Jahre 1795 und endgültig im Jahre 1815 durch die Bestimmungen des Wiener Kongresses von der Landkarte Europas gestrichene polnische Staat wieder aufgerichtet werden müsse, war das Dogma der führenden Kreise des polnischen Volkes während des ganzen 19. Jahrhunderts. Nach dem Jahre 1795 hatten die polnischen Patrioten ihre Hoffnung auf Frankreich und besonders auf den aufgehenden Stern Napoleons gesetzt. Sie hatten aber mit tiefer Bitterkeit erkennen müssen, daß Napoleon I. gar nicht die Absicht gehabt hatte, ihren Staat wieder aufzubauen, sondern daß er mit diesem Gedanken gespielt und ihn als Schlagwort nur dazu hatte benutzen wollen, um Rußland sich gefügig zu machen. Der enge Anschluß an Napoleon verkettete die Polen auch in seinen Sturz, und es schien nur eine Strafe für ihre Parteinahme für den Erzfeind Europas zu sein, daß die Vernichtung ihres Staatswesens durch die Bestimmungen des Wiener Friedens als endgültig anerkannt wurde.

Zwar hatte der Zar von Rußland, Alexander I., zum großen Mißbehagen der übrigen europäischen Mächte es durchgesetzt, daß er aus dem ihm zugefallenen Teile des ehemaligen polnischen Staates ein fast selbständiges Staatswesen mit dem ominösen Namen "Königreich Polen" schaffen und sich selbst als König von Polen proklamieren konnte. Und das erschien um so bedenklicher, als Rußland 82% des früheren polnischen Staatsgebietes in sich aufgenommen hatte. Österreich gliederte seinen Anteil (etwa 10%) in die Gesamtstaatsverwaltung als West- und Ostgalizien ein. Und Preußen, das am wenigsten (8%) erhalten hatte, machte aus seinem Anteil zwei Provinzen Westpreußen und Posen, von denen die letztere, um dem Zaren Alexander wenigstens einigermaßen Paroli bieten zu können, den Namen Großherzogtum Posen erhielt und unter einen Statthalter gestellt wurde.

Während die unter preußischer und österreichischer Herrschaft stehenden Polen sich im wesentlichen mit ihrem Los abfanden, zeigte sich bei den Polen des Königsreichs Polen schon bald nach dem Jahre 1815 das Bestreben, die dem Königreich gesetzten Grenzen von [43] Njemen und Bug nach Osten hin bis an Düna und Dnjepr vorzuschieben. Es begann jetzt zwischen den Polen und Russen der Streit um das von Rußland als "Westgebiet" bezeichnete Zwischenland, der das ganze 19. Jahrhundert hindurch die russisch-polnischen Beziehungen entscheidend bestimmt hat und auch in der Gegenwart noch nicht erloschen ist. Die unter russischer Herrschaft stehenden Polen folgten hier einer Richtung, welche die polnische Politik seit der Verbindung Polens mit Litauen im Jahre 1386 unter der Führung der von dem Litauerfürsten und späteren polnischen Könige Jagiello abstammenden Herrscher eingeschlagen hatte: die möglichst weite Expansion nach Osten hin. Es war dies die Konzeption des sogenannten "jagiellonischen Polens", das im Osten bis zur Düna und zum Dnjepr und im Süden bis zum Schwarzen Meer reichen sollte.

Diese Bestrebungen der unter russischer Herrschaft stehenden Polen führten zu der kriegerischen Auseinandersetzung der russisch-polnischen Kämpfe in den Jahren 1830/31, die mit einer vollkommenen Niederlage der Polen endete.

Der Name "Königreich Polen" blieb zwar bestehen, aber es war letzten Endes nur noch ein Name. Der zweite Aufstand der russischen Polen in den Jahren 1863/64 hatte dann die Tilgung auch des Namens zur Folge, und das ehemalige Königreich Polen wurde jetzt zu einem russischen Generalgouvernement mit dem Namen "Weichselgebiet" umgestaltet.

Die Polen, die in den seit 1815 österreichischen und preußischen Teilgebieten des ehemaligen polnischen Staates wohnten, hatten diesen Kampf ihrer unter russischer Herrschaft stehenden Brüder mit Sympathie verfolgt, und auch einige von ihnen hatten sogar aktiv an ihm teilgenommen. Im Grunde aber haben die Polen dieser beiden Teilgebiete das ganze 19. Jahrhundert hindurch keinen Versuch unternommen, ihre Lage zu ändern, und die Unruhen, die sowohl in Posen wie in Galizien in den Jahren 1846 und 1848 ausbrachen, waren nur Begleiterscheinungen der allgemeinen Freiheitsbewegung, die damals durch Europa ging. Die Tatsache aber, daß die österreichische Regierung, um die drohende Revolution in Galizien im Keime zu ersticken, die ruthenischen Bauern gegen die polnischen adligen Gutsbesitzer aufhetzte, hatte einen eigenartigen offenen Brief zur Folge, der richtungweisend für die spätere Haltung des größten Teiles des polnischen Volkes werden sollte.

Es war dies der berühmte "Brief eines polnischen Edelmanns", den der Markgraf Alexander Wielopolski im Jahre 1846 an den Fürsten Metternich richtete.

Hier ist zum ersten Male der schon zu Anfang des Jahrhunderts von einigen Polen betonte Gedanke des Anschlusses an Rußland und [44] der Schaffung einer gemeinsamen Front gegen das Germanentum genauer formuliert und in seinen Konsequenzen ausgeführt worden: Wielopolski fordert von seinen Volksgenossen Verzicht auf die volle Wiedervereinigung und die staatliche Selbständigkeit im Kampfe gegen Rußland, insbesondere also den Verzicht auf die Gebiete zwischen Njemen und Bug im Westen und Düna und Dnjepr im Osten, das viel umstrittene "Westgebiet" Rußlands. Nur im Anschluß an das slawische russische Reich werde Polen seine staatliche Wiederauferstehung erleben.

Dieser Gedanke brauchte 40 Jahre, ehe er von neuem aufgegriffen und bis in seine äußersten Konsequenzen formuliert wurde.

Auf den letzten Aufstand der Jahre 1863/64 waren Jahre tiefer Resignation für die Polen aller drei Teilgebiete gefolgt, die durch den deutschen Sieg gegenüber Frankreich im Kriege 1870/71 und den engen Zusammenschluß der ehemaligen Teilungsmächte (Dreikaiserbündnis 1872) vollständig geworden war. Erst die in der Mitte der 80er Jahre einsetzenden Balkanwirren und die Zuspitzung des deutsch-französischen Gegensatzes, die einen allgemeinen Krieg in Europa in den Bereich der Möglichkeit rücken ließen, zugleich aber auch die Entfremdung zwischen Deutschland und Rußland, belebten die Hoffnungen der Polen.

Damals trat ein Mann auf, der richtungweisend für die polnische Politik bis zum Weltkriege, ja bis zur Gegenwart werden sollte: Johann Popławski, der Mitbegründer der geheimen polnischen Verbindung "Liga Polska". Seine Ideen über die territoriale Gestaltung des künftigen polnischen Staates, die er schon im Jahre 1887 verkündigt hatte, wurden das wichtigste geistige Rüstzeug für den Führer der im Jahre 1896 aus der "Liga Polska" hervorgegangenen "Nationaldemokratischen Partei", für den durch den Weltkrieg bekannt gewordenen polnischen Politiker Roman Dmowski. Sie sind von diesem während des Weltkrieges und während der Verhandlungen in Paris im Jahre 1919 in Denkschriften und Eingaben vorgetragen worden und haben schließlich durch den Traktat von Versailles ihre Verwirklichung gefunden. Wie Wielopolski so wünschte auch Popławski, daß die Polen auf das "Westgebiet" verzichten sollten und forderte statt dessen für den zukünftigen polnischen Staat die unter preußischer und österreichischer Herrschaft befindlichen ehemals zum polnischen Staate gehörenden Gebiete.

Schon im Jahre 1887 versucht Popławski seine Volksgenossen vom russischen "Westgebiet", von den "unglückseligen Phantastereien von Eroberungen im Osten" abzubringen und sie auf den angeblich alten Weg der polnischen Politik der Piastenfürsten, auf den Drang an die Ostsee, zurückzulenken.

[45] Dem sogenannten "Jagiellonischen Polen", das seine Hauptbasis im Osten suchte und dessen Gesicht nach Osten und Süden gerichtet war, wird hier zum ersten Male das "Plastische Polen" gegenübergestellt, dessen Ostgrenzen an Njemen und Bug lagen und dessen Gesicht dem Westen und Norden zugekehrt war. Damals schrieb Popławski die denkwürdigen Worte:

      "Freier Zugang zum Meere, vollkommener Besitz der Hauptwasserader des Landes, der Weichsel -, das sind die Grundbedingungen für unsere Existenz. Dieses ganze Flußgebiet von der Weichsel bis zur Mündung des Njemen, das einst so unachtsam zugleich mit Schlesien durch den polnischen Staat vertan wurde, muß durch das polnische Volkstum wiedergewonnen werden. Die Absage an dieses angeborene Erbe und unglückselige Phantastereien von »Eroberungen im Osten« waren die Gründe für unseren politischen Niedergang... Unsere Politiker träumen noch von Wilna und Kowno, aber um Posen kümmern sie sich weniger, Danzig haben sie fast vollkommen vergessen, und an Königsberg und Oppeln denken sie überhaupt nicht. Es ist endlich Zeit... nach so viel Jahrhunderten des Umherirrens in Wahngebilden auf den alten Weg zurückzukehren, den zum Meere hingebahnt haben die kräftigen Fäuste der Krieger aus der Piastenzeit."

In diesen, im Jahre 1887 niedergeschriebenen Gedanken haben wir den entscheidenden Wendepunkt für die Politik der Polen: nicht im Osten, an Düna und Dnjepr, liegt die Zukunft des wiederaufzurichtenden polnischen Staates, sondern im Westen an Oder, Warthe und Weichsel. Nicht im Kampfe gegen Rußland kann Polen wieder erstehen, sondern im Kampfe gegen die Deutschen. Zu diesem Leitgedanken kehrt Popławski während seiner langen schriftstellerischen Tätigkeit, besonders in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Allpolnische Rundschau (Przegląd Wszechpolski) immer wieder zurück. Besonders aufschlußreich sind zwei Aufsätze, die er in der genannten Zeitschrift in den Jahren 1899 und 1903 veröffentlichte.

Hier finden wir den von den polnischen Politikern in Paris im Jahre 1919 immer wieder betonten Gedanken zuerst ausgesprochen, daß von einem wirklich unabhängigen polnischen Staate nicht gesprochen werden könne, wenn er nicht einen territorialen Zugang zum Meere habe. Und dieser müsse weichselabwärts gehen und in der Weise zustandekommen, daß ganz Westpreußen den Polen zugesprochen werde: "Man kann sich den künftigen polnischen Staat ohne ein bedeutendes Teilstück vorstellen, aber ohne Westpreußen wäre er ein politisches und ökonomisches Mißgebilde, unfähig zur Entwicklung, ja sogar zu längerem Leben."

Aber der Besitz Westpreußens allein genügt nicht für den künftigen polnischen Staat:

      "Denn heute ist die territoriale Kombination unmöglich, nämlich, daß wir zwischen zwei deutschen Gebieten den Unterlauf der Weichsel, d. h. Westpreußen, in unserm Besitz haben könnten... Westpreußen kann man nicht festhalten ohne Ostpreußen, und dieses Gebiet muß um jeden Preis polnisch [46] werden... die nationale Politik, welche hinter den Problemen des Augenblicks weitere Perspektiven der nationalen Fragen sieht, muß auf Ostpreußen ihr Hauptaugenmerk richten. Wenn wir verfügbare Kräfte und Mittel hätten, welche man nach Belieben in Bewegung setzen könnte, so müßte man sie vor allem dorthin richten. Wenn wir auf die Polonisierung Ostpreußens, oder zum mindesten auf eine bedeutende Verstärkung des polnischen Elements verzichten, dann müssen wir auf Westpreußen verzichten, und was damit zusammenhängt, auf den Zugang zum Meere. Und das kommt geradezu einem Aufgeben der Hoffnung gleich, in Zukunft ein selbständiges Staatswesen schaffen zu können."

Die Stellung der Polen gegenüber West- und Ostpreußen hat Popławski dann in folgenden Sätzen prägnant dargelegt:

      "Diese Provinzen, die heute zu Preußen gehören, sind die Grundbedingungen für das Bestehen eines polnischen Staates, wie sie heute die Bedingung für die Aufrechterhaltung der preußisch-deutschen Machtstellung sind. Für uns kann um so weniger in dieser Frage von einem Kompromiß die Rede sein. Man soll diese Gedanken nicht bei jeder Gelegenheit mit der unserem Charakter eigentümlichen Übertreibung wiederholen, aber immer soll man fest daran denken, daß ohne diese Länder Polen nicht bestehen kann, und daß, wenn es auch in anderen Grenzen wieder auferstünde, es nach der Beherrschung dieser Länder streben muß."

Wir haben diese Äußerungen in so weitem Umfange wörtlich wiedergegeben, weil sie das Dogma der wichtigsten polnischen Partei, der Nationaldemokratie, geworden sind, von dem späteren Führer der Partei, Roman Dmowski, zu einem Programm gestaltet und zum größten Teile in Versailles verwirklicht worden sind. Es mag dahingestellt sein, wie weit Popławski von der Richtigkeit seiner Lehre wirklich überzeugt war, jedenfalls hatte diese antideutsche Konzeption eines wieder zu errichtenden polnischen Staates den Vorzug, daß sie sich sehr gut der sich immer deutlicher gestaltenden politischen Konstellation der beginnenden Einkreisung Deutschlands anpassen ließ, sich in einer Linie mit der antideutschen russisch-französischen Politik und somit in der Richtung des geringsten Widerstandes bewegte. Denn sollte es wirklich einmal für Deutschland zum Zweifrontenkrieg kommen, dann war sein Schicksal nach der Meinung der Polen besiegelt. Und dieser Krieg der verbündeten Mächte Frankreich und Rußland gegen Deutschland, das war der Hoffnungstraum aller polnischen Politiker.

Diese allgemein politischen Erwägungen, die bei Popławski vielleicht nur teilweise bewußt waren, wurden zum vollendeten System ausgebaut durch Roman Dmowski, seinen nächsten Mitarbeiter und Schüler. Dieser polnische Politiker hat das polnische Problem in sehr geschickter Weise in den Dienst der französischen Revancheidee gestellt. Für die französische Politik bestand schon eine hundert Jahre alte Tradition darin, den Gedanken einer Wiederaufrichtung Polens gegen Preußen-Deutschland ins Feld zu führen, wenn es galt, dieses [47] entscheidend im Osten zu schwächen, um dadurch am Rhein die Hände frei zu haben (Napoleon I. in den Jahren 1806/7, Napoleon III. im Jahre 1863).

Dmowski ist es auch gelungen, die große Unbekannte seiner politischen Rechnung, Rußland, zu einem bestimmten Faktor zu machen. An der Erreichung dieses Zieles arbeitete er volle sieben Jahre, indem er mit allen Mitteln darauf bedacht war, bei Rußland jedes Bedenken, das gegen ein Eingreifen in den gemeinsamen Krieg der Entente gegen Deutschland auftauchen könnte, aus dem Wege zu räumen. Er begann damit, in seinem im Jahre 1907 erschienenen Buche: Deutschland, Rußland und die polnische Frage den Russen die große Gefahr zu zeigen, die ihnen von der deutschen Expansion drohe, und zugleich die Hilfe der Polen für diesen Kampf gegen den gemeinsamen Erbfeind des Slawentums in Aussicht zu stellen. Und die nächsten Jahre benutzte Dmowski immer wieder dazu, um auf Geheiß Frankreichs die Russen von der Loyalität der Polen zu überzeugen und dadurch das letzte Hindernis gegen den erhofften Marsch der Russen nach Berlin aus dem Wege zu räumen: die Besorgnis Rußlands, daß im Falle eines Weltkrieges ein polnischer Aufstand im Weichselgebiet ausbrechen werde.

Zu gleicher Zeit hatte Dmowski, um überhaupt die Russen für ein Zusammengehen mit den Polen zu gewinnen, die alten freiheitlichen Ideale seiner Volksgenossen Stück für Stück aufgegeben, hatte als getreuer Schüler Popławskis feierlich auf alle ehemals polnischen Gebiete östlich vom Njemen und Bug verzichtet, hatte die Kämpfe der Generationen vor ihm um die Errichtung eines selbständigen polnischen Staates verleugnet und als Führer der nationaldemokratischen Partei zusammen mit der polnischen Hocharistokratie und Finanz den Zusammenschluß der zu erobernden preußischen und österreichischen ehemals polnischen Gebiete mit dem Weichselgebiet zu einer autonomen Provinz des Kaiserreichs Rußland als die Verwirklichung der polnischen Freiheitsideale erklärt.

Um seine Volksgenossen auf diesen die ganze polnische Vergangenheit verleugnenden Weg zu führen, bedurfte es eines geschickten Lavierens; und eines der wirksamsten Mittel, um den immer wieder aufflammenden Widerwillen der Polen gegen ein Paktieren mit Rußland zu betäuben, war, durch übertriebene oder gar erlogene Nachrichten über deutsche Gewalttaten die Bevölkerung in Haßstimmung gegen Deutschland zu versetzen, in der dann alle antirussischen Regungen erstickt wurden. Die Geschichte dieser von der Nationaldemokratie in den Jahren 1907-1914 betriebenen Verhetzungskampagne gegen Deutschland ist noch nicht geschrieben; sie ist ein notwendiger und lehrreicher Beitrag für die Untersuchung über die Ursachen des Weltkrieges. Sie würde zeigen, wie die nationaldemo- [48] kratische Presse in der Provinz Posen ihren Parteigenossen in Russisch-Polen und Galizien in die Hände gearbeitet hat, indem sie immer wieder Nachrichten von einzelnen Übergriffen der preußischen Behörden brachte und in unerhörter Weise aufbauschte. Diese Pressenotizen gingen dann vergröbert in die Warschauer und galizische Presse über, um durch die polnischen Pressebüros im Auslande dann in die ausländische Presse zu gelangen. So haben die Kreise, die der polnischen Nationaldemokratie nahestanden, eifrig dazu beigetragen, die Atmosphäre von Verleumdung und Haß, die sich um Deutschland in den letzten zehn Jahren vor dem Kriege legte, zu schaffen. [Scriptorium merkt an: und nach dem Krieg ging's weiter!]

Dmowski hat aber schließlich sein Ziel erreicht: Rußland ging im Jahre 1914 an der Seite der Entente in den Krieg gegen Deutschland und konnte, da das Weichselgebiet ruhig blieb, dieses als Aufmarschbasis für seine gegen Ostpreußen und Galizien angesetzten Armeen benutzen. Es ist nicht zuviel gesagt, wenn von polnischer Seite behauptet wird, daß der französische Sieg an der Marne ohne diese Haltung der Polen in Kongreßpolen nicht möglich gewesen wäre, und daß dadurch die Polen schon in den Anfängen des Weltkrieges entscheidend in dessen Verlauf und zwar zugunsten der Entente eingegriffen haben.

Tatsächlich hat die Absicht bestanden, bei Ausbruch eines Weltkrieges im ganzen Weichselgebiet einen polnischen Aufstand auflodern zu lassen. Und das war der Plan der alten polnischen Freiheitspartei, der polnischen Sozialdemokratie und ihres Führers Joseph Pilsudski. Auf dieser Voraussetzung waren die Pläne für die weiteren Aktionen der von Pilsudski geschaffenen polnischen Freischaren, der aus den Schützenverbänden hervorgegangenen polnischen Legionen aufgebaut.

Die ersten Jahre des Weltkrieges sollten aber für Dmowski und seine Anhänger eine schwere Enttäuschung bringen. Der von den Nationaldemokraten (auch in der Provinz Posen!) erwartete Vormarsch russischer Heere auf Berlin kam nicht zustande; statt dessen rückten die Truppen der Zentralmächte noch über die Grenzen Kongreßpolens nach Osten vor und nahmen diese Gebiete in eigene Verwaltung. Die russische Regierung, die schon in der Zeit, da die russischen Truppen wenigstens noch die Hälfte Kongreßpolens besetzt hielten, nur leere Versprechungen gemacht hatte, zeigte jetzt noch weniger Lust, ihre Zusagen zu verwirklichen.

Die Lage Dmowskis und der Nationaldemokraten war im Laufe des Jahres 1916 eine geradezu verzweifelte geworden. Die französische Regierung wagte schon gar nicht mehr, irgendwelche Vorstellungen zugunsten der Polen zu machen, da die russischen Regie- [49] rungsstellen jedesmal in höchster Gereiztheit diese Frage als eine innerstaatliche Angelegenheit Rußlands bezeichnet hatten. Ja die Gefahr eines Sonderfriedens zwischen Rußland und den Zentralmächten schien zu drohen.

Da kam die verhängnisvolle Proklamation der beiden Kaiser vom 5. November 1916 den Nationaldemokraten zu Hilfe. Das, was Rußland trotz dem Widerspruche Frankreichs während der ganzen Zeit des Krieges beharrlich durchgesetzt hatte, das polnische Problem nicht zu einer Angelegenheit der internationalen Politik werden zu lassen, das war jetzt geschehen, und zwar gerade durch die Hilfe der Zentralmächte. Nachdem auch noch die russische Revolutionsregierung im März 1917 sich für die Errichtung eines polnischen Staates ausgesprochen hatte, da war für die europäischem Staaten jeder Hinderungsgrund genommen, die Frage der Schaffung eines selbständigen politischen Staates in die politische Diskussion zu ziehen. Vollends jede Rücksichtnahme auf Rußland war überflüssig geworden, als die Bolschewiki zur Herrschaft gelangten und im Frühjahr 1918 mit den Zentralmächten Frieden schlossen.

Von entscheidender Bedeutung für das Schicksal der polnischen Frage wurde aber das Eingreifen Amerikas in den Weltkrieg. Und zwar nicht nur insofern, als hierdurch der Krieg militärisch endgültig zu Ungunsten Deutschlands entschieden wurde, sondern auch dadurch, daß Präsident Wilson, der sich schon vor dem Eintritt Amerikas in den Weltkrieg theoretisch mit dem polnischen Problem beschäftigt hatte, jetzt in die Lage versetzt wurde, seine Theorie in die Wirklichkeit umzusetzen.

Dieser Eintritt Amerikas in den Weltkrieg und das Eingreifen des Präsidenten Wilson in das Schicksal der polnischen Frage sind in hervorragendem Maße durch die agitatorische Tätigkeit zweiter Polen beeinflußt worden, durch Georg Sosnowski und Roman Dmowski. Beide haben uns über ihre Tätigkeit ausführliche Berichte in polnischer Sprache geliefert, die für die Vorgeschichte des Traktats von Versailles von der größten Bedeutung geworden sind.

Daß die Stellungnahme Wilsons zum polnischen Problem eine unmittelbar gegen Deutschland gerichtete Spitze erhielt und schließlich für dieses den Verlust der Ostmarken zur Folge hatte, ist letzten Endes das Werk dieser beiden polnischen Politiker. Der erste, Sosnowski, begleitete mit seiner Agitation den Eintritt Amerikas in den Weltkrieg und benutzte die Völkerbeglückungstheorien Wilsons dazu, um aus ihnen die vergifteten Waffen der Agitation zu schmieden, deren Anwendung durch den Präsidenten Wilson den Zusammenbruch Deutschlands in erster Linie verursacht hat. Der andere - Dmowski - verstand es, in zähem, rücksichtslosem Rin- [50] gen, bis zum äußersten hierbei durch Frankreich unterstützt, für die unbestimmt gehaltenen Wendungen im Friedensprogramm Wilsons über die Gestaltung Polens eine Auslegung durchzusetzen, deren Folgen - die Zerschlagung Ostdeutschlands - nie von dem Präsidenten beabsichtigt gewesen waren.

Es ist bemerkenswert, daß Sosnowski, der seit Oktober 1915 in Amerika weilte, schon Mitte Dezember 1916 dem Präsidenten Wilson eine Denkschrift vorlegen konnte, in welcher er nach allgemeinen Bemerkungen über die künftige Neugestaltung Europas, schließlich als wichtigsten Punkt die Wiederaufrichtung eines aus allen drei Teilen geeinten unabhängigen Polens forderte. Unverkennbar in Anlehnung an diese Denkschrift ist dann die viel zitierte Botschaft Wilsons an den amerikanischen Senat vom 22. Januar 1917 entstanden, die für die weitere Gestaltung des polnischen Problems von großer Bedeutung gewesen ist. Nachdem Wilson den denkwürdigen Grundsatz aufgestellt hat, "daß es nirgend ein Recht gibt, Völker von einer Landesherrschaft an die andere zu übertragen, als ob sie Sachen wären", erklärt er speziell zum polnischen Problem:

      "Ich halte z. B. für sicher, wenn ich ein einzelnes Beispiel wagen darf, alle Staatsmänner stimmen darin überein, daß es ein geeintes, unabhängiges und selbständiges Polen geben und daß in Zukunft die unverletzte Sicherheit des Lebens, des Glaubens und der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung allen Teilen dieses Landes verbürgt werden sollte, die bisher unter der Macht von Regierungen feindlichen Glaubens und Willens lebten... Außerdem sollte, soweit möglich, jedem Volk, das jetzt um die volle Entwicklung seiner Mittel und seiner Macht kämpft, ein unmittelbarer Zugang zu den großen Verkehrsstraßen des Meeres zugebilligt werden. Wo dies nicht durch Gebietsabtretungen geschehen kann, kann es zweifellos durch die Neutralisierung unmittelbarer Wegerechte unter der allgemeinen Friedensbürgschaft geschehen."

Nachdem es Sosnowski gelungen war, Wilson erst einmal für den polnischen Staatsgedanken zu gewinnen, war sein zweites Ziel, die Grundlagen für die Verwirklichung dieser Theorie zu legen. Und diese sah er in einem möglichst baldigen aktiven Eingreifen Amerikas in den Weltkrieg, wodurch nach seiner Meinung das Schicksal Deutschlands endgültig besiegelt war.

Um vor allem die Bedenken Wilsons wegen des Widerstandes der amerikanischen Deutschen im Falle einer Kriegserklärung gegen Deutschland zu zerstreuen, ließ Sosnowski ihm raten, bei seinen öffentlichen Kundgebungen immer zu erklären, daß Amerika nicht gegen das deutsche Volk, sondern nur gegen die despotische Regierung, die es beherrsche, Krieg führe. Immer wieder riet er in Denkschriften, mit denen er gerade während der entscheidenden Beratungen in der zweiten Hälfte des März 1917 Wilson und seine Berater bestürmte, daß der Präsident in seinen öffentlichen Kundgebungen [51] zu dem deutschen Volke anders als zu der deutschen Regierung sprechen solle. Wilson müsse darauf den Nachdruck legen, "daß er mit den absolutistisch regierenden Dynastien, den Klassen und der Militäroligarchie, aber nicht mit dem deutschen Volk Krieg führe, das er glücklich sehen und dessen Vaterland er zu einer glänzenden Zukunft durch die deutsche Demokratie geführt sehen wolle".

Die absolutistisch regierende Dynastie, welcher Wilson den Krieg erklären sollte, waren die Hohenzollern. Gegen diese lief Sosnowski immer von neuem Sturm und behauptete hierbei auch, daß ihre Absetzung von sieben Zehnteln aller Deutschen gewünscht würde. In einer Konferenz, die er am 30. März 1917 mit Tumulty, dem Privatsekretär Wilsons, hatte, gelang es ihm, den Amerikaner auf den Grundsatz festzulegen, "daß der künftige Friede nie mit der Dynastie der Hohenzollern geschlossen werden kann, und daß vor Abschluß des Friedens eine vollkommene Demokratisierung Deutschlands eingetreten sein muß". Sei das deutsche Volk erst einmal von dieser Erkenntnis durchdrungen, dann könnte die Kriegserklärung Amerikas an Deutschland erfolgen, die aber nach Meinung Sosnowskis nicht zum eigentlichen Kriege, sondern zur Revolution in Deutschland führen werde.

Und so konnte ein Vertrauensmann Wilsons, Le Gendre, in seiner Denkschrift, die er am gleichen Tage Wilson einreichte und die ebenfalls von Sosnowski inspiriert war, erklären: "Wir beginnen den Krieg und treten auf die Seite der Alliierten, um in allerkürzester Zeit Frieden zu schließen und demokratische Regierungen in Europa einzuführen."

Als Sosnowski sein erstes Ziel erreicht hatte, als er die Vereinigtem Staaten an der Seite der Alliierten wußte, da ging er aus seiner Reserve heraus. Jetzt konnte er mit seinen polnischen staatlichen Plänen, die er vorher nur angedeutet hatte, offen hervortreten. In seinem Briefe, den er am 7. April 1917 an Wilson richtete, entwarf er ein ausführliches Programm über die Wiederaufrichtung Polens. Um Wilson zu zeigen, in welchem Umfange er sich diese dachte, legte er seinem Brief drei Karten bei, auf denen die Erwerbungen der drei Kaiserreiche aus den drei Teilungen dargestellt waren. Zu diesen Karten hatte er noch Anmerkungen gemacht, unter denen sich gleichsam als Motto der vielsagende Satz befand: "Die Zerstückelung Preußens dadurch, daß man ihm den in der Vergangenheit erworbenen Raub abnimmt, kommt einer Vernichtung des Militarismus gleich."

Und dieser zu vernichtende preußische Militarismus mußte auch als Vorwand herhalten, um den polnischen Appetit auf Oberschlesien, der sich sonst nicht rechtfertigen ließ, zu begründen. Oberschlesien müsse Deutschland abgenommen werden, da gerade die [52] hier vorhandene Kohlen- und Koksindustrie mit ihrer Nebenproduktenerzeugung den Reichtum und die drohende Macht Preußens geschaffen hätte: "Obwohl die Polen dieses Gebiet schon vor der ersten Teilung verloren hatten, muß es ihnen trotzdem zurückgegeben werden, da gerade durch diese Rückgabe den militärischen Vorbereitungen Preußens und Deutschlands ein Riegel vorgeschoben werden wird."

Und in einem zweiten Briefe, den er am 12. Mai 1917 an Wilson richtete, führte er diesen Gedanken noch weiter aus: "Ich glaube nicht nur fest an Ihre Grundsätze, sondern ich habe auch ebenso den unbegrenzten Glauben, daß Sie allein die Macht haben, die Welt von der Tyrannei der Teutonen zu erlösen, indem Sie Ihren Willen den Alliierten aufzwingen, unter ihnen Einheit schaffen und den endgültigen Sieg der Demokratie sicher stellen. Der Untergang der Hohenzollern, die Zerstückelung Preußens und die Abschaffung des Militarismus werden auf diese Weise erreicht werden."

Das waren die "Ideale", für deren Erreichung Wilson, angetrieben durch die skrupellose Agitation des Polen Sosnowski, mit seinem Lande auf die Seite der Gegner Deutschlands trat!

Die von Sosnowski vorausgesagten Folgen der amerikanischen Kriegserklärung trafen jedoch nicht ein. Weder gab es eine Revolution in Deutschland, noch war der Krieg in 60 Tagen beendet. Aber Sosnowski hatte sein Ziel erreicht: Amerika stand auf der Seite der Feinde Deutschlands.

Ehe aber die staatlichen Pläne der Polen verwirklicht werden konnten, vergingen noch anderthalb Kriegsjahre. Und erst der militärische Zusammenbruch Deutschlands schuf die Möglichkeit, den polnischen Staat in dem Umfange, wie die Feinde Deutschlands ihn planten, erstehen zu lassen. Aber auch damals wäre Polen nie in dem Umfange entstanden, wie es jetzt vorhanden ist, wenn nicht ein Mann in geschickter Arbeit die Fundamente für diesen Staat gelegt und immer wieder, unermüdlich und zäh, auf den Ausbau der Form gedrungen hätte. Die Bedeutung des Politikers Roman Dmowski für die Entstehung des gegenwärtigen polnischen Staates kann nicht hoch genug angeschlagen werden.

Von 1916 bis 1919, bis zum Abschluß des Traktats von Versailles, ist Dmowski unermüdlich in Westeuropa für die polnische Sache tätig gewesen, indem er immer wieder bei den einzelnen maßgebenden Staaten vorsprechend unverdrossen seine Pläne für die Neugestaltung Europas in langen Denkschriften entwickelte. Doch wenn er es auch erreicht hätte, die europäischen Gegner Deutschlands für den Gedanken einer Wiederaufrichtung Polens zu gewinnen - bei England stieß er bekanntlich fast bis zuletzt auf Unverständnis, wenn nicht gar auf schroffe Ablehnung - so wären alle seine Be- [53] mühungen fruchtlos geblieben, wenn es ihm nicht gelungen wäre, den Mann, von dem im wachsenden Maße die Zukunft Europas abhing, für seine Pläne über den künftigen polnischen Staat zu gewinnen. Noch einmal hatte Wilson inzwischen am 8. Januar 1918 eine programmatische Erklärung über die zukünftige Gestaltung Polens abgegeben. Und das war der berühmte 13. Punkt:

      "Ein unabhängiger polnischer Staat soll errichtet werden, der die von einer unbestreitbar polnischen Bevölkerung bewohnten Gebiete umfassen soll, denen ein freier und gesicherter Zugang zum Meere geleistet werden und dessen politische und ökonomische Unabhängigkeit sowie dessen territoriale Integrität durch internationalen Vertrag garantiert werden wird."

Doch die um die Mitte des Jahres 1918 aus Amerika kommenden Nachrichten lauteten wenig ermutigend. Und so entschloß sich Dmowski, im August 1918, als an einem für die Alliierten günstigen Ausgang des Krieges schon nicht mehr zu zweifeln war, selbst nach Amerika zu reisen, um unmittelbar auf Wilson einwirken zu können. Die Erfahrungen, die Dmowski damals - im Herbst 1918 - in Amerika machte, sind für die Beurteilung des Traktats von Versailles von der größten Bedeutung. Wir sind in der glücklichen Lage, über zwei wichtige Gespräche, die Dmowski damals mit Wilson geführt hat, fast protokollarische Aufzeichnungen von Dmowski selbst zu besitzen. Aus diesen Aufzeichnungen geht folgendes einwandfrei hervor:

Zunächst, daß Wilson noch im August 1918 nicht daran gedacht hat, den freien und sicheren Zugang Polens zum Meere dadurch herzustellen, daß Westpreußen an Polen abgetreten wurde. Diese Provinz sollte nach dem festen Entschluß des Präsidenten, zu dem er sich noch bis in den November 1918 hinein bekannt hat, bei Deutschland bleiben. Wilson wollte seine Forderung des Zugangs zum Meere dadurch verwirklicht sehen, daß die Weichsel neutralisiert und Polen ein Freihafengebiet in Danzig eingeräumt wurde.

Die Aufzeichnungen Dmowskis sind ferner ein strikter Beweis dafür, daß Wilson bis zum November 1918 überhaupt nicht daran gedacht hat, dem von ihm geforderten wieder zu errichtenden polnischen Staate irgendein Stück deutschen Reichsgebietes zuzuerkennen.

Dmowski war entsetzt, aber keineswegs verzweifelt. Es gelang ihm, in der Abschiedsaudienz, die er bei Wilson vor seiner Rückreise nach Europa hatte, den Präsidenten dadurch einzuschüchtern, daß er ihm damit drohte, die vier Millionen amerikanischer Polen gegen ihn mobil zu machen, indem er ihn des damals größten Verbrechens in Amerika, der Deutschfreundlichkeit, beschuldigt haben würde.

Daß Wilson dann in Paris so vollkommen für die polnische Sache gewonnen wurde, ist das Ergebnis der vereinten Anstrengungen von Seiten der Polen und Franzosen, denen in Paris ein wichtiger Bun- [54] desgenosse unter den nächsten Beratern Wilsons erstand. Es war dies der Professor der Geschichte an der Harvard-Universität, Dr. R. H. Lord. Dieser amerikanische Historiker, der wegen einer größeren Arbeit über die zweite Teilung Polens als sachverständig galt, war schon in der Kommission, welche der Berater Wilsons, Oberst House, auf Anordnung des Präsidenten im Jahre 1917 für die den Abschluß des Weltfriedens vorbereitenden Arbeiten gebildet hatte, Vorsteher der Sektion gewesen, welche das polnische Problem bearbeitet hatte und gehörte jetzt der amerikanischen Delegation in Paris ebenfalls als Sachverständiger an. Der geschickten und skrupellosen Agitation der Polen, die sich in zahlreichen Denkschriften Dmowskis und einer aus Professoren und Politikern bestehenden Sachverständigenkommission auswirkte, der unmittelbaren Beeinflussung Wilsons durch Professor Lord und endlich dem rücksichtslosen Auftreten der Franzosen, allen voran Clemenceaus, während der Verhandlungen in Paris ist es gelungen, auf Wilson, von dessen Entscheidung alles abhing, derart einzuwirken, daß er alle seine feierlich verkündigten Grundsätze, die von Deutschland ausdrücklich als Grundlage und Bedingung für freiwillige Niederlegung der Waffen erklärt worden waren, verleugnete und zum gefügigen Werkzeug in den Händen der Franzosen wurde. Und um die letzten Bedenken des Präsidenten zu beschwichtigen, wurden zwei unwahre Behauptungen aufgestellt: Deutschland trage die alleinige Schuld am Ausbruche des Weltkrieges, und Preußen habe die Teilungen Polens und dadurch dessen Untergang verursacht. Durch die Forderung der "Wiedergutmachung" des an Polen durch Preußen begangenen Verbrechens wie auch der Bestrafung des mit schwerer Schuld belasteten Deutschlands ist dann auch die Wegnahme des deutschen Staatsgebietes begründet worden.

Unter dem Einfluß dieser Propaganda erklärte Wilson, der noch während des Jahres 1918 dem deutschen Volke, wenn es die Hohenzollern absetze, Frieden und Freundschaft der andern Völker und Wohlergehen versprochen hatte, jetzt im Jahre 1919 in Paris, daß das deutsche Volk auch schuldig sei und bestraft werden müsse. Von polnischer Seite war ihm zudem immer wieder vorgetragen worden, daß der preußische Militarismus im Interesse der Zivilisation vernichtet werden müsse, und daß dies nur dadurch erreicht werden könne, daß Preußen durch Wegnahme der ehemals polnischen Gebiete, zu denen auch ohne jedes Recht Oberschlesien und Ostpreußen gerechnet wurden, geschwächt werde.

Ebensowenig verfehlte die zweite, von der polnischen und französischen Agitation verbreitete Lüge, daß Preußen als Urheber der Teilungen die alleinige Schuld an dem Untergange Polens trage und auch in der Gegenwart der ärgste Feind der Polen sei, ihre Wirkung.

[55] Mit Hilfe dieser Behauptungen ist es Professor Lord gelungen, Wilson dazu zu bewegen, seine ursprüngliche Absicht, den freien Zugang Polens zur See durch Internationalisierung der Weichsel und Einräumung eines Freihafengebietes in Danzig herzustellen, aufzugeben und sich ebenfalls für die Schaffung eines Korridors zu erklären.

Professor Lord hatte erklärt, daß der Zugang Polens zur See, der ja nach dem 13. Punkte Wilsons frei und ungehindert sein solle, nicht durch ein Gebiet gehen könne, daß in den Händen des erbittertsten und gefährlichsten Feindes der Polen, eben Deutschlands, verbleibe.

Wilson war so gründlich für den französisch-polnischen Standpunkt gewonnen worden, daß er sogar ganz Westpreußen mit Danzig den Polen zusprechen wollte, der gleiche Wilson, der in seiner Botschaft an den amerikanischen Senat vom 22. Juni 1917 gegen den Grundsatz protestiert harte, "Völker von einer Landesherrschaft an die andere zu übertragen, als ob sie Sachen wären"! Und es ist lediglich dem mannhaften und unerschrockenen Auftreten von Lloyd George zu verdanken, wenn dieser Plan nicht zur Ausführung kam und wenigstens den westpreußischen Kreisen Marienwerder (rechts der Weichsel), Rosenberg, Stuhm und Marienburg Gelegenheit gegeben wurde, durch eine Volksabstimmung mit 93,7% sich für ein Verbleiben bei Deutschland zu erklären.

Ebenso ist auch die Schaffung der Freien Stadt Danzig dem unermüdlichen Ringen des englischen Premierministers zu verdanken.

Und fast schien es, als werde es Lloyd George noch im letzten Augenblicke gelingen, von dem schlecht informierten Wilson an den besser zu informierenden zu appellieren. Durch seine immer wieder erneuerten Vorstellungen erreichte es Lloyd George, daß Wilson noch am 3. Juni, also wenige Tage, nachdem die deutsche Delegation ihre Bemerkungen überreicht hatte, 38 Mitglieder der amerikanischen Friedensdelegation zu einer Besprechung zusammenberief. In den einleitenden Worten erklärte Wilson jetzt, die Friedensbedingungen seien hart ausgefallen, weil die Deutschen es so verdient hatten. Der Keil, den er auf Rat des Polen Sosnowski zwischen Volk und Regierung in Deutschland getrieben hatte, hatte seine Wirkung ausgeübt und die Versprechungen von der dem deutschen Volke zugedachten glücklichen Zukunft konnten nach der freiwilligen Niederlegung der Waffen durch die Deutschen jetzt von Wilson verleugnet werden!

Trotzdem aber scheint Wilson eine Regung des Gewissens verspürt zu haben. Denn noch am 3. Juni 1919 stellte er den Leitsatz auf: "Wo es sich jetzt nachweisen läßt, daß die in Polen einbezogenen Bevölkerungsschichten nicht unbestreitbar polnisch sind, dort [56] müssen wir zu einer Art Volksabstimmung unsere Zuflucht nehmen." Also auch selbst noch unter dem Gesichtspunkte, daß die Deutschen durch Auferlegung harter Bedingungen bestraft werden müßten, war Wilson bereit, eine Volksabstimmung bei Gebieten mit nicht unbestreitbar polnischer Bevölkerung zuzugestehen.

Doch der Sachverständige, Professor Lord, der ebenfalls an dieser Sitzung teilnahm und um sein Urteil gebeten wurde, erklärte apodiktisch: "Die Gebiete, welche der Vertrag vorschlägt, Polen zu übergeben, sind so eindeutig polnisch, daß die Deutschen im allgemeinen unfähig wären, wirklich ernsthaft Mängel in dem Vertrage vom Standpunkte der Nationalität, der Statistik oder des Prinzips der Vereinigung eindeutig polnischer Territorien mit Polen aufzudecken."

Und um diese seine gutachtliche Äußerung noch zu unterstreichen, brachte er die von der polnischen Agitation immer wieder ins Feld geführte Behauptung vor, daß das Vorhandensein der Deutschen in Westpreußen, Posen und Schlesien "hauptsächlich der systematischen Arbeit der preußischen Regierung mit ihren Kolonisationsmethoden zuzuschreiben ist, die gewisse Teile durch rein künstliche Mittel mit Deutschen überschwemmt hat und die Deutschen durch rein künstliche Mittel dort ansässig hielt". Von der gewaltigen Bedeutung der schon seit der Mitte des 12. Jahrhunderts einsetzenden Kolonisationsbewegung für die Ausbreitung des Deutschtums in Westpreußen, Posen und Schlesien scheint dieser Sachverständige für osteuropäische Geschichte nichts zu wissen oder will er nichts wissen.

Aber so recht im Glanze seiner "wissenschaftlichen Objektivität" und "tiefgründigen Kenntnis" der polnischen Geschichte zeigte sich dieser sachverständige Berater des Präsidenten Wilson in der gleichen Sitzung vom 3. Juni 1919 bei der Besprechung der oberschlesischen Frage. Nachdem er, über die politische Zugehörigkeit Oberschlesiens in der Vergangenheit befragt, das deutsche Memorandum ein in seinen historischen Daten "außerordentlich trügerisches Machwerk" genannt hatte, gab dieser Professor der Geschichte folgenden Überblick über die Vergangenheit Oberschlesiens: "Oberschlesien war von Anfang an polnisch, war polnisch mehrere Jahrhunderte hindurch... Von Polen ging es 1500 einige Zeit an Böhmen über; 1600 ging es von Böhmen an Österreich über und an die Deutschen ging es 1700 über. Daher gehört es zum polnischen Staate, zu den Deutschen etwa 200 Jahre". In dieser gutachtlichen Äußerung des amerikanischen Professors war jede Angabe falsch.

Es kann nicht scharf und nicht oft genug betont werden, daß in der verhängnisvollen Sitzung der amerikanischen Friedensdelegation vom 3. Juni 1919, in welcher über die Zukunft der deutschen Ost- [57] marken, über das Schicksal von Gebieten, die von mehreren Millionen Deutscher bewohnt waren und in denen alle materielle und geistige Kultur deutschen Ursprungs ist, ein für das Leben von Generationen, für die Zukunft Deutschlands entscheidender Beschluß gefaßt worden ist, der sich gründete auf ein historisches Sachverständigengutachten, das entweder tendenziös entstellt oder wie in der oberschlesischen Frage in allen seinen Punkten grundfalsch gewesen ist.

Tatsächlich hatten die Ausführungen des Professors Lord die Folge, daß Wilson sich seinem Standpunkte anschloß, obwohl er während der Besprechung vom 3. Juni erkannt haben mußte, daß mehrere Mitglieder der amerikanischen Friedensdelegation die Beurteilung der Sachlage durch den historischen Sachverständigen nicht teilten.

Wieder war es Lloyd George, der gegen Wilson und Clemenceau auftrat. Es gelang ihm, in fünf langen und erregten Sitzungen die Volksabstimmung in Oberschlesien durchzusetzen.

Man atmete in Paris erleichtert auf, als der Friede durch die am 28. Juni 1919 erfolgte Unterzeichnung des Vertrages perfekt geworden war. Bis zum letzten Augenblick hatte die bange Frage, ob Deutschland unterzeichnen werde, wie ein Alp auf allen Teilnehmern der Konferenz gelastet.

Wenn sich auch die polnische Delegation den Anschein geben mußte, als sei Polen durch die Bestimmungen des Versailler Vertrages schwer geschädigt worden, so war sie in Wirklichkeit von einer schweren Sorge befreit, als der Vertrag endlich unterzeichnet worden war. Es war den Polen in Paris nicht entgangen, daß die Stimmung in den Kreisen der Friedenskonferenz seit Anfang April von Tag zu Tag ungünstiger für ihre Sache geworden war. Allmählich war bei den Feinden Deutschlands mit Ausnahme Frankreichs die Erkenntnis durchgedrungen, daß die Polen mit ihren weitgehenden ungerechtfertigten territorialen Forderungen das eigentliche Hindernis für den baldigen Abschluß eines Friedens bildeten und auch eine Gefährdung des ganzen Friedenswerks in der Zukunft bedeuteten.

Recht stark wurde die Ernüchterung in den Kreisen der Entente und auch in Amerika, als die Ergebnisse der Abstimmungen in Ost- und Westpreußen und besonders in Oberschlesien bekannt wurden. Die Anwendung des Wilsonschen Prinzips auf einen kleinen Teil des von Polen beanspruchten deutschen Staatsgebietes brachte ganz überraschende Ergebnisse und war für die von Dmowski in seinen Denkschriften und ebenso für die von den polnischen Professoren vorgebrachten Behauptungen eine peinliche Bloßstellung. Noch weni- [58] ger rühmlich war das Ergebnis für das Sachverständigenurteil des Professors Lord.

Aber Frankreich hatte sein Ziel erreicht. Auf sein Betreiben ist der neue polnische Staat möglichst freigebig mit ehemals deutschem Staatsgebiet ausgestattet worden. Denn Polen soll der Exponent der französischen Politik im Osten sein. Es soll für das gegenwärtige Frankreich die gleiche Rolle spielen, die schon Napoleon I. und Napoleon III. einem wieder zu errichtenden polnischen Staate zugedacht hatten. Es soll Preußen-Deutschland im Rücken schwächen und fesseln, damit Frankreich am Rhein freie Hand gewinnt. Die alte Konzeption "Le Rhin et la Vistule" ist in neuer Gestalt wieder aufgetaucht.

Frankreich hat dem neuen polnischen Staate ein sehr verhängnisvolles Geschenk in die Wiege gelegt, als es durch seinen Minister Pichon erklären ließ, daß das neue Polen "très grande et très forte" sein müsse. Auf Veranlassung Frankreichs hat man den polnischen territorialen Wünschen nicht nur Deutschland gegenüber jedes Entgegenkommen gezeigt, sondern auch im Osten dem polnischen Imperialismus in gefährlicher Schwäche die Zügel schießen lassen. Der neue polnische Staat greift überall in fremde nationale Räume über. Von einem Manne, welcher als das Ziel der nach dem Weltkriege herbeizuführenden idealen staatlichen Neuordnung verlangt hatte, daß die Völker nicht wie Sachen gegen ihren Willen verschoben und nur zu dem Staate gehören dürften, für den sie sich freien Willens selbst entschieden hätten, eben von Wilson ist es geduldet worden, daß nicht nur ehemals deutsche Gebiete ohne Befragung ihrer Bevölkerung dem neuen polnischen Staate zugesprochen wurden, sondern auch, daß weite von nicht-polnischen Völkern bewohnte Gebiete an der Ostgrenze des polnischen Staates gegen den Willen dieser Völker, der Litauer, Weißrussen und Ruthenen, dem polnischen Staate zuerkannt worden sind. Diese nationalen Minderheiten werden durch Gewalt und Unterdrückung in den Rahmen des polnischen Staates hineingepreßt.

Es ist nicht bekannt geworden, ob Wilson noch die verhängnisvollen Folgen dieser Politik für das Schicksal Osteuropas erkannt hat.

Daß den Deutschein in Versailles schwerstes Unrecht zugefügt worden ist, hat er selbst in einem Augenblicke tragischer Erkenntnis zugegeben. Es sind dies die denkwürdigen Worte, die er Anfang April 1919, mitten während der Verhandlungen in Paris zu seineim Vertrauten Baker sagte:

      "Das einzige wahre Interesse Frankreichs an Polen besteht in der Schwächung Deutschlands, indem Polen Gebiete zugesprochen werden, auf die es kein Anrecht besitzt."

[59] Damit hat Wilson über sein "Friedenswerk" von Versailles selbst das Vernichtungsurteil gesprochen. Die ewige Schuld Wilsons wird es aber bleiben, daß er nicht mehr den Mut und die Energie aufgebracht hat, dieser französischen Politik, deren verhängnisvolle Folgen für Europa er voraussah, sich zu widersetzen.


Schrifttum

Roth, P., Die Entstehung des polnischen Staates. Berlin 1926.

Recke, W., Die polnische Frage als Problem der europäischen Politik. Berlin 1927.

Popławski, J., Pisma Polityczne. 2 Bde. Krakau 1910.

Dmowski, R., Niemcy, Rosya i kwestya polska. Lemberg 1908

Ders., La question polonaise. Paris 1909.

Ders., Polityka polska i odbudowanie państwa. 1. Aufl. 1925, 2. Auflage 1926.

Kozicki, St., Sprawa granic Polski na konferencji pokojowej w Paryżu 1919. Warschau 1921.

Sosnowski, J. J., Prawda dziejowa 1914-17. Warschau 1925.

Seyda, M., Polska na przeło mie dziejow. Posen - Warschau 1927.

Lansing, R., The Peace negotiations. London 1921.

Ders., The big four and others of the Peace Conference. London 1922.

Baker, R. St., Woodrow Wilson, Memoiren und Dokumente über den Vertrag von Versailles Anno 1919. Deutsche Ausgabe. Leipzig 1923.

(Seymour, Ch.), The intimate Papers of Colonel House arranged by Ch. Seymour. London 1926 ff. 4 Bde.

House, E. und Seymour, Ch., What really happened at Paris. London 1921.

Temperley, A history of the Peace Conference of Paris. 6 Bde. 1920/21.

Mermeix, Les negociations secrètes. Paris 1921.

Ders., Le combat des Trois. Paris 1922.

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Das Buch der deutschen Heimat, besonders die Kapitel "Oberschlesien" und "Ostpreußen".

Deutsches Land: Das Buch von Volk und Heimat, besonders die Kapitel "Schlesien" und "Pommern".

Deutschtum in Not! Die Schicksale der Deutschen in Europa außerhalb des Reiches,
besonders die Kapitel "Das Deutschtum in Polen", "Das Deutschtum in Pommerellen und Posen", "Das Deutschtum in Ost-Oberschlesien", "Das Deutschtum in Kongreßpolen", "Das Deutschtum in Polnisch-Wolhynien" und "Das Deutschtum in Galizien".

Das Grenzlanddeutschtum, besonders das Kapitel "Das Grenzlanddeutschtum im polnischen Staate."

Gebiets- und Bevölkerungsverluste des Deutschen Reiches und Deutsch-Österreichs nach dem Jahre 1918

Das Versailler Diktat. Vorgeschichte, Vollständiger Vertragstext, Gegenvorschläge der deutschen Regierung

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Zehn Jahre Versailles
in 3 Bänden herausgegeben von
Dr. Dr. h. c. Heinrich Schnee und Dr. h. c. Hans Draeger