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Der grenzdeutsche
Gürtel (Teil 9)
Das Deutschtum in Polen: in Galizien
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Deutsches Wohnhaus in Nadworna in Galizien.
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Der verdienstvolle Deutschtumsforscher Professor R. Kaindl hat in seiner
Geschichte des Deutschtums in Galizien für das Jahr 1910
für Galizien 90 469 Deutsche bei einer Gesamtbevölkerung
von 8 Millionen Einwohnern angegeben. Außer den Städten
Lemberg und Stanislau, wo je 15 000 Deutsche leben, besteht das gesamte
übrige Deutschtum in Galizien aus Bauern. Sie sind im ganzen Lande
verstreut zu finden. Man zählt gegenwärtig 172 deutsche Kolonien,
unter denen sich 82 befinden, die noch rein deutschen Charakter haben. In der
sehr lesenswerten kleinen Schrift von Th. Zöckler, Das
Deutschtum in Galizien, lesen wir:
"Eigentümlich ist es, daß
diese Kolonien sich fast durchweg konfessionell scharf voneinander abgrenzen.
Es gibt katholische Deutsche, oder wie man in Galizien sagt,
deutsch-katholische und deutsch-evangelische Kolonien. Nur höchst selten
gemischte. Die Zahl der deutsch-katholischen Dörfer beträgt 85, die
der evangelischen 87. Unter diesen sind als rein deutsch oder doch fast ganz rein
deutsch 42 katholische und 40 evangelische Dörfer zu bezeichnen. Es
könnte hier fast den Anschein haben, als ob sich die katholischen
Dörfer in nationaler Beziehung widerstandsfähiger gezeigt
hätten, da verhältnismäßig eine größere
Anzahl katholischer Dörfer sich rein deutsch erhalten hat, als dies bei den
protestantischen der Fall ist. Das scheint aber nur so. Tatsächlich haben die
deutschen Protestanten ihr Deutschtum treuer und besser gewahrt, als der
größere Teil der Katholiken. Der Grund hiervon ist der, daß die
deutschen Protestanten von Anfang an deutsche Geistliche hatten und ihren
Pfarrerstand auch immer wieder durch den Nachschub junger Theologen aus dem
Westen Österreichs und dem deutschen Reiche verjüngten,
während die römisch-katholischen Dörfer sehr früh
unter den Einfluß polnischer Bischöfe und polnischer, oder doch
völlig polonisierter deutscher Geistlicher kamen.
Wenn gleichwohl bei den Evangelischen von den 87
Dörfern nur 40 rein deutsch sind, so hat dies seinen Grund einerseits in der
starken Auswanderung, durch die namentlich in den ersten Jahren des
20. Jahrhunderts manche früher rein deutsche Kolonien mit
polnischen oder ruthenischen Bewohnern durchsetzt wurden. Andererseits aber
haben die deutschen Protestanten sich vielfach in ihrer Umgebung ausgebreitet
und manche, heute als deutsche Kolonien bezeichnete Ortschaften sind
ursprünglich polnische oder ruthenische Dörfer, in denen sich eine
deutsche Minderheit, die dann oft auch Mehrheit wurde, angesiedelt hatte.
Es ist oben gesagt worden, daß ein Teil der
katholischen Kirchen sich als weniger widerstandsfähig erwiesen habe.
Dies sind diejenigen Kolonien, die sich auf die Einwanderung deutscher Bauern
zur Zeit Kaiser Josefs II., die sogenannten schwäbischen Kolonisten,
zurückführen. Dagegen haben die aus dem Egerland seit dem Anfang
des 19. Jahrhunderts eingewanderten Deutschen, die sich
hauptsächlich in der Gegend von Kolomea und in den Bezirken Zydacyow
und Dolina befinden, ihr Deutschtum trotz aller Schwierigkeiten treu bewahrt und
gehören zu denen, die in den ersten Reihen für die Erhaltung des
Deutschtums kämpfen."
[138] Bis zum Jahre 1867
war nicht nur die gesamte Verwaltung Galiziens deutsch, sondern auch das
Schulwesen. In diesem Jahre wurde Galizien den Polen zur Verwaltung gegeben,
und dabei wurde in unbegreiflichem Leichtsinn von der österreichischen
Zentralregierung nicht einmal dafür Sorge getragen, daß die dortige
bodenständige deutsche Bevölkerung ihr deutsches Schulwesen von
der Provinzialverwaltung bezahlt erhielt. Die evangelische Kirche mit etwa 20
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Schule mit Kirche in Engelsberg in Galizien.
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Pfarrern setzte sofort mit reger Energie zum Abwehrkampf ein und erreichte
für ihre deutschen Eingepfarrten, daß überall in den deutschen
evangelischen Dörfern evangelische Privatvolksschulen errichtet wurden.
Es gibt deren bis auf den heutigen Tag etwa 80, die für die Erhaltung des
Deutschtums unendlich segensreich gewirkt haben.
Viel schlimmer stand es mit den katholischen Dörfern. Dort gab es nur
wenige deutsche Geistliche, die den Abwehrkampf gegen die
Polonisierungsbestrebungen aufnahmen. Dadurch sind die meisten katholischen
Schulen in den deutschen Dörfern polonisiert worden. Erst 1907 setzte auch
hier die Abwehr ein. In diesem Jahre wurde von evangelischen und katholischen
Deutschen der "Bund der christlichen Deutschen in Galizien" gegründet,
der bis zum Weltkriege eine sehr segensreiche Tätigkeit ausübte. Er
nahm sich besonders der katholischen Dörfer an und gründete in den
wenigen Jahren seines Bestehens 7 deutsche katholische Gemeindeschulen, von
denen die Roseggerschule im Dorfe Mariahilf bei Kolomea die größte
und schönste ist. Wie not diese Gründung tat, kann man erkennen
aus folgenden Sätzen eines katholischen Deutschen in einer Sammelschrift
Das Deutschtum in Galizien, seine geschichtliche Entwicklung und
gegenwärtige Lage. 1914. Dort heißt es in einem Aufsatz
über das Kirchenwesen:
"Gegenüber unseren
Volksgenossen evangelischen Glaubens sind wir Deutsche
römisch-katholischen Glaubens gerade in den wichtigsten Belangen im
Nachteile. Der Entdeutschungsstrom, welcher seit dem Bestehen der Siedlungen,
besonders aber seit 1867 die Sprachinseln zu überschwemmen droht, fand
nämlich in den deutsch-evangelischen Siedlungen außer der
eigentlichen völkischen Widerstandskraft der Bewohner noch zwei
mächtige Schirmer und Schützer des Deutschtums: die evangelische
Kirche, beziehungsweise den deutschen, mit seinem Volke fühlenden
Priester, und die deutsche evangelische Privatvolksschule. In allen
deutsch-katholischen Gemeinden bietet hingegen die Kirche keinen Schutz
für das Volkstum der Deutschen, in den meisten Gemeinden
gefährdet sie vielmehr das Deutschtum, und auch die Schulen sind in den
meisten deutsch-katholischen Siedlungen schon in polnische Hände
gefallen, so daß nur mehr die eigene völkische Widerstandskraft der
Deutschen übrig blieb, welche jedoch leider in vielen Siedlungen den
undeutschen Einflüssen, die von außen und von Kirche und Schule
einwirkten, nicht standhalten konnte. Durch die polnische Schule und die
polnische Kirche wurde die deutsche Jugend mit einer undeutschen, fremden
Gesinnung durchtränkt und zu Abtrünnigen, ja sogar zu
Deutschfeinden erzogen. Gerade die verzweifelte völkische und schlechte
wirtschaftliche Lage der meisten deutsch-katholischen Siedlungen war es daher
hauptsächlich, welche zur Gründung des Bundes der christlichen
Deutschen in Galizien und des Deutschen Volksblattes für Galizien
führte; denn, sollen die deutschen Siedlungen erhalten werden, dann
muß mit vereinten Kräften der Entdeutschungsstrom
zurückgedrängt und das Deutschtum völkisch und
wirtschaftlich gestärkt werden."
[139] Schon nach
siebenjährigem Bestehen des "Bundes der christlichen Deutschen" begann
der Weltkrieg, der gerade in den deutschen Dörfern Galiziens furchtbare
Zerstörungen hervorrief. Als dann Galizien dem polnischen Staate
einverleibt wurde, schien jede Hoffnung auf Fortsetzung der Erneuerungsarbeit
unmöglich und die lebendige Weiterentwicklung des deutschen
katholischen Volkssplitters in Galizien zunichte geworden zu sein. Vollends
schien alles verloren zu sein, als nach Aufrichtung der polnischen Staatshoheit der
Bund der christlichen Deutschen und der ihm seit Kriegsende zur Seite stehende
deutsche katholische Schulausschuß behördlich aufgelöst
wurden. Indes - es kam doch anders. Wir lesen im Deutschen Volksblatt
für Galizien:
"Doch wenn die Not am
größten, ist Gottes Hilfe am nächsten und diese wurde uns
durch unsere Glaubensbrüder und Volksgenossen in Schlesien (Bielitz!)
zuteil, denen für ihre brüderliche Hilfeleistung der Dank aller
deutschen Katholiken in Galizien gebührt. Angeeifert durch diese edle,
selbstlose Hilfe haben auch diese sich wieder aufgerafft und entschlossen, an
ihrem Volkstum festzuhalten und für dessen Erhaltung und Entwicklung
selbst die notwendigen Opfer aufzubringen. Als Ausdruck dieser
Entschließung ist der Verband deutscher Katholiken in der Wojewodschaft
Stanislau entstanden. Um dessen Begründung hat sich Herr Oberlehrer
Jakob Reinpold die größten Verdienste erworben. Erfüllt von
heißer selbstloser Liebe zu seinem Volke hat er mit der ihm eigenen
schwäbischen Zähigkeit alle Schwierigkeiten in stiller und rastloser
Arbeit überwunden, die der Gründung des Verbandes
entgegenstanden. Langsam erwachen die durch die Not der Zeit und die
politischen Geschehnisse eingeschüchterten furchtsamen Gemüter,
um einander die Hand zu reichen zu gemeinsamer
Aufbauarbeit."
Den Mittelpunkt nicht nur des evangelischen Deutschtums, sondern auch des
Deutschtums überhaupt bilden die zahlreichen evangelischen
Wohltätigkeitsanstalten von Superintendent Th. Zöckler in
Stanislau, dessen Arbeit für Erhalt der deutschen evangelischen Kirche und
des Deutschtums nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Was dieser
evangelische Prediger in den 35 Jahren seiner Tätigkeit in Galizien geleistet
hat, grenzt geradezu ans Wunderbare. Mit ganz geringen Mitteln hat er in
Stanislau eine Reihe von Anstalten gegründet und trotz Weltkrieg und
Zusammenbruch des habsburgischen Staates und der furchbaren Kämpfe
zwischen Polen und Ukrainern bis auf den heutigen Tag erhalten und ausgebaut.
Diese kirchlichen Institute bilden natürlich auch eine starke Stütze
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Deutsches Kinderheim Bethlehem in Stanislau in Galizien.
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des Deutschtums in Galizien. Daher hat auch neben Lemberg Stanislau eine
deutsche Mittelschule, damit von den deutschen Kindern, die in den
Zöcklerschen Anstalten auferzogen werden, keines ohne deutsche Bildung
zu bleiben braucht. Pfarrer Zöckler hat hier in der Diaspora eine Reihe von
christlichen Wohltätigkeitsanstalten geschaffen, in denen zusammen nicht
weniger wie 420 Menschen täglich beköstigt werden. Da ist das
Mädchenhaus "Bethlehem"; da ist das Knabenhaus "Nazareth"; da ist
"Bethanien" für die Gymnasiastinnen und Kostschülerinnen; da ist
das Mittelschülerheim "Martineum", das Kandidatenkonvikt "Paulinum",
das Diakonissenhaus "Sarepta", mit den Nebengebäuden "Ebenezer",
"Zoar", "Sunem" und "Bethesda", die schwächliche Schulkinder, [140] Alte und Sieche,
Krüppel, Blöde und Unheilbare verpflegen. Dazu kommt
schließlich noch eine Haushaltungsschule, die Anstaltsökonomie und
endlich die landwirtschaftliche Maschinenfabrik "Vis", die den vielen
heranwachsenden Jungen der Anstalt handwerkliche Ausbildung bietet.
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Deutsches Bauernhaus in Ostgalizien.
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Wenn man die deutschen Bauernkolonien in Galizien besucht, ist man erstaunt,
wie schnell sie die Verheerungen des Weltkrieges überwunden haben. Nur
macht sich jetzt bei dem Kinderreichtum der deutschen Familien immer
stärker eine Überbevölkerung der deutschen Dörfer
bemerkbar. Zur österreichischen Zeit gingen die jüngeren
Söhne der Bauern zum großen Teil nach dem Dienst im Heere in die
niedere Beamtenlaufbahn über. Seitdem Galizien zu Polen gehört, ist
das ganz in Fortfall gekommen; die Söhne und die Töchter bleiben
beim Vater auf dem Hofe. Geld, um neues Land zu erwerben, ist nach den
furchtbaren Verlusten im Weltkriege und in der Inflationszeit nicht vorhanden. Es
beginnt sich daher auch in den deutschen Dörfern die Teilung des
Bauernhofes unter die Kinder einzubürgern, während ihn
früher stets der Älteste ungeteilt erbte. Das birgt natürlich die
Gefahr in sich, daß der Besitz bald so zersplittert sein wird, daß die
Zwerganteile nicht mehr rationell bearbeitet werden können. Wie
groß diese Gefahr für das Deutschtum ist, geht aus folgenden
Ausführungen des Deutschen Volksblattes für Galizien
hervor:
"Vor kurzem hat in Lemberg der
Verbandstag des Verbandes der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften
in Kleinpolen stattgefunden. Wer an diesem teilgenommen oder den im Volksblatt
erschienenen Bericht gelesen hat, muß mit großer Betrübnis
feststellen, daß der Geist der Selbsthilfe, der bei unseren Vorfahren und
früher unter uns gelebt hat, langsam im Aussterben begriffen ist. Der
Genossenschaftsgeist ist so gut wie gänzlich aus unseren Reihen
verschwunden. Neid und Mißgunst, Selbstsucht und Zwietracht sind oft die
Ursache, daß unsere Genossenschaften nicht vorwärts kommen.
Gerade dem Genossenschaftswesen verdankt der Landwirt in Deutschland, der
Schweiz, Österreich, der Tschechoslowakei seinen Wohlstand, seine
gesunde Lage. Kann es bei uns nicht ebenso sein? Von unseren Brüdern in
den anderen Gebieten Polens können wir nicht weniger lernen. Ihr gut
ausgebautes Genossenschaftswesen macht es ihnen möglich, selbst die
schlechtesten Verhältnisse erträglich zu finden. Befolgen wir dieses
Beispiel!
Wir müssen recht bald zur Selbsthilfe schreiten, ehe
es vielleicht zu spät wird. Es braucht hier nicht besonders gesagt zu werden,
wie es heute in unseren deutschen Gemeinden bestellt ist. Die heranwachsende
Jugend kann nicht mehr in neuen Wirtschaften untergebracht werden, die Teilung
führt zur Verelendung der Gemeinden, eine Auswanderung nach Amerika
oder in andere Länder ist ausgeschlossen. Wir dürfen diese
erwachsene Jugend nicht in die Städte verlieren, wo sie geistig und
körperlich gefährdet ist und nur allzubald ihr Volkstum abstreift, sie
muß an der Scholle haften bleiben. Diese Scholle ihr zu sichern ist aber eine
der vornehmsten Aufgaben, die unserm Genossenschaftswesen gestellt
ist."
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