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Der grenzdeutsche
Gürtel (Teil 8)
Das Deutschtum in Polen: in
Polnisch-Wolhynien
Über die deutschen Bauern in Wolhynien - sonstiges Deutschtum kam dort
nur ganz vereinzelt in einzelnen Städten
vor - wird in dem Kapitel
über das Deutschtum in Rußland im Zusammenhang mit dem
übrigen deutschen Kolonistentum in den Grenzen des früheren
russischen Reichs genauer zu handeln sein. Wolhynien
ist zur Zeit durch den Rigaer Frieden zwischen Polen und Sowjetrußland
geteilt. In dem Landwirtschaftlichen Kalender für Polen, 1924,
findet sich ein Aufsatz von R. Henke über die Lage der Bauern im
polnischen Anteil, dem wir das Folgende entnehmen, da direkte Nachrichten
nicht erhältlich sind.
"Zu
Polnisch-Wolhynien gehören die Kirchspiele
Tutschin-Rowno und Luck, Roskischtsche und
Wladimir-Wolynsk. Jedes dieser Kirchspiele zählt etwa 30 bis 35
Dörfer. Wer in der Zeit der bolschewistischen Herrschaft in den
Dörfern gelebt hat, freut sich jetzt vor allem über die
öffentliche Ruhe und Sicherheit, die in diesen Gegenden nach dem
Friedensschluß eingekehrt sind. Dazu kommen die beiden guten Erntejahre
1921/22 (vielleicht auch 1923), die den Bauern kräftig auf die Beine
geholfen haben. Die Steuern, die der Staat erhebt, sind nicht unbedeutend,
hemmten aber bisher noch nicht die wirtschaftliche Entwicklung. Unter solchen
Verhältnissen hat sich denn auch die wirtschaftliche Entwicklung der
Dörfer bis jetzt im allgemeinen günstig gestaltet.
Als die Bauern 1918 aus der Verbannung
zurückkehrten, fanden sie bekanntlich ihre Gehöfte und Wirtschaften
im traurigsten Zustande vor: die Gebäude abgetragen oder stark
beschädigt, die Zäune abgebrochen, das Land voll Unrat, im
westlichsten Teil, der auch Kriegsschauplatz gewesen war, oft ganze Dörfer
niedergebrannt. In zäher Arbeit beseitigten nun die Bauern die Spuren der
Raubarbeit. Immer häufiger trifft man jetzt Wirtschaften, die von
Fleiß und Ordnung der Bauern Zeugnis ablegen. Die Gehöfte sind
wieder schön eingefaßt, die Wohn- und Wirtschaftsgebäude
sind ausgebessert, und wo es nicht mehr möglich war, durch neue ersetzt.
Der Boden wurde wieder unter den Pflug genommen. Auch der Mangel an
Inventar, unter dem die Bauern nach ihrer Heimkehr stark litten, kamen sie doch
alle ohne Pferd und zudem ohne Geld zurück, macht sich jetzt weniger
bemerkbar. Denn stets waren die Bauern bemüht, zu einem Bestande an
Vieh zu gelangen, der ihren Wirtschaften entsprechen und die volle Ausnutzung
davon erst möglich machen würde. Ein Stall voll Vieh ist von jeher
der Stolz des wolhynischen Bauern gewesen. Freilich an das, was die Bauern vor
dem Kriege an Vieh besaßen, wo die Deutschen auf den Märkten mit
ihrem Vieh allgemeine Bewunderung erregten, daran darf man heute noch lange
nicht denken. Und doch übertreffen die deutschen Bauern schon heute mit
ihrem lebenden Inventar die umliegende kleinrussische Bevölkerung. Es ist
wohl zu spüren, langsam übernehmen die deutschen Bauern in
landwirtschaftlicher Beziehung unter der Bevölkerung die Führung,
die sie auch schon vor dem Kriege hatten.
Oft werden die Bauern durch die schnelle
Abwärtsbewegung des Geldes stark geschädigt, [136] das ja um das
Vielfache gesunken ist. Aber durch Schaden wurde auch der Bauer klug. Das
Zutrauen zu jeglicher Art von Papiergeld ist dahin. Man verdient und zahlt in
Getreide. Die Arbeiter und Dienstboten erhalten ihren Lohn in Getreide, Kleidern
und Stiefeln. Die Schmiede, die Schuster und Stellmacher und Schneider
berechnen ihre Arbeiten in Roggen oder Weizen. Braucht jemand flüssiges
Geld, so verkauft er Korn, 10, 20, 30 Pud, je nach Bedarf. So sucht man sich vor
Verlusten durch die Geldentwertung zu schützen. Doch erweist sich solch
ein Tauschhandel oft als sehr beschwerlich. Noch größeren
wirtschaftlichen Schaden erleiden die Bauern dadurch, daß ihnen jede
wirtschaftliche Organisation fehlt. Sie sind beim Ein- und Verkauf gänzlich
auf die Juden angewiesen, in deren Händen sich der gesamte Handel des
Landes befindet, und die ihr Schäflein scheren, so gut es geht. Hier
könnte nur genossenschaftlicher Zusammenschluß Abhilfe schaffen.
Er ist, je weiter je mehr, eine Notwendigkeit. Aber große Schwierigkeiten
stehen ihm entgegen. Der Gedanke ist in den Dörfern neu und wird auf
Mißtrauen stoßen. Auch liegen die Dörfer sehr verstreut.
Mit dem Einsetzen von Sicherheit und festerer Ordnung,
mit dem Aufschwung der wirtschaftlichen Verhältnisse trat auch eine
Besserung der Lage in Kirche und Schule ein. Als das Gebiet an Polen kam, da
gab es in Polnisch-Wolhynien keinen einzigen Pfarrer. Der letzte mußte
seine Stelle krankheitshalber aufgeben. Nun sind die vier Kirchspiele von neuem
besetzt, meist mit jungen Kräften. Doch ist die geistliche Versorgung der
Gemeinden noch immer ungenügend. Die Kirchspiele sind sehr groß.
Die Pastoren haben Reisen, 40 - 50 km weit, mit dem Wagen
zu machen. Aus diesen Gründen kann ein Pastor die meisten Gemeinden
nur zweimal im Jahre besuchen. Verschiedene Sekten breiten sich auf Kosten der
evangelischen Kirche aus. Die schweren Schicksalsschläge der letzten Jahre
haben bewirkt, daß Gemüt und Herzen für die Predigt
empfänglicher sind denn je. Etwa dreiviertel der Deutschen in Wolhynien
sind evangelisch-lutherisch, der Rest Baptisten. Eine bessere Bedienung der
Gemeinden könnte durch Aufteilung der großen Kirchspiele in zwei
oder drei kleinere erreicht werden. Leider würde ein solches Unternehmen
zunächst an der geringen Zahlungsfähigkeit der Leute scheitern,
denen es oft noch Mühe macht, einen Pastor zu unterhalten. Die
Besoldung der Pastoren erfolgt zumeist in Naturalien.
Eng mit dem Schicksal der Kirche ist das der Schule
verbunden. Der Pastor hat stets dafür gesorgt, daß Lehrer und
Schulen in den Dörfern vorhanden waren. Die Schulen sind meist private
Volksschulen, deren ganzer Unterhalt von den Gemeinden bestritten wird. Nach
der Rückkehr der Bauern aus der Verbannung lag das Schulwesen, wie
alles, arg darnieder. In vielen Dörfern waren die Schulgebäude ganz
oder teilweise niedergerissen worden. Und nicht immer gleich nach der
Rückkehr vermochten die Gemeinden die Schulgebäude
auszubessern oder neu zu errichten. Doch geschieht es stets, sobald es nur irgend
möglich ist. Zur Zeit sind die meisten Schulstellen mit Lehrern besetzt,
doch tritt der Mangel an ausgebildeten Lehrkräften häufig zutage. In
Wolhynien fehlt es an einem eigenen Lehrerseminar. In den Lehrerberuf sind
Leute hineingesteuert, denen man den guten Willen nicht absprechen kann, bei
denen sich aber der Mangel an Ausbildung sehr bemerkbar macht... Der
wolhynische Lehrer braucht nicht nur tüchtige berufliche Ausbildung,
sondern in besonderem Maße die Ausbildung zu einem Charakter, der sich
seiner sittlichen und religiösen Aufgaben und Pflichten bewußt
ist."
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