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Die echten deutschen Minderheitsgebiete (Teil
17)
Das Deutschtum in Rußland
Vorbemerkung. Die Darstellung in diesem
Kapitel kann aus naheliegenden Gründen nicht ebenso vollständig
und nicht ebenso sehr auf Grund des neuesten Materials gegeben werden, wie es
in den vorhergehenden Teilen des Buchs erstrebt und überwiegend erreicht
wurde. Die Möglichkeit, mit den deutschen Siedlungsgebieten in
Rußland in Verbindung zu treten, ist vielfach eingeschränkt und
unsicher. Das drückt sich auch in dem geringen erhältlichen
Bildmaterial aus. Mehr als an anderen Stellen mußten auch, anstatt direkter
Informationen durch an Ort und Stelle lebende Gewährsleute, schon
veröffentlichte zuverlässige Berichte herangezogen
werden.
Das geographische Bild der osteuropäischen Tiefebene ist bekannt. Sie ist
die größte zusammenhängende Ackerbauregion Europas.
Deutsche Siedlungsgebiete auf dem Boden des früheren russischen Staates
gibt es im Wolgagebiet, im Schwarzmeergebiet, in Kaukasien (sowohl
nördlich als auch südlich des Gebirges), in Wolhynien und in
geringem Umfang noch an einigen isolierten Stellen. Vom Schwarzmeergebiet ist
der westlichste Teil, Bessarabien, jetzt rumänisch geworden, und von
Wolhynien hat im Frieden von Riga ein bedeutender Teil, der etwa die
Hälfte des deutschen Kolonistentums umfaßt, an Polen abgetreten
werden müssen.
Bei weitem die Hauptmasse der deutschen Kolonien in Rußland wurde im
Gebiet der sogenannten Schwarzerde gegründet. Jahrtausende
lang war hier nicht Ackerland sondern Steppe: Wohngebiet der dort nacheinander
erscheinenden, für die kultivierten Nachbarn lästigen, oft auch
gefährlichen Nomadenvölker. Katharina II. erklärte das
bis dahin nominell unter türkischer Oberhoheit stehende Gebiet 1783 als
russischen Besitz. Die Erwerbung erhielt den Namen "Neurußland". Hier
war es, wo der Fürst Potemkin seine Gebieterin durch die bekannten
Scheindörfer täuschte, die seitdem sprichwörtlich geworden
sind.
Nicht nur die Region des Schwarzen Meeres, sondern auch die an der mittleren
und noch mehr an der unteren Wolga war im 18. Jahrhundert wenig
kultiviert und bedeutete keinen produktiven Besitz für den russischen Staat.
Daher ziehen sich fast durch die ganze zweite Hälfte des 18. und die erste
Hälfte des 19. Jahrhunderts Pläne der russischen Regierung
für eine landwirtschaftliche Kolonisation dieser von Natur meist
fruchtbaren Ländereien. In erster Linie war man bestrebt, deutsche
Kolonisten anzuwerben. Der verfügbare Raum war zunächst so gut
wie unbeschränkt. Einen Faktor, dessen die Staatsgewalt nicht Herr war,
bildete allerdings und bildet noch heute das Klima. Nach einem von dem Wiener
Geographen [389] Brückner schon
im Jahre 1890 entdeckten Gesetz wiederholen sich in ziemlich
regelmäßigen Perioden von durchschnittlich 35 Jahren Zeiten der
Dürre, die innerhalb dieser Reihe jedesmal eine Anzahl aufeinander
folgender Jahre umfassen. Sie sind in der russischen
Ernte- und Wirtschaftsstatistik deutlich bezeichnet durch Mißernten und
Hungersnöte. Am furchtbarsten waren die Dürre und der Hunger auf
dem ganzen Schwarzerdegebiet und noch darüber hinaus im Jahre
1921 - 22, in dem nach der Schätzung des Norwegers Nansen,
des Leiters der internationalen Hilfsaktion für die Hungernden, in
Rußland 10 Millionen Menschen vor Hunger und Hungerkrankheiten
umgekommen sind. Die letzte schwere Mißernte vorher fiel ins Jahr 1891.
Nach 1921 wiederholte sich eine nicht ganz so schlimme im Jahre 1924. Die
fünfunddreißigjährige Periode, die sich als Ganzes dadurch
charakterisiert, daß an ihrem einen Ende heiße und trockene, an ihrem
anderen aber kühlere und feuchtere Jahre stehen, erstreckt sich keineswegs
nur auf den südlichen Teil von Osteuropa, sondern, mit gewissen
Ausnahmen, auf die ganze Erde. Sie tritt aber dort besonders gefahrvoll hervor,
wo das Klima ohnehin zu kontinentalen Extremen neigt. Schon im
Schwarzmeergebiet ist das der Fall, und noch verhängnisvoller im
Wolgagebiet. Auch die deutschen Kolonisten haben schwer darunter zu leiden
gehabt.
Das äußere Bild der Bodenverhältnisse und der Siedlungen
finden wir sehr anschaulich in einem Vortrage von Professor C. Uhlig in
Tübingen, abgedruckt in den Verhandlungen des XXI. Deutschen
Geographentags zu Breslau (Juli 1925), geschildert. Uhlig schreibt:
"Flachwellig-hügeliges und
ebenes Land überwiegt in der Mehrzahl der Siedlungsgebiete. Die
osteuropäische Tafel, noch mehr das Gebiet der mittleren Donau, ist oft auf
weite Erstreckung wirklich eben. Das bedeutet, daß solche Gegenden zur
Ausführung eines ganz regelmäßigen Ortsplanes besonders
einladen. Die Eintönigkeit des Grundrisses wird nur gelegentlich durch eine
bescheidene, wenigstens zeitweise wasserführende Rinne oder durch einen
kleinen Teich etwas gemildert (so besonders im Schwarzmeergebiet). Die
verschwenderische Fülle des zur Verfügung stehenden Raumes hat
hier oft zur Anlage ungemein weiter Straßen geführt, die in einzelnen
Fällen mehr als 100 m Breite besitzen; im Verein mit den ebenfalls
sehr breiten und trockenen niederen Hofstätten gestalten sie das Bild fast
übermäßig großzügig.
Wo flach eingeschnittene Talmulden das Landschaftsbild
beherrschen, sind die Siedlungen meist in sie eingefügt. Bei der genannten
bedeutenden Ausdehnung der Höfe ist es ohne weiteres verständlich,
daß oft eine Doppelreihe von ihnen genügt, um die Breite des Tales
auszufüllen. So ergeben sich einstraßige Dörfer, bei denen
überdies die Hinterhöfe nicht selten an den Talhängen leicht
emporsteigen. In breiteren Tälern kommen Dörfer mit zwei oder
mehr Längsstraßen vor. Alle so an Tiefenlinien geknüpften
Siedlungen genießen Schutz vor den in großen Teilen des
Südostens heftigen Winterstürmen: zugleich können sie das
nötige Wasser entweder [390] aus den Bächen
oder aus den Grundwasserströmen entnehmen, die unter diesen Tiefenlinien
dahinziehen..."
Diese Schilderung Uhligs - sie geht im weiteren noch in derselben anschaulichen
Weise auf viele Einzelheiten im Bilde der deutschen Siedlungen in
Südosteuropa ein - gilt namentlich für das
Schwarzmeergebiet. Wir wenden uns nun den Kolonisationsgebieten im einzelnen
zu und beginnen mit dem ältesten, dem an der Wolga. Das folgende Bild
von ihm ist mit den Worten eines hervorragenden Kenners, P. Schleuning,
gegeben.1
[400d]
Kolonie Karamyschewka, Wolgagebiet.
|
1. Die Wolgadeutschen
"An der unteren Wolga liegen 200
deutsche Dörfer, »Kolonien« genannt, die in ihren
Ausdehnungen eher an Städte erinnern, mit einer Seelenzahl von je 5000
bis 15 000 und mehr, und mehrere hundert kleine Niederlassungen
(Chutors), eine eigenartige deutsche Welt, die, umgeben von slawischen und
asiatischen Volksstämmen, dort bodenständig geworden ist. Mehr als
600 000 Deutsche zählte dieses Siedlungsgebiet vor dem Kriege.
Das Land dieser Bauern, das etwa 2,5 Millionen Hektar Ackerland betrug,
liegt in langen, breiten Streifen an beiden Seiten der Wolga. Nur einzelne
Kolonien liegen abseits, umgeben von russischen, kirgisischen und tatarischen
Dörfern. Die große Mehrzahl der Dörfer bildet ein
zusammenhängendes, geschlossenes deutsches Siedlungsgebiet, wie wir es
in ganz Rußland in dieser Größe und Geschlossenheit nicht
mehr vorfinden.
Katharina II., die deutsche Prinzessin auf russischem
Zarenthron, hatte den großzügigen Plan gefaßt, die wilden und
wüsten Gebiete ihres machtvoll ausgedehnten Reiches durch Anlegung
planmäßiger deutscher Siedlungen für die Kultur
erschließen zu lassen. Sie gab ihren Willen in einem Manifest vom Jahre
1762 den europäischen Völkern kund. Aber dies erste Manifest fand
keinen Widerhall. Die Siedler blieben aus. Den Grund für diesen
Mißerfolg gibt Katharina II. selbst an in ihrem zweiten Manifest,
jenem grundlegenden und für spätere Zeiten vorbildlichen Staatsakt,
auf Grund dessen die Voreltern der Wolgadeutschen ihre alte Heimat
verließen, um sich in Rußland eine neue zu schaffen. Hatte das erste
Manifest vom Jahre 1762 nur Versprechungen ganz allgemeiner Art enthalten,
ohne die Rechte der Auswanderer in Einzelheiten festzulegen, so wurde das
Versäumte in dem Manifest vom 22. Juli 1763 umso eingehender
nachgeholt. Es enthielt alles, was sich Auswanderer nur wünschen konnten.
Besondere Werbekraft hatten folgende Bestimmungen: Große russische
Ländereien mit ihrem Reichtum und einer für Handel und Gewerbe
angeblich bequemen Lage wurden den Kolonisten zur freien Wahl gestellt. Wahl
des Wohnorts, des Berufes und freie Religionsübung wurden zugesagt. Den
Unbemittelten wurden die Reisekosten versprochen. Zum Häuserbau und
zur Anschaffung von Geräten sollten Vorschüsse gewährt
werden. Den Kolonisten [391] wurde
Selbstverwaltung, eigene Rechtsprechung und, erforderlichenfalls, eine
Schutztruppe zugesichert. Allen Auswanderern und ihren Nachkommen wurde
Befreiung vom Militärdienst und freie Rückwanderung
gewährleistet, ferner für die ersten zehn Jahre Befreiung von allen
Abgaben und Steuern. Weitere Vorrechte wurden auf Grund späterer
Verhandlungen in Aussicht gestellt und die wichtigsten von ihnen auch auf die
Nachkommenschaft für »ewige Zeiten« ausgedehnt.
Um der amtlichen Werbung mehr Nachdruck zu geben,
wurden besondere Auswandereragenten angestellt, die das
»Manifest« erläuterten und die Versprechungen noch weit
überboten. Trotz der Auswanderungsverbote der deutschen
Landesfürsten meldeten sie sich in Scharen auf den verschiedenen
Sammelplätzen. Alles war vertreten: Bauern, Handwerker, Soldaten,
Offiziere, Ärzte, Studenten, Edelleute und
Künstler - in buntem Gemisch. In allen Staaten des heiligen
Römischen Reiches deutscher Nation griff die Bewegung um sich,
besonders stark aber unter den Süddeutschen. Pfälzer, Hessen,
Schwaben, Elsässer, Sachsen und andere greifen zum Wanderstabe, mit
allen erdenklichen Garantien und Zusicherungen versehen. Förmliche
Verträge wurden geschlossen und in zwei gedruckten Exemplaren
ausgewechselt.
Über Lübeck und Danzig gingen die
Transporte zur See nach Kronstadt und Oranienbaum. Die Seereise allein dauerte
in einzelnen Fällen sechs Wochen. In Oranienbaum mußten sie viele
Wochen lagern, hier wurde ihr Schicksal entschieden. Sie sollten alle Bauern
werden! Die Wolgawildnis wurde zu ihrer neuen Heimat bestimmt, einer Heimat,
die sie erst den wilden Tieren, den Räuberbanden und Nomaden, dem
Klima und dem Boden abtrotzen sollten. Sie sollten eine Einöde der Kultur
erschließen, während sie bis dahin auf Grund des Manifestes gehofft
hatten, sich ihre Berufe sowie den Ort der Niederlassung frei wählen zu
können. Das war nach der langen schweren Reise die erste
Enttäuschung, eine Enttäuschung, die viele bis an ihr Lebensende
nicht verwinden konnten. Nur ein kleiner Teil durfte sich bei und in
St. Petersburg als Handwerker niederlassen. Aus diesen ist ein Kranz
deutscher Kolonien um Petersburg entstanden.
Hatten die Kolonisten während der langen, sechs
bis neun Monate währenden Reise viele Enttäuschungen und
Entbehrungen durchlebt, waren infolge der ungeahnten Strapazen auch bereits
unzählige unterwegs gestorben: die ganze Trostlosigkeit und Schwierigkeit
ihrer Lage sollte ihnen doch erst klar werden, als sie an Ort und Stelle
angekommen waren und eine Wildnis um sich sahen, in der ihnen an allen Ecken
und Enden der Tod drohte. »Ist das das Paradies?« fragte ein
Chronist seinen Reisebegleiter. »Ja, das verlorene!« war die
erschütternde Antwort... Aber der Auswandererstrom war im Fluß
und konnte nicht mehr aufgehalten werden, zu spät kam die
Ernüchterung. Die Nachzügler konnten nicht mehr gewarnt werden.
So wurden in den Jahren 1764 - 1767 im ganzen 8000 deutsche
Familien mit rund 27 000 Seelen angesiedelt.
[392] Tausende sind
in den ersten Jahren an Krankheiten und Entbehrungen aller Art, besonders aber
bei den Überfällen der Kirgisen und anderer Räuber, zugrunde
gegangen. Die armseligen Erdhütten, die sie sich an Stelle der
versprochenen Häuser, die sie schon fertig gebaut vorfinden sollten, selbst
errichten mußten, schützten sie nur notdürftig vor Regen und
Kälte. Der gänzliche Mangel an Ackerbaugeräten, die
schlechte Belieferung mit Saatgetreide, die völlige Unkenntnis der
klimatischen und Bodenverhältnisse machten ihnen die Arbeit zur Qual und
zum Fluch. Hinzu kam noch, daß ihnen die Beschäftigung, zu der
viele von ihnen Befähigung und Neigung gehabt hätten, Handel und
Gewerbe aller Art, verboten worden war, und jeder einzelne, ob Künstler
oder Handwerker, ob Gelehrter oder Offizier, sich zum Ackerbau bequemen
mußte. Viele Kolonien glichen Jahre hindurch einem Heerlager, das von
Wällen und Schützengräben umgeben war, um sich bei
unerwartetem Überfall mit Erfolg verteidigen zu können. Die
Männer waren in jenen Jahren meist bewaffnet und begaben
sich - infolge der überall lauernden
Gefahren - nur in größeren Gruppen aufs Feld.
Erst in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts trat die
Wendung zum Besseren ein. Die Ansiedler hatten sich mit ihrem harten Schicksal
abgefunden, sie hatten festen Fuß gefaßt und sich den
Verhältnissen angepaßt. Der Naturforscher Pallas besuchte im Jahre
1793 auf seiner Reise nach Asien die Wolgagegend und konstatierte den
großen Fortschritt, den die Kolonien in zwanzig
Jahren - er war im Jahre 1773 in demselben Gebiet gewesen und hatte die
Kolonien in trostlosem Zustande gefunden - gemacht hatten. Er schildert
den Überfluß an Lebensmitteln in den Wolgastädten, wie
Kasan und Saratow, und bemerkt dazu:
»Astrachan und mehrere
entfernte Städte werden von hier aus mit Getreide versorgt, wozu die
deutschen Kolonien nicht wenig beitragen. Diese haben seit zwanzig Jahren an
Wohlstand sowie an Volksmenge beträchtlich zugenommen und sind
gleichsam erneuert und umgeschaffen.«
[400c]
Kolonie Strechenau bei Samara.
|
Sie waren Herren geworden über die
Widerstände und hatten die Wildnis besiegt. Im Laufe des
19. Jahrhunderts dehnten sich die Kolonien immer weiter aus; sie
entwickelten sich trotz aller Hemmungen und Widerstände zu einem
wirtschaftlichen Machtfaktor. Aus dem unansehnlichen Saratow, das bei Ankunft
der Kolonisten einem großen Dorfe glich, wurde eine der bedeutendsten
Handels- und Industriestädte der Wolga (250 000 Einwohner); die
deutschen Dörfer selbst dehnten sich immer mächtiger aus.
Behaglichkeit und Wohlstand, zum Teil Reichtum, zogen in die Kolonien ein. Das
ihnen zugeteilte Land wurde ihnen zu eng. Die Regierung mußte ihnen neue
Ländereien zuweisen, auf denen die Mutterkolonien aus eigenen Mitteln
Tochterkolonien anlegen konnten. Auf der Ostseite (Wiesenseite) der Wolga
wurden neue große Gebiete unter Kultur genommen. In den Jahren
1846 - 1870 sind 90 große Siedlungen auf der Wiesenseite
angelegt worden. Unternehmende Ko- [393] lonisten pachteten und
kauften Land hinzu, und das deutsche Gebiet gewann immer mehr an Ausdehnung
und verschaffte sich Geltung in Stadt und Land.
Inzwischen aber setzte langsam und konsequent die Hetze
panslawistischer Kreise ein, die in der Ausdehnung der Kolonien, die so urdeutsch
geblieben und keinem fremdvölkischen Assimilierungsprozeß
zugänglich waren, eine Gefahr für den russischen Staat sahen. Es
begann der Abbau ihrer Privilegien.
Im Jahre 1874 war die »Ewigkeit« der
Befreiung der Kolonisten vom Militärdienst zu Ende; die Kolonisten
wurden bei Einführung der allgemeinen Wehrpflicht gezwungen, im
russischen Heere zu dienen. Die Russifizierungspolitik begann. Die Kolonisten
waren eine Macht geworden, mit der die russische Regierung rechnen
mußte. Unter unzähligen Opfern hatten sie die Wildnis besiegt und in
übermenschlichen Anstrengungen aus ihr eine Kornkammer
Rußlands gemacht. Die Folge des Militärzwangs und der
Russifizierung war ihre starke Abwanderung nach
Süd- und vor allem nach Nordamerika. Ihr Deutschtum und ihre
Religion hatten sie sich trotz aller Kämpfe zu wahren gewußt,
obwohl sie keinerlei Beziehungen mehr zum Mutterland unterhielten. Wie sich
die einzelnen Volksstämme in ihren Kolonien zusammengeschlossen
hatten, so wahrten sie Mundart, Sitten und Gebräuche der alten Heimat.
Noch heute kann jedes geübte Ohr in den Kolonien sofort den Hessen vom
Sachsen, den Pfälzer vom Schwaben unterscheiden. Rein und klangvoll
werden die Heimatdialekte auch heute noch in den Kolonien gesprochen; nur
daß sich hier und da russische Ausdrücke für Dinge, die sie in
russischer Umgebung kennengelernt, eingeschlichen haben. Deutsche
Dialektforscher haben während des Krieges besondere Sprachstudien an
den Kriegsgefangenen aus dem Wolgagebiet gemacht. Auf Grund dieser
Untersuchungen konnte immer mit Sicherheit der deutsche Heimatort des
entsprechenden Dorfes, aus dem der Kriegsgefangene stammte, festgestellt
werden. Auch an dem Glauben der Väter hielten die Kolonisten in der
Fremde, ihrer neuen Heimat, mit unverbrüchlicher Treue fest. Wie die
Kolonien ursprünglich angelegt
waren, in katholische, evangelisch-lutherische und reformierte (drei Viertel
evangelisch und ein Viertel katholisch), so haben sie bis heute ihre religiöse
Eigenart bewahrt, eine Tatsache, die sie aber nie daran hinderte, sich in allen
nationalen und wirtschaftlichen Fragen als eine Einheit zu betrachten und zu
betätigen.
Bis zum Jahre 1906 war die Landwirtschaft der
Kolonisten durch das ihnen aufgezwungene russische
Mir- (Gemeindeeigentum-) System bedingt: alle zehn bis zwölf Jahre
wurde das Land auf die lebenden männlichen Seelen verteilt. Um
möglichst viel Land zu erhalten, blieben alle Söhne, auch die
verheirateten, beim Vater. Dadurch bildete sich ein
eigenartig-patriarchalisches Verhältnis mit strengen Sitten und
Anerkennung der absoluten elterlichen Autorität aus. Die Stolypinsche
Bodenreform (1906) gab dem Wirtschaftsleben der Kolonien eine neue Richtung.
Die meisten Kolonien gingen auf Einzelbesitz über, der sich aufs
glänzendste bewährte. In den Wolgakolonien wird
hauptsächlich Weizen gebaut. Dieser wurde vor dem [394] Kriege in vielen
Millionen Zentnern (um 1875 schon jährlich über 3 Millionen
Pud) ausgeführt; angebaut und ausgeführt wurden auch Tabak, Senf,
Balsam (Magenbitter) und anderes.
Die riesigen Dampfmühlen der großen
Kolonistenfirmen, die in allen großen Städten Rußlands ihre
Niederlassungen und Vertretungen hatten, beeinflußten den ganzen
russischen Mehlmarkt, denn die Verarbeitung des Getreides lag im ganzen
Wolgagebiet hauptsächlich in den Händen der Kolonisten, die
Firmen von Millionenumsatz geschaffen hatten. In den letzten Jahren vor dem
Kriege wurden jährlich 8½ Millionen Zentner Getreide in
diesen Dampfmühlen verarbeitet und ins Innere Rußlands, die
baltischen Provinzen und nach Finnland ausgeführt.
Eine bedeutende Rolle spielte in den Kolonien die
Hausindustrie, besonders die Weberei. Zehntausende von Webstühlen
waren sieben bis acht Monate im Jahre in Tätigkeit, um das über
ganz Rußland verbreitete Sarpinka, einen Baumwollstoff, der
ausschließlich in den Wolgakolonien erzeugt wurde, herzustellen. Um einen
Begriff von den Leistungen der Kolonien zu geben, sei hier die Kolonie
Balzer erwähnt, ein Dorf von 16 000 Einwohnern, deren
Ureltern aus Hessen stammen. In Balzer blühten neben der Landwirtschaft
die Industrie und das Handwerk. Es besaß: 2 Ölmühlen, 2
große Dampfmühlen, 8 holländische Windmühlen, 1
Gießerei, 1 Maschinenfabrik, 2 Appreturfabriken, 1 mechanische Weberei
mit 79 Webstühlen, 4 Strumpffabriken mit über 300
Strickmaschinen, 1 Wollspinnerei, 300 Schustereien, 72 Sarpinkafabriken mit
14 000 Webstühlen, 15 Färbereien, 17 Gerbereien, 12
Filzwalkereien, 4 Ziegelbrennereien, 8 Wagenbauereien, 4 Sattlereien, 12
Tischlereien, 12 Schmiedefabriken! Neben der Weberei spielte die Herstellung
landwirtschaftlicher Maschinen eine große Rolle. Besonders starke
Verbreitung hatte die vereinfachte Getreidereinigungsmaschine
(»Putzmaschine«), die hauptsächlich in den Kolonien Grimm,
Balzer, Messer und Bauer hergestellt und zu Zehntausenden über ganz
Rußland, Sibirien und den Kaukasus verbreitet wurde.
Für die Wiesenseite der Wolga hat
Katharinenstadt (jetzt Marxstadt) eine besondere Bedeutung erlangt. Es
ist eine der schönsten und reichsten Kolonien, liegt an der Wolga oberhalb
Saratow und zählt gegen 17 000 Einwohner. Viele Bauern
besaßen Güter in der Steppe von
1000 - 2000 ha. Zwei stattliche Kirchen, eine evangelische
und eine katholische, befinden sich im Dorf, außerdem eine
russisch-orthodoxe, die einzige in den deutschen Wolgakolonien, da diese
Kolonie durch ihren reichen Handel auch Russen angelockt hatte. An deutschen
Schulen waren in Katharinenstadt vorhanden: ein Knabengymnasium, ein
Mädchengymnasium, eine Zentralschule, eine Reihe Privatschulen,
Kirchenschulen; daneben bestanden viele Wohlfahrtseinrichtungen, wie
Krankenhäuser, Waisen- und Armenhäuser,
Siechen- und Lehrlingsheime.
Katharinenstadt ist seiner ganzen schmucken Anlage wie
auch seinem regen Handels- und Industrieleben nach viel eher eine bedeutende
[400d]
Sarepta, Koloniekirche.
|
Stadt als ein Dorf. [395] Die bolschewistische
Regierung hat denn auch die beiden Dörfer Balzer und Katharinenstadt in
Städte umgewandelt. Eine besondere Stellung unter den Kolonien nahm die
Herrnhuter Kolonie Sarepta ein. Sie ist im Jahre 1765 von
unternehmenden und umsichtigen Brüdern unterhalb der Stadt Zarizyn an
der Wolga, 150 km südlich von dem deutschen Gebiet, angelegt
worden. Zu den alten Privilegien hatten die Sareptaner neue erhalten, vor allem
das Recht zu freier kaufmännischer Betätigung. Von der
Muttergemeinde in Deutschland betreut, hat sie nie den Zusammenhang mit dieser
verloren und blieb dadurch auch ständig mit dem Mutterlande in
Verbindung, während alle übrigen Kolonien schon längst
keinerlei Fühlung mehr mit diesem hatten, da die evangelischen
Landeskirchen sich um ihre Glaubensgenossen im Osten nicht kümmerten,
ja bald von ihrer Existenz nichts mehr wußten. Die Verbindung mit der
Heimat gereichte Sarepta neben anderen günstigen Bedingungen zu
großem Segen. Das kleine Städtchen erlebte bald eine hohe
wirtschaftliche und industrielle Blüte und wurde allen anderen Kolonien in
jeder Hinsicht zum Vorbild. Auch das Schulwesen stand bei den Sareptanern,
soweit die russischen Verhältnisse das zuließen, auf der Höhe.
Eine Anzahl Mädchen wurde nach Deutschland geschickt, wo sie in den
Anstalten der Brüdergemeinde zu Lehrerinnen ausgebildet wurden; Knaben
gingen in der alten Heimat bei tüchtigen Meistern in die
Lehre - so konnte die ferne Kolonie an der Wolga Schritt halten mit dem
Mutterlande dank den Kräften, die sie immer wieder aus dem Mutterlande
sog. Die Bolschewisten haben das Städtchen, das während des
Bürgerkrieges schwersten Heimsuchungen ausgesetzt war und fast ruiniert
wurde, geschmackvoll in Krasnoarmeiskoje (Rotarmistendorf) umbenannt.
Als der Krieg ausbrach, schickten sich die
Wolgadeutschen gerade an, das 150jährige Jubiläum ihres Bestehens
zu feiern. Es sollte ein Ehrentag für die Kolonisten werden, an dem sie voll
Stolz auf all die wirtschaftlichen und kulturellen Segnungen hinweisen wollten,
die sie Rußland im Laufe dieser 150 Jahre gebracht, an dem sie aber
auch ein Bekenntnis zu ihrem Volkstum, das sie so treu in der Fremde gepflegt
hatten, vor ganz Rußland ablegen wollten. Anstatt der erwarteten Festfreude
zogen jedoch die Leiden und Verfolgungen der Kriegszeit ein. Aber weder die
großen Opfer an Gut und Blut, die sie dem russischen Staate bringen
mußten, noch die schweren Bedrückungen, die sie von eben diesem
Staate zu erdulden hatten, konnten die innere Kraft dieses zähen deutschen
Volksstammes brechen. Als die Revolution im März 1917 die
unterdrückten Völker Rußlands auf den Plan rief zum Kampfe
für ihr Selbstbestimmungsrecht, da standen die deutschen Kolonisten nicht
zurück. Sie waren die ersten in Rußland, die sich wieder deutsche
Zeitungen und deutsche Schulen schufen, die sich aber ebenso gegen jede Art von
Anarchie wandten.
Die Leiden der Kriegszeit hatten den Kolonisten ihr
Deutschtum zu tiefem Bewußtsein gebracht. Sie fühlten gerade in den
Augenblicken, wo sie in Gefahr standen, [396] alles zu verlieren und
von Haus und Hof gejagt zu werden um ihres deutschen Namens willen, ihre
Schicksalsgemeinschaft mit dem deutschen Volke. Um so fester war nun nach der
Revolution ihr Wille, für ihre Rechte einzutreten. Bereits im April 1917
fand ein großer Kolonistenkongreß in Saratow statt, auf dem die
Durchführung der Selbstverwaltung in den deutschen Kolonien auf Grund
des Selbstbestimmungsrechts, das von der
Kerenski-Regierung anerkannt worden war, und auf Grund ihrer alten Rechte
beschlossen wurde. Ein erhebendes, unvergeßliches
Bild - dieser Kongreß! Hunderte von Bauern, die Vertreter
sämtlicher Kolonien, hier bei der nationalen Arbeit zu sehen, beim Aufbau,
während ringsum im Russenreich noch alles durcheinander ging. Auch an
den Allrussischen Kongressen der deutschen Staatsbürger Rußlands,
die der greise und verdiente Kämpfer gegen die im Kriege erlassenen
Liquidationsgesetze, Professor Dr. Lindemann, nach Moskau berief,
nahmen sie tatkräftigsten Anteil. Auf diesen Kongressen fanden sich zum
erstenmal in ihrer Geschichte die Deutschen aller Gebiete Rußlands zu
gemeinsamer nationaler Arbeit zusammen und entwarfen gemeinsame
Arbeitsprogramme (April und September 1917).
Mitten in diese aufbauende Tätigkeit fiel im
Spätherbst des Jahres 1917 der bolschewistische Umsturz. Schwere
Unruhen brachen in den Kolonien aus. Ihr Widerstand wurde allmählich
blutig niedergeschlagen, die Widerstandskraft der Kolonisten durch Erpressungen
und Sozialisierungen, durch Gefängnis und Hinrichtungen gebrochen. Die
großen Bauernwirtschaften wurden zerstört und das Land in gleiche
Teile geteilt, die schönen Viehbestände vernichtet. Leute, die nichts
von der Landwirtschaft verstanden, bekamen ebenso viel Land zugewiesen wie
die Bauern, die es durch Fleiß und Tüchtigkeit zur Musterwirtschaft
gebracht hatten. Die Ernte wurde den Leuten weggenommen. So schrumpfte die
Aussaatfläche in den Kolonien ständig zusammen. Als im Jahre 1921
den Bauern das Verfügungsrecht über ihre Überschüsse
bei der Ernte wieder zugesichert wurde, gab es bereits keine
Überschüsse mehr. Die Landwirtschaft war vernichtet, die Industrie
zerstört, die »Kornkammer« zu einem Trümmerhaufen
geworden. Die Mißernte von 1920 brachte die Kolonisten bereits in die
schwierigste Lage. Trotzdem wurden ihnen im Laufe des folgenden Winters durch
herumziehende Requisitionsbanden, die aus dem Innern Rußlands
gekommen waren, die letzten Nahrungsmittel gewaltsam entrissen. Es
würde hier zu weit führen, die tragischen Ereignisse dieser
furchtbaren Zeit auch nur zu registrieren. Alle Mittel der Erpressung bis zur
Todesstrafe wurden angewandt, um die letzten Vorräte an Saatgetreide
herauszubekommen. Die Fußböden in den Häusern wurden
ausgebrochen, Höfe und Gärten umgegraben, um versteckte
Lebensmittel aufzufinden, die Kälber, Schweine und Hühner
abgeschlachtet und weggeführt. Kein Wunder, wenn die Leute in
äußerster Verzweiflung und Not sich noch einmal zum Aufstand
hinreißen ließen. Aber die Widerstandskraft der aufständischen
Bauern wurde bald wieder gebrochen. Tausende von Kolonisten sind bei [397] dieser Gelegenheit
hingerichtet worden, in dem Dorfe Marienthal allein 400 Mann, darunter
der Ortsgeistliche. Als die Zeit der Aussaat kam (Frühjahr 1921), fehlte das
Saatkorn. Dazu kam die schlechte Bearbeitung der Felder infolge des Mangels an
landwirtschaftlichen Geräten. Kein Wunder, daß bei der Trockenheit
des Sommers 1921 alles zugrunde gehen mußte. Die Felder blieben schwarz
liegen. Da packte im Juni und Juli bereits Tausende und aber Tausende das
Grauen vor dem heranziehenden Hunger. Sie nahmen ihre Kinder mit ein paar
Habseligkeiten und jagten in die Fremde, wo sie zu Tausenden zugrunde gingen,
während Zehntausende in der Heimat dem entsetzlichsten Hungertode zum
Opfer fielen. Es war eine Schreckenszeit ohnegleichen! Halbe Dörfer
starben aus!"
Soweit die Darstellung Schleunings. Gleich zu Anfang des bolschewistischen
Regimes wurde das ganze Gebiet der Wolga-Kolonien unter dem Namen
"Deutsche Arbeiterkommune des Wolgagebiets" zu einer Verwaltungseinheit
gemacht. Dieser Schritt war in der Hauptsache als Hilfsmittel zur
Ausplünderung der deutschen Bauern unter dem Namen von
Sozialisierung, Requisitionen usw. gedacht. Als dann die Hungersnot kam,
hatte es fast den Anschein, als ob niemand mehr im Wolgagebiet am Leben
bleiben würde. Die große Rettungsaktion, die auf der Höhe des
Elends, hauptsächlich durch amerikanische Hilfe, einsetzte, hat viel dazu
beigetragen, daß das Äußerste verhütet wurde. Um
dieselbe Zeit geschah administrativ eine wichtige Veränderung. Die
ziemlich zahlreichen russischen Dörfer, die an verschiedenen Stellen
zwischen den deutschen Siedlungen eingestreut sind, wurden in die bisherige
"Deutsche Arbeiter-Kommune" einverleibt und das Ganze, in Befolgung des von
Moskau aus neu aufgenommenen Systems der "verbündeten
Sowjetrepubliken" in eine "Autonome Sozialistische Republik der
Wolga-Deutschen" umgewandelt. Um aus dem Ganzen einen brauchbaren
und geschlossenen Verwaltungskörper zu machen, wurden so viel Russen
mit einverleibt, daß heute mehr als ein Drittel von der
Gesamtbevölkerung der deutschen Wolgarepublik aus Russen besteht. Seit
dem Januar 1924 liegt die Verwaltung, entsprechend dem Moskauer Vorbild, bei
einem "Zentralen Exekutiv-Komitee" und einem "Rat der
Volks-Kommissare". Hauptstadt ist jetzt Pokrowsk, keine deutsche, sondern
ursprünglich russische Siedlung. Viel natürlicher wäre es
gewesen, das alte deutsche Katharinenstadt, das Zentrum des ganzen
Koloniegebiets, zum Hauptort und zum Verwaltungssitz zu wählen. Das
aber geschah absichtlich nicht, um nicht dem konservativen, dem Kommunismus
gegnerisch gesinnten älteren deutschen Element die Oberhand zu
geben.
Die Wolga-Kolonien hatten, trotz der Rührigkeit des
Kolonistennachwuchses in den Städten und trotz des vielfach erfreulichen
Eindrucks der größeren Siedlungen, unter den Folgen des erst kurz
vor dem Kriege endlich abgeschafften
Mir-Systems mit seinen ewig wiederholten Landumteilungen zu leiden. Das
Mir-System hatte lange als ein Schaden an ihrer Wurzel genagt, und dazu waren
die Mißernten eine ständige Gefahr, deren Folgen sich von
Wiederholung zu Wiederholung kaum aus- [398] gleichen ließen.
Auch die Russifizierungspolitik der letzten Jahrzehnte vor dem Kriege war nicht
ganz ohne Folgen für die innere Verfassung des Deutschtums geblieben.
Dazu kamen die Wirkungen des Krieges, der Revolution, der bolschewistischen
Ausraubung und Zerstörung, der furchtbaren Hungersnot von 1921/22 und
einer schwächeren, aber gleichfalls sehr schädlichen Mißernte
von 1924. So ist das Bild des Wolgadeutschtums in der Gegenwart
ungünstig genug. Auch das deutsche Kulturgefühl hat gelitten, wenn
man auch hoffen darf, daß es sich unter den neuen, sehr
eigentümlichen, aber nicht ganz aussichtslosen Verhältnissen wieder
erholen wird. Eine Schilderung der Wolgakolonien aus der Gegenwart gibt
Oswald Zienau in der Zeitschrift Der Deutsche Gedanke.2 Zienau sieht begreiflicherweise nach
dem furchtbaren Schicksal, das die Kolonisten während der letzten neun
Jahre zu erdulden hatten, mehr das Düstere in ihrem Dasein. Auch bei ihm
aber ist der Grundton mehr vertrauend als skeptisch. Das Folgende ist nach ihm
gegeben.
Die neue Hauptstadt Pokrowsk ist ohne jegliche Note eines geistigen
Deutschtums; schwer denkbar ist es auch, daß diese alte und verschmutzte
Kosakenstadt jemals der geistige Mittelpunkt eines neuerstarkten
Nationalbewußtseins und -willens werden könnte. Um so
stärker empfindet man aber in dem natürlichen Kulturzentrum des
wolgadeutschen Gebiets, in Marxstadt (früher Katharinenstadt), den Willen
zur Betonung nationaler und kultureller Selbständigkeit! Nicht allein,
daß das äußere Bild dieser Siedlerstadt ein viel höheres
Kulturniveau als Pokrowsk und alle anderen nichtdeutschen Siedlerstädte
im Innengebiet der Räterepublik bezeugt, sondern es ist vor allem die
geistige Einstellung zu den national-kulturlichen Problemen und der aus dieser
Psyche erwachsende Impuls, der stark empfindbar die
national-kulturellen Wiederaufbauarbeiten vorwärtstreibt, die Marxstadt
allein zum Ausgangspunkt einer so gearteten Selbständigkeitsbewegung
prädestinieren.
Vieles, sehr vieles steht in dieser Wolgadeutschen Räterepublik noch in den
ersten Anfängen einer Entwicklung zu
national-kultureller Selbständigkeit. Unter der Voraussetzung einer
einigermaßen guten Wirtschaftslage werden erst Jahrzehnte einer
ungestörten Entwicklung erkennen lassen, wie weit die
deutschstämmigen Bolschewisten ihr Vorhaben einer
national-kulturlichen Wiedererweckung der Wolgakolonisten zur
Durchführung bringen konnten oder ob sie doch nur die Beauftragten einer
Zentrale mit ganz besonders eingestellten Absichten gewesen sind. So lange es
aber im Rahmen der allgemeinen deutsch-russischen Beziehungen gewisse und
nicht ganz unbedeutende kulturelle Beziehungen zwischen Berlin und Pokrowsk
gibt und solange die Pokrowsker Führerschaft sich frei hält vom
nurbolschewistischen Räteradikalismus, ist bei allen möglichen
Einschränkungen und Einwendungen doch hauptsächlich: daß
die Räterepublik der Wolgadeutschen den Kern zur Wiedergeburt eines fast
vergessenen Deutschtums der Wolgakolonisten in sich trägt!...
[399] Mit Ausnahme von
wenigen Mennonitensiedlungen, die durch eine besondere Wirtschaftspolitik und
gemeindliche Organisation den Auswirkungen der
Natur- und Revolutionskatastrophen viel gewappneter begegnen konnten, ist der
innere und der äußere Zustand der Siedlungen und der der
Kolonistenwirtschaften mit nur geringen Ausnahmen ein solcher, daß
genereller Neuaufbau in vollem Umfange und die Beschaffung kompletter
landwirtschaftlicher Betriebseinrichtungen zur Wiederherstellung voller
wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit - wovon die Entwicklung der
Volkswirtschaft der Wolgadeutschen Republik ganz und gar abhängig
ist - notwendig ist. Aus den durch die Moskauer Zentralregierung zur
Überwindung der Mißerntefolgen zur Verfügung gestellten
Geldern, die augenscheinlich der allergrößten Not abgeholfen haben,
hat darüber hinaus die Pokrowsker Regierung
Großackergerätschaften aufgekauft und mit Hilfe
genossenschaftlicher Bauernorganisationen der Inbetriebnahme zugeführt.
Selbstverständlich ist der Kreis der von dieser
Gerätezuführung betroffenen Bauern nur ein beschränkter und
nicht zureichend zur bemerkenswerten Aufbesserung der
Allgemeinwirtschaftslage der Kolonistenschaft. Ausschlaggebend für die
Beurteilung der Lage der Kolonisten und damit der Volkswirtschaft der
Wolgarepublik ist, daß Anbaufläche und Viehbestand noch immer
stark zurückgeblieben sind gegenüber dem Stande der Vorkriegszeit:
wurden 1910 auf dem Gebiete der deutschen Kolonisation 955 000
Deßjatinen (100%) bebaut, so 1920: 798 000 (83%), 1923:
472 000 (45%), 1924: 558 000 (59%) und 1925: 630 000
(65%) Deßjatinen. Der Gesamtviehstand sank von 1916 mit
1 281 917 Stück zu 1924 auf 647 722 (50,5%)
Stück; die Viehhaltung auf einer Bauernwirtschaft ist dementsprechend
zurückgegangen von 14,6 auf 7,3 Stück durchschnittlich.
Ackervieh - Pferde und Großhornvieh - sind im Herbst 1924
vorhanden: Pferde 29,5% und Großhornvieh 60,5% der
Friedenshaltung.
Es haben diese Verhältnisse ihren starken Einfluß auf die einzelnen
Gesellschaftsgruppen unter der Wolgakolonistenschaft gehabt; der "reiche Bauer"
der Vorkriegszeit ist an der Wolga insbesondere eine ausgelöschte
Persönlichkeit. Nur in den Fällen, wo die "Großfamilie"
Zusammenfassung und rationelle Ausnutzung der Arbeitsmittel
und -kräfte erlaubt bei größerem und verzweigterem
Wirtschaftsbetriebe, ist der Wirtschaftswohlstand
und -zustand über das Allgemeinniveau weit hinausgehend.
Staatsgüter, eine Agrarversuchsstation und Meliorationsunternehmungen
größeren Stils sollen allgemein durch wirtschaftspraktische Vorbilder
und Förderung die Lage der Landwirtschaft heben. Sind die
Staatsgüter noch absolut im anfänglichen Aufbau begriffen und so
noch ohne jegliche Bedeutung für die Zweckerfüllung, so sind um so
anerkennenswerter die Leistungen der agronomischen Versuchsstation bei
Krassny Kut. Diese Anstalt steht unter der exakt wissenschaftlichen
Führung bekanntester und tüchtiger Agronomen, und der praktische
Sinn und Zweck der Anstalt wird dadurch außerordentlich gefördert,
daß durch handgreiflichen Anschauungsunterricht die theoretischen
Versuchsergebnisse ausgewertet werden. Wenn [400] der deutsche Kolonist
an der Wolga wieder zu einem bodenständigen und witterungsfesten
Saatprodukt kommt und damit die Furchtbarkeit der Naturkatastrophen gemindert
wird, dann hat diese Versuchsstation hierfür das größte
Verdienst aufzuweisen.
Das Wirtschaftsbild der Wolgarepublik wird abgerundet durch Erwähnung
der textilen Heimindustrie im Kanton Balzer (auf der sogenannten Bergseite der
Wolga) und der Industrie in Marxstadt. Es ist die erste Voraussetzung für
eine gedeihliche Entwicklung der Volkswirtschaft der Kolonistenrepublik
gegeben: die von einem starken Wollen und von nicht unbedeutender
Wirtschaftsbegabung beherrschte unermüdliche Arbeitskraft der
deutschstämmigen Kolonistenbevölkerung. Angespornt durch ein
eigenkulturliches Ziel und nicht gehemmt durch
nebelhaft-abstrakte Prinzipien und doktrinäres Geschwätz, kann ein
starkes Eigenwirtschaftsleben zu Wohlstand und Zufriedenheit der
deutschstämmigen Kolonisten an der Wolga führen!
So das Urteil von Zienau.
2. Die Deutschen am Schwarzen
Meer
Die Kolonisation an der Wolga mit Hilfe deutscher Einwanderer aus dem Reiche
war schon am Ende des 18. Jahrhunderts ein zweifelloser Erfolg geworden.
Man muß sich dabei stets vergegenwärtigen, daß der deutsche
Bauer damals überhaupt wieder auf der Höhe seines Rufes als
Kultivator und Kolonisator stand. Auch das Habsburgische Siedlungswerk in
Ungarn mit deutscher Bauernhilfe war damals noch in vollem Gange und
verbreitete den Ruhm deutscher Tüchtigkeit. So war es kein Wunder,
daß die Blicke der russischen Regierung sich auch für das
Schwarzmeergebiet auf den deutschen Kolonisten richteten. Am 20. Februar 1804
erging das große Ansiedlungsmanifest Alexanders I. In
Deutschland waren es immer noch die vielen Kriegslasten, der fürstliche
Despotismus, die Aushebungen zum Militär und die unerträglichen
Steuern, die viele an Auswanderung denken ließen. In Rußland
dagegen versprachen die kaiserlichen Manifeste wiederum reichlichen Landbesitz,
Freiheit vom Militärdienst, Freiheit von Steuern, Freiheit der
Religionsübung. Besonders groß war wiederum die Auswanderung
aus Württemberg. In den Jahren von 1812 bis 1834 sollen von dort etwa
40 000 Menschen ausgewandert sein, im Jahresdurchschnitt beinahe 1800.
Einzelne deutsche Koloniegründungen im Schwarzmeergebiet fallen sogar
nach ins 18. Jahrhundert. Der eigentliche Zustrom setzte mit dem Jahre
1804 ein. Die Ansiedler wurden auf dem Donauwege nach Rußland
gebracht; es kamen aber nicht alle auf Grund vorhergegangener Anweisung oder
Annahme, sondern ganze Scharen machten sich auch auf eigene Faust auf den
Weg. Dabei sind große Menschenverluste vorgekommen, namentlich durch
Krankheit.
Dr. Karl Stumpp gibt in einer sorgfältig abgefaßten Schrift
über die deutschen Kolonien im Schwarzmeergebiet (Stuttgart 1922) die
folgende Übersicht über die [401] von
1782 - 1852 gegründeten Siedlungen. Die hinter dem Namen
der Siedlung stehenden eingeklammerten Namen bedeuten die früheren
russischen Gouvernements. Die Einwohnerzahlen beziehen sich auf die Zeit
unmittelbar nach dem Aufhören der staatlichen Kolonisation (1859). Da
eine russische Deßjatine ungefähr so viel ist wie 1,1 ha, so
entspricht die zum Schluß gegebene Gesamtzahl von rund 614 000
Deßjatinen Kronland, mit der die Kolonisten von der russischen Regierung
ausgestattet wurden, nahezu 700 000 Hektaren. Im ganzen hat die russische
Regierung bis zum Schluß der Siedlungszeit in 209 Kolonien
126 652 zugewanderte deutsche Kolonisten angesiedelt. Die folgenden
Einzelangaben nach Stumpp:
|
Jahr der
Gründung |
Gebiet (und Gouvernement) |
Zahl der
Kolonien |
Einwohnerzahl
im Jahre 1859 |
Deßjatinen
Kronland |
1. |
1782 |
sogen. Schwedengebiet (Cherson) |
6 |
2 356 |
17 169 |
2. |
1789 |
Josephstal, Jamburg, Rybalsk (Jek.) |
3 |
2 358 |
7 068 |
3. |
1790 |
Chortitza (Jekaterinoslaw) |
18 |
8 408 |
39 418 |
4. |
1804 |
Molotschna (Mennoniten, Taurien) |
51 |
19 034 |
96 922 |
5. |
1805-10 |
Molotschna (Kolonisten, Taurien) |
26 |
14 454 |
72 976 |
6. |
1804-05 |
Großliebental (Cherson) |
11 |
11 902 |
40 800 |
7. |
1805 |
Glückstal (Cherson) |
6 |
7 999 |
30 542 |
8. |
1805 |
Neusatz (Taurien) |
4 |
2 299 |
7 066 |
9. |
1805 |
Zürichtal (Taurien) |
4 |
1 254 |
3 671 |
10. |
1808 |
Kutschurganer (Cherson) |
6 |
7 373 |
27 713 |
11. |
1809 |
Beresaner (Cherson) |
13 |
13 226 |
66 356 |
12. |
1814-20 |
Bessarabisches |
25 |
24 066 |
136 929 |
13. |
1822 |
Berdjansker (Taurien) |
4 |
1 566 |
9 138 |
14. |
1823 |
Mariupoler Kolonisten (Jek.) |
27 |
10 862 |
48 590 |
15. |
1835-52 |
Mariupoler Mennoniten (Jek.) |
5 |
1 495 |
9 636 |
|
|
|
|
|
Zusammen |
209 |
128 652 |
613 994 |
Man sieht, daß in den Jahren nach 1835 die Kolonisationstätigkeit der
Regierung nur noch schwach war. Bei weitem das Schwergewicht der
Kolonisation liegt in den zwei Jahrzehnten von
1804 - 1823, d. h. in der Regierungszeit Alexanders I.
Von den 50er Jahren an erfolgte die Zunahme des deutschen Kolonistentums im
Schwarzmeergebiet allein auf dem Wege der natürlichen
Vergrößerung, und nicht mehr durch Zuweisung von Kronland,
sondern durch freiwilligen Ankauf von Land bei russischen Besitzern. Im Jahre
1835, also beim faktischen Schluß der Hauptperiode der Kolonisation,
belief sich die Zahl der Siedlungen auf 287. Im Jahre 1890 waren es 496 und im
Jahre 1914 waren es 1077. Bei dieser letzteren Zahl ist allerdings zu bemerken,
daß sich, je länger desto mehr, aus dem deutschen Bauerntum heraus
eine Art von ländlichem Großgrundbesitzerstand entwickelte und
daß diese großen Einzelgüter, ebenso wie die getrennt
angelegten Höfe, russisch Chutore genannt, mit in der Zahl einbegriffen
sind. Die Gründung so zahlreicher Tochterkolonien ging [402] zurück auf die
außerordentliche wirtschaftliche Tüchtigkeit und den großen
Kinderreichtum der Deutschen. Nicht selten traf man Familien mit zehn oder
zwölf Kindern, ja, selbst achtzehn Kinder kamen vor, ganz wie bei den
deutschen Kolonisten in Südbrasilien. Da es Sitte war, das Land
höchstens in vier Teile zu teilen, so mußte für die Mehrzahl
des Nachwuchses neues Land gekauft werden, und die zunehmende
Wohlhabenheit der Kolonisten ermöglichte das ohne weiteres. Die
Gründung der Tochterkolonien geschah hauptsächlich in der
Richtung nach Süden, in die Krim, und nach Osten, ins
Don-Gebiet, wo das Land noch reichlich und billig zu haben war. Wie schnell
sich die Zahl der Kolonisten vermehrte, davon ist ein besonders instruktives
Beispiel bei Stumpp angeführt. Danach wurden von vier deutschen
Mutterkolonien im Gouvernement Taurien und im Laufe von 27 Jahren
60 000 Deßjatinen mit eigenen Mitteln gekauft und darauf 20 neue
Kolonien und 26 Höfe gegründet. Schließlich war die
Zunahme des Deutschtums im Schwarzmeergebiet so stark, daß ein Teil
nach Sibirien und dem Kaukasus fortziehen mußte. Manche verließen
auch Rußland überhaupt und gingen nach
Nordamerika, hauptsächlich nach Dakota.
Zwischen den deutschen Ansiedlungen im Wolga- und Schwarzmeergebiet gibt es
insofern viel Gemeinsames, als es sich hier wie dort um eine deutsche
Kolonistenberufung annähernd von derselben Herkunft und in nahe
verwandten Siedlungsgebieten handelt. Es bestehen aber auch sehr starke
Unterschiede. Die Deutschen an der Wolga bewohnen ein geschlossenes, so gut
wie vollständig deutsches Gebiet. Ihre 200 Dörfer und
stadtähnlichen Siedlungen liegen auf einem Raume etwa von der halben
Größe Ostpreußens beieinander. Im Schwarzmeergebiet
dagegen liegen die deutschen Kolonien zerstreut über einen Raum beinahe
so groß wie Deutschland. Dazu kommt die Verschiedenheit der
Landordnung. Im Schwarzmeergebiet wurde nicht der schwere Fehler gemacht, an
dem die Wolga-Kolonien krankten, nämlich die Annahme des russischen
Mir-Systems. Einen ganz freien Privatbesitz an Grund und Boden gab es
allerdings auch in den Schwarzmeer-Kolonien nicht. Die Kolonie, d. h. die
Gemeinde, war Obereigentümerin des Grundbesitzes. Das Ackerland war in
"Wirtschaften" von gleicher Größe eingeteilt, jeder Familie stand
eine solche Wirtschaft zu, und diese wurde vom Vater auf den Sohn vererbt.
Fehlte ein männlicher Erbe, so fiel das Land an die Gemeinde
zurück. Verkauf war zulässig, aber an die Zustimmung der Gemeinde
gebunden. Ein- bis zweimalige Teilung einer Wirtschaft wurde erlaubt. Da zu
jedem Besitzwechsel die Gemeinde ihre Zustimmung geben mußte, so war
auch das Eindringen von Fremden in eine Kolonie verhindert. Diese
Gemeindeordnung war eine sehr glückliche Maßnahme der ersten
Ansiedler, denn die Erhaltung der individuellen Wirtschaft spornte jedermann
dazu an, seine Wirtschaft zu verbessern, und das Verbot der zu weitgehenden
Teilung verhinderte die Entstehung von Zwergbesitz und die
Zusammenhäufung zu vieler Menschen auf beschränktem Grund und
Boden, was an der Wolga nachteilig wirkte.
[403] Das System wurde
ohne weiteres von der Mutterkolonie auf die zahlreichen Tochtersiedlungen
übertragen, die sich schon bald nach dem Beginn der Kolonisationszeit zu
bilden anfingen. In dem Falle wurde natürlich das Land gemeinsam gekauft
und nach einem gemeinsamen Plan verteilt. Dabei blieb es jedem unbenommen,
sich durch freihändigen Ankauf von privatem Land zu einem
größeren, ja zu einem Großgrundbesitzer zu entwickeln. Die
Verwandlung des ukrainischen Schwarzerdegebiets in ein großes
Weizenproduktionsland war zu einem Hauptteil ein Verdienst der deutschen
Kolonisten. Wer in der Zeit vor dem Kriege als Deutscher zu ihnen kam und dort
die reichen, blühenden Dörfer, die stattlichen Höfe, die
großen Wirtschaften, zu denen sich nicht wenige Besitztümer
entwickelt hatten, ja, Riesengebiete, wie die berühmte Ascania
Nova der Familie Falz-Fein, kennenlernte, der hatte einen großen
Eindruck von diesem in der Fremde entstandenen deutschen Bauernwohlstand.
Der deutsche Kolonist hatte Geld, und er konnte den kapitalschwachen russischen
Besitzer namentlich auf den größeren Adelsgütern auskaufen.
Als die deutschen Truppen 1918 in der Ukraine erschienen, hatten die Kolonisten
schon viel durch russische Gewaltmaßnahmen, teils durch Vertreibung und
Verbannung, teils durch Requisition und anderen Druck gelitten, aber unsere
Soldaten staunten noch immer über die schönen Häuser,
über die getürmten Federbetten, die brechend vollen
Obstgärten, die schönen Rinder und Pferde und den prachtvollen
Weizenboden. Dann kam die russische Revolution. Der Bolschewismus machte es
sich sofort zur Aufgabe, alle Besitzverhältnisse umzustoßen,
rücksichtslos Plünderungen zu verhängen und mit Mord und
Brand zu wüten, wo er nicht blinde Gefügigkeit fand. Bei den
wiederholten Versuchen der russischen Generale Denikin und Wrangel, vom
Schwarzen Meer aus ins Innere vorzudringen und die Sowjetherrschaft zu
stürzen, hatten die Kolonisten gleichfalls zu leiden. Zum Teil schlossen
sich die deutschen Bauern den "weißen" russischen Truppen an, unterlagen
aber nach deren Vertreibung der Rache der Bolschewisten. Zum Teil versuchten
sie auch, namentlich in der Gegend von Odessa, sich mit der Waffe gegen die
roten Banden zu verteidigen, was auf die Dauer nicht glücken konnte. So
waren die Verluste an Eigentum und Menschenleben in den drei Jahren nach dem
Abzug der deutschen Truppen schon sehr groß. 1921 gab es die furchtbare
Mißernte, die das Schwarzmeergebiet ebenso traf wie das Land an der
Wolga und die benachbarten Teile Rußlands. Ihr folgte die Hungersnot.
Seitdem hat eine langsame Erholung begonnen, aber die alten Grundlagen der
Gesundheit und Produktionskraft der Kolonien sind, wenn nicht ganz
zerstört, so doch schwer erschüttert. Wie groß der
Gesamtverlust an Menschenleben von 1918 bis heute und wie hoch
gegenwärtig die Zahl der Deutschen im Schwarzmeergebiet noch ist, kann
mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht gesagt werden. Jedenfalls zählen sie
noch nach Hunderttausenden, die politisch alle Bürger der
"Sowjet-Ukraine" sind und mit dieser zur "Union" der Sowjetrepubliken
gehören.
[404] 3. Die Deutschen
im Kaukasusgebiet
"Kaukasus" hieß im früheren Rußland der ganze breite Isthmus
zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meere, ohne Rücksicht auf
die geographischen Verschiedenheiten, die es hier gibt. Auch
verwaltungsmäßig war das Gebiet als ein "kaukasisches
Generalgouvernement" zusammengefaßt, mit der Hauptstadt Tiflis. Der
nördliche Teil bis nahe an den Fuß des Gebirges unterscheidet sich
kaum von der benachbarten ukrainischen Schwarzerderegion, außer durch
etwas reichlichere Niederschläge. Gegen Osten, gegen den Kaspi zu,
nehmen auch diese stark ab. Der Boden ist hervorragend fruchtbar, ausgenommen
wiederum im Osten, wo er versalzt ist. Natürliche Waldbedeckung fehlt.
Zwei größere Flüsse kommen vom kaukasischen Hochgebirge
und durchströmen das "diesseitige" Kaukasien: der Kuban, der sich dicht
bei der Straße von Kertsch durch eine versumpfte Mündung ins
Schwarze Meer ergießt, und der Terek, der sich durch die Steppe zum Kaspi
wendet.
Transkaukasien, das Land jenseits des Gebirges, besteht aus einer vom Schwarzen
zum Kaspischen Meer hindurchgehenden Mulde, in der nach Westen der Rion,
nach Osten der Kur, der Fluß von Tiflis, fließt. Aus dieser Mulde, die
sich durch ein warmes, zum Teil sehr heißes Klima auszeichnet und an
ihrem westlichen Ende, bei Batum, die größte Feuchtigkeit, an ihrem
östlichen, bei Baku, die größte Regenarmut aufweist, die in
Europa vorkommt, erhebt sich südwärts das rauhe, von vulkanischen
Massen überschüttete Armenische oder Transkaukasische
Hochland.
Auf diesem großen, merkwürdig und mannigfaltig genug gestalteten
Raume haben sich Deutsche an vielen Stellen als Kolonisten betätigt. Am
interessantesten sind die Siedlungen jenseits des Gebirges. Diesseits des Kaukasus
bildet die deutsche Kolonisation nur einen gemeinsamen Ausläufer der
beiden schon früher vorhandenen deutschen Gruppen im
Wolga- und im Schwarzmeergebiet. Man schätzte die Gesamtzahl der
deutschen Bauern in Nordkaukasien vor dem Kriege auf 50 000 bis
60 000 Seelen, die sich in beinahe fünfzig größere
Gemeinden und viele kleine, erst in jüngster Zeit gegründete
Siedlungen gruppierten. Zwanzig Gemeinden liegen im
Kuban-Gebiet, also in unmittelbarer Nachbarschaft der älteren
Schwarzmeersiedlungen, von wo sie auch ihren Ursprung genommen haben. Eine
östliche, mehr von der Wolga herstammende Gruppe von dreizehn
Gemeinden liegt im Terekgebiet, und eine von fünfzehn im früheren
Gouvernement Stawropol in der Mitte auf dem mehr erhöhten und
durchschnittenen Boden vor dem Gebirge. Die größeren Kolonien
haben durchschnittlich mehrere tausend Einwohner. In bemerkenswerter Weise
haben sich diese kaukasischen Kolonisten den Verhältnissen ihrer neuen
Heimat angepaßt. Meist wanderte eine kleine Gruppe, Freunde oder
Verwandte, aus einer Kolonie an der Wolga oder am Schwarzen Meere
gemeinsam nach dem Nordkaukasus aus, kaufte oder pachtete sich ein
Stück Land, und nach einigen Jahren war die Gegend nicht wieder zu
erkennen. Vor allen Dingen pflegten die Deutschen große [405] Arbeiten zur
Erschließung von Wasser für künstlich zu bewässernde
Kulturen zu machen - Arbeiten, von denen dann auch die Eingeborenen
profitierten.
Noch interessanter als die nordkaukasischen Kolonien sind die Siedlungen auf der
anderen Seite des Gebirges, in "Grusien", d. h. Georgien, und im Gebiet der
jetzigen Tataren-Republik Aserbeidschan (die aber nichts mit der gleichnamigen
und benachbarten persischen Provinz zu tun hat). Die Zahl der transkaukasischen
Deutschen beträgt, mit Ausschluß der Stadtbevölkerung, nur
etwa 13 000, aber es ist eine in sich geschlossene und lebenskräftige
Gruppe, die eine nähere Darstellung verdient. Eine solche findet sich an
derselben Stelle, wo uns bereits die Schilderung der deutschen
Wolga-Kolonisten begegnete, nämlich in den Ostdeutschen
Monatsheften, März 1925, aus der Feder von
K. A. Fischer. Sie sei mit Erlaubnis des Verfassers im folgenden
wiedergegeben.
"Die Stammkolonien der Schwaben in
Transkaukasien sind in den Jahren 1818 und 1819 entstanden. Schon die
Geschichte der Auswanderung aus Württemberg und der Einwanderung
nach »Grusien« ist merkwürdig und zeigt manche
absonderliche Züge. Wirtschaftliche Not (Mißwachs, Krieg,
Teuerung, Übervölkerung), pietistische Unzufriedenheit mit dem
württembergischen evangelischen Kirchenregiment und allerhand
mystische Spekulationen wirkten zusammen, um den im Schwaben stets
schlummernden Drang in die Ferne zu wecken. Im Jahre 1816 fuhren
zunächst 30 Familien aus dem Dorfe Schwaikheim, Oberamt Waiblingen,
donauabwärts und überwinterten bei Odessa. Die russische
Regierung, die in dem kurz vorher eroberten Lande gern eine Anzahl Deutscher
als Musterlandwirte ansiedeln wollte, rief sie nach Transkaukasien, und so zogen
sie im Jahre 1817 in langwierigem Marsche über den großen
Kaukasus nach Tiflis und gründeten 1818, einige Wegstunden östlich
von Tiflis, am Flusse Jora die Kolonie Marienfeld. Kaum waren die
Schwaikheimer aus Württemberg abgezogen, so bildeten sich noch mehrere
größere »brüderliche
Auswanderungsharmonien«, die über 1400 Familien
umfaßten. Sie fuhren im Sommer 1817 die Donau hinunter, wurden aber in
den Sammellagern bei Ismail und Odessa durch ansteckende Krankheiten
furchtbar mitgenommen. 300 Familien blieben an Ort und Stelle und
gründeten bei Odessa die Kolonie Hoffnungstal, die noch übrigen
500 Familien aber ließen sich durch keinerlei Schwierigkeiten von ihrem
erstrebten Auswanderungsziel Grusien abbringen; zuletzt wurden zwei
Männer, Frick und Koch, nach Moskau abgeordnet, um in
persönlicher Audienz vom Kaiser Alexander I. die Erlaubnis zur
Weiterreise zu erwirken. Im Spätsommer und Herbst 1818
überstiegen sie, 486 Familien mit 2629 Seelen, in zehn Kolonnen das
Gebirge. Sie erhielten sofort Siedlungsland an verschiedenen Stellen bei Tiflis
und bei Jelisawetpol zugewiesen, überwinterten unter vielen
Schwierigkeiten und hatten nach einem Jahre fünf Dörfer
begründet: Alexandersdorf, Elisabethtal, Katharinenfeld (diese im
Gouvernement Tiflis), Helenendorf und Annenfeld (letztere beide im
Gouvernement Jelisawetpol). 1820 kam noch die kleine Ansiedlung
Peters- [406] dorf, dicht bei
Marienfeld, hinzu. Diese heute noch bestehenden dörflichen Siedlungen
sind der Stamm der schwäbischen Kolonien im Kaukasus geworden; das
1818 als deutsche Handwerkerkolonie begründete
Neu-Tiflis ist 1862 aufgehoben worden und in der wachsenden Großstadt
Tiflis aufgegangen.
Auch nachdem, mit weitgehender Unterstützung
der russischen Regierung, die ersten, noch recht dürftigen Hütten
gebaut, nachdem die ersten Saaten in die Steppe gestreut und die ersten
Rebenpflanzungen angelegt waren, gab es noch unendlich viele Schwierigkeiten,
und den neuen Kolonisten wurde das Einwurzeln im fremden Lande schwer
genug, so schwer, daß viele verzweifelt den Mut sinken lassen wollten. Die
größte Gefahr war für die erste und noch für die zweite
Generation das vielerorten ungesunde Klima; das Fieber hat in einzelnen
Kolonien immer wieder schlimm gehaust; so ist z. B. von den in
Helenendorf zuerst angesiedelten Familien nahezu die Hälfte (61 von 135)
völlig ausgestorben. Schwere Schläge erlitten dann Helenendorf,
Annenfeld und besonders Katharinenfeld im Jahre 1826 durch die
Überfälle persischer Räuberbanden. Groß waren auch
die Schwierigkeiten, die im inneren Leben der Kolonien hervortraten, vor allem
infolge eines ungesunden Sektenwesens, das sich in mehreren Kolonien breit zu
machen suchte und das nur mit Mühe unterdrückt werden konnte. Es
ist das Verdienst einiger Baseler Missionare, daß das Kirchenwesen der
Kolonien in geregelte Bahnen gelenkt wurde, in denen es dann dauernd verblieben
ist; seit 1841 gehörten die Kolonien zum Verbande der
evangelisch-lutherischen Kirche in Rußland, bildeten aber die
selbständige evangelisch-lutherische Synode der transkaukasischen
Kolonien, die bis zum Ausbruch der Revolution 1917 nur dem Statthalter des
Zaren im Kaukasus unterstellt war.
Lange Jahre und Jahrzehnte lebten die Schwaben so recht
und schlecht für sich dahin, streng abgeschlossen von den umgebenden
Asiaten, den Tataren, Armeniern, Grusinern, Lesghiern, und wie das bunte
Gewimmel der kaukasischen Völker sich sonst noch nennt. Angestrengteste
körperliche Arbeit in Feld und Rebgarten und altväterische
Einfachheit und Zucht gaben den Kolonien das Gepräge. Sie waren auf
»Kronsland«, d. h. Staatsland, angesiedelt worden, das
praktisch zum Gemeindebesitz wurde: die einzelnen Anteile waren vererblich an
die Nachkommen, nicht frei veräußerlich. Diese Gebundenheit des
Besitzes war von großem Vorteil für den Bestand der Kolonien.
Leider waren die einzelnen Wirtschaften schon bei der ersten Anlage klein, zu
klein genommen worden; sie maßen nur 35 bis 45 Hektar; auf die
Bedürfnisse der nächsten Generation war dabei keine
Rücksicht genommen. Freilich ließ die starke Sterblichkeit der ersten
Jahrzehnte diesen Mangel zunächst nicht sehr spüren. 1842 siedelten
sich noch zehn neu eingewanderte Familien bei Marienfeld an; sie nannten ihre
Siedlung Freudental. Erst 1860/61 entstand die erste Tochterkolonie: das
volkreiche, aber auf engem Lande sitzende Elisabethtal schickte 20 Familien aus,
die sich hoch oben im Gebirge, 1900 Meter über dem Meere, ansiedelten;
der neue Ort wurde Alexandershilf benannt. Zur gleichen Zeit rührte sich's
auch [407] sonst im Kaukasus.
1863 kam der brandenburgische Baron Kutzschenbach ins Land und
gründete in der Nähe von Alexandershilf seine große,
vorbildliche Viehwirtschaft Mamutli, 1864 legten die Brüder Siemens nicht
weit von Annenfeld das Kupferbergwerk Kedabeg an. Erst 1887 folgte
Helenendorf mit der Gründung der Tochterkolonie Georgsfeld. Inzwischen
war, anfangs der 80er Jahre, die Eisenbahn
Rostow - Baku - Tiflis erbaut worden; Transkaukasien war
mit Moskau verbunden. Von dieser Veränderung der Verkehrslage hat
zuerst und in größtem Umfange Helenendorf Nutzen gezogen, das
nur 12 Werst südlich vom Bahnhof Jelisawetpol liegt. Die Eisenbahn
erschloß dem kaukasischen Wein den großen russischen Markt, und
der Weinhandel wurde nun für Helenendorf die Quelle eines ansehnlichen
Wohlstandes.
Von den Wirren der ersten russischen Revolution,
1905/06, und von den gleichzeitigen blutigen Auseinandersetzungen zwischen
den eingeborenen Völkern des Kaukasus sind die schwäbischen
Kolonien äußerlich ziemlich unberührt geblieben. Wohl aber
hat die erste Revolution beträchtliche Wirkungen auf ihre kulturellen
Verhältnisse gehabt. Die deutschen Bauern, hier wie in
Südrußland und an der Wolga, erwachten aus einem langen Schlafe;
sie wurden sich der völkischen Zusammengehörigkeit mit den
anderen deutschen Kolonistengruppen und überhaupt mit den Deutschen
Rußlands bewußt, sie fingen langsam an, die Gefahren ihrer Lage zu
begreifen, sie wandten ihrem Schulwesen vermehrte Aufmerksamkeit zu, es
erstand ihnen im Jahre 1906 eine eigene deutsche Zeitung, die Kaukasische
Post. Im großen und ganzen waren die Jahre 1906 bis 1914 noch eine
Zeit wirtschaftlichen Gedeihens und kultureller Blüte.
Jede Kolonie, auch die kleinste, hatte ihre Volksschule, in
der überwiegend deutsch unterrichtet wurde. Helenendorf, die
wohlhabendste und allem Fortschritt aufgeschlossenste Kolonie, besaß dazu
noch eine Handelsschule. Die jungen Leute, die weiter lernen wollten, besuchten
gewöhnlich das russische Gymnasium und die russische Realschule, und
darin lag natürlich eine gewisse Gefahr; doch war diese Gefahr wieder sehr
abgemildert bei denen, die in Dorpat Gymnasium oder Universität
besuchten. In den Kolonien selbst aber gedieh ein reiches und fröhliches
deutsches Leben: literarische und dramatische Vereine sorgten für gute
deutsche Bücher und pflegten das deutsche Schauspiel, bei ernsten
Gelegenheiten und bei fröhlichem Becherklang erscholl mächtig das
deutsche Lied. Die schwäbische Mundart hatte sich die hundert Jahre
hindurch unverändert erhalten, und man konnte dem Kolonisten keine
größere Freude machen, als wenn man ihm von seiner Väter
Heimat, von Württemberg, erzählte. Von der rührigen
deutschen Gemeinde in Tiflis (sie zählte etwa 3000 Seelen, auch in Baku
gab es 4000 Deutsche) ging manch fruchtbare Anregung für die Kolonien
aus.
Im großen Krieg haben viele
Kolonistensöhne an der russischen Westfront wie an der Südfront
für den Zaren und für Rußland gekämpft und geblutet.
Den Kolonien geschah nichts (mit Ausnahme von Petrowka), bis Anfang 1917 der
Deutschen- [408] fresser Nikolai
Nikolajewitsch als Statthalter in den Kaukasus kam. Er wollte die Kolonien
auflösen und ihre Einwohner nach Sibirien verschicken; nur die im
März 1917 ausbrechende Revolution verhinderte sein Vorhaben. Die
Kolonisten sahen sich nun vor gänzlich veränderte
Verhältnisse gestellt. Die Selbsterhaltung gebot ihnen den
Zusammenschluß zu einem "Verband der Deutschen in Kaukasien", der in
der Zeit der allgemeinen Unruhe und Verwirrung viel Wertvolles für die
Kolonien geleistet hat. Anfang 1918 löste sich Transkaukasien aus dem
russischen Herrschaftsbereich; im Juli 1918 kam eine deutsche Division unter
General Kreß von Kressenstein in den
Kaukasus - eine kurze, aber starke und nachhaltige Freude für unsere
Kolonisten. Im ganzen bedeuten die Jahre 1917, 1918 und 1919 für die
Kolonien trotz großer politischer und auch wirtschaftlicher Schwierigkeiten
eine Zeit der Selbstbesinnung, des Sichaufraffens und des kulturellen
Aufschwungs. Die Handelsschule in Helenendorf wurde zu einer Realschule und
bald zu einer Oberrealschule ausgebaut; in Katharinenfeld entstand eine
Bürgerschule, in Tiflis ein deutsches Realgymnasium; die Kaukasische
Post, die 1914 bei Kriegsausbruch von der russischen Polizei verboten
worden war, begann 1917 aufs neue zu erscheinen. Die Arbeit, die in diesen
Jahren von den führenden Männern geleistet worden ist, kann gar
nicht hoch genug eingeschätzt werden. Dann kamen die Bolschewisten. Im
April 1920 eroberten sie Aserbeidschan, d. h. den überwiegend von
Tataren bewohnten östlichen Teil Transkaukasiens, das frühere
Gouvernement Jelisawetpol, ein Jahr darauf Tiflis, die Hauptstadt Georgiens, und
damit auch den westlichen Teil Transkaukasiens. Seitdem herrscht
Rußland - unter dem Zeichen des
Sowjetsterns - wieder im Kaukasus. Die Kolonien wurden plötzlich
vor neue riesengroße Beschwernisse gestellt: Sozialisierung, d. h.
Wegnahme der größeren Privatbesitzungen in Helenendorf und
Katharinenfeld, Beitreibungen, Einquartierungen, Seuchen, Absatzstockung
für den Wein, Geldmangel, allgemeine Unsicherheit. Heute ist die Lage der
östlichen, aserbeidschanschen Kolonien recht verschieden von der der
westlichen, in Georgien gelegenen. Helenendorf und seine Nachbarkolonien,
Georgsfeld, Annenfeld, Grünfeld usw. trugen entschlossen den
neuen Verhältnissen, d. h. der kommunistischen Wirtschaftspolitik
der neuen Machthaber Rechnung. Im August 1920 gründeten sie eine
Winzer-Produktivgenossenschaft, die ihre Hauptniederlage in Moskau hat und
von da aus die kaukasischen Weine über ganz Rußland vertreibt.
Damit ist der Absatz des Haupterzeugnisses der Kolonien, des Weines, gesichert,
und in kluger und tatkräftiger Arbeit hat diese Genossenschaft es
verstanden, die ihr angeschlossenen Kolonien und einzelnen Kolonisten in einer
Zeit allgemeinen wirtschaftlichen Niedergangs vor der Verarmung zu
bewahren.
In den zu Georgien gehörenden Kolonien ist die
Lage ungünstiger. Der Weinbau herrscht ja hier nicht in allen Kolonien vor,
aber auch in den weinbauenden und weinverkaufenden Ansiedlungen fehlt es an
einer alle umfassenden gemeinnützigen Organisation. Katharinenfeld, die
größte Kolonie, ist durch die schon 1918 [409] erfolgte
»Erhebung« zur Hauptstadt des Kreises Bortschala wirtschaftlich
und kulturell schwer geschädigt worden, namentlich ist die Wohnungsnot
dort über alle Maßen drückend. Kirche und deutsche Schule
werden von den Gewalthabern Georgiens nach Möglichkeit schikaniert.
Elisabethtal wurde im Jahre 1924 von einer schweren Mißernte
heimgesucht, und auch Katharinenfeld hat durch Hagelschlag und teilweisen
Mißwachs große Verluste erlitten."
4. Das Deutschtum in
Wolhynien
Unter dem Namen Wolhynien versteht man das Gebiet zwischen dem
großen westrussischen Sumpfgebiet der Polesje, das vom Pripet
durchflossen wird, im Norden, und der Pontischen Steppenregion im
Süden. Es ist dadurch charakterisiert, daß mittendurch die alte
Naturgrenze zwischen dem Wald und der Steppe geht. Nordwolhynien, wo
zwischen den Städten Kowel und Luzk im Westen und Schitomir im Osten
eine große Zahl von deutschen Siedlungen
besteht - bestand, muß man leider öfters
sagen - ist noch ganz Waldland; in Südostwolhynien gibt es schon
offene, von Natur waldlose Striche. Wolhynien und die südliche
Nachbarprovinz Podolien, in der sich auch deutsche Dörfer gebildet haben,
ist niemals, wie das Land an der unteren Wolga oder wie das Schwarzmeergebiet,
so siedlungsarm gewesen, daß dort nach Belieben mit einem
unbeschränkten Landvorrat hätte kolonisiert werden können,
sondern der alte russische und später der polnische Staat haben diese
Länder stets behauptet, wenn auch, namentlich später in der
polnischen Zeit, der Kulturstand sehr niedrig war. Es hat hier immer eine
politische Verwaltung, es hat Städte und Bauernschaften gegeben, und alles
Land hatte seine Besitzer. Meist waren das polnische, später, nach den
polnischen Aufständen, russische Adelsfamilien, die ihren Besitz nur
mangelhaft zu nutzen verstanden.
In dieser Verschiedenheit der Verhältnisse zwischen Wolhynien auf der
einen, Neu-Rußland und dem Wolga-Gebiet auf der anderen Seite lag es
begründet, daß der Typus und die Schicksale der deutschen
Siedlungen hier und dort sehr verschieden wurden.
Die ersten deutschen Kolonisten kamen nach Wolhynien schon am Anfang des
19. Jahrhunderts, und zwar aus Preußen, zu Lande auf der
großen Heerstraße, die südlich von der großen
Sumpfregion über Kowno und Schitomir nach Kiew führt. Noch
heute sieht man an der Lage der deutschen Siedlungen, daß sie durch
allmähliche Ausbreitung und Vermehrung zu beiden Seiten dieser Linie
entstanden sind. Die Hauptveranlassung dazu, daß die deutsche
Kolonisation sich ausbreitete, war die mangelhafte Wirtschaft der einheimischen
Gutsbesitzer. Nach dem ersten polnischen Aufstand, zu Beginn der 30er Jahre,
verließen viele deutsche Bauern das damalige Kongreßpolen, wo sie
sich durch ihre Nichtbeteiligung am Aufstand bei den Polen unbeliebt gemacht
hatten, und zogen nach Wolhynien. Den Hauptaufschwung aber nahm die
wolhynische Kolonisation, nachdem im Jahre 1861 in Rußland die
bäuer- [410] liche Leibeigenschaft
aufgehoben war. Dadurch verloren die Gutsbesitzer nicht nur einen Teil ihres
Landes, den sie gegen staatliche Entschädigung an die Bauern abtreten
mußten, sondern auch die bis dahin zwangsweise geleistete
bäuerliche Arbeitshilfe. Um sich wirtschaftlich zu halten, bemühten
sie sich um deutsche Kolonisten, denen sie von ihrem Lande einen Teil verkauften
oder verpachteten. Nach dem zweiten polnischen Aufstand, 1863, wurden
wiederum Tausende von Deutschen nach Wolhynien gezogen, diesmal
planmäßig durch die Gutsbesitzer. Die deutsche Siedlungsarbeit in
Wolhynien ist eines der wenigstbekannten, aber trotzdem größten und
erfolgreichsten Beispiele dafür, was die Zähigkeit deutscher Arbeit
auf dem Siedlungsgebiet zu leisten imstande ist. Dafür ein Denkmal ist
auch die Schilderung zweier Kenner, P. Deringern und P. Rink, in
dem Buche Deutsche im Ausland.3 Dort heißt es:
"Eine Gruppe von 20 bis 30 Familien
erhielt eine bestimmte Landfläche zugemessen. Der Wald mußte
gerodet, der Boden entwässert werden. Das war harte Arbeit. Der Siedler
baute sich eine Erd- oder Blockhütte und ging ans Werk. Die Baumriesen,
meistens uralte Eichen, wurden gefällt, zersägt, aufgeschichtet und
verbrannt, weil es noch keine Absatzmöglichkeit für Holz gab. Mit
dem Pfluge, aber auch mit Hacke und Spaten wurde der Boden bearbeitet, bis
schließlich das ganze Land, in den älteren Kolonien war es eine Hufe
von 17 Hektar, später oft nur eine halbe, unter der Pflugschar war.
Der jungfräuliche Boden brachte gute Erträge, aber es war trotzdem
außerordentlich schwer. Einige Kolonien standen schon nach zehn Jahren in
Blüte und hatten das Land als Eigentum erworben. Andere wieder wurden
in allzu großer Vertrauensseligkeit in unglaublicher Weise
übervorteilt. Mancher Siedler hat sein Grundstück dreimal bezahlen
müssen, ehe er einen rechtsgültigen Kaufbrief in die Hände
bekam. So wurde, durchweg nach dem Einzelhofsystem, im Laufe von
70 Jahren gesiedelt. Die meisten Kolonien entstanden in den Kreisen
Schitomir, Nowograd-Wolynsk, Rowno, Luzk und
Wladimir-Wolynsk; in den Kreisen Dubno, Kremenez, Ostrog, Saslaw und
Owrutsch waren es bedeutend weniger. Bei Ausbruch des Krieges 1914
zählte man in Wolhynien rund 500 Kolonien mit einer Seelenzahl von
250 000 oder 7% der Gesamtbevölkerung auf 250 000 Hektar
Landbesitz.
Eigenart der wolhynischen Kolonisten ist, daß sie
ohne staatliche oder sonstige Hilfe, ganz auf sich selbst gestellt und aus eigener
Kraft, sowie ohne nennenswertes Vermögen, die Kolonien geschaffen
haben. Sodann, daß sie, in kleinen Siedlungen über ein großes
Gebiet zerstreut, schwerer um die Erhaltung ihrer Eigenart zu kämpfen
hatten, dafür aber in weit größerem Maße als andere
Kolonisten die Lehrmeister des umwohnenden russischen Volkes werden
konnten.
Als die Deutschen ins Land kamen, benutzten der Bauer
und der Gutsbesitzer den hölzernen Hakenpflug. Der Wagen hatte eine
hölzerne Achse; Vieh, Pferde- [411] und Schweinerasse
waren vollständig entartet. Die Düngung des Bodens war unbekannt,
die Erträge daher gering. Der Gutsbesitzer war rettungslos beim
jüdischen Wucherer verschuldet. Gutsbesitzer, Bauer und Jude nagten am
Hungertuche in einem so reichen Lande, weil niemand da war, der die
Schätze in harter, treuer Arbeit zu heben verstand. Die Leute gestanden den
Kolonisten: »Wir wären schließlich verhungert, wenn die
Deutschen nicht ins Land gekommen
wären.«"
Die wolhynischen Deutschen als Gesamtheit waren lange nicht so wohlhabend,
wie das deutsche Kolonistentum im Schwarzmeergebiet. Sie waren, bei ihrem
erstaunlichen Fleiß und bei dem großen Segen, den sie auch für
ihre russische Umwelt bedeuteten, viel weniger gesichert in ihrem Landbesitz,
namentlich weil ein großer Teil nicht auf gekauftem, sondern auf Pachtland
saß. Als daher unter Alexander III. und noch mehr unter der
Regierung des letzten Zaren, Nikolaus II.. die Hetze gegen die deutschen
Kolonisten in Rußland begann, und ganz besonders gegen die
wolhynischen, weil sie der Grenze zunächst saßen, wurde bereits eine
ganze Anzahl von ihnen verdrängt. Für die Agrarreform, die der
Minister Stolypin nach der ersten russischen Revolution von 1905 in ganz
Rußland durchzuführen begann, dienten die deutschen Kolonien in
Wolhynien als Muster, aber gerade sie wurden von der Landzuteilung
ausgeschlossen, als die russische Bauernagrarbank das Werk des Landkaufs und
der Zuweisung an die Bauern in die Hand nahm.
Ein besonders schweres Schicksal traf die deutschen Wolhynier durch den Krieg.
Die Front zwischen den feindlichen Heeren ging mitten durch ihr Gebiet. Alles,
was westlich lag, wurde durch den Krieg verwüstet; die deutsche
Heeresleitung führte die Kolonisten möglichst nach Deutschland
über; die Dorfer verödeten und verschwanden. Nach dem Kriege
wurden die verlassenen Grundstücke von Russen und Polen in Besitz
genommen. Auf diese Weise sind dem Deutschtum in Westwolhynien mindestens
zehntausend Wirtschaften verlorengegangen. Der Rückwanderung, auf die
von der Mehrzahl der noch in Deutschland befindlichen Kolonisten von ganzer
Seele gehofft wird, setzen die Polen alle möglichen Hindernisse entgegen.
In Deutschland gibt es gegenwärtig noch etwa 50 000 wolhynische
Flüchtlinge.
Östlich von der Front, auf der russischen Seite, wurden vom Sommer 1915
an alle deutschen wolhynischen Kolonisten aus ihren Besitzungen und Pachtungen
auf das Brutalste ausgewiesen und nach Sibirien vertrieben. Die Ernte, das
Inventar und die Häuser wurden ein Raub der russischen Nachbarn. Erst im
Frühjahr 1918, nach dem
Friedensschluß von Brest-Litowsk, wurde den Verbannten die
Rückkehr gewährt. Bei weitem der größte Teil hat, unter
den größten Schwierigkeiten und Entbehrungen, von der
Möglichkeit Gebrauch gemacht. Die neue russische Regierung setzte die
Kolonisten wieder in ihre Rechte ein, aber sie fanden alles geplündert,
verwahrlost, halb zerstört. Dennoch gingen sie mit unermüdlichem
Mut an den Wiederaufbau.
[412] Der nicht an Polen
abgetretene Teil des deutschen Siedlungsgebietes in Wolhynien gehört
jetzt, ebenso wie die Kolonien im Schwarzmeergebiet, zur
Sowjet-Ukraine. Die Zahl der auf beiden Zeiten der
russisch-polnischen Grenze auf ihrem Grund und Boden verbliebenen und
wiedergekehrten wolhynischen Kolonisten wird von Deringern und Rink auf
200 000 angegeben, davon bei weitem der größere Teil in der
Sowjet-Ukraine. Die Kolonisten haben sich durch zwei besonders gute Ernten
gleich nach der Rückkehr, in den Jahren 1920 und 1921, bis zu einem
gewissen Grade erholt. Die Sowjetregierung macht ihnen auch keine
Schwierigkeiten in bezug auf Organisation und Zusammenschluß in
deutschem, namentlich in kulturellem Sinn. Die deutsche Schule ist den
Kolonisten jetzt wieder frei gewährt - nur fehlen die Mittel zur
Einrichtung und zum Ausbau. Kirchlich gehört die Mehrzahl zum
evangelisch-lutherischen, etwa ein Viertel zum katholischen Bekenntnis. Die
kirchliche Versorgung vor dem Kriege war mühsam genug und von den
Kolonisten mit viel eigenen Opfern errungen. In der großen Kolonie
Heimthal in der Nähe von Schitomir bestand seit 1904 ein Seminar zur
Ausbildung von Kräften, die gleichzeitig als Küster und Lehrer
dienen sollten. Durch den Krieg wurde das Seminar aufgelöst. Das
Gebäude dient jetzt als siebenklassige deutsche Schule, die
größte und beste im ganzen wolhynischen Siedlungsgebiet. Auch
sonst überall wird das Möglichste von den Kolonisten getan, um
irgendeine, sei es auch noch so dürftige Wiederversorgung mit Unterricht
und mit kirchlicher Bedienung zu ermöglichen. Es ist wunderbar, wie das
deutsche Kolonistentum in der Ferne, selbst nach so schweren und nicht selten so
furchtbaren Schicksalen, wie auch die deutschen Wolhynier sie erlebt haben, an
dem einmal erarbeiteten und kultivierten Boden festhält!
Nachtrag zu dem Abschnitt über die
wolhynischen Kolonisten im Kapitel: "Das Deutschtum in Polen."
Während der letzte Bogen dieses Buches in Druck geht, erfahren wir,
daß über das Deutschtum in
Polnisch-Wolhynien eine schwere Verfolgung hereingebrochen ist. Den
Kolonisten wird von der Regierung ihr Land gegen Recht, Treu und Glauben
fortgenommen. Es handelt sich um 100 000 Deutsche, die auf diese Weise
in ihrer Existenz bedroht sind - nachdem man sie jahrelang sich hat
abmühen lassen, um mit dem höchsten Fleiß und unter den
höchsten Entbehrungen ihre Höfe und Äcker wieder instand zu
setzen. Das haben die Polen abgewartet, und nun soll die Vertreibung kommen.
Die deutsche Fraktion im Sejm in Warschau
hat - Juli 1926 - eine Anfrage eingebracht.
Äußerstenfalls muß der Völkerbund angerufen
werden.
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