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Die echten deutschen Minderheitsgebiete (Teil 17)

Das Deutschtum in Rußland

Vorbemerkung. Die Darstellung in diesem Kapitel kann aus naheliegenden Gründen nicht ebenso vollständig und nicht ebenso sehr auf Grund des neuesten Materials gegeben werden, wie es in den vorhergehenden Teilen des Buchs erstrebt und überwiegend erreicht wurde. Die Möglichkeit, mit den deutschen Siedlungsgebieten in Rußland in Verbindung zu treten, ist vielfach eingeschränkt und unsicher. Das drückt sich auch in dem geringen erhältlichen Bildmaterial aus. Mehr als an anderen Stellen mußten auch, anstatt direkter Informationen durch an Ort und Stelle lebende Gewährsleute, schon veröffentlichte zuverlässige Berichte herangezogen werden.

Das geographische Bild der osteuropäischen Tiefebene ist bekannt. Sie ist die größte zusammenhängende Ackerbauregion Europas. Deutsche Siedlungsgebiete auf dem Boden des früheren russischen Staates gibt es im Wolgagebiet, im Schwarzmeergebiet, in Kaukasien (sowohl nördlich als auch südlich des Gebirges), in Wolhynien und in geringem Umfang noch an einigen isolierten Stellen. Vom Schwarzmeergebiet ist der westlichste Teil, Bessarabien, jetzt rumänisch geworden, und von Wolhynien hat im Frieden von Riga ein bedeutender Teil, der etwa die Hälfte des deutschen Kolonistentums umfaßt, an Polen abgetreten werden müssen.

Bei weitem die Hauptmasse der deutschen Kolonien in Rußland wurde im Gebiet der sogenannten Schwarzerde gegründet. Jahrtausende lang war hier nicht Ackerland sondern Steppe: Wohngebiet der dort nacheinander erscheinenden, für die kultivierten Nachbarn lästigen, oft auch gefährlichen Nomadenvölker. Katharina II. erklärte das bis dahin nominell unter türkischer Oberhoheit stehende Gebiet 1783 als russischen Besitz. Die Erwerbung erhielt den Namen "Neurußland". Hier war es, wo der Fürst Potemkin seine Gebieterin durch die bekannten Scheindörfer täuschte, die seitdem sprichwörtlich geworden sind.

Nicht nur die Region des Schwarzen Meeres, sondern auch die an der mittleren und noch mehr an der unteren Wolga war im 18. Jahrhundert wenig kultiviert und bedeutete keinen produktiven Besitz für den russischen Staat. Daher ziehen sich fast durch die ganze zweite Hälfte des 18. und die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts Pläne der russischen Regierung für eine landwirtschaftliche Kolonisation dieser von Natur meist fruchtbaren Ländereien. In erster Linie war man bestrebt, deutsche Kolonisten anzuwerben. Der verfügbare Raum war zunächst so gut wie unbeschränkt. Einen Faktor, dessen die Staatsgewalt nicht Herr war, bildete allerdings und bildet noch heute das Klima. Nach einem von dem Wiener Geographen [389] Brückner schon im Jahre 1890 entdeckten Gesetz wiederholen sich in ziemlich regelmäßigen Perioden von durchschnittlich 35 Jahren Zeiten der Dürre, die innerhalb dieser Reihe jedesmal eine Anzahl aufeinander folgender Jahre umfassen. Sie sind in der russischen Ernte- und Wirtschaftsstatistik deutlich bezeichnet durch Mißernten und Hungersnöte. Am furchtbarsten waren die Dürre und der Hunger auf dem ganzen Schwarzerdegebiet und noch darüber hinaus im Jahre 1921 - 22, in dem nach der Schätzung des Norwegers Nansen, des Leiters der internationalen Hilfsaktion für die Hungernden, in Rußland 10 Millionen Menschen vor Hunger und Hungerkrankheiten umgekommen sind. Die letzte schwere Mißernte vorher fiel ins Jahr 1891. Nach 1921 wiederholte sich eine nicht ganz so schlimme im Jahre 1924. Die fünfunddreißigjährige Periode, die sich als Ganzes dadurch charakterisiert, daß an ihrem einen Ende heiße und trockene, an ihrem anderen aber kühlere und feuchtere Jahre stehen, erstreckt sich keineswegs nur auf den südlichen Teil von Osteuropa, sondern, mit gewissen Ausnahmen, auf die ganze Erde. Sie tritt aber dort besonders gefahrvoll hervor, wo das Klima ohnehin zu kontinentalen Extremen neigt. Schon im Schwarzmeergebiet ist das der Fall, und noch verhängnisvoller im Wolgagebiet. Auch die deutschen Kolonisten haben schwer darunter zu leiden gehabt.

Das äußere Bild der Bodenverhältnisse und der Siedlungen finden wir sehr anschaulich in einem Vortrage von Professor C. Uhlig in Tübingen, abgedruckt in den Verhandlungen des XXI. Deutschen Geographentags zu Breslau (Juli 1925), geschildert. Uhlig schreibt:

      "Flachwellig-hügeliges und ebenes Land überwiegt in der Mehrzahl der Siedlungsgebiete. Die osteuropäische Tafel, noch mehr das Gebiet der mittleren Donau, ist oft auf weite Erstreckung wirklich eben. Das bedeutet, daß solche Gegenden zur Ausführung eines ganz regelmäßigen Ortsplanes besonders einladen. Die Eintönigkeit des Grundrisses wird nur gelegentlich durch eine bescheidene, wenigstens zeitweise wasserführende Rinne oder durch einen kleinen Teich etwas gemildert (so besonders im Schwarzmeergebiet). Die verschwenderische Fülle des zur Verfügung stehenden Raumes hat hier oft zur Anlage ungemein weiter Straßen geführt, die in einzelnen Fällen mehr als 100 m Breite besitzen; im Verein mit den ebenfalls sehr breiten und trockenen niederen Hofstätten gestalten sie das Bild fast übermäßig großzügig.
      Wo flach eingeschnittene Talmulden das Landschaftsbild beherrschen, sind die Siedlungen meist in sie eingefügt. Bei der genannten bedeutenden Ausdehnung der Höfe ist es ohne weiteres verständlich, daß oft eine Doppelreihe von ihnen genügt, um die Breite des Tales auszufüllen. So ergeben sich einstraßige Dörfer, bei denen überdies die Hinterhöfe nicht selten an den Talhängen leicht emporsteigen. In breiteren Tälern kommen Dörfer mit zwei oder mehr Längsstraßen vor. Alle so an Tiefenlinien geknüpften Siedlungen genießen Schutz vor den in großen Teilen des Südostens heftigen Winterstürmen: zugleich können sie das nötige Wasser entweder [390] aus den Bächen oder aus den Grundwasserströmen entnehmen, die unter diesen Tiefenlinien dahinziehen..."

Diese Schilderung Uhligs - sie geht im weiteren noch in derselben anschaulichen Weise auf viele Einzelheiten im Bilde der deutschen Siedlungen in Südosteuropa ein - gilt namentlich für das Schwarzmeergebiet. Wir wenden uns nun den Kolonisationsgebieten im einzelnen zu und beginnen mit dem ältesten, dem an der Wolga. Das folgende Bild von ihm ist mit den Worten eines hervorragenden Kenners, P. Schleuning, gegeben.1


Kolonie Karamyschewka, Wolgagebiet

[400d]
      Kolonie Karamyschewka, Wolgagebiet.
1. Die Wolgadeutschen

      "An der unteren Wolga liegen 200 deutsche Dörfer, »Kolonien« genannt, die in ihren Ausdehnungen eher an Städte erinnern, mit einer Seelenzahl von je 5000 bis 15 000 und mehr, und mehrere hundert kleine Niederlassungen (Chutors), eine eigenartige deutsche Welt, die, umgeben von slawischen und asiatischen Volksstämmen, dort bodenständig geworden ist. Mehr als 600 000 Deutsche zählte dieses Siedlungsgebiet vor dem Kriege. Das Land dieser Bauern, das etwa 2,5 Millionen Hektar Ackerland betrug, liegt in langen, breiten Streifen an beiden Seiten der Wolga. Nur einzelne Kolonien liegen abseits, umgeben von russischen, kirgisischen und tatarischen Dörfern. Die große Mehrzahl der Dörfer bildet ein zusammenhängendes, geschlossenes deutsches Siedlungsgebiet, wie wir es in ganz Rußland in dieser Größe und Geschlossenheit nicht mehr vorfinden.
      Katharina II., die deutsche Prinzessin auf russischem Zarenthron, hatte den großzügigen Plan gefaßt, die wilden und wüsten Gebiete ihres machtvoll ausgedehnten Reiches durch Anlegung planmäßiger deutscher Siedlungen für die Kultur erschließen zu lassen. Sie gab ihren Willen in einem Manifest vom Jahre 1762 den europäischen Völkern kund. Aber dies erste Manifest fand keinen Widerhall. Die Siedler blieben aus. Den Grund für diesen Mißerfolg gibt Katharina II. selbst an in ihrem zweiten Manifest, jenem grundlegenden und für spätere Zeiten vorbildlichen Staatsakt, auf Grund dessen die Voreltern der Wolgadeutschen ihre alte Heimat verließen, um sich in Rußland eine neue zu schaffen. Hatte das erste Manifest vom Jahre 1762 nur Versprechungen ganz allgemeiner Art enthalten, ohne die Rechte der Auswanderer in Einzelheiten festzulegen, so wurde das Versäumte in dem Manifest vom 22. Juli 1763 umso eingehender nachgeholt. Es enthielt alles, was sich Auswanderer nur wünschen konnten. Besondere Werbekraft hatten folgende Bestimmungen: Große russische Ländereien mit ihrem Reichtum und einer für Handel und Gewerbe angeblich bequemen Lage wurden den Kolonisten zur freien Wahl gestellt. Wahl des Wohnorts, des Berufes und freie Religionsübung wurden zugesagt. Den Unbemittelten wurden die Reisekosten versprochen. Zum Häuserbau und zur Anschaffung von Geräten sollten Vorschüsse gewährt werden. Den Kolonisten [391] wurde Selbstverwaltung, eigene Rechtsprechung und, erforderlichenfalls, eine Schutztruppe zugesichert. Allen Auswanderern und ihren Nachkommen wurde Befreiung vom Militärdienst und freie Rückwanderung gewährleistet, ferner für die ersten zehn Jahre Befreiung von allen Abgaben und Steuern. Weitere Vorrechte wurden auf Grund späterer Verhandlungen in Aussicht gestellt und die wichtigsten von ihnen auch auf die Nachkommenschaft für »ewige Zeiten« ausgedehnt.
      Um der amtlichen Werbung mehr Nachdruck zu geben, wurden besondere Auswandereragenten angestellt, die das »Manifest« erläuterten und die Versprechungen noch weit überboten. Trotz der Auswanderungsverbote der deutschen Landesfürsten meldeten sie sich in Scharen auf den verschiedenen Sammelplätzen. Alles war vertreten: Bauern, Handwerker, Soldaten, Offiziere, Ärzte, Studenten, Edelleute und Künstler - in buntem Gemisch. In allen Staaten des heiligen Römischen Reiches deutscher Nation griff die Bewegung um sich, besonders stark aber unter den Süddeutschen. Pfälzer, Hessen, Schwaben, Elsässer, Sachsen und andere greifen zum Wanderstabe, mit allen erdenklichen Garantien und Zusicherungen versehen. Förmliche Verträge wurden geschlossen und in zwei gedruckten Exemplaren ausgewechselt.
      Über Lübeck und Danzig gingen die Transporte zur See nach Kronstadt und Oranienbaum. Die Seereise allein dauerte in einzelnen Fällen sechs Wochen. In Oranienbaum mußten sie viele Wochen lagern, hier wurde ihr Schicksal entschieden. Sie sollten alle Bauern werden! Die Wolgawildnis wurde zu ihrer neuen Heimat bestimmt, einer Heimat, die sie erst den wilden Tieren, den Räuberbanden und Nomaden, dem Klima und dem Boden abtrotzen sollten. Sie sollten eine Einöde der Kultur erschließen, während sie bis dahin auf Grund des Manifestes gehofft hatten, sich ihre Berufe sowie den Ort der Niederlassung frei wählen zu können. Das war nach der langen schweren Reise die erste Enttäuschung, eine Enttäuschung, die viele bis an ihr Lebensende nicht verwinden konnten. Nur ein kleiner Teil durfte sich bei und in St. Petersburg als Handwerker niederlassen. Aus diesen ist ein Kranz deutscher Kolonien um Petersburg entstanden.
      Hatten die Kolonisten während der langen, sechs bis neun Monate währenden Reise viele Enttäuschungen und Entbehrungen durchlebt, waren infolge der ungeahnten Strapazen auch bereits unzählige unterwegs gestorben: die ganze Trostlosigkeit und Schwierigkeit ihrer Lage sollte ihnen doch erst klar werden, als sie an Ort und Stelle angekommen waren und eine Wildnis um sich sahen, in der ihnen an allen Ecken und Enden der Tod drohte. »Ist das das Paradies?« fragte ein Chronist seinen Reisebegleiter. »Ja, das verlorene!« war die erschütternde Antwort... Aber der Auswandererstrom war im Fluß und konnte nicht mehr aufgehalten werden, zu spät kam die Ernüchterung. Die Nachzügler konnten nicht mehr gewarnt werden. So wurden in den Jahren 1764 - 1767 im ganzen 8000 deutsche Familien mit rund 27 000 Seelen angesiedelt.
[392]   Tausende sind in den ersten Jahren an Krankheiten und Entbehrungen aller Art, besonders aber bei den Überfällen der Kirgisen und anderer Räuber, zugrunde gegangen. Die armseligen Erdhütten, die sie sich an Stelle der versprochenen Häuser, die sie schon fertig gebaut vorfinden sollten, selbst errichten mußten, schützten sie nur notdürftig vor Regen und Kälte. Der gänzliche Mangel an Ackerbaugeräten, die schlechte Belieferung mit Saatgetreide, die völlige Unkenntnis der klimatischen und Bodenverhältnisse machten ihnen die Arbeit zur Qual und zum Fluch. Hinzu kam noch, daß ihnen die Beschäftigung, zu der viele von ihnen Befähigung und Neigung gehabt hätten, Handel und Gewerbe aller Art, verboten worden war, und jeder einzelne, ob Künstler oder Handwerker, ob Gelehrter oder Offizier, sich zum Ackerbau bequemen mußte. Viele Kolonien glichen Jahre hindurch einem Heerlager, das von Wällen und Schützengräben umgeben war, um sich bei unerwartetem Überfall mit Erfolg verteidigen zu können. Die Männer waren in jenen Jahren meist bewaffnet und begaben sich - infolge der überall lauernden Gefahren - nur in größeren Gruppen aufs Feld.
      Erst in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts trat die Wendung zum Besseren ein. Die Ansiedler hatten sich mit ihrem harten Schicksal abgefunden, sie hatten festen Fuß gefaßt und sich den Verhältnissen angepaßt. Der Naturforscher Pallas besuchte im Jahre 1793 auf seiner Reise nach Asien die Wolgagegend und konstatierte den großen Fortschritt, den die Kolonien in zwanzig Jahren - er war im Jahre 1773 in demselben Gebiet gewesen und hatte die Kolonien in trostlosem Zustande gefunden - gemacht hatten. Er schildert den Überfluß an Lebensmitteln in den Wolgastädten, wie Kasan und Saratow, und bemerkt dazu:
      »Astrachan und mehrere entfernte Städte werden von hier aus mit Getreide versorgt, wozu die deutschen Kolonien nicht wenig beitragen. Diese haben seit zwanzig Jahren an Wohlstand sowie an Volksmenge beträchtlich zugenommen und sind gleichsam erneuert und umgeschaffen.«
Kolonie Strechenau bei Samara

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      Kolonie Strechenau bei Samara.
      Sie waren Herren geworden über die Widerstände und hatten die Wildnis besiegt. Im Laufe des 19. Jahrhunderts dehnten sich die Kolonien immer weiter aus; sie entwickelten sich trotz aller Hemmungen und Widerstände zu einem wirtschaftlichen Machtfaktor. Aus dem unansehnlichen Saratow, das bei Ankunft der Kolonisten einem großen Dorfe glich, wurde eine der bedeutendsten Handels- und Industriestädte der Wolga (250 000 Einwohner); die deutschen Dörfer selbst dehnten sich immer mächtiger aus. Behaglichkeit und Wohlstand, zum Teil Reichtum, zogen in die Kolonien ein. Das ihnen zugeteilte Land wurde ihnen zu eng. Die Regierung mußte ihnen neue Ländereien zuweisen, auf denen die Mutterkolonien aus eigenen Mitteln Tochterkolonien anlegen konnten. Auf der Ostseite (Wiesenseite) der Wolga wurden neue große Gebiete unter Kultur genommen. In den Jahren 1846 - 1870 sind 90 große Siedlungen auf der Wiesenseite angelegt worden. Unternehmende Ko- [393] lonisten pachteten und kauften Land hinzu, und das deutsche Gebiet gewann immer mehr an Ausdehnung und verschaffte sich Geltung in Stadt und Land.
      Inzwischen aber setzte langsam und konsequent die Hetze panslawistischer Kreise ein, die in der Ausdehnung der Kolonien, die so urdeutsch geblieben und keinem fremdvölkischen Assimilierungsprozeß zugänglich waren, eine Gefahr für den russischen Staat sahen. Es begann der Abbau ihrer Privilegien.
      Im Jahre 1874 war die »Ewigkeit« der Befreiung der Kolonisten vom Militärdienst zu Ende; die Kolonisten wurden bei Einführung der allgemeinen Wehrpflicht gezwungen, im russischen Heere zu dienen. Die Russifizierungspolitik begann. Die Kolonisten waren eine Macht geworden, mit der die russische Regierung rechnen mußte. Unter unzähligen Opfern hatten sie die Wildnis besiegt und in übermenschlichen Anstrengungen aus ihr eine Kornkammer Rußlands gemacht. Die Folge des Militärzwangs und der Russifizierung war ihre starke Abwanderung nach Süd- und vor allem nach Nordamerika. Ihr Deutschtum und ihre Religion hatten sie sich trotz aller Kämpfe zu wahren gewußt, obwohl sie keinerlei Beziehungen mehr zum Mutterland unterhielten. Wie sich die einzelnen Volksstämme in ihren Kolonien zusammengeschlossen hatten, so wahrten sie Mundart, Sitten und Gebräuche der alten Heimat. Noch heute kann jedes geübte Ohr in den Kolonien sofort den Hessen vom Sachsen, den Pfälzer vom Schwaben unterscheiden. Rein und klangvoll werden die Heimatdialekte auch heute noch in den Kolonien gesprochen; nur daß sich hier und da russische Ausdrücke für Dinge, die sie in russischer Umgebung kennengelernt, eingeschlichen haben. Deutsche Dialektforscher haben während des Krieges besondere Sprachstudien an den Kriegsgefangenen aus dem Wolgagebiet gemacht. Auf Grund dieser Untersuchungen konnte immer mit Sicherheit der deutsche Heimatort des entsprechenden Dorfes, aus dem der Kriegsgefangene stammte, festgestellt werden. Auch an dem Glauben der Väter hielten die Kolonisten in der Fremde, ihrer neuen Heimat, mit unverbrüchlicher Treue fest. Wie die Kolonien ursprünglich angelegt waren, in katholische, evangelisch-lutherische und reformierte (drei Viertel evangelisch und ein Viertel katholisch), so haben sie bis heute ihre religiöse Eigenart bewahrt, eine Tatsache, die sie aber nie daran hinderte, sich in allen nationalen und wirtschaftlichen Fragen als eine Einheit zu betrachten und zu betätigen.
      Bis zum Jahre 1906 war die Landwirtschaft der Kolonisten durch das ihnen aufgezwungene russische Mir- (Gemeindeeigentum-) System bedingt: alle zehn bis zwölf Jahre wurde das Land auf die lebenden männlichen Seelen verteilt. Um möglichst viel Land zu erhalten, blieben alle Söhne, auch die verheirateten, beim Vater. Dadurch bildete sich ein eigenartig-patriarchalisches Verhältnis mit strengen Sitten und Anerkennung der absoluten elterlichen Autorität aus. Die Stolypinsche Bodenreform (1906) gab dem Wirtschaftsleben der Kolonien eine neue Richtung. Die meisten Kolonien gingen auf Einzelbesitz über, der sich aufs glänzendste bewährte. In den Wolgakolonien wird hauptsächlich Weizen gebaut. Dieser wurde vor dem [394] Kriege in vielen Millionen Zentnern (um 1875 schon jährlich über 3 Millionen Pud) ausgeführt; angebaut und ausgeführt wurden auch Tabak, Senf, Balsam (Magenbitter) und anderes.
      Die riesigen Dampfmühlen der großen Kolonistenfirmen, die in allen großen Städten Rußlands ihre Niederlassungen und Vertretungen hatten, beeinflußten den ganzen russischen Mehlmarkt, denn die Verarbeitung des Getreides lag im ganzen Wolgagebiet hauptsächlich in den Händen der Kolonisten, die Firmen von Millionenumsatz geschaffen hatten. In den letzten Jahren vor dem Kriege wurden jährlich 8½ Millionen Zentner Getreide in diesen Dampfmühlen verarbeitet und ins Innere Rußlands, die baltischen Provinzen und nach Finnland ausgeführt.
      Eine bedeutende Rolle spielte in den Kolonien die Hausindustrie, besonders die Weberei. Zehntausende von Webstühlen waren sieben bis acht Monate im Jahre in Tätigkeit, um das über ganz Rußland verbreitete Sarpinka, einen Baumwollstoff, der ausschließlich in den Wolgakolonien erzeugt wurde, herzustellen. Um einen Begriff von den Leistungen der Kolonien zu geben, sei hier die Kolonie Balzer erwähnt, ein Dorf von 16 000 Einwohnern, deren Ureltern aus Hessen stammen. In Balzer blühten neben der Landwirtschaft die Industrie und das Handwerk. Es besaß: 2 Ölmühlen, 2 große Dampfmühlen, 8 holländische Windmühlen, 1 Gießerei, 1 Maschinenfabrik, 2 Appreturfabriken, 1 mechanische Weberei mit 79 Webstühlen, 4 Strumpffabriken mit über 300 Strickmaschinen, 1 Wollspinnerei, 300 Schustereien, 72 Sarpinkafabriken mit 14 000 Webstühlen, 15 Färbereien, 17 Gerbereien, 12 Filzwalkereien, 4 Ziegelbrennereien, 8 Wagenbauereien, 4 Sattlereien, 12 Tischlereien, 12 Schmiedefabriken! Neben der Weberei spielte die Herstellung landwirtschaftlicher Maschinen eine große Rolle. Besonders starke Verbreitung hatte die vereinfachte Getreidereinigungsmaschine (»Putzmaschine«), die hauptsächlich in den Kolonien Grimm, Balzer, Messer und Bauer hergestellt und zu Zehntausenden über ganz Rußland, Sibirien und den Kaukasus verbreitet wurde.
      Für die Wiesenseite der Wolga hat Katharinenstadt (jetzt Marxstadt) eine besondere Bedeutung erlangt. Es ist eine der schönsten und reichsten Kolonien, liegt an der Wolga oberhalb Saratow und zählt gegen 17 000 Einwohner. Viele Bauern besaßen Güter in der Steppe von 1000 - 2000 ha. Zwei stattliche Kirchen, eine evangelische und eine katholische, befinden sich im Dorf, außerdem eine russisch-orthodoxe, die einzige in den deutschen Wolgakolonien, da diese Kolonie durch ihren reichen Handel auch Russen angelockt hatte. An deutschen Schulen waren in Katharinenstadt vorhanden: ein Knabengymnasium, ein Mädchengymnasium, eine Zentralschule, eine Reihe Privatschulen, Kirchenschulen; daneben bestanden viele Wohlfahrtseinrichtungen, wie Krankenhäuser, Waisen- und Armenhäuser, Siechen- und Lehrlingsheime.
      Katharinenstadt ist seiner ganzen schmucken Anlage wie auch seinem regen Handels- und Industrieleben nach viel eher eine bedeutende
Sarepta, Koloniekirche

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      Sarepta, Koloniekirche.
Stadt als ein Dorf. [395] Die bolschewistische Regierung hat denn auch die beiden Dörfer Balzer und Katharinenstadt in Städte umgewandelt. Eine besondere Stellung unter den Kolonien nahm die Herrnhuter Kolonie Sarepta ein. Sie ist im Jahre 1765 von unternehmenden und umsichtigen Brüdern unterhalb der Stadt Zarizyn an der Wolga, 150 km südlich von dem deutschen Gebiet, angelegt worden. Zu den alten Privilegien hatten die Sareptaner neue erhalten, vor allem das Recht zu freier kaufmännischer Betätigung. Von der Muttergemeinde in Deutschland betreut, hat sie nie den Zusammenhang mit dieser verloren und blieb dadurch auch ständig mit dem Mutterlande in Verbindung, während alle übrigen Kolonien schon längst keinerlei Fühlung mehr mit diesem hatten, da die evangelischen Landeskirchen sich um ihre Glaubensgenossen im Osten nicht kümmerten, ja bald von ihrer Existenz nichts mehr wußten. Die Verbindung mit der Heimat gereichte Sarepta neben anderen günstigen Bedingungen zu großem Segen. Das kleine Städtchen erlebte bald eine hohe wirtschaftliche und industrielle Blüte und wurde allen anderen Kolonien in jeder Hinsicht zum Vorbild. Auch das Schulwesen stand bei den Sareptanern, soweit die russischen Verhältnisse das zuließen, auf der Höhe. Eine Anzahl Mädchen wurde nach Deutschland geschickt, wo sie in den Anstalten der Brüdergemeinde zu Lehrerinnen ausgebildet wurden; Knaben gingen in der alten Heimat bei tüchtigen Meistern in die Lehre - so konnte die ferne Kolonie an der Wolga Schritt halten mit dem Mutterlande dank den Kräften, die sie immer wieder aus dem Mutterlande sog. Die Bolschewisten haben das Städtchen, das während des Bürgerkrieges schwersten Heimsuchungen ausgesetzt war und fast ruiniert wurde, geschmackvoll in Krasnoarmeiskoje (Rotarmistendorf) umbenannt.
      Als der Krieg ausbrach, schickten sich die Wolgadeutschen gerade an, das 150jährige Jubiläum ihres Bestehens zu feiern. Es sollte ein Ehrentag für die Kolonisten werden, an dem sie voll Stolz auf all die wirtschaftlichen und kulturellen Segnungen hinweisen wollten, die sie Rußland im Laufe dieser 150 Jahre gebracht, an dem sie aber auch ein Bekenntnis zu ihrem Volkstum, das sie so treu in der Fremde gepflegt hatten, vor ganz Rußland ablegen wollten. Anstatt der erwarteten Festfreude zogen jedoch die Leiden und Verfolgungen der Kriegszeit ein. Aber weder die großen Opfer an Gut und Blut, die sie dem russischen Staate bringen mußten, noch die schweren Bedrückungen, die sie von eben diesem Staate zu erdulden hatten, konnten die innere Kraft dieses zähen deutschen Volksstammes brechen. Als die Revolution im März 1917 die unterdrückten Völker Rußlands auf den Plan rief zum Kampfe für ihr Selbstbestimmungsrecht, da standen die deutschen Kolonisten nicht zurück. Sie waren die ersten in Rußland, die sich wieder deutsche Zeitungen und deutsche Schulen schufen, die sich aber ebenso gegen jede Art von Anarchie wandten.
      Die Leiden der Kriegszeit hatten den Kolonisten ihr Deutschtum zu tiefem Bewußtsein gebracht. Sie fühlten gerade in den Augenblicken, wo sie in Gefahr standen, [396] alles zu verlieren und von Haus und Hof gejagt zu werden um ihres deutschen Namens willen, ihre Schicksalsgemeinschaft mit dem deutschen Volke. Um so fester war nun nach der Revolution ihr Wille, für ihre Rechte einzutreten. Bereits im April 1917 fand ein großer Kolonistenkongreß in Saratow statt, auf dem die Durchführung der Selbstverwaltung in den deutschen Kolonien auf Grund des Selbstbestimmungsrechts, das von der Kerenski-Regierung anerkannt worden war, und auf Grund ihrer alten Rechte beschlossen wurde. Ein erhebendes, unvergeßliches Bild - dieser Kongreß! Hunderte von Bauern, die Vertreter sämtlicher Kolonien, hier bei der nationalen Arbeit zu sehen, beim Aufbau, während ringsum im Russenreich noch alles durcheinander ging. Auch an den Allrussischen Kongressen der deutschen Staatsbürger Rußlands, die der greise und verdiente Kämpfer gegen die im Kriege erlassenen Liquidationsgesetze, Professor Dr. Lindemann, nach Moskau berief, nahmen sie tatkräftigsten Anteil. Auf diesen Kongressen fanden sich zum erstenmal in ihrer Geschichte die Deutschen aller Gebiete Rußlands zu gemeinsamer nationaler Arbeit zusammen und entwarfen gemeinsame Arbeitsprogramme (April und September 1917).
      Mitten in diese aufbauende Tätigkeit fiel im Spätherbst des Jahres 1917 der bolschewistische Umsturz. Schwere Unruhen brachen in den Kolonien aus. Ihr Widerstand wurde allmählich blutig niedergeschlagen, die Widerstandskraft der Kolonisten durch Erpressungen und Sozialisierungen, durch Gefängnis und Hinrichtungen gebrochen. Die großen Bauernwirtschaften wurden zerstört und das Land in gleiche Teile geteilt, die schönen Viehbestände vernichtet. Leute, die nichts von der Landwirtschaft verstanden, bekamen ebenso viel Land zugewiesen wie die Bauern, die es durch Fleiß und Tüchtigkeit zur Musterwirtschaft gebracht hatten. Die Ernte wurde den Leuten weggenommen. So schrumpfte die Aussaatfläche in den Kolonien ständig zusammen. Als im Jahre 1921 den Bauern das Verfügungsrecht über ihre Überschüsse bei der Ernte wieder zugesichert wurde, gab es bereits keine Überschüsse mehr. Die Landwirtschaft war vernichtet, die Industrie zerstört, die »Kornkammer« zu einem Trümmerhaufen geworden. Die Mißernte von 1920 brachte die Kolonisten bereits in die schwierigste Lage. Trotzdem wurden ihnen im Laufe des folgenden Winters durch herumziehende Requisitionsbanden, die aus dem Innern Rußlands gekommen waren, die letzten Nahrungsmittel gewaltsam entrissen. Es würde hier zu weit führen, die tragischen Ereignisse dieser furchtbaren Zeit auch nur zu registrieren. Alle Mittel der Erpressung bis zur Todesstrafe wurden angewandt, um die letzten Vorräte an Saatgetreide herauszubekommen. Die Fußböden in den Häusern wurden ausgebrochen, Höfe und Gärten umgegraben, um versteckte Lebensmittel aufzufinden, die Kälber, Schweine und Hühner abgeschlachtet und weggeführt. Kein Wunder, wenn die Leute in äußerster Verzweiflung und Not sich noch einmal zum Aufstand hinreißen ließen. Aber die Widerstandskraft der aufständischen Bauern wurde bald wieder gebrochen. Tausende von Kolonisten sind bei [397] dieser Gelegenheit hingerichtet worden, in dem Dorfe Marienthal allein 400 Mann, darunter der Ortsgeistliche. Als die Zeit der Aussaat kam (Frühjahr 1921), fehlte das Saatkorn. Dazu kam die schlechte Bearbeitung der Felder infolge des Mangels an landwirtschaftlichen Geräten. Kein Wunder, daß bei der Trockenheit des Sommers 1921 alles zugrunde gehen mußte. Die Felder blieben schwarz liegen. Da packte im Juni und Juli bereits Tausende und aber Tausende das Grauen vor dem heranziehenden Hunger. Sie nahmen ihre Kinder mit ein paar Habseligkeiten und jagten in die Fremde, wo sie zu Tausenden zugrunde gingen, während Zehntausende in der Heimat dem entsetzlichsten Hungertode zum Opfer fielen. Es war eine Schreckenszeit ohnegleichen! Halbe Dörfer starben aus!"

Soweit die Darstellung Schleunings. Gleich zu Anfang des bolschewistischen Regimes wurde das ganze Gebiet der Wolga-Kolonien unter dem Namen "Deutsche Arbeiterkommune des Wolgagebiets" zu einer Verwaltungseinheit gemacht. Dieser Schritt war in der Hauptsache als Hilfsmittel zur Ausplünderung der deutschen Bauern unter dem Namen von Sozialisierung, Requisitionen usw. gedacht. Als dann die Hungersnot kam, hatte es fast den Anschein, als ob niemand mehr im Wolgagebiet am Leben bleiben würde. Die große Rettungsaktion, die auf der Höhe des Elends, hauptsächlich durch amerikanische Hilfe, einsetzte, hat viel dazu beigetragen, daß das Äußerste verhütet wurde. Um dieselbe Zeit geschah administrativ eine wichtige Veränderung. Die ziemlich zahlreichen russischen Dörfer, die an verschiedenen Stellen zwischen den deutschen Siedlungen eingestreut sind, wurden in die bisherige "Deutsche Arbeiter-Kommune" einverleibt und das Ganze, in Befolgung des von Moskau aus neu aufgenommenen Systems der "verbündeten Sowjetrepubliken" in eine "Autonome Sozialistische Republik der Wolga-Deutschen" umgewandelt. Um aus dem Ganzen einen brauchbaren und geschlossenen Verwaltungskörper zu machen, wurden so viel Russen mit einverleibt, daß heute mehr als ein Drittel von der Gesamtbevölkerung der deutschen Wolgarepublik aus Russen besteht. Seit dem Januar 1924 liegt die Verwaltung, entsprechend dem Moskauer Vorbild, bei einem "Zentralen Exekutiv-Komitee" und einem "Rat der Volks-Kommissare". Hauptstadt ist jetzt Pokrowsk, keine deutsche, sondern ursprünglich russische Siedlung. Viel natürlicher wäre es gewesen, das alte deutsche Katharinenstadt, das Zentrum des ganzen Koloniegebiets, zum Hauptort und zum Verwaltungssitz zu wählen. Das aber geschah absichtlich nicht, um nicht dem konservativen, dem Kommunismus gegnerisch gesinnten älteren deutschen Element die Oberhand zu geben.

Die Wolga-Kolonien hatten, trotz der Rührigkeit des Kolonistennachwuchses in den Städten und trotz des vielfach erfreulichen Eindrucks der größeren Siedlungen, unter den Folgen des erst kurz vor dem Kriege endlich abgeschafften Mir-Systems mit seinen ewig wiederholten Landumteilungen zu leiden. Das Mir-System hatte lange als ein Schaden an ihrer Wurzel genagt, und dazu waren die Mißernten eine ständige Gefahr, deren Folgen sich von Wiederholung zu Wiederholung kaum aus- [398] gleichen ließen. Auch die Russifizierungspolitik der letzten Jahrzehnte vor dem Kriege war nicht ganz ohne Folgen für die innere Verfassung des Deutschtums geblieben. Dazu kamen die Wirkungen des Krieges, der Revolution, der bolschewistischen Ausraubung und Zerstörung, der furchtbaren Hungersnot von 1921/22 und einer schwächeren, aber gleichfalls sehr schädlichen Mißernte von 1924. So ist das Bild des Wolgadeutschtums in der Gegenwart ungünstig genug. Auch das deutsche Kulturgefühl hat gelitten, wenn man auch hoffen darf, daß es sich unter den neuen, sehr eigentümlichen, aber nicht ganz aussichtslosen Verhältnissen wieder erholen wird. Eine Schilderung der Wolgakolonien aus der Gegenwart gibt Oswald Zienau in der Zeitschrift Der Deutsche Gedanke.2 Zienau sieht begreiflicherweise nach dem furchtbaren Schicksal, das die Kolonisten während der letzten neun Jahre zu erdulden hatten, mehr das Düstere in ihrem Dasein. Auch bei ihm aber ist der Grundton mehr vertrauend als skeptisch. Das Folgende ist nach ihm gegeben.

Die neue Hauptstadt Pokrowsk ist ohne jegliche Note eines geistigen Deutschtums; schwer denkbar ist es auch, daß diese alte und verschmutzte Kosakenstadt jemals der geistige Mittelpunkt eines neuerstarkten Nationalbewußtseins und -willens werden könnte. Um so stärker empfindet man aber in dem natürlichen Kulturzentrum des wolgadeutschen Gebiets, in Marxstadt (früher Katharinenstadt), den Willen zur Betonung nationaler und kultureller Selbständigkeit! Nicht allein, daß das äußere Bild dieser Siedlerstadt ein viel höheres Kulturniveau als Pokrowsk und alle anderen nichtdeutschen Siedlerstädte im Innengebiet der Räterepublik bezeugt, sondern es ist vor allem die geistige Einstellung zu den national-kulturlichen Problemen und der aus dieser Psyche erwachsende Impuls, der stark empfindbar die national-kulturellen Wiederaufbauarbeiten vorwärtstreibt, die Marxstadt allein zum Ausgangspunkt einer so gearteten Selbständigkeitsbewegung prädestinieren.

Vieles, sehr vieles steht in dieser Wolgadeutschen Räterepublik noch in den ersten Anfängen einer Entwicklung zu national-kultureller Selbständigkeit. Unter der Voraussetzung einer einigermaßen guten Wirtschaftslage werden erst Jahrzehnte einer ungestörten Entwicklung erkennen lassen, wie weit die deutschstämmigen Bolschewisten ihr Vorhaben einer national-kulturlichen Wiedererweckung der Wolgakolonisten zur Durchführung bringen konnten oder ob sie doch nur die Beauftragten einer Zentrale mit ganz besonders eingestellten Absichten gewesen sind. So lange es aber im Rahmen der allgemeinen deutsch-russischen Beziehungen gewisse und nicht ganz unbedeutende kulturelle Beziehungen zwischen Berlin und Pokrowsk gibt und solange die Pokrowsker Führerschaft sich frei hält vom nurbolschewistischen Räteradikalismus, ist bei allen möglichen Einschränkungen und Einwendungen doch hauptsächlich: daß die Räterepublik der Wolgadeutschen den Kern zur Wiedergeburt eines fast vergessenen Deutschtums der Wolgakolonisten in sich trägt!...

[399] Mit Ausnahme von wenigen Mennonitensiedlungen, die durch eine besondere Wirtschaftspolitik und gemeindliche Organisation den Auswirkungen der Natur- und Revolutionskatastrophen viel gewappneter begegnen konnten, ist der innere und der äußere Zustand der Siedlungen und der der Kolonistenwirtschaften mit nur geringen Ausnahmen ein solcher, daß genereller Neuaufbau in vollem Umfange und die Beschaffung kompletter landwirtschaftlicher Betriebseinrichtungen zur Wiederherstellung voller wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit - wovon die Entwicklung der Volkswirtschaft der Wolgadeutschen Republik ganz und gar abhängig ist - notwendig ist. Aus den durch die Moskauer Zentralregierung zur Überwindung der Mißerntefolgen zur Verfügung gestellten Geldern, die augenscheinlich der allergrößten Not abgeholfen haben, hat darüber hinaus die Pokrowsker Regierung Großackergerätschaften aufgekauft und mit Hilfe genossenschaftlicher Bauernorganisationen der Inbetriebnahme zugeführt. Selbstverständlich ist der Kreis der von dieser Gerätezuführung betroffenen Bauern nur ein beschränkter und nicht zureichend zur bemerkenswerten Aufbesserung der Allgemeinwirtschaftslage der Kolonistenschaft. Ausschlaggebend für die Beurteilung der Lage der Kolonisten und damit der Volkswirtschaft der Wolgarepublik ist, daß Anbaufläche und Viehbestand noch immer stark zurückgeblieben sind gegenüber dem Stande der Vorkriegszeit: wurden 1910 auf dem Gebiete der deutschen Kolonisation 955 000 Deßjatinen (100%) bebaut, so 1920: 798 000 (83%), 1923: 472 000 (45%), 1924: 558 000 (59%) und 1925: 630 000 (65%) Deßjatinen. Der Gesamtviehstand sank von 1916 mit 1 281 917 Stück zu 1924 auf 647 722 (50,5%) Stück; die Viehhaltung auf einer Bauernwirtschaft ist dementsprechend zurückgegangen von 14,6 auf 7,3 Stück durchschnittlich. Ackervieh - Pferde und Großhornvieh - sind im Herbst 1924 vorhanden: Pferde 29,5% und Großhornvieh 60,5% der Friedenshaltung.

Es haben diese Verhältnisse ihren starken Einfluß auf die einzelnen Gesellschaftsgruppen unter der Wolgakolonistenschaft gehabt; der "reiche Bauer" der Vorkriegszeit ist an der Wolga insbesondere eine ausgelöschte Persönlichkeit. Nur in den Fällen, wo die "Großfamilie" Zusammenfassung und rationelle Ausnutzung der Arbeitsmittel und -kräfte erlaubt bei größerem und verzweigterem Wirtschaftsbetriebe, ist der Wirtschaftswohlstand und -zustand über das Allgemeinniveau weit hinausgehend. Staatsgüter, eine Agrarversuchsstation und Meliorationsunternehmungen größeren Stils sollen allgemein durch wirtschaftspraktische Vorbilder und Förderung die Lage der Landwirtschaft heben. Sind die Staatsgüter noch absolut im anfänglichen Aufbau begriffen und so noch ohne jegliche Bedeutung für die Zweckerfüllung, so sind um so anerkennenswerter die Leistungen der agronomischen Versuchsstation bei Krassny Kut. Diese Anstalt steht unter der exakt wissenschaftlichen Führung bekanntester und tüchtiger Agronomen, und der praktische Sinn und Zweck der Anstalt wird dadurch außerordentlich gefördert, daß durch handgreiflichen Anschauungsunterricht die theoretischen Versuchsergebnisse ausgewertet werden. Wenn [400] der deutsche Kolonist an der Wolga wieder zu einem bodenständigen und witterungsfesten Saatprodukt kommt und damit die Furchtbarkeit der Naturkatastrophen gemindert wird, dann hat diese Versuchsstation hierfür das größte Verdienst aufzuweisen.

Das Wirtschaftsbild der Wolgarepublik wird abgerundet durch Erwähnung der textilen Heimindustrie im Kanton Balzer (auf der sogenannten Bergseite der Wolga) und der Industrie in Marxstadt. Es ist die erste Voraussetzung für eine gedeihliche Entwicklung der Volkswirtschaft der Kolonistenrepublik gegeben: die von einem starken Wollen und von nicht unbedeutender Wirtschaftsbegabung beherrschte unermüdliche Arbeitskraft der deutschstämmigen Kolonistenbevölkerung. Angespornt durch ein eigenkulturliches Ziel und nicht gehemmt durch nebelhaft-abstrakte Prinzipien und doktrinäres Geschwätz, kann ein starkes Eigenwirtschaftsleben zu Wohlstand und Zufriedenheit der deutschstämmigen Kolonisten an der Wolga führen!

So das Urteil von Zienau.


2. Die Deutschen am Schwarzen Meer

Die Kolonisation an der Wolga mit Hilfe deutscher Einwanderer aus dem Reiche war schon am Ende des 18. Jahrhunderts ein zweifelloser Erfolg geworden. Man muß sich dabei stets vergegenwärtigen, daß der deutsche Bauer damals überhaupt wieder auf der Höhe seines Rufes als Kultivator und Kolonisator stand. Auch das Habsburgische Siedlungswerk in Ungarn mit deutscher Bauernhilfe war damals noch in vollem Gange und verbreitete den Ruhm deutscher Tüchtigkeit. So war es kein Wunder, daß die Blicke der russischen Regierung sich auch für das Schwarzmeergebiet auf den deutschen Kolonisten richteten. Am 20. Februar 1804 erging das große Ansiedlungsmanifest Alexanders I. In Deutschland waren es immer noch die vielen Kriegslasten, der fürstliche Despotismus, die Aushebungen zum Militär und die unerträglichen Steuern, die viele an Auswanderung denken ließen. In Rußland dagegen versprachen die kaiserlichen Manifeste wiederum reichlichen Landbesitz, Freiheit vom Militärdienst, Freiheit von Steuern, Freiheit der Religionsübung. Besonders groß war wiederum die Auswanderung aus Württemberg. In den Jahren von 1812 bis 1834 sollen von dort etwa 40 000 Menschen ausgewandert sein, im Jahresdurchschnitt beinahe 1800. Einzelne deutsche Koloniegründungen im Schwarzmeergebiet fallen sogar nach ins 18. Jahrhundert. Der eigentliche Zustrom setzte mit dem Jahre 1804 ein. Die Ansiedler wurden auf dem Donauwege nach Rußland gebracht; es kamen aber nicht alle auf Grund vorhergegangener Anweisung oder Annahme, sondern ganze Scharen machten sich auch auf eigene Faust auf den Weg. Dabei sind große Menschenverluste vorgekommen, namentlich durch Krankheit.

Dr. Karl Stumpp gibt in einer sorgfältig abgefaßten Schrift über die deutschen Kolonien im Schwarzmeergebiet (Stuttgart 1922) die folgende Übersicht über die [401] von 1782 - 1852 gegründeten Siedlungen. Die hinter dem Namen der Siedlung stehenden eingeklammerten Namen bedeuten die früheren russischen Gouvernements. Die Einwohnerzahlen beziehen sich auf die Zeit unmittelbar nach dem Aufhören der staatlichen Kolonisation (1859). Da eine russische Deßjatine ungefähr so viel ist wie 1,1 ha, so entspricht die zum Schluß gegebene Gesamtzahl von rund 614 000 Deßjatinen Kronland, mit der die Kolonisten von der russischen Regierung ausgestattet wurden, nahezu 700 000 Hektaren. Im ganzen hat die russische Regierung bis zum Schluß der Siedlungszeit in 209 Kolonien 126 652 zugewanderte deutsche Kolonisten angesiedelt. Die folgenden Einzelangaben nach Stumpp:

    Jahr der
     Gründung 
    Gebiet (und Gouvernement) Zahl der
    Kolonien
      Einwohnerzahl  
    im Jahre 1859
    Deßjatinen
    Kronland
    1. 1782 sogen. Schwedengebiet (Cherson) 6 2 356         17 169    
    2. 1789 Josephstal, Jamburg, Rybalsk (Jek.) 3 2 358         7 068    
    3. 1790 Chortitza (Jekaterinoslaw) 18   8 408         39 418    
    4. 1804 Molotschna (Mennoniten, Taurien) 51   19 034         96 922    
    5. 1805-10 Molotschna (Kolonisten, Taurien) 26   14 454         72 976    
    6. 1804-05 Großliebental (Cherson) 11   11 902         40 800    
    7. 1805 Glückstal (Cherson) 6 7 999         30 542    
    8. 1805 Neusatz (Taurien) 4 2 299         7 066    
    9. 1805 Zürichtal (Taurien) 4 1 254         3 671    
    10. 1808 Kutschurganer (Cherson) 6 7 373         27 713    
    11. 1809 Beresaner (Cherson) 13   13 226         66 356    
    12. 1814-20 Bessarabisches 25   24 066         136 929    
    13. 1822 Berdjansker (Taurien) 4 1 566         9 138    
    14. 1823 Mariupoler Kolonisten (Jek.) 27   10 862         48 590    
    15. 1835-52 Mariupoler Mennoniten (Jek.) 5 1 495         9 636    
    Zusammen 209     128 652         613 994    

Chortitz, das alte Gemeindehaus

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      Das alte Gemeindehaus in Chortitz.
Man sieht, daß in den Jahren nach 1835 die Kolonisationstätigkeit der Regierung nur noch schwach war. Bei weitem das Schwergewicht der Kolonisation liegt in den zwei Jahrzehnten von 1804 - 1823, d. h. in der Regierungszeit Alexanders I. Von den 50er Jahren an erfolgte die Zunahme des deutschen Kolonistentums im Schwarzmeergebiet allein auf dem Wege der natürlichen Vergrößerung, und nicht mehr durch Zuweisung von Kronland, sondern durch freiwilligen Ankauf von Land bei russischen Besitzern. Im Jahre 1835, also beim faktischen Schluß der Hauptperiode der Kolonisation, belief sich die Zahl der Siedlungen auf 287. Im Jahre 1890 waren es 496 und im Jahre 1914 waren es 1077. Bei dieser letzteren Zahl ist allerdings zu bemerken, daß sich, je länger desto mehr, aus dem deutschen Bauerntum heraus eine Art von ländlichem Großgrundbesitzerstand entwickelte und daß diese großen Einzelgüter, ebenso wie die getrennt angelegten Höfe, russisch Chutore genannt, mit in der Zahl einbegriffen sind. Die Gründung so zahlreicher Tochterkolonien ging [402] zurück auf die außerordentliche wirtschaftliche Tüchtigkeit und den großen Kinderreichtum der Deutschen. Nicht selten traf man Familien mit zehn oder zwölf Kindern, ja, selbst achtzehn Kinder kamen vor, ganz wie bei den deutschen Kolonisten in Südbrasilien. Da es Sitte war, das Land höchstens in vier Teile zu teilen, so mußte für die Mehrzahl des Nachwuchses neues Land gekauft werden, und die zunehmende Wohlhabenheit der Kolonisten ermöglichte das ohne weiteres. Die Gründung der Tochterkolonien geschah hauptsächlich in der Richtung nach Süden, in die Krim, und nach Osten, ins Don-Gebiet, wo das Land noch reichlich und billig zu haben war. Wie schnell sich die Zahl der Kolonisten vermehrte, davon ist ein besonders instruktives Beispiel bei Stumpp angeführt. Danach wurden von vier deutschen Mutterkolonien im Gouvernement Taurien und im Laufe von 27 Jahren 60 000 Deßjatinen mit eigenen Mitteln gekauft und darauf 20 neue Kolonien und 26 Höfe gegründet. Schließlich war die Zunahme des Deutschtums im Schwarzmeergebiet so stark, daß ein Teil nach Sibirien und dem Kaukasus fortziehen mußte. Manche verließen auch Rußland überhaupt und gingen nach Nordamerika, hauptsächlich nach Dakota.

Zwischen den deutschen Ansiedlungen im Wolga- und Schwarzmeergebiet gibt es insofern viel Gemeinsames, als es sich hier wie dort um eine deutsche Kolonistenberufung annähernd von derselben Herkunft und in nahe verwandten Siedlungsgebieten handelt. Es bestehen aber auch sehr starke Unterschiede. Die Deutschen an der Wolga bewohnen ein geschlossenes, so gut wie vollständig deutsches Gebiet. Ihre 200 Dörfer und stadtähnlichen Siedlungen liegen auf einem Raume etwa von der halben Größe Ostpreußens beieinander. Im Schwarzmeergebiet dagegen liegen die deutschen Kolonien zerstreut über einen Raum beinahe so groß wie Deutschland. Dazu kommt die Verschiedenheit der Landordnung. Im Schwarzmeergebiet wurde nicht der schwere Fehler gemacht, an dem die Wolga-Kolonien krankten, nämlich die Annahme des russischen Mir-Systems. Einen ganz freien Privatbesitz an Grund und Boden gab es allerdings auch in den Schwarzmeer-Kolonien nicht. Die Kolonie, d. h. die Gemeinde, war Obereigentümerin des Grundbesitzes. Das Ackerland war in "Wirtschaften" von gleicher Größe eingeteilt, jeder Familie stand eine solche Wirtschaft zu, und diese wurde vom Vater auf den Sohn vererbt. Fehlte ein männlicher Erbe, so fiel das Land an die Gemeinde zurück. Verkauf war zulässig, aber an die Zustimmung der Gemeinde gebunden. Ein- bis zweimalige Teilung einer Wirtschaft wurde erlaubt. Da zu jedem Besitzwechsel die Gemeinde ihre Zustimmung geben mußte, so war auch das Eindringen von Fremden in eine Kolonie verhindert. Diese Gemeindeordnung war eine sehr glückliche Maßnahme der ersten Ansiedler, denn die Erhaltung der individuellen Wirtschaft spornte jedermann dazu an, seine Wirtschaft zu verbessern, und das Verbot der zu weitgehenden Teilung verhinderte die Entstehung von Zwergbesitz und die Zusammenhäufung zu vieler Menschen auf beschränktem Grund und Boden, was an der Wolga nachteilig wirkte.

[403] Das System wurde ohne weiteres von der Mutterkolonie auf die zahlreichen Tochtersiedlungen übertragen, die sich schon bald nach dem Beginn der Kolonisationszeit zu bilden anfingen. In dem Falle wurde natürlich das Land gemeinsam gekauft und nach einem gemeinsamen Plan verteilt. Dabei blieb es jedem unbenommen, sich durch freihändigen Ankauf von privatem Land zu einem größeren, ja zu einem Großgrundbesitzer zu entwickeln. Die Verwandlung des ukrainischen Schwarzerdegebiets in ein großes Weizenproduktionsland war zu einem Hauptteil ein Verdienst der deutschen Kolonisten. Wer in der Zeit vor dem Kriege als Deutscher zu ihnen kam und dort die reichen, blühenden Dörfer, die stattlichen Höfe, die großen Wirtschaften, zu denen sich nicht wenige Besitztümer entwickelt hatten, ja, Riesengebiete, wie die berühmte Ascania Nova der Familie Falz-Fein, kennenlernte, der hatte einen großen Eindruck von diesem in der Fremde entstandenen deutschen Bauernwohlstand. Der deutsche Kolonist hatte Geld, und er konnte den kapitalschwachen russischen Besitzer namentlich auf den größeren Adelsgütern auskaufen. Als die deutschen Truppen 1918 in der Ukraine erschienen, hatten die Kolonisten schon viel durch russische Gewaltmaßnahmen, teils durch Vertreibung und Verbannung, teils durch Requisition und anderen Druck gelitten, aber unsere Soldaten staunten noch immer über die schönen Häuser, über die getürmten Federbetten, die brechend vollen Obstgärten, die schönen Rinder und Pferde und den prachtvollen Weizenboden. Dann kam die russische Revolution. Der Bolschewismus machte es sich sofort zur Aufgabe, alle Besitzverhältnisse umzustoßen, rücksichtslos Plünderungen zu verhängen und mit Mord und Brand zu wüten, wo er nicht blinde Gefügigkeit fand. Bei den wiederholten Versuchen der russischen Generale Denikin und Wrangel, vom Schwarzen Meer aus ins Innere vorzudringen und die Sowjetherrschaft zu stürzen, hatten die Kolonisten gleichfalls zu leiden. Zum Teil schlossen sich die deutschen Bauern den "weißen" russischen Truppen an, unterlagen aber nach deren Vertreibung der Rache der Bolschewisten. Zum Teil versuchten sie auch, namentlich in der Gegend von Odessa, sich mit der Waffe gegen die roten Banden zu verteidigen, was auf die Dauer nicht glücken konnte. So waren die Verluste an Eigentum und Menschenleben in den drei Jahren nach dem Abzug der deutschen Truppen schon sehr groß. 1921 gab es die furchtbare Mißernte, die das Schwarzmeergebiet ebenso traf wie das Land an der Wolga und die benachbarten Teile Rußlands. Ihr folgte die Hungersnot. Seitdem hat eine langsame Erholung begonnen, aber die alten Grundlagen der Gesundheit und Produktionskraft der Kolonien sind, wenn nicht ganz zerstört, so doch schwer erschüttert. Wie groß der Gesamtverlust an Menschenleben von 1918 bis heute und wie hoch gegenwärtig die Zahl der Deutschen im Schwarzmeergebiet noch ist, kann mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht gesagt werden. Jedenfalls zählen sie noch nach Hunderttausenden, die politisch alle Bürger der "Sowjet-Ukraine" sind und mit dieser zur "Union" der Sowjetrepubliken gehören.


[404] 3. Die Deutschen im Kaukasusgebiet

"Kaukasus" hieß im früheren Rußland der ganze breite Isthmus zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meere, ohne Rücksicht auf die geographischen Verschiedenheiten, die es hier gibt. Auch verwaltungsmäßig war das Gebiet als ein "kaukasisches Generalgouvernement" zusammengefaßt, mit der Hauptstadt Tiflis. Der nördliche Teil bis nahe an den Fuß des Gebirges unterscheidet sich kaum von der benachbarten ukrainischen Schwarzerderegion, außer durch etwas reichlichere Niederschläge. Gegen Osten, gegen den Kaspi zu, nehmen auch diese stark ab. Der Boden ist hervorragend fruchtbar, ausgenommen wiederum im Osten, wo er versalzt ist. Natürliche Waldbedeckung fehlt. Zwei größere Flüsse kommen vom kaukasischen Hochgebirge und durchströmen das "diesseitige" Kaukasien: der Kuban, der sich dicht bei der Straße von Kertsch durch eine versumpfte Mündung ins Schwarze Meer ergießt, und der Terek, der sich durch die Steppe zum Kaspi wendet.

Transkaukasien, das Land jenseits des Gebirges, besteht aus einer vom Schwarzen zum Kaspischen Meer hindurchgehenden Mulde, in der nach Westen der Rion, nach Osten der Kur, der Fluß von Tiflis, fließt. Aus dieser Mulde, die sich durch ein warmes, zum Teil sehr heißes Klima auszeichnet und an ihrem westlichen Ende, bei Batum, die größte Feuchtigkeit, an ihrem östlichen, bei Baku, die größte Regenarmut aufweist, die in Europa vorkommt, erhebt sich südwärts das rauhe, von vulkanischen Massen überschüttete Armenische oder Transkaukasische Hochland.

Auf diesem großen, merkwürdig und mannigfaltig genug gestalteten Raume haben sich Deutsche an vielen Stellen als Kolonisten betätigt. Am interessantesten sind die Siedlungen jenseits des Gebirges. Diesseits des Kaukasus bildet die deutsche Kolonisation nur einen gemeinsamen Ausläufer der beiden schon früher vorhandenen deutschen Gruppen im Wolga- und im Schwarzmeergebiet. Man schätzte die Gesamtzahl der deutschen Bauern in Nordkaukasien vor dem Kriege auf 50 000 bis 60 000 Seelen, die sich in beinahe fünfzig größere Gemeinden und viele kleine, erst in jüngster Zeit gegründete Siedlungen gruppierten. Zwanzig Gemeinden liegen im Kuban-Gebiet, also in unmittelbarer Nachbarschaft der älteren Schwarzmeersiedlungen, von wo sie auch ihren Ursprung genommen haben. Eine östliche, mehr von der Wolga herstammende Gruppe von dreizehn Gemeinden liegt im Terekgebiet, und eine von fünfzehn im früheren Gouvernement Stawropol in der Mitte auf dem mehr erhöhten und durchschnittenen Boden vor dem Gebirge. Die größeren Kolonien haben durchschnittlich mehrere tausend Einwohner. In bemerkenswerter Weise haben sich diese kaukasischen Kolonisten den Verhältnissen ihrer neuen Heimat angepaßt. Meist wanderte eine kleine Gruppe, Freunde oder Verwandte, aus einer Kolonie an der Wolga oder am Schwarzen Meere gemeinsam nach dem Nordkaukasus aus, kaufte oder pachtete sich ein Stück Land, und nach einigen Jahren war die Gegend nicht wieder zu erkennen. Vor allen Dingen pflegten die Deutschen große [405] Arbeiten zur Erschließung von Wasser für künstlich zu bewässernde Kulturen zu machen - Arbeiten, von denen dann auch die Eingeborenen profitierten.

Noch interessanter als die nordkaukasischen Kolonien sind die Siedlungen auf der anderen Seite des Gebirges, in "Grusien", d. h. Georgien, und im Gebiet der jetzigen Tataren-Republik Aserbeidschan (die aber nichts mit der gleichnamigen und benachbarten persischen Provinz zu tun hat). Die Zahl der transkaukasischen Deutschen beträgt, mit Ausschluß der Stadtbevölkerung, nur etwa 13 000, aber es ist eine in sich geschlossene und lebenskräftige Gruppe, die eine nähere Darstellung verdient. Eine solche findet sich an derselben Stelle, wo uns bereits die Schilderung der deutschen Wolga-Kolonisten begegnete, nämlich in den Ostdeutschen Monatsheften, März 1925, aus der Feder von K. A. Fischer. Sie sei mit Erlaubnis des Verfassers im folgenden wiedergegeben.

      "Die Stammkolonien der Schwaben in Transkaukasien sind in den Jahren 1818 und 1819 entstanden. Schon die Geschichte der Auswanderung aus Württemberg und der Einwanderung nach »Grusien« ist merkwürdig und zeigt manche absonderliche Züge. Wirtschaftliche Not (Mißwachs, Krieg, Teuerung, Übervölkerung), pietistische Unzufriedenheit mit dem württembergischen evangelischen Kirchenregiment und allerhand mystische Spekulationen wirkten zusammen, um den im Schwaben stets schlummernden Drang in die Ferne zu wecken. Im Jahre 1816 fuhren zunächst 30 Familien aus dem Dorfe Schwaikheim, Oberamt Waiblingen, donauabwärts und überwinterten bei Odessa. Die russische Regierung, die in dem kurz vorher eroberten Lande gern eine Anzahl Deutscher als Musterlandwirte ansiedeln wollte, rief sie nach Transkaukasien, und so zogen sie im Jahre 1817 in langwierigem Marsche über den großen Kaukasus nach Tiflis und gründeten 1818, einige Wegstunden östlich von Tiflis, am Flusse Jora die Kolonie Marienfeld. Kaum waren die Schwaikheimer aus Württemberg abgezogen, so bildeten sich noch mehrere größere »brüderliche Auswanderungsharmonien«, die über 1400 Familien
Kolonie Katharinenfeld

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      Kolonie Katharinenfeld.


Kolonie Helenendorf

[nexusboard.net]      Kolonie Helenendorf.


Kolonie Annenfeld

[nexusboard.net]      Kolonie Annenfeld.

umfaßten. Sie fuhren im Sommer 1817 die Donau hinunter, wurden aber in den Sammellagern bei Ismail und Odessa durch ansteckende Krankheiten furchtbar mitgenommen. 300 Familien blieben an Ort und Stelle und gründeten bei Odessa die Kolonie Hoffnungstal, die noch übrigen 500 Familien aber ließen sich durch keinerlei Schwierigkeiten von ihrem erstrebten Auswanderungsziel Grusien abbringen; zuletzt wurden zwei Männer, Frick und Koch, nach Moskau abgeordnet, um in persönlicher Audienz vom Kaiser Alexander I. die Erlaubnis zur Weiterreise zu erwirken. Im Spätsommer und Herbst 1818 überstiegen sie, 486 Familien mit 2629 Seelen, in zehn Kolonnen das Gebirge. Sie erhielten sofort Siedlungsland an verschiedenen Stellen bei Tiflis und bei Jelisawetpol zugewiesen, überwinterten unter vielen Schwierigkeiten und hatten nach einem Jahre fünf Dörfer begründet: Alexandersdorf, Elisabethtal, Katharinenfeld (diese im Gouvernement Tiflis), Helenendorf und Annenfeld (letztere beide im Gouvernement Jelisawetpol). 1820 kam noch die kleine Ansiedlung Peters- [406] dorf, dicht bei Marienfeld, hinzu. Diese heute noch bestehenden dörflichen Siedlungen sind der Stamm der schwäbischen Kolonien im Kaukasus geworden; das 1818 als deutsche Handwerkerkolonie begründete Neu-Tiflis ist 1862 aufgehoben worden und in der wachsenden Großstadt Tiflis aufgegangen.
      Auch nachdem, mit weitgehender Unterstützung der russischen Regierung, die ersten, noch recht dürftigen Hütten gebaut, nachdem die ersten Saaten in die Steppe gestreut und die ersten Rebenpflanzungen angelegt waren, gab es noch unendlich viele Schwierigkeiten, und den neuen Kolonisten wurde das Einwurzeln im fremden Lande schwer genug, so schwer, daß viele verzweifelt den Mut sinken lassen wollten. Die größte Gefahr war für die erste und noch für die zweite Generation das vielerorten ungesunde Klima; das Fieber hat in einzelnen Kolonien immer wieder schlimm gehaust; so ist z. B. von den in Helenendorf zuerst angesiedelten Familien nahezu die Hälfte (61 von 135) völlig ausgestorben. Schwere Schläge erlitten dann Helenendorf, Annenfeld und besonders Katharinenfeld im Jahre 1826 durch die Überfälle persischer Räuberbanden. Groß waren auch die Schwierigkeiten, die im inneren Leben der Kolonien hervortraten, vor allem infolge eines ungesunden Sektenwesens, das sich in mehreren Kolonien breit zu machen suchte und das nur mit Mühe unterdrückt werden konnte. Es ist das Verdienst einiger Baseler Missionare, daß das Kirchenwesen der Kolonien in geregelte Bahnen gelenkt wurde, in denen es dann dauernd verblieben ist; seit 1841 gehörten die Kolonien zum Verbande der evangelisch-lutherischen Kirche in Rußland, bildeten aber die selbständige evangelisch-lutherische Synode der transkaukasischen Kolonien, die bis zum Ausbruch der Revolution 1917 nur dem Statthalter des Zaren im Kaukasus unterstellt war.
      Lange Jahre und Jahrzehnte lebten die Schwaben so recht und schlecht für sich dahin, streng abgeschlossen von den umgebenden Asiaten, den Tataren, Armeniern, Grusinern, Lesghiern, und wie das bunte Gewimmel der kaukasischen Völker sich sonst noch nennt. Angestrengteste körperliche Arbeit in Feld und Rebgarten und altväterische Einfachheit und Zucht gaben den Kolonien das Gepräge. Sie waren auf »Kronsland«, d. h. Staatsland, angesiedelt worden, das praktisch zum Gemeindebesitz wurde: die einzelnen Anteile waren vererblich an die Nachkommen, nicht frei veräußerlich. Diese Gebundenheit des Besitzes war von großem Vorteil für den Bestand der Kolonien. Leider waren die einzelnen Wirtschaften schon bei der ersten Anlage klein, zu klein genommen worden; sie maßen nur 35 bis 45 Hektar; auf die Bedürfnisse der nächsten Generation war dabei keine Rücksicht genommen. Freilich ließ die starke Sterblichkeit der ersten Jahrzehnte diesen Mangel zunächst nicht sehr spüren. 1842 siedelten sich noch zehn neu eingewanderte Familien bei Marienfeld an; sie nannten ihre Siedlung Freudental. Erst 1860/61 entstand die erste Tochterkolonie: das volkreiche, aber auf engem Lande sitzende Elisabethtal schickte 20 Familien aus, die sich hoch oben im Gebirge, 1900 Meter über dem Meere, ansiedelten; der neue Ort wurde Alexandershilf benannt. Zur gleichen Zeit rührte sich's auch [407] sonst im Kaukasus. 1863 kam der brandenburgische Baron Kutzschenbach ins Land und gründete in der Nähe von Alexandershilf seine große, vorbildliche Viehwirtschaft Mamutli, 1864 legten die Brüder Siemens nicht weit von Annenfeld das Kupferbergwerk Kedabeg an. Erst 1887 folgte Helenendorf mit der Gründung der Tochterkolonie Georgsfeld. Inzwischen war, anfangs der 80er Jahre, die Eisenbahn Rostow - Baku - Tiflis erbaut worden; Transkaukasien war mit Moskau verbunden. Von dieser Veränderung der Verkehrslage hat zuerst und in größtem Umfange Helenendorf Nutzen gezogen, das nur 12 Werst südlich vom Bahnhof Jelisawetpol liegt. Die Eisenbahn erschloß dem kaukasischen Wein den großen russischen Markt, und der Weinhandel wurde nun für Helenendorf die Quelle eines ansehnlichen Wohlstandes.
      Von den Wirren der ersten russischen Revolution, 1905/06, und von den gleichzeitigen blutigen Auseinandersetzungen zwischen den eingeborenen Völkern des Kaukasus sind die schwäbischen Kolonien äußerlich ziemlich unberührt geblieben. Wohl aber hat die erste Revolution beträchtliche Wirkungen auf ihre kulturellen Verhältnisse gehabt. Die deutschen Bauern, hier wie in Südrußland und an der Wolga, erwachten aus einem langen Schlafe; sie wurden sich der völkischen Zusammengehörigkeit mit den anderen deutschen Kolonistengruppen und überhaupt mit den Deutschen Rußlands bewußt, sie fingen langsam an, die Gefahren ihrer Lage zu begreifen, sie wandten ihrem Schulwesen vermehrte Aufmerksamkeit zu, es erstand ihnen im Jahre 1906 eine eigene deutsche Zeitung, die Kaukasische Post. Im großen und ganzen waren die Jahre 1906 bis 1914 noch eine Zeit wirtschaftlichen Gedeihens und kultureller Blüte.
      Jede Kolonie, auch die kleinste, hatte ihre Volksschule, in der überwiegend deutsch unterrichtet wurde. Helenendorf, die wohlhabendste und allem Fortschritt aufgeschlossenste Kolonie, besaß dazu noch eine Handelsschule. Die jungen Leute, die weiter lernen wollten, besuchten gewöhnlich das russische Gymnasium und die russische Realschule, und darin lag natürlich eine gewisse Gefahr; doch war diese Gefahr wieder sehr abgemildert bei denen, die in Dorpat Gymnasium oder Universität besuchten. In den Kolonien selbst aber gedieh ein reiches und fröhliches deutsches Leben: literarische und dramatische Vereine sorgten für gute deutsche Bücher und pflegten das deutsche Schauspiel, bei ernsten Gelegenheiten und bei fröhlichem Becherklang erscholl mächtig das deutsche Lied. Die schwäbische Mundart hatte sich die hundert Jahre hindurch unverändert erhalten, und man konnte dem Kolonisten keine größere Freude machen, als wenn man ihm von seiner Väter Heimat, von Württemberg, erzählte. Von der rührigen deutschen Gemeinde in Tiflis (sie zählte etwa 3000 Seelen, auch in Baku gab es 4000 Deutsche) ging manch fruchtbare Anregung für die Kolonien aus.
      Im großen Krieg haben viele Kolonistensöhne an der russischen Westfront wie an der Südfront für den Zaren und für Rußland gekämpft und geblutet. Den Kolonien geschah nichts (mit Ausnahme von Petrowka), bis Anfang 1917 der Deutschen- [408] fresser Nikolai Nikolajewitsch als Statthalter in den Kaukasus kam. Er wollte die Kolonien auflösen und ihre Einwohner nach Sibirien verschicken; nur die im März 1917 ausbrechende Revolution verhinderte sein Vorhaben. Die Kolonisten sahen sich nun vor gänzlich veränderte Verhältnisse gestellt. Die Selbsterhaltung gebot ihnen den Zusammenschluß zu einem "Verband der Deutschen in Kaukasien", der in der Zeit der allgemeinen Unruhe und Verwirrung viel Wertvolles für die Kolonien geleistet hat. Anfang 1918 löste sich Transkaukasien aus dem russischen Herrschaftsbereich; im Juli 1918 kam eine deutsche Division unter General Kreß von Kressenstein in den Kaukasus - eine kurze, aber starke und nachhaltige Freude für unsere Kolonisten. Im ganzen bedeuten die Jahre 1917, 1918 und 1919 für die Kolonien trotz großer politischer und auch wirtschaftlicher Schwierigkeiten eine Zeit der Selbstbesinnung, des Sichaufraffens und des kulturellen Aufschwungs. Die Handelsschule in Helenendorf wurde zu einer Realschule und bald zu einer Oberrealschule ausgebaut; in Katharinenfeld entstand eine Bürgerschule, in Tiflis ein deutsches Realgymnasium; die Kaukasische Post, die 1914 bei Kriegsausbruch von der russischen Polizei verboten worden war, begann 1917 aufs neue zu erscheinen. Die Arbeit, die in diesen Jahren von den führenden Männern geleistet worden ist, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Dann kamen die Bolschewisten. Im April 1920 eroberten sie Aserbeidschan, d. h. den überwiegend von Tataren bewohnten östlichen Teil Transkaukasiens, das frühere Gouvernement Jelisawetpol, ein Jahr darauf Tiflis, die Hauptstadt Georgiens, und damit auch den westlichen Teil Transkaukasiens. Seitdem herrscht Rußland - unter dem Zeichen des Sowjetsterns - wieder im Kaukasus. Die Kolonien wurden plötzlich vor neue riesengroße Beschwernisse gestellt: Sozialisierung, d. h. Wegnahme der größeren Privatbesitzungen in Helenendorf und Katharinenfeld, Beitreibungen, Einquartierungen, Seuchen, Absatzstockung für den Wein, Geldmangel, allgemeine Unsicherheit. Heute ist die Lage der östlichen, aserbeidschanschen Kolonien recht verschieden von der der westlichen, in Georgien gelegenen. Helenendorf und seine Nachbarkolonien, Georgsfeld, Annenfeld, Grünfeld usw. trugen entschlossen den neuen Verhältnissen, d. h. der kommunistischen Wirtschaftspolitik der neuen Machthaber Rechnung. Im August 1920 gründeten sie eine Winzer-Produktivgenossenschaft, die ihre Hauptniederlage in Moskau hat und von da aus die kaukasischen Weine über ganz Rußland vertreibt. Damit ist der Absatz des Haupterzeugnisses der Kolonien, des Weines, gesichert, und in kluger und tatkräftiger Arbeit hat diese Genossenschaft es verstanden, die ihr angeschlossenen Kolonien und einzelnen Kolonisten in einer Zeit allgemeinen wirtschaftlichen Niedergangs vor der Verarmung zu bewahren.
      In den zu Georgien gehörenden Kolonien ist die Lage ungünstiger. Der Weinbau herrscht ja hier nicht in allen Kolonien vor, aber auch in den weinbauenden und weinverkaufenden Ansiedlungen fehlt es an einer alle umfassenden gemeinnützigen Organisation. Katharinenfeld, die größte Kolonie, ist durch die schon 1918 [409] erfolgte »Erhebung« zur Hauptstadt des Kreises Bortschala wirtschaftlich und kulturell schwer geschädigt worden, namentlich ist die Wohnungsnot dort über alle Maßen drückend. Kirche und deutsche Schule werden von den Gewalthabern Georgiens nach Möglichkeit schikaniert. Elisabethtal wurde im Jahre 1924 von einer schweren Mißernte heimgesucht, und auch Katharinenfeld hat durch Hagelschlag und teilweisen Mißwachs große Verluste erlitten."


4. Das Deutschtum in Wolhynien

Unter dem Namen Wolhynien versteht man das Gebiet zwischen dem großen westrussischen Sumpfgebiet der Polesje, das vom Pripet durchflossen wird, im Norden, und der Pontischen Steppenregion im Süden. Es ist dadurch charakterisiert, daß mittendurch die alte Naturgrenze zwischen dem Wald und der Steppe geht. Nordwolhynien, wo zwischen den Städten Kowel und Luzk im Westen und Schitomir im Osten eine große Zahl von deutschen Siedlungen besteht - bestand, muß man leider öfters sagen - ist noch ganz Waldland; in Südostwolhynien gibt es schon offene, von Natur waldlose Striche. Wolhynien und die südliche Nachbarprovinz Podolien, in der sich auch deutsche Dörfer gebildet haben, ist niemals, wie das Land an der unteren Wolga oder wie das Schwarzmeergebiet, so siedlungsarm gewesen, daß dort nach Belieben mit einem unbeschränkten Landvorrat hätte kolonisiert werden können, sondern der alte russische und später der polnische Staat haben diese Länder stets behauptet, wenn auch, namentlich später in der polnischen Zeit, der Kulturstand sehr niedrig war. Es hat hier immer eine politische Verwaltung, es hat Städte und Bauernschaften gegeben, und alles Land hatte seine Besitzer. Meist waren das polnische, später, nach den polnischen Aufständen, russische Adelsfamilien, die ihren Besitz nur mangelhaft zu nutzen verstanden.

In dieser Verschiedenheit der Verhältnisse zwischen Wolhynien auf der einen, Neu-Rußland und dem Wolga-Gebiet auf der anderen Seite lag es begründet, daß der Typus und die Schicksale der deutschen Siedlungen hier und dort sehr verschieden wurden.

Die ersten deutschen Kolonisten kamen nach Wolhynien schon am Anfang des 19. Jahrhunderts, und zwar aus Preußen, zu Lande auf der großen Heerstraße, die südlich von der großen Sumpfregion über Kowno und Schitomir nach Kiew führt. Noch heute sieht man an der Lage der deutschen Siedlungen, daß sie durch allmähliche Ausbreitung und Vermehrung zu beiden Seiten dieser Linie entstanden sind. Die Hauptveranlassung dazu, daß die deutsche Kolonisation sich ausbreitete, war die mangelhafte Wirtschaft der einheimischen Gutsbesitzer. Nach dem ersten polnischen Aufstand, zu Beginn der 30er Jahre, verließen viele deutsche Bauern das damalige Kongreßpolen, wo sie sich durch ihre Nichtbeteiligung am Aufstand bei den Polen unbeliebt gemacht hatten, und zogen nach Wolhynien. Den Hauptaufschwung aber nahm die wolhynische Kolonisation, nachdem im Jahre 1861 in Rußland die bäuer- [410] liche Leibeigenschaft aufgehoben war. Dadurch verloren die Gutsbesitzer nicht nur einen Teil ihres Landes, den sie gegen staatliche Entschädigung an die Bauern abtreten mußten, sondern auch die bis dahin zwangsweise geleistete bäuerliche Arbeitshilfe. Um sich wirtschaftlich zu halten, bemühten sie sich um deutsche Kolonisten, denen sie von ihrem Lande einen Teil verkauften oder verpachteten. Nach dem zweiten polnischen Aufstand, 1863, wurden wiederum Tausende von Deutschen nach Wolhynien gezogen, diesmal planmäßig durch die Gutsbesitzer. Die deutsche Siedlungsarbeit in Wolhynien ist eines der wenigstbekannten, aber trotzdem größten und erfolgreichsten Beispiele dafür, was die Zähigkeit deutscher Arbeit auf dem Siedlungsgebiet zu leisten imstande ist. Dafür ein Denkmal ist auch die Schilderung zweier Kenner, P. Deringern und P. Rink, in dem Buche Deutsche im Ausland.3 Dort heißt es:

      "Eine Gruppe von 20 bis 30 Familien erhielt eine bestimmte Landfläche zugemessen. Der Wald mußte gerodet, der Boden entwässert werden. Das war harte Arbeit. Der Siedler baute sich eine Erd- oder Blockhütte und ging ans Werk. Die Baumriesen, meistens uralte Eichen, wurden gefällt, zersägt, aufgeschichtet und verbrannt, weil es noch keine Absatzmöglichkeit für Holz gab. Mit dem Pfluge, aber auch mit Hacke und Spaten wurde der Boden bearbeitet, bis schließlich das ganze Land, in den älteren Kolonien war es eine Hufe von 17 Hektar, später oft nur eine halbe, unter der Pflugschar war. Der jungfräuliche Boden brachte gute Erträge, aber es war trotzdem außerordentlich schwer. Einige Kolonien standen schon nach zehn Jahren in Blüte und hatten das Land als Eigentum erworben. Andere wieder wurden in allzu großer Vertrauensseligkeit in unglaublicher Weise übervorteilt. Mancher Siedler hat sein Grundstück dreimal bezahlen müssen, ehe er einen rechtsgültigen Kaufbrief in die Hände bekam. So wurde, durchweg nach dem Einzelhofsystem, im Laufe von 70 Jahren gesiedelt. Die meisten Kolonien entstanden in den Kreisen Schitomir, Nowograd-Wolynsk, Rowno, Luzk und Wladimir-Wolynsk; in den Kreisen Dubno, Kremenez, Ostrog, Saslaw und Owrutsch waren es bedeutend weniger. Bei Ausbruch des Krieges 1914 zählte man in Wolhynien rund 500 Kolonien mit einer Seelenzahl von 250 000 oder 7% der Gesamtbevölkerung auf 250 000 Hektar Landbesitz.
      Eigenart der wolhynischen Kolonisten ist, daß sie ohne staatliche oder sonstige Hilfe, ganz auf sich selbst gestellt und aus eigener Kraft, sowie ohne nennenswertes Vermögen, die Kolonien geschaffen haben. Sodann, daß sie, in kleinen Siedlungen über ein großes Gebiet zerstreut, schwerer um die Erhaltung ihrer Eigenart zu kämpfen hatten, dafür aber in weit größerem Maße als andere Kolonisten die Lehrmeister des umwohnenden russischen Volkes werden konnten.
      Als die Deutschen ins Land kamen, benutzten der Bauer und der Gutsbesitzer den hölzernen Hakenpflug. Der Wagen hatte eine hölzerne Achse; Vieh, Pferde- [411] und Schweinerasse waren vollständig entartet. Die Düngung des Bodens war unbekannt, die Erträge daher gering. Der Gutsbesitzer war rettungslos beim jüdischen Wucherer verschuldet. Gutsbesitzer, Bauer und Jude nagten am Hungertuche in einem so reichen Lande, weil niemand da war, der die Schätze in harter, treuer Arbeit zu heben verstand. Die Leute gestanden den Kolonisten: »Wir wären schließlich verhungert, wenn die Deutschen nicht ins Land gekommen wären.«"

Die wolhynischen Deutschen als Gesamtheit waren lange nicht so wohlhabend, wie das deutsche Kolonistentum im Schwarzmeergebiet. Sie waren, bei ihrem erstaunlichen Fleiß und bei dem großen Segen, den sie auch für ihre russische Umwelt bedeuteten, viel weniger gesichert in ihrem Landbesitz, namentlich weil ein großer Teil nicht auf gekauftem, sondern auf Pachtland saß. Als daher unter Alexander III. und noch mehr unter der Regierung des letzten Zaren, Nikolaus II.. die Hetze gegen die deutschen Kolonisten in Rußland begann, und ganz besonders gegen die wolhynischen, weil sie der Grenze zunächst saßen, wurde bereits eine ganze Anzahl von ihnen verdrängt. Für die Agrarreform, die der Minister Stolypin nach der ersten russischen Revolution von 1905 in ganz Rußland durchzuführen begann, dienten die deutschen Kolonien in Wolhynien als Muster, aber gerade sie wurden von der Landzuteilung ausgeschlossen, als die russische Bauernagrarbank das Werk des Landkaufs und der Zuweisung an die Bauern in die Hand nahm.

Ein besonders schweres Schicksal traf die deutschen Wolhynier durch den Krieg. Die Front zwischen den feindlichen Heeren ging mitten durch ihr Gebiet. Alles, was westlich lag, wurde durch den Krieg verwüstet; die deutsche Heeresleitung führte die Kolonisten möglichst nach Deutschland über; die Dorfer verödeten und verschwanden. Nach dem Kriege wurden die verlassenen Grundstücke von Russen und Polen in Besitz genommen. Auf diese Weise sind dem Deutschtum in Westwolhynien mindestens zehntausend Wirtschaften verlorengegangen. Der Rückwanderung, auf die von der Mehrzahl der noch in Deutschland befindlichen Kolonisten von ganzer Seele gehofft wird, setzen die Polen alle möglichen Hindernisse entgegen. In Deutschland gibt es gegenwärtig noch etwa 50 000 wolhynische Flüchtlinge.

Östlich von der Front, auf der russischen Seite, wurden vom Sommer 1915 an alle deutschen wolhynischen Kolonisten aus ihren Besitzungen und Pachtungen auf das Brutalste ausgewiesen und nach Sibirien vertrieben. Die Ernte, das Inventar und die Häuser wurden ein Raub der russischen Nachbarn. Erst im Frühjahr 1918, nach dem Friedensschluß von Brest-Litowsk, wurde den Verbannten die Rückkehr gewährt. Bei weitem der größte Teil hat, unter den größten Schwierigkeiten und Entbehrungen, von der Möglichkeit Gebrauch gemacht. Die neue russische Regierung setzte die Kolonisten wieder in ihre Rechte ein, aber sie fanden alles geplündert, verwahrlost, halb zerstört. Dennoch gingen sie mit unermüdlichem Mut an den Wiederaufbau.

[412] Der nicht an Polen abgetretene Teil des deutschen Siedlungsgebietes in Wolhynien gehört jetzt, ebenso wie die Kolonien im Schwarzmeergebiet, zur Sowjet-Ukraine. Die Zahl der auf beiden Zeiten der russisch-polnischen Grenze auf ihrem Grund und Boden verbliebenen und wiedergekehrten wolhynischen Kolonisten wird von Deringern und Rink auf 200 000 angegeben, davon bei weitem der größere Teil in der Sowjet-Ukraine. Die Kolonisten haben sich durch zwei besonders gute Ernten gleich nach der Rückkehr, in den Jahren 1920 und 1921, bis zu einem gewissen Grade erholt. Die Sowjetregierung macht ihnen auch keine Schwierigkeiten in bezug auf Organisation und Zusammenschluß in deutschem, namentlich in kulturellem Sinn. Die deutsche Schule ist den Kolonisten jetzt wieder frei gewährt - nur fehlen die Mittel zur Einrichtung und zum Ausbau. Kirchlich gehört die Mehrzahl zum evangelisch-lutherischen, etwa ein Viertel zum katholischen Bekenntnis. Die kirchliche Versorgung vor dem Kriege war mühsam genug und von den Kolonisten mit viel eigenen Opfern errungen. In der großen Kolonie Heimthal in der Nähe von Schitomir bestand seit 1904 ein Seminar zur Ausbildung von Kräften, die gleichzeitig als Küster und Lehrer dienen sollten. Durch den Krieg wurde das Seminar aufgelöst. Das Gebäude dient jetzt als siebenklassige deutsche Schule, die größte und beste im ganzen wolhynischen Siedlungsgebiet. Auch sonst überall wird das Möglichste von den Kolonisten getan, um irgendeine, sei es auch noch so dürftige Wiederversorgung mit Unterricht und mit kirchlicher Bedienung zu ermöglichen. Es ist wunderbar, wie das deutsche Kolonistentum in der Ferne, selbst nach so schweren und nicht selten so furchtbaren Schicksalen, wie auch die deutschen Wolhynier sie erlebt haben, an dem einmal erarbeiteten und kultivierten Boden festhält!


Nachtrag zu dem Abschnitt über die wolhynischen Kolonisten im Kapitel: "Das Deutschtum in Polen."

Während der letzte Bogen dieses Buches in Druck geht, erfahren wir, daß über das Deutschtum in Polnisch-Wolhynien eine schwere Verfolgung hereingebrochen ist. Den Kolonisten wird von der Regierung ihr Land gegen Recht, Treu und Glauben fortgenommen. Es handelt sich um 100 000 Deutsche, die auf diese Weise in ihrer Existenz bedroht sind - nachdem man sie jahrelang sich hat abmühen lassen, um mit dem höchsten Fleiß und unter den höchsten Entbehrungen ihre Höfe und Äcker wieder instand zu setzen. Das haben die Polen abgewartet, und nun soll die Vertreibung kommen. Die deutsche Fraktion im Sejm in Warschau hat - Juli 1926 - eine Anfrage eingebracht. Äußerstenfalls muß der Völkerbund angerufen werden.

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1Ostdeutsche Monatshefte, März 1925. ...zurück...

2Nr. 7 vom 10. April 1926. ...zurück...

3Verlag von Ferd. Hirt, Breslau, 1913. ...zurück...


Deutsche in der Geschichte Rußlands.
Der bedeutende Einfluß des deutschen Elementes in der Geschichte Rußlands bis zum Jahre 1914

Wir vom Dnjepr.
Verschleppt - versklavt - verschollen: Weg und Schicksal einer rußlanddeutschen Volksgruppe


Deutsche helfen Rußland bauen: Der Beitrag der Deutschen in der Geschichte Rußlands

Deutsches Land: Das Buch von Volk und Heimat, Kapitel "Die Deutschen in Rußland."

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Deutschtum in Not!
Die Schicksale der Deutschen in Europa außerhalb des Reiches.
Paul Rohrbach