[352]
Die Deutschen in
Rußland
Adolf Lane
Dieses Deutschtum war und ist kein einheitliches Gebilde. Die verschiedene
Einwanderungszeit, die Herkunft, die Berufsart wirkte und wirken hier mit, wenn
auch der längere Aufenthalt im Lande und seinen landschaftlich
verschiedenen Teilen die deutschen Einwanderer z. T. so beeinflußt
hat, daß ihre einzelnen Gruppen ein besonderes, in den Lebensbedingungen
der einzelnen Gegenden begründetes Gepräge tragen. Jedoch ist es
nicht leicht, gerade den heutigen Menschentypus des
Deutsch-Russen zu schildern, weil die allgemeinen Lebensbedingungen heute im
raschen Wechsel begriffen sind und es schwer zu sagen ist, wie sie auf den
Menschen zurückwirken.
Das frühere Russische Reich, in dem über zwei Millionen
Bürger deutscher Abstammung in Stadt und Land lebten, ist territorial
verändert. Mit der Loslösung namentlich Finnlands, der
Ostseeprovinzen, des polnischen Teils und Bessarabiens sind wertvolle Teile des
Deutschtums in Rußland aus dem gemeinsamen Raum ausgeschieden,
dieses Deutschtum ist zahlenmäßig geschwächt worden. Die
Loslösung der Randgebiete im Westen, die Auswanderung der Deutschen
aus den russischen Städten und die schweren Prüfungen, die die
deutschen Bauernkolonien durch den Welt- und Bürgerkrieg, durch
Hungersnot, durch Revolution und den Übergang des Staates zur neuen
Wirtschaftsform erleiden mußten, haben die Zahl der Deutschen in
Rußland um fast genau die Hälfte verringert. Vor dem Weltkriege, in
der zwischen 1905 und 1914 liegenden Zeit, begann es sich unter den Deutschen
in Rußland zu regen, das Bewußtsein gemeinsamer kultureller
Interessen, der Notwendigkeit, die wirtschaftliche und politische Geltung im
gemeinsamen Zusammenwirken zu erhalten und zu festigen, war erwacht und
fand einen Ausdruck in der Entwicklung der deutschen Presse, im Studium der
Deutschtumsgeschichte und in den Bestrebungen um die Verteidigung der
Interessen der Deutschen in der russischen Volksvertretung, in der Reichsduma.
Der Weltkrieg und dann die revolutionären Vorgänge haben jedoch
dieses Band, diesen sich anbahnenden Zusammenschluß zerschnitten. Seit
anderthalb Jahrzehnten hat eine neue Einwanderung von Deutschen nach dem
russischen Osten eingesetzt. Bis jetzt ist es aber noch nicht an der Zeit, die alten
Bestrebungen aufzunehmen, die deutsche Gemeinschaft in jenem Staatswesen,
das gegenwärtig ein Bundesstaat sozialistischer Republiken ist, fester
zusammenzuschließen und damit eine dauerhafte Grundlage ihrer
kulturellen und wirtschaftlichen Wirksamkeit zum Wohle des Landes zu schaffen.
Daß aber die Deutschen im inneren Rußland durch die Ereignisse des
Weltkrieges und der Revolution nicht völlig zerrieben sind, daß sie
immer noch einen beachtlichen Faktor in der innerstaatlichen Politik darstellen, ist
aus der durch die Geschichte bedingten Sonder- [353] stellung der deutschen
Bauernkolonien im russischen Osten und aus ihrem Charakter verständlich.
Das nicht bodenständig verwurzelte alte Deutschtum ist fast restlos in
Rußland vernichtet. Die kümmerlichen Reste der früheren
deutschen städtischen Gemeinden sind dem Untergang geweiht, neue
deutsche Gemeinden können sich gegenwärtig nur bilden, soweit sie
sich auf den Boden der neuen Staatsordnung stellen und auf eine
Betätigung im religiösen Sinne verzichten. Einem freien
Zusammenschluß der neuen deutschen Einwanderer stehen
unüberwindliche Schwierigkeiten gegenüber. Dagegen bestehen noch
die deutschen Bauernsiedlungen.
Bis zu Ende des 18. Jahrhunderts beobachten wir fast ausschließlich eine
Einzeleinwanderung von Ausländern nach Rußland. Seit der
Katharinischen Zeit geschieht die Einwanderung von Ausländern, vor allem
die der deutschen Bauern, planmäßig. Die geographische Lage der
deutschen Kolonien in den früheren russischen Randgebieten war die Folge
der russischen Kolonisationspolitik. Trotzdem erwuchsen den Kolonisten gerade
aus dieser, von ihnen nicht gesuchten räumlichen Verteilung
Schwierigkeiten, die besonders während des Weltkrieges mit einer
völligen Vernichtung der Kolonien drohten. In böswilliger Absicht
sprach man von einem planmäßig angelegten Vordringen der
Deutschen nach dem russischen Osten. In das System der besonders seit dem
Ende des 19. Jahrhunderts einsetzenden Russifizierungspolitik paßte
es gut, von einem Germanisierungsring deutschen Grundbesitzes zu sprechen.
Die räumliche Verteilung der Kolonien, die von unseren Feinden als
Stützpunkte der Germanisierung Rußlands bezeichnet wurde, wird
aus der Zeit und den Gründen ihrer Entstehung begreiflich. Der Hauptstrom
der deutschen, vorwiegend aus Mitteldeutschland stammenden Einwanderer in der
Katharinischen Zeit ging über Petersburg nach dem Inneren des Landes. Bei
Petersburg, am Finnischen Meerbusen, verblieb eine Anzahl von Einwanderern,
und die hier entstandenen Kolonien blieben in der späteren Entwicklung
völlig ohne Verbindung mit den anderen Kolonisationsgebieten. Sie gingen,
in das wirtschaftliche Leben der Landeshauptstadt eingesponnen und von dieser
abhängig, völlig in der Seeregion wirtschaftsgeographisch auf und
verfielen schon früh einer starken natürlichen Russifizierung. Die
Ostseeprovinzen, wo übrigens eine deutsche bäuerliche
Unterschicht fehlte, standen zu den übrigen Gebieten deutscher Siedlung
höchstens in dem Sinne in Beziehung, als sie den Kolonien evangelische
Geistliche lieferten oder diese in Dorpat, der alten deutschen
Universitätsstadt ausbildeten. Die dort seit Jahrhunderten sitzende deutsche
Herrenschicht zeigte wenig Neigung, und zwar bis in die jüngste Zeit
hinein, sich um die deutschen Kolonien im Inneren des Reiches zu
kümmern. Das nächste Kolonisationsgebiet in
Russisch-Polen ist das Gebiet der friderizianischen Siedlungsbewegung,
es stand nie in der Geschichte in einer auch nur losen Beziehung zu den
übrigen Kolonien, mit Ausnahme der verwandtschaftlichen Beziehungen zu
den wenigen Schwesterniederlassungen in Wolhynien. Die
Ukraine (Neurußland) hatte eine starke deutsche
Bevölkerung, die auf Einladung der russischen Regierungen unter der Katharina
und Alexander I. eingewandert war. Sie war und
ist - in ihren Resten - noch jetzt über einen weitausgedehnten
Raum zerstreut. Die früheren Gouvernements Bessarabien, Chersson,
Jekaterinoslaw, Taurien, das Don-Gebiet und das Gouvernement Stawropol
glichen nach Flächeninhalt nahezu dem Deutschen Reich.
[354] Im Kaukasus, wo etwa
50 000 deutsche Bauern gegenüber etwa 10 Millionen einer überaus
bunten Völkerschar wohnten und wo der deutsche Landbesitz an
Fläche nicht erheblich war, stand es wiederum so, daß die
nordkaukasischen Kolonien und die transkaukasischen Ansiedlungen
räumlich mit einander nicht zusammenhingen. Erst im mittleren
Wolgagebiet treffen wir deutsche Ansiedler an, die, etwa 650 000
an der Zahl, einen zusammenhängenden Komplex von Kolonien
früherer Gouvernements Samara und Saratow an beiden Ufern der Wolga
bildeten.
Die zerstreuten, aus den Muttergebieten an der Wolga und im Süden, meist
erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandenen
Kolonien im Gebiet des südlichen Ural, in Westsibirien und in Turkestan
waren der Bevölkerungszahl und der Größe des Grundbesitzes
nach verschwindend. Eine Wechselwirkung irgendwelcher erheblicher Art
zwischen den einzelnen oben genannten Siedlungsgebieten bestand z. T.
überhaupt nicht, z. T. mußte sie lange Zeit hindurch
unterbleiben, weil diese Gebiete keine Organe, mit Ausnahme der kirchlichen
Einrichtungen und der erst seit der ersten russischen Revolution, nach dem
russisch-japanischen Krieg, sich entwickelnden Kolonistenpresse, für die
Pflege einer engeren Gemeinschaft besaßen. Und dennoch genügten
die leisesten Regungen unter den deutschen Kolonisten, die, durchaus im Interesse
des russischen Gaststaates und mit dem Ziel eines rein kulturellen und
wirtschaftlichen Aufschwunges, auf die Erhaltung ihrer kulturellen Eigenart
gerichtet waren, um jeweils ein scharfes Vorgehen der russischen Regierung
einzuleiten, das vor etwa 25 Jahren zuerst die deutschen Kolonien in Kiew,
Wolhynien und Podolien betroffen hatte. Während des Weltkrieges begann
man dann bereits auch mit der Auflösung der übrigen Kolonien, und
nur der Sturz des Zarismus im Frühjahr 1917 hatte die völlige
Katastrophe verhindert. Mit der zweiten russischen Revolution schien eine neue
Zeit des Aufschwungs der deutschen Kolonien anzubrechen, jedoch ging diese
Hoffnung in den Bürgerkriegen und dann bei der bolschewistischen
Oktober-Umwälzung in die Brüche. Nach 15
Jahren seit jenen schicksalsschweren Tagen sehen wir die deutschen Kolonien
weiter bestehen, aber unter Bedingungen, bei denen sich ein völlig neues
Bild ergibt.
[355]
Deutscher Kolonist aus dem Kanton Kukkus.
[357]
Bäuerinnen einer deutschen Kollektivwirtschaft
in der Wolgarepublik.
|
In den anderthalb Jahrhunderten seit der Anlegung der ersten deutschen Kolonien
an der Wolga hat sich der deutsche Kolonist trotz Schwierigkeiten aller Art
bewährt. Gleich zu Anfang der Kolonisation trat den Siedlern das
ungewohnte Klima, sein kontinentaler Charakter, die scharfen
Übergänge der Temperatur, der heiße Sommer und der kalte
Winter, die Dürre entgegen. Und die Siedler kamen in Landesteile, wo der
Boden überhaupt erst urbar gemacht werden mußte, in die
jungfräulichen Steppen der Wolga oder des Südens. Die
wolhynischen Kolonisten mußten erst Sümpfe trockenlegen und
Wälder ausroden. Der Kampf mit den natürlichen
Widerständen war erschwert durch Hindernisse, die den Siedlern aus der
Indolenz und Korruption der Landesbehörden und aus der sozialen
Umgebung erwuchsen. Ohne "Douceur", ohne Schmiergeld an die Beamten kam
man überhaupt nicht vorwärts. Dabei waren die Siedler
ständig von Mißtrauen und Intrigen seitens der Geistlichkeit, die von
den Andersgläubigen Schädigung der orthodoxen Kirche
befürchtete, seitens der Gutsbesitzer, die einen schlechten Einfluß auf
die Leibeigenen erwarteten, und selbst von gelegentlicher Feindseligkeit seitens
der umwohnenden Bauern umgeben. Die Kämpfe mit der Natur und den
sozialen Lebensbedingungen haben dem [355] Typus des deutschen
Kolonisten in Rußland vielfach harte Charakterzüge
aufgeprägt, die besonders an der Wolga zu beobachten sind.
Zu den seit langem bekannten Typen des russischen Deutschtums gehören
der Steppenbauer der Wolgakolonien, der Kolonist aus der Ukraine, der deutsche
Pächter und Landwirt Wolhyniens, und schließlich auch der
Mennonit.
Das Ringen mit den natürlichen Bedingungen, die Erinnerung an die
früheren Kämpfe mit den Nachbarn (besonders den Kirgisen), die
Enttäuschungen mancher harter Art sind wohl vorwiegend die Ursache
gewesen, daß der Wolgakolonist ein etwas mißtrauisches,
verschlossenes, schwerfälliges Wesen zur Schau trägt, besonders
wenn er Fremden begegnet oder in der Fremde ist. Er ist zu gleicher Zeit
selbstbewußt, wenn auch die in den Wolgakolonien lange herrschend
gewesene Feldgemeinschafts-Verfassung nach russischem Muster seine relative
kulturelle Zurückgebliebenheit begründete. Einer der
Kolonistensöhne von der Wolga (P. Sinner) schildert die Wesensart
seiner Landsleute in folgenden treffenden [356] Zügen:
"Breitschultrig, stämmig, mit
glattrasiertem offenem Gesicht und klaren, blauen Augen, mit der untrennlichen
»Herzallerliebsten«, der langrohrigen, baumelnden Pfeife im Munde
(»Unser Bauer un sa Peif gehörn z'samme, wie Mann un
Fraa«), schaut er siegesbewußt über seine weite, breite Steppe
hin. Hier fühlt er sich frei, hier ist er zu Hause. Wetterfest, völkisch
zäh, herb, bieder, rührig und unermüdlich bei der Arbeit, hart
an der heimatlichen Scholle klebend - das ist der Wolgadeutsche. Nicht nur
seine Mundart hat er quellklar erhalten, sondern auch Sitten und
Gebräuche... Die Stadt ist für ihn eine fremde Welt, hier fühlt
er sich verlassen und ringsum von Feinden aller Art umgeben. Aber immer ist er
tätig und sucht nach einem Ausweg, wenn er in eine schwere Lage
gerät. Da schreckt er auch vor der Stadt, ja vor der fernen Fremde nicht
zurück. Und erstaunlich rasch findet er sich in der neuen Umgebung
zurecht... Die geschichtliche Erfahrung selbst hat ihn gelehrt, sich allem Neuen
und den Fremden gegenüber mißtrauisch zu verhalten. Das Neue
beobachtet er zuerst lange und erprobt es gründlich, ehe er es annimmt.
Aber wenn er es einmal für gut befunden und angenommen hat, gibt er es
so leicht nicht mehr preis."
An seiner Scholle war und ist der Wolgakolonist stark, in der russischen Stadt
verläßt ihn seine sichere Haltung. Seine guten Eigenschaften
verschaffen ihm Eingang in Vertrauensstellungen, wenn er sich in seiner Bildung
heraufgearbeitet hat. Ist er aber in die russische Wirtschaft oder das Beamtentum
eingefügt, muß er das meist mit dem Verlust seines Deutschtums
bezahlen.
In den ukrainischen Steppen befanden sich einst die blühendsten deutschen
Kolonien, die im regen Verkehr mit den russischen Märkten, auch der
ferneren Umgebung, und mit den Städten standen. Der deutsche Kolonist
des ukrainischen Südens zeigte mehr Unternehmungsgeist, mehr Initiative
und Beweglichkeit, als seine übrigen Stammesbrüder in
Rußland und hat vielfach beinah den Anstrich des amerikanischen Farmers
angenommen. In kleineren und größeren Enklaven lagen seine
Kolonien, aus deren Mitte zum Teil Großgüter deutscher Landwirte
entstanden. Hier herrschte seit Beginn der Ansiedlung Hofsystem mit Erbrecht,
das allerdings durch das Recht der Gemeinde auf Vornahme
zweckmäßiger Landzuteilung eingeschränkt war. Das
ermöglichte ein besseres Wirtschaften, als in den Wolgakolonien.
[363]
Deutscher Bauer mit Kamelgespann.
|
Der Wohlstand der Deutschen am Schwarzen Meer wirkte günstig auf die
Entwicklung des dortigen Deutschtums. Deutsche Schulbildung, eigene Presse,
intelligente Lehrerschaft haben hier stärker gewirkt als in den
übrigen deutschen Siedlungsgebieten.
Der wolhynische deutsche Kolonist gehört heute mehr der Geschichte an.
Die kümmerlichen Reste der einstmals aufblühenden Kolonien des
bienenfleißigen deutschen Kulturpioniers haben keine nationale Zukunft
mehr.
Der unternehmungslustige, kulturell außerordentlich hochstehende
deutsch-russische Mennonit stellt wiederum einen besonderen Typ dar. Die
Charakterzüge der mennonitischen Siedlungen und ihrer Menschen bleiben,
bedingt hauptsächlich durch die gleichartige religiöse, soziale und
wirtschaftliche Organisation, im allgemeinen die gleichen. Immer wieder tritt
uns - im Süden, an der Wolga und in
Sibirien - ein breit angelegtes Siedlungsdorf leistungsfähiger
Landwirte entgegen, die die deutsche landwirtschaftliche Kultur in geschickter
Anpassung an die örtlichen Verhältnisse erfolgreich pflegten,
Musterbetriebe [357] schufen und so zu
einem bedeutenden Wohlstand gelangten. Das Fortbestehen dieser Siedlungen in
ihrer alten Form ist durch die neue staatliche Wirtschaftsordnung in Frage
gestellt.
[364]
Getreidespeicher in Marxstadt.
|
Die deutschen Kolonisten kamen nach Rußland Ende des 18. und Anfang
des 19. Jahrhunderts, mit Nachzüglern noch in späterer Zeit
(wie bei den Mennoniten) auf Einladung der russischen Regierungen, und zwar
sollten sie, wie oben angedeutet wurde, Pionierdienste in den jeweils meist leeren
und unkultivierten Steppengegenden des Wolgagebiets und im Süden tun.
Und sie kamen nicht einzeln, sondern in Gruppen, meist in gemeinsamen
Transporten. So wurden ihre Erlebnisse zum Volksgut. Gemeinsames Schicksal
im Laufe auch der späteren Zeit bildete, im Verein mit der Gemeinsamkeit
der Abstammung und der Sprache, ein gewisses
Zusammengehörigkeitsempfinden aus, das wesentlich dazu beitrug,
daß man, trotz mancher Einschränkungen, vom
deutsch-russischen Kolonistentum als einer der soziologischen Formen, in denen
das Deutschtum im slawischen Osten bis auf unsere Tage bewahrt wurde,
sprechen darf. Wie stark dieses gemeinsame Empfinden, dieses zähe
Festhalten am deutschen Kulturgut war, können wir daran sehen, daß
die zahlenmäßig relativ schwachen deutschen Enklaven in slawischer
Umgebung allen Entnationalisierungsbestrebungen zum Teil durch anderthalb
Jahrhunderte getrotzt haben, obwohl die Verbindung mit dem alten Mutterlande
sehr bald durch die Entfernung und durch die politischen Umstände fast
völlig abgebrochen war. Es hat schon was zu sagen, wenn man [358] sich an die Tatsache
erinnert, daß während des Weltkrieges es möglich war, in
deutschen Kriegsgefangenen-Lagern unter russischen Soldaten deutscher
Abstammung über 400 Volkslieder zu sammeln, die sich in den deutschen
Kolonien trotz vielfacher Widerstände im wesentlichen durch
mündliche Überlieferung erhalten haben. Es hat schon was zu sagen,
daß auch jetzt noch jeder Deutsche aus dem Reich bei jeder
Berührung mit den deutsch-russischen Kolonisten den starken Eindruck
mitnimmt von der Art, wie lebhaft sie alle die Schicksale des Mutterlandes
verfolgen.
Wenn man die Zeit etwa bis zur ersten russischen Revolution 1905
überblickt, so ist sie für die Kolonisten nicht nur eine Kette von
harten wirtschaftlichen Kämpfen, sondern auch eine Reihe von schwersten
Enttäuschungen gewesen. Zwar haben sich die deutschen Kolonisten
wirtschaftlich schließlich durchgesetzt, wie blühende Oasen lagen
ihre Ansiedlungen inmitten eines kulturell tiefstehenden Landes, aber die
Einstellung der russischen Öffentlichkeit und der russischen
Regierungskreise wurde im Laufe der Zeit zunehmend ungünstig, ja
feindselig. Eine unsagbare Tragik: die Kolonisten mußten Deutsche bleiben,
um das zu leisten, was sie leisteten, aber es wurde ihnen zum Vorwurf gemacht,
daß sie Deutsche blieben.
Die Sonderstellung der Kolonisten wurde daher allmählich abgebaut, bis in
der Zeit der großen Reformen unter Alexander II. ihre Privilegien
völlig fielen.
Die Folgen der gegen die Kolonien betriebenen Politik waren: Unterbindung des
Verkehrs mit dem deutschen Mutterlande, dauernde Erschwerung der freien
wirtschaftlichen Entwicklung (was besonders verhängnisvoll an der Wolga
wirkte, wo die russische Mirverfassung eingeführt wurde), zunehmende
Russifizierung namentlich der Schichten der gebildeten Kolonisten,
Aushöhlung des Zusammengehörigkeitsgefühls der
Kolonisten, Verkümmerung jeder gesunden Entfaltung von Sprache und
Kultur, und damit Gefährdung des vollen wirtschaftlichen Erfolges, der
für den russischen Staat bei konsequenter und ehrlicher Ausführung
der ursprünglichen Absichten nur vorteilhaft und entscheidend im
wirtschaftlichen Aufbau des Landes werden konnte. Auch heute, und zwar in noch
viel höherem Maße, hält die staatliche Zentralgewalt ihre Hand
auf der freien Auswirkung der wertvollen Eigenart deutscher
Wirtschafts- und Kulturpioniere. An dieser tragischen Lage hat sich seit Beginn
der deutschen Einwanderung nichts geändert.
Eine Zeit lang nach der ersten russischen Revolution schien es, daß eine
neue glücklichere Zeit für die deutschen Kolonisten angebrochen sei.
Aber die erzwungene parlamentarische Staatsform in Rußland wurde
allmählich zum Schein, die Reaktion setzte ein, das Wahlrecht wurde
geändert, der extreme Nationalismus bekam immer mehr Oberhand. Und
wieder setzte die Politik gegen die Nationalitäten und gegen die
Kolonisten ein. Es half unseren deutschen Bauern nichts, daß sie in der
Vergangenheit und in diesen Zeiten der Wirren ihre Loyalität und ihre
Opferwilligkeit in Notzeiten bewiesen, es half ihnen nichts, daß sie den
russischen Süden und das Wolgagebiet landwirtschaftlich erschlossen,
einen wichtigen Faktor im Getreidehandel bildeten,
Sumpf- und Waldboden urbar machten und daß sie gerade in einer der
wichtigsten wirtschafts-politischen Fragen, der Stolypinschen Agrarreform, der
Regierung wertvollste Dienste erwiesen, man beschäftigte sich bereits mit
Plänen, die deutschen Ansiedlungen in Rußland überhaupt
gewaltsam aufzulösen. Und ehe noch das verhängnisvolle Jahr 1914
kam, war man auf den Kolonien voller [359] Unruhe geworden. Die
Auswanderung nach Amerika oder nach Deutschland beschäftigte immer
lebhafter die Gemüter. Die Zahl der Auswanderer, die bereits seit der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wegen
Übervölkerung in den Kolonien und Behinderung der
wirtschaftlichen Expansion nach Amerika strebten, wuchs und es entstand eine
beachtliche Rückwanderung deutsch-russischer Kolonisten nach
Deutschland.
Die Erlebnisse der deutschen Kolonisten Rußlands im Weltkriege
gehören zu den schwersten Prüfungen, die sie je erlebten. Moralisch
und physisch gezwungen, gegen das eigene Mutterland zu kämpfen, dazu
unter einer Losung, die sich überhaupt gegen alles Deutsche richtete, stand
der deutsche Kolonist und der Rußland-Deutsche im Felde gegen Deutsche
und war keinen Augenblick sicher, ob nicht in der gleichen Zeit der Untergang
seiner engeren Heimat, seiner Kolonie beschlossen sei. Nur die zweite russische
Revolution vom Frühjahr 1917 hat es verhindert, daß die
endgültige, im Frühjahr 1915 begonnene Auflösung deutscher
Ansiedlungen im europäischen Rußland und ihre Zwangsverlegung
nach dem asiatischen Teil vollendet wurde.
1917 brachte den Kolonisten wiederum einen Hoffnungsschimmer auf bessere
Zeiten, jedoch währte auch dies nicht lange. Da der Krieg und die
Kriegspsychose zunächst noch fortdauerten, blieb das Mißtrauen
gegenüber den Deutschen in Rußland bestehen. Der
Bürgerkrieg und die Requisitionen der streitenden Parteien, die steigende
wirtschaftliche Anarchie im Lande, haben den ehemaligen Wohlstand der
Kolonien lebensgefährlich untergraben. Die bolschewistische
Umwälzung im Herbst 1917, das Wiederaufflammen der
Bürgerkriege brachten weitere Zerstörungen und Not in die
Kolonien, es folgte allgemeiner Niedergang auf allen Gebieten des
wirtschaftlichen und kulturellen Lebens, er wurde katastrophal verstärkt
durch die Mißernte und Hungerjahre 1920-21, in denen
gerade auch die Wolgakolonien der Gegenstand der Aufmerksamkeit und des
Mitgefühls der ganzen Welt geworden waren.
[360] In den letzten zehn
Jahren hat sich das Gesicht und die Rolle des Deutschtums in Rußland
völlig geändert. Nach kurzer Atempause, in der während der
sogenannten Periode der NÖP (neue ökonomische Politik) die
Zügel der Staatsleitung in bezug auf die Privatwirtschaft gelockert wurden
und eine gewisse wirtschaftliche Erholung eintrat, standen die deutschen Kolonien
vor neuen schweren Prüfungen, da sie von dem gegenwärtig sich
vollziehenden Übergang zum Kollektivismus in der Landwirtschaft
erfaßt wurden. Die Kollektivierung der deutschen Bauernwirtschaften, der
Feldzug gegen die Kulaks, die "reichen" Bauern, der mit besonderer Heftigkeit in
der Durchführung des Fünfjahrplans einsetzte, hat in den deutschen
Kolonien zunächst eine ungeheuere Verwüstung, namentlich unter
den Mennonitenansiedlungen hervorgerufen. An 6000 Kolonisten, meist
Mennoniten, mußten unter unsäglichen Leiden das Land
verlassen.
Die alten Schichten und Gruppen der Intellektuellen, der Vertreter freier Berufe,
der Kaufleute, der wohlhabenden Bauern sind jetzt als solche vernichtet, und nur
ein Teil von Deutschen, die dem früheren Leben das Gepräge gaben,
ist noch in untergeordneten Stellungen verstreut tätig, jedes geistigen oder
gar politischen Einflusses beraubt, noch physisch da. Die starke neue deutsche
Einwanderung von sogenannten Spezialisten, Ingenieuren, Technikern, gelernten
und anderen Arbeitern bleibt im wesentlichen ohne Berührung mit den
Resten des Deutschtums und verteilt sich auf einen ungeheueren Raum. Diese
Deutschen bleiben im wesentlichen eben einsame Kulturpioniere, sofern sie nicht
in der parteipolitischen Struktur des neuen Staats aufgehen. Die Beteiligung des
deutschen Kapitals am russischen Wiederaufbau und am Ausbau der russischen
Industrieanlagen erreicht Milliardenhöhe, deutsche Gelehrte beteiligen sich
an der wissenschaftlichen Fundierung der Planwirtschaft der Union, jedoch wird
diese Hilfe lediglich als technische Hilfe hingenommen, als Hilfe zum Aufbau
einer kommenden, von ganz neuen Voraussetzungen ausgehenden Kultur.
Während dieser neue deutsche Zustrom nur ein Werkzeug der
Planwirtschaft ist, geht der Kampf innerhalb der alten Reste des Deutschtums,
soweit es in den Kolonien als einer organischen Gemeinschaft besteht, weiter, und
zwar mit dem Ziel einer völligen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen
Eingliederung in einem klassenlosen, sozialistischen Staate.
Wir haben eingangs gesagt, daß die Zahl der Deutschen in der Sowjetunion
etwa die Hälfte der Vorkriegszeit ausmacht. Es mögen
gegenwärtig 1 300 000 sein. Fast die Hälfte dieser Zahl
lebt heute in dem geschlossenen Gebiet der Deutschen Wolgarepublik (etwa 200
Kolonien). Wie sehr auch die Bevölkerung der übrigen deutschen
Siedlungsgebiete zurückgegangen ist, bestehen doch noch zahlreiche
deutsche Kolonien an den alten Standorten. In unmittelbarer Nähe von
Leningrad, an der südlichen Küste des Finnischen Meerbusens, an
der Bahn nach Finnland, an der estnischen Grenze und bei Nowgorod liegen 34
deutsche Dörfer. In der Ukraine und in der zur Russischen Republik
gehörenden Republik Krim befinden sich weitere etwa 1000 deutsche
Dorfsiedlungen, deren älteste Kolonien in den früheren
Gouvernements Chersson, Jekaterinoslaw und Taurien liegen. In Transkaukasien
haben sich 20 Dörfer der Württemberger Separatisten (in den
Republiken Georgien und Aserbeidschan) erhalten. 300 weitere Kolonien liegen
verstreut auf dem Wege nach dem Süd-Ural, nach
West- und Mittelasien. Es handelt sich hier um [361] Tochterkolonien der
Wolgadeutschen oder die der Deutschen aus dem Süden des Reiches, die
allmählich in den letzten 50 Jahren angelegt wurden. Das wichtigste
Zentrum dieser Kolonien ist Slawgorod, eine Bezirksstadt im früheren
Gouvernement Omsk. Die deutschen Bauern an der Wolga bilden eine autonome
Sowjetrepublik, die übrigen deutschen Kolonien sind entweder zu
deutschen Rayons zusammengefaßt oder bilden Bezirke der einzelnen
deutschen Dorfsowjets. In der Ukraine bestehen acht deutsche Rayons und 253
deutsche Dorfräte. Diese Neueinteilung, diese neue administrative
Gestaltung der deutschen Kolonien hängt mit der
Nationalitätenpolitik der Sowjetregierung zusammen. Durch die
Verfassung der U.d.SSR. und durch die Verfassungen der Bundesrepubliken ist
der Begriff der Autonomie der einzelnen Nationalitäten festgelegt. Sie
nimmt zur unbedingten Grundlage den ökonomischen und politischen
Zentralismus in allen für die Union lebenswichtigen Zweigen des
staatlichen Lebens. Den autonomen Republiken wie der deutschen
Wolgarepublik, den nationalen Rayons und den nationalen Dorfsowjets, die eine
organisatorische Ausscheidung nationaler Minderheiten im sonst nationalfremden
Gebiet darstellen, wird aber gleichzeitig das Recht auf kulturelle
Selbstbestimmung, auf nationale Dezentralisation gewährt. Die
Ausübung dieses Selbstbestimmungsrechts darf aber nur im Sinne der
Festigung der neuen Staatsordnung geschehen.
Das Gebiet der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen
umfaßt [362] ungefähr eine
Fläche, die der von Württemberg und Hessen gleich ist
(27 376 Quadratkilometer). Ein viertel Teil dieses Territoriums liegt auf
dem rechten Ufer der Wolga (früheres Gouvernement Saratow) und drei
Viertel - auf dem linken Wolgaufer (früheres Gouvernement
Samara). Die Republik ist in 14 Kantone eingeteilt und wird nach dem System:
Dorfsowjet, Exekutivkomitee des Kantons, Zentralexekutivkomitee der Republik
verwaltet. 9 Kantone haben eine rein deutsche Bevölkerung,
4 - eine gemischte (deutsch-russische und
deutsch-ukrainische) und 1 - rein russische. Die Bevölkerungszahl
beträgt rund 670 000 Menschen (91 000 Bauernwirtschaften,
die gegenwärtig zur kollektiven Wirtschaft übergehen), wovon
67% Deutsche, 17% Russen, 9% Ukrainer, 7% sonstige
sind. Alljährlich versammelt sich der aus 300 Deputierten bestehende
Sowjetkongreß der Wolgarepublik. Der Kongreß wählt ein
Zentralexekutivkomitee aus 65 Mitgliedern und 15 Kandidaten, das viermal im
Jahre tagt. Das Zentralkomitee wählt aus seiner Mitte ein Präsidium
aus 7 Mitgliedern und 4 Kandidaten. Gleichzeitig wählt das ZEK auch den
Rat der Volkskommissare, der aus einem Vorsitzenden, 2 Stellvertretern und
einzelnen Kommissariaten besteht. Die Kommissariate für Inneres,
Volksbildung, Gesundheitswesen, Landwirtschaft und soziale Fürsorge sind
autonom und unmittelbar dem Zentral-Exekutiv-Komitee der Wolgadeutschen
Republik verantwortlich, jedoch sind neuerdings in der Volksbildung (in der sog.
Polytechnisierung der Schule) und in der Landwirtschaft (Kollektivierung)
Direktiven der Moskauer Zentrale maßgebend. Die Kommissariate der
Justiz, Finanzen, Arbeit, Staatskontrolle und des Handels sind den entsprechenden
Kommissariaten der Bundesrepublik untergeordnet, ihre Tätigkeit wird aber
vom ZEK der Wolgadeutschen Republik geleitet und den örtlichen
Verhältnissen angepaßt. Für volkswirtschaftliche Fragen
besteht noch ein dem ZEK unterstellter Rat. Das
Militär-, Verkehrswesen, sowie die Fragen des Außenhandels und der
Außenpolitik bleiben den Zentralbehörden der Union vorbehalten.
Die Amtssprache der Wolgadeutschen Republik ist deutsch, dasselbe gilt auch
für die nationalen Rayons und die Dorfsowjets. Man spricht oft von einer
hier vorliegenden Scheinautonomie, ja man sagt, die Wolgarepublik genieße
noch weniger eigene Rechte (z. B. in den Budgetfragen) als selbst die alten
zaristischen Kommunalverbände. Die nähere Betrachtung dieser
Frage müssen wir uns versagen. Es ist aber nicht zu leugnen, daß zu
Beginn der ersten Fünfjahrperiode, also um 1928, eine Reihe von Tatsachen
festzustellen waren, die vom Leben der Deutschen an der Wolga nicht unbedingt
ein ungünstiges Bild geben.
Aus dem Chaos der Zeit des Welt- und Bürgerkriegs, des Hungers
entwickelte sich in dieser Zeit bei den Wolgadeutschen eine anfangs geordnete
Wirtschaft.
[359]
Sonntagskirchgang
in der Kolonie Kukkus (Wolgarepublik).
|
Mit der Schule stand es noch recht traurig. Es fehlten genügend
vorgebildete Lehrer, es fehlten deutsche Lehrbücher und ausreichende
Geldmittel zum Ausbau des Schulwesens, das in den
Hunger- und Notjahren zeitweilig völlig erloschen war. Nun waren wieder
50% der Kinder eingeschult und das Analphabetentum ging bereits stark
zurück. Der Bildungsstand war immerhin höher als im übrigen
europäischen Rußland, denn während hier von 100 Menschen
45 lesen und schreiben konnten, betrug die Zahl in der Wolgarepublik 55. Die
wolgadeutschen Frauen standen in bezug auf die Elementarbildung an erster Stelle
unter der ländlichen Bevölkerung der ganzen Union. Noch
günstiger lagen die Bil- [363]
dungsverhältnisse in den deutschen Kolonien der Ukraine, und bei den
deutschen Mennoniten erreichte die Zahl der des Lesens und Schreibens kundigen
Personen 100%.
Die skizzierten Verhältnisse in den Wolgakolonien haben im Verlauf der
Durchführung des Fünfjahrplans manche Veränderung
erfahren. Vor allem war es die Kollektivierung der Landwirtschaft, die eine neue
Umstellung des Wirtschaftslebens verursachte. Bei der ersten
überstürzten Periode dieser Umstellung erlitt vor allen Dingen der
Viehbestand schwere Verluste, weil viel Individualbauern, besorgt um das
Fortbestehen ihrer Einzelwirtschaften, das Vieh und ihren Besitz verschleuderten.
Das hatte neue Stockungen in der Aufwärtsentwicklung der Kolonien zur
Folge. Mit der Einführung rationeller Methoden der Kollektivierung ist der
wirtschaftliche Umstellungsprozeß zwar stetiger geworden, aber man kann
im Augenblick noch nicht sicher übersehen, wie die Entwicklung weiter
verlaufen wird. Im Bildungswesen haben die letzten Jahre ebenfalls eine neue
Umstellung mit sich gebracht, und zwar auf dem Gebiete der sogenannten
Polytechnisierung des Schulwesens, dessen engerer Anschluß an die
Produktionsprozesse des gegenwärtigen Wirtschaftslebens angestrebt wird,
und in der verstärkten Liquidierung des Analphabetentums. Es ist nicht
daran zu zweifeln, daß die Vitalität der Wolgadeutschen und auch der
übrigen deutschen Kolonien, bei stetigem Ablauf der inneren Entwicklung
[361]
Die "Stoßbrigade" einer wolgadeutschen Kollektivwirtschaft im Dorfe Seelmann.
|
der Union, auch hier die ihnen gestellten Aufgaben lösen werden. Das
wolgadeutsche Schrifttum, das seit der Gründung der Republik weit
über 200 Bücher in deutscher Sprache hervorgebracht hat, entwickelt
sich [364] weiter. Um die
Erforschung der wolgadeutschen Mundarten bemüht sich eine Zentralstelle
in Saratow. Die bestehenden Presseorgane dienen, wie dies auch bei der
Deutschen Zentral-Zeitung und der Deutschen Rundschau in
Moskau und bei den übrigen für die Kolonien in deutscher Sprache
herausgegebenen Blättern der Fall ist, der Durchführung der
Planwirtschaft und der Vertretung der kommunistischen Politik der Moskauer
Zentrale.
Ungünstiger in nationaler Beziehung als in den Wolgakolonien, sind die
Verhältnisse in den sonst zerstreut liegenden Kolonien in anderen
Gegenden der Union. Nach der Enteignung des isolierten deutschen
Grundbesitzes ist dort das den Kolonisten gehörende Land zum Teil an die
russischen oder ukrainischen Bauern verteilt worden, und um so manche Kolonie
im Süden ist bereits ein enger Kreis nichtdeutschen Landbesitzes
entstanden. Ferner wird der Zusammenhang der Kolonien durch die neue
Einteilung in Wirtschaftsbezirke (im System der sogenannten Rayonierung)
zerrissen. Auch die Bildung besonderer autonomen deutschen Bezirke hat sich
infolge der inneren sozialen Kämpfe zunächst noch nicht in
günstigem Sinne auswirken können. Die wirtschaftlich
fortschrittlichsten Kolonien, wie die der Mennoniten, lösen sich auf. Und
eine Zeitlang schien es, wie bereits erwähnt, als ob eine
Massenauswanderung deutscher Kolonisten aus der Union sich anbahnte.
Wohin führt die weitere Entwicklung? Stehen wir am Beginn der
Auflösung der deutschen Enklaven im russischen Osten? Die Beantwortung
dieser Frage ist nicht leicht. Ich persönlich glaube an eine aussichtslose
Zukunft der deutschen Kolonien nicht und bin geneigt anzunehmen, daß die
deutschen Siedlungen als solche nicht nur bestehen bleiben, sondern sich sogar
günstig weiter entwickeln werden, wenn das sozialwirtschaftliche
Experiment der Kollektivierung gelingt und ein ruhiges, stetiges Wirtschaftsleben
sich einstellt. Daß dieses Gelingen sicher eintritt, ist eine Frage des
politischen und wirtschaftlichen Glaubens. Diese Frage steht hier nicht zur
Entscheidung.
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