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Die Deutschen in Rußland
Adolf Lane

Dieses Deutschtum war und ist kein einheitliches Gebilde. Die verschiedene Einwanderungszeit, die Herkunft, die Berufsart wirkte und wirken hier mit, wenn auch der längere Aufenthalt im Lande und seinen landschaftlich verschiedenen Teilen die deutschen Einwanderer z. T. so beeinflußt hat, daß ihre einzelnen Gruppen ein besonderes, in den Lebensbedingungen der einzelnen Gegenden begründetes Gepräge tragen. Jedoch ist es nicht leicht, gerade den heutigen Menschentypus des Deutsch-Russen zu schildern, weil die allgemeinen Lebensbedingungen heute im raschen Wechsel begriffen sind und es schwer zu sagen ist, wie sie auf den Menschen zurückwirken.

Das frühere Russische Reich, in dem über zwei Millionen Bürger deutscher Abstammung in Stadt und Land lebten, ist territorial verändert. Mit der Loslösung namentlich Finnlands, der Ostseeprovinzen, des polnischen Teils und Bessarabiens sind wertvolle Teile des Deutschtums in Rußland aus dem gemeinsamen Raum ausgeschieden, dieses Deutschtum ist zahlenmäßig geschwächt worden. Die Loslösung der Randgebiete im Westen, die Auswanderung der Deutschen aus den russischen Städten und die schweren Prüfungen, die die deutschen Bauernkolonien durch den Welt- und Bürgerkrieg, durch Hungersnot, durch Revolution und den Übergang des Staates zur neuen Wirtschaftsform erleiden mußten, haben die Zahl der Deutschen in Rußland um fast genau die Hälfte verringert. Vor dem Weltkriege, in der zwischen 1905 und 1914 liegenden Zeit, begann es sich unter den Deutschen in Rußland zu regen, das Bewußtsein gemeinsamer kultureller Interessen, der Notwendigkeit, die wirtschaftliche und politische Geltung im gemeinsamen Zusammenwirken zu erhalten und zu festigen, war erwacht und fand einen Ausdruck in der Entwicklung der deutschen Presse, im Studium der Deutschtumsgeschichte und in den Bestrebungen um die Verteidigung der Interessen der Deutschen in der russischen Volksvertretung, in der Reichsduma. Der Weltkrieg und dann die revolutionären Vorgänge haben jedoch dieses Band, diesen sich anbahnenden Zusammenschluß zerschnitten. Seit anderthalb Jahrzehnten hat eine neue Einwanderung von Deutschen nach dem russischen Osten eingesetzt. Bis jetzt ist es aber noch nicht an der Zeit, die alten Bestrebungen aufzunehmen, die deutsche Gemeinschaft in jenem Staatswesen, das gegenwärtig ein Bundesstaat sozialistischer Republiken ist, fester zusammenzuschließen und damit eine dauerhafte Grundlage ihrer kulturellen und wirtschaftlichen Wirksamkeit zum Wohle des Landes zu schaffen. Daß aber die Deutschen im inneren Rußland durch die Ereignisse des Weltkrieges und der Revolution nicht völlig zerrieben sind, daß sie immer noch einen beachtlichen Faktor in der innerstaatlichen Politik darstellen, ist aus der durch die Geschichte bedingten Sonder- [353] stellung der deutschen Bauernkolonien im russischen Osten und aus ihrem Charakter verständlich. Das nicht bodenständig verwurzelte alte Deutschtum ist fast restlos in Rußland vernichtet. Die kümmerlichen Reste der früheren deutschen städtischen Gemeinden sind dem Untergang geweiht, neue deutsche Gemeinden können sich gegenwärtig nur bilden, soweit sie sich auf den Boden der neuen Staatsordnung stellen und auf eine Betätigung im religiösen Sinne verzichten. Einem freien Zusammenschluß der neuen deutschen Einwanderer stehen unüberwindliche Schwierigkeiten gegenüber. Dagegen bestehen noch die deutschen Bauernsiedlungen.

Bis zu Ende des 18. Jahrhunderts beobachten wir fast ausschließlich eine Einzeleinwanderung von Ausländern nach Rußland. Seit der Katharinischen Zeit geschieht die Einwanderung von Ausländern, vor allem die der deutschen Bauern, planmäßig. Die geographische Lage der deutschen Kolonien in den früheren russischen Randgebieten war die Folge der russischen Kolonisationspolitik. Trotzdem erwuchsen den Kolonisten gerade aus dieser, von ihnen nicht gesuchten räumlichen Verteilung Schwierigkeiten, die besonders während des Weltkrieges mit einer völligen Vernichtung der Kolonien drohten. In böswilliger Absicht sprach man von einem planmäßig angelegten Vordringen der Deutschen nach dem russischen Osten. In das System der besonders seit dem Ende des 19. Jahrhunderts einsetzenden Russifizierungspolitik paßte es gut, von einem Germanisierungsring deutschen Grundbesitzes zu sprechen.

Die räumliche Verteilung der Kolonien, die von unseren Feinden als Stützpunkte der Germanisierung Rußlands bezeichnet wurde, wird aus der Zeit und den Gründen ihrer Entstehung begreiflich. Der Hauptstrom der deutschen, vorwiegend aus Mitteldeutschland stammenden Einwanderer in der Katharinischen Zeit ging über Petersburg nach dem Inneren des Landes. Bei Petersburg, am Finnischen Meerbusen, verblieb eine Anzahl von Einwanderern, und die hier entstandenen Kolonien blieben in der späteren Entwicklung völlig ohne Verbindung mit den anderen Kolonisationsgebieten. Sie gingen, in das wirtschaftliche Leben der Landeshauptstadt eingesponnen und von dieser abhängig, völlig in der Seeregion wirtschaftsgeographisch auf und verfielen schon früh einer starken natürlichen Russifizierung. Die Ostseeprovinzen, wo übrigens eine deutsche bäuerliche Unterschicht fehlte, standen zu den übrigen Gebieten deutscher Siedlung höchstens in dem Sinne in Beziehung, als sie den Kolonien evangelische Geistliche lieferten oder diese in Dorpat, der alten deutschen Universitätsstadt ausbildeten. Die dort seit Jahrhunderten sitzende deutsche Herrenschicht zeigte wenig Neigung, und zwar bis in die jüngste Zeit hinein, sich um die deutschen Kolonien im Inneren des Reiches zu kümmern. Das nächste Kolonisationsgebiet in Russisch-Polen ist das Gebiet der friderizianischen Siedlungsbewegung, es stand nie in der Geschichte in einer auch nur losen Beziehung zu den übrigen Kolonien, mit Ausnahme der verwandtschaftlichen Beziehungen zu den wenigen Schwesterniederlassungen in Wolhynien. Die Ukraine (Neurußland) hatte eine starke deutsche Bevölkerung, die auf Einladung der russischen Regierungen unter der Katharina und Alexander I. eingewandert war. Sie war und ist - in ihren Resten - noch jetzt über einen weitausgedehnten Raum zerstreut. Die früheren Gouvernements Bessarabien, Chersson, Jekaterinoslaw, Taurien, das Don-Gebiet und das Gouvernement Stawropol glichen nach Flächeninhalt nahezu dem Deutschen Reich.

[354] Im Kaukasus, wo etwa 50 000 deutsche Bauern gegenüber etwa 10 Millionen einer überaus bunten Völkerschar wohnten und wo der deutsche Landbesitz an Fläche nicht erheblich war, stand es wiederum so, daß die nordkaukasischen Kolonien und die transkaukasischen Ansiedlungen räumlich mit einander nicht zusammenhingen. Erst im mittleren Wolgagebiet treffen wir deutsche Ansiedler an, die, etwa 650 000 an der Zahl, einen zusammenhängenden Komplex von Kolonien früherer Gouvernements Samara und Saratow an beiden Ufern der Wolga bildeten.

Die zerstreuten, aus den Muttergebieten an der Wolga und im Süden, meist erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandenen Kolonien im Gebiet des südlichen Ural, in Westsibirien und in Turkestan waren der Bevölkerungszahl und der Größe des Grundbesitzes nach verschwindend. Eine Wechselwirkung irgendwelcher erheblicher Art zwischen den einzelnen oben genannten Siedlungsgebieten bestand z. T. überhaupt nicht, z. T. mußte sie lange Zeit hindurch unterbleiben, weil diese Gebiete keine Organe, mit Ausnahme der kirchlichen Einrichtungen und der erst seit der ersten russischen Revolution, nach dem russisch-japanischen Krieg, sich entwickelnden Kolonistenpresse, für die Pflege einer engeren Gemeinschaft besaßen. Und dennoch genügten die leisesten Regungen unter den deutschen Kolonisten, die, durchaus im Interesse des russischen Gaststaates und mit dem Ziel eines rein kulturellen und wirtschaftlichen Aufschwunges, auf die Erhaltung ihrer kulturellen Eigenart gerichtet waren, um jeweils ein scharfes Vorgehen der russischen Regierung einzuleiten, das vor etwa 25 Jahren zuerst die deutschen Kolonien in Kiew, Wolhynien und Podolien betroffen hatte. Während des Weltkrieges begann man dann bereits auch mit der Auflösung der übrigen Kolonien, und nur der Sturz des Zarismus im Frühjahr 1917 hatte die völlige Katastrophe verhindert. Mit der zweiten russischen Revolution schien eine neue Zeit des Aufschwungs der deutschen Kolonien anzubrechen, jedoch ging diese Hoffnung in den Bürgerkriegen und dann bei der bolschewistischen Oktober-Umwälzung in die Brüche. Nach 15  Jahren seit jenen schicksalsschweren Tagen sehen wir die deutschen Kolonien weiter bestehen, aber unter Bedingungen, bei denen sich ein völlig neues Bild ergibt.

Deutscher Kolonist aus dem Kanton Kukkus.
[355]      Deutscher Kolonist aus dem Kanton Kukkus.

Bäuerinnen einer deutschen Kollektivwirtschaft in der Wolgarepublik.
[357]      Bäuerinnen einer deutschen Kollektivwirtschaft
in der Wolgarepublik.
In den anderthalb Jahrhunderten seit der Anlegung der ersten deutschen Kolonien an der Wolga hat sich der deutsche Kolonist trotz Schwierigkeiten aller Art bewährt. Gleich zu Anfang der Kolonisation trat den Siedlern das ungewohnte Klima, sein kontinentaler Charakter, die scharfen Übergänge der Temperatur, der heiße Sommer und der kalte Winter, die Dürre entgegen. Und die Siedler kamen in Landesteile, wo der Boden überhaupt erst urbar gemacht werden mußte, in die jungfräulichen Steppen der Wolga oder des Südens. Die wolhynischen Kolonisten mußten erst Sümpfe trockenlegen und Wälder ausroden. Der Kampf mit den natürlichen Widerständen war erschwert durch Hindernisse, die den Siedlern aus der Indolenz und Korruption der Landesbehörden und aus der sozialen Umgebung erwuchsen. Ohne "Douceur", ohne Schmiergeld an die Beamten kam man überhaupt nicht vorwärts. Dabei waren die Siedler ständig von Mißtrauen und Intrigen seitens der Geistlichkeit, die von den Andersgläubigen Schädigung der orthodoxen Kirche befürchtete, seitens der Gutsbesitzer, die einen schlechten Einfluß auf die Leibeigenen erwarteten, und selbst von gelegentlicher Feindseligkeit seitens der umwohnenden Bauern umgeben. Die Kämpfe mit der Natur und den sozialen Lebensbedingungen haben dem [355] Typus des deutschen Kolonisten in Rußland vielfach harte Charakterzüge aufgeprägt, die besonders an der Wolga zu beobachten sind.

Zu den seit langem bekannten Typen des russischen Deutschtums gehören der Steppenbauer der Wolgakolonien, der Kolonist aus der Ukraine, der deutsche Pächter und Landwirt Wolhyniens, und schließlich auch der Mennonit.

Das Ringen mit den natürlichen Bedingungen, die Erinnerung an die früheren Kämpfe mit den Nachbarn (besonders den Kirgisen), die Enttäuschungen mancher harter Art sind wohl vorwiegend die Ursache gewesen, daß der Wolgakolonist ein etwas mißtrauisches, verschlossenes, schwerfälliges Wesen zur Schau trägt, besonders wenn er Fremden begegnet oder in der Fremde ist. Er ist zu gleicher Zeit selbstbewußt, wenn auch die in den Wolgakolonien lange herrschend gewesene Feldgemeinschafts-Verfassung nach russischem Muster seine relative kulturelle Zurückgebliebenheit begründete. Einer der Kolonistensöhne von der Wolga (P. Sinner) schildert die Wesensart seiner Landsleute in folgenden treffenden [356] Zügen:

      "Breitschultrig, stämmig, mit glattrasiertem offenem Gesicht und klaren, blauen Augen, mit der untrennlichen »Herzallerliebsten«, der langrohrigen, baumelnden Pfeife im Munde (»Unser Bauer un sa Peif gehörn z'samme, wie Mann un Fraa«), schaut er siegesbewußt über seine weite, breite Steppe hin. Hier fühlt er sich frei, hier ist er zu Hause. Wetterfest, völkisch zäh, herb, bieder, rührig und unermüdlich bei der Arbeit, hart an der heimatlichen Scholle klebend - das ist der Wolgadeutsche. Nicht nur seine Mundart hat er quellklar erhalten, sondern auch Sitten und Gebräuche... Die Stadt ist für ihn eine fremde Welt, hier fühlt er sich verlassen und ringsum von Feinden aller Art umgeben. Aber immer ist er tätig und sucht nach einem Ausweg, wenn er in eine schwere Lage gerät. Da schreckt er auch vor der Stadt, ja vor der fernen Fremde nicht zurück. Und erstaunlich rasch findet er sich in der neuen Umgebung zurecht... Die geschichtliche Erfahrung selbst hat ihn gelehrt, sich allem Neuen und den Fremden gegenüber mißtrauisch zu verhalten. Das Neue beobachtet er zuerst lange und erprobt es gründlich, ehe er es annimmt. Aber wenn er es einmal für gut befunden und angenommen hat, gibt er es so leicht nicht mehr preis."

An seiner Scholle war und ist der Wolgakolonist stark, in der russischen Stadt verläßt ihn seine sichere Haltung. Seine guten Eigenschaften verschaffen ihm Eingang in Vertrauensstellungen, wenn er sich in seiner Bildung heraufgearbeitet hat. Ist er aber in die russische Wirtschaft oder das Beamtentum eingefügt, muß er das meist mit dem Verlust seines Deutschtums bezahlen.

In den ukrainischen Steppen befanden sich einst die blühendsten deutschen Kolonien, die im regen Verkehr mit den russischen Märkten, auch der ferneren Umgebung, und mit den Städten standen. Der deutsche Kolonist des ukrainischen Südens zeigte mehr Unternehmungsgeist, mehr Initiative und Beweglichkeit, als seine übrigen Stammesbrüder in Rußland und hat vielfach beinah den Anstrich des amerikanischen Farmers angenommen. In kleineren und größeren Enklaven lagen seine Kolonien, aus deren Mitte zum Teil Großgüter deutscher Landwirte entstanden. Hier herrschte seit Beginn der Ansiedlung Hofsystem mit Erbrecht, das allerdings durch das Recht der Gemeinde auf Vornahme zweckmäßiger Landzuteilung eingeschränkt war. Das ermöglichte ein besseres Wirtschaften, als in den Wolgakolonien.

Deutscher Bauer mit Kamelgespann.
[363]      Deutscher Bauer mit Kamelgespann.

Der Wohlstand der Deutschen am Schwarzen Meer wirkte günstig auf die Entwicklung des dortigen Deutschtums. Deutsche Schulbildung, eigene Presse, intelligente Lehrerschaft haben hier stärker gewirkt als in den übrigen deutschen Siedlungsgebieten.

Der wolhynische deutsche Kolonist gehört heute mehr der Geschichte an. Die kümmerlichen Reste der einstmals aufblühenden Kolonien des bienenfleißigen deutschen Kulturpioniers haben keine nationale Zukunft mehr.

Der unternehmungslustige, kulturell außerordentlich hochstehende deutsch-russische Mennonit stellt wiederum einen besonderen Typ dar. Die Charakterzüge der mennonitischen Siedlungen und ihrer Menschen bleiben, bedingt hauptsächlich durch die gleichartige religiöse, soziale und wirtschaftliche Organisation, im allgemeinen die gleichen. Immer wieder tritt uns - im Süden, an der Wolga und in Sibirien - ein breit angelegtes Siedlungsdorf leistungsfähiger Landwirte entgegen, die die deutsche landwirtschaftliche Kultur in geschickter Anpassung an die örtlichen Verhältnisse erfolgreich pflegten, Musterbetriebe [357] schufen und so zu einem bedeutenden Wohlstand gelangten. Das Fortbestehen dieser Siedlungen in ihrer alten Form ist durch die neue staatliche Wirtschaftsordnung in Frage gestellt.

Getreidespeicher in Marxstadt.
[364]      Getreidespeicher in Marxstadt.

Die deutschen Kolonisten kamen nach Rußland Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts, mit Nachzüglern noch in späterer Zeit (wie bei den Mennoniten) auf Einladung der russischen Regierungen, und zwar sollten sie, wie oben angedeutet wurde, Pionierdienste in den jeweils meist leeren und unkultivierten Steppengegenden des Wolgagebiets und im Süden tun. Und sie kamen nicht einzeln, sondern in Gruppen, meist in gemeinsamen Transporten. So wurden ihre Erlebnisse zum Volksgut. Gemeinsames Schicksal im Laufe auch der späteren Zeit bildete, im Verein mit der Gemeinsamkeit der Abstammung und der Sprache, ein gewisses Zusammengehörigkeitsempfinden aus, das wesentlich dazu beitrug, daß man, trotz mancher Einschränkungen, vom deutsch-russischen Kolonistentum als einer der soziologischen Formen, in denen das Deutschtum im slawischen Osten bis auf unsere Tage bewahrt wurde, sprechen darf. Wie stark dieses gemeinsame Empfinden, dieses zähe Festhalten am deutschen Kulturgut war, können wir daran sehen, daß die zahlenmäßig relativ schwachen deutschen Enklaven in slawischer Umgebung allen Entnationalisierungsbestrebungen zum Teil durch anderthalb Jahrhunderte getrotzt haben, obwohl die Verbindung mit dem alten Mutterlande sehr bald durch die Entfernung und durch die politischen Umstände fast völlig abgebrochen war. Es hat schon was zu sagen, wenn man [358] sich an die Tatsache erinnert, daß während des Weltkrieges es möglich war, in deutschen Kriegsgefangenen-Lagern unter russischen Soldaten deutscher Abstammung über 400 Volkslieder zu sammeln, die sich in den deutschen Kolonien trotz vielfacher Widerstände im wesentlichen durch mündliche Überlieferung erhalten haben. Es hat schon was zu sagen, daß auch jetzt noch jeder Deutsche aus dem Reich bei jeder Berührung mit den deutsch-russischen Kolonisten den starken Eindruck mitnimmt von der Art, wie lebhaft sie alle die Schicksale des Mutterlandes verfolgen.

Wenn man die Zeit etwa bis zur ersten russischen Revolution 1905 überblickt, so ist sie für die Kolonisten nicht nur eine Kette von harten wirtschaftlichen Kämpfen, sondern auch eine Reihe von schwersten Enttäuschungen gewesen. Zwar haben sich die deutschen Kolonisten wirtschaftlich schließlich durchgesetzt, wie blühende Oasen lagen ihre Ansiedlungen inmitten eines kulturell tiefstehenden Landes, aber die Einstellung der russischen Öffentlichkeit und der russischen Regierungskreise wurde im Laufe der Zeit zunehmend ungünstig, ja feindselig. Eine unsagbare Tragik: die Kolonisten mußten Deutsche bleiben, um das zu leisten, was sie leisteten, aber es wurde ihnen zum Vorwurf gemacht, daß sie Deutsche blieben.

Die Sonderstellung der Kolonisten wurde daher allmählich abgebaut, bis in der Zeit der großen Reformen unter Alexander II. ihre Privilegien völlig fielen.

Die Folgen der gegen die Kolonien betriebenen Politik waren: Unterbindung des Verkehrs mit dem deutschen Mutterlande, dauernde Erschwerung der freien wirtschaftlichen Entwicklung (was besonders verhängnisvoll an der Wolga wirkte, wo die russische Mirverfassung eingeführt wurde), zunehmende Russifizierung namentlich der Schichten der gebildeten Kolonisten, Aushöhlung des Zusammengehörigkeitsgefühls der Kolonisten, Verkümmerung jeder gesunden Entfaltung von Sprache und Kultur, und damit Gefährdung des vollen wirtschaftlichen Erfolges, der für den russischen Staat bei konsequenter und ehrlicher Ausführung der ursprünglichen Absichten nur vorteilhaft und entscheidend im wirtschaftlichen Aufbau des Landes werden konnte. Auch heute, und zwar in noch viel höherem Maße, hält die staatliche Zentralgewalt ihre Hand auf der freien Auswirkung der wertvollen Eigenart deutscher Wirtschafts- und Kulturpioniere. An dieser tragischen Lage hat sich seit Beginn der deutschen Einwanderung nichts geändert.

Eine Zeit lang nach der ersten russischen Revolution schien es, daß eine neue glücklichere Zeit für die deutschen Kolonisten angebrochen sei. Aber die erzwungene parlamentarische Staatsform in Rußland wurde allmählich zum Schein, die Reaktion setzte ein, das Wahlrecht wurde geändert, der extreme Nationalismus bekam immer mehr Oberhand. Und wieder setzte die Politik gegen die Nationalitäten und gegen die Kolonisten ein. Es half unseren deutschen Bauern nichts, daß sie in der Vergangenheit und in diesen Zeiten der Wirren ihre Loyalität und ihre Opferwilligkeit in Notzeiten bewiesen, es half ihnen nichts, daß sie den russischen Süden und das Wolgagebiet landwirtschaftlich erschlossen, einen wichtigen Faktor im Getreidehandel bildeten, Sumpf- und Waldboden urbar machten und daß sie gerade in einer der wichtigsten wirtschafts-politischen Fragen, der Stolypinschen Agrarreform, der Regierung wertvollste Dienste erwiesen, man beschäftigte sich bereits mit Plänen, die deutschen Ansiedlungen in Rußland überhaupt gewaltsam aufzulösen. Und ehe noch das verhängnisvolle Jahr 1914 kam, war man auf den Kolonien voller [359] Unruhe geworden. Die Auswanderung nach Amerika oder nach Deutschland beschäftigte immer lebhafter die Gemüter. Die Zahl der Auswanderer, die bereits seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wegen Übervölkerung in den Kolonien und Behinderung der wirtschaftlichen Expansion nach Amerika strebten, wuchs und es entstand eine beachtliche Rückwanderung deutsch-russischer Kolonisten nach Deutschland.

Die Erlebnisse der deutschen Kolonisten Rußlands im Weltkriege gehören zu den schwersten Prüfungen, die sie je erlebten. Moralisch und physisch gezwungen, gegen das eigene Mutterland zu kämpfen, dazu unter einer Losung, die sich überhaupt gegen alles Deutsche richtete, stand der deutsche Kolonist und der Rußland-Deutsche im Felde gegen Deutsche und war keinen Augenblick sicher, ob nicht in der gleichen Zeit der Untergang seiner engeren Heimat, seiner Kolonie beschlossen sei. Nur die zweite russische Revolution vom Frühjahr 1917 hat es verhindert, daß die endgültige, im Frühjahr 1915 begonnene Auflösung deutscher Ansiedlungen im europäischen Rußland und ihre Zwangsverlegung nach dem asiatischen Teil vollendet wurde.

1917 brachte den Kolonisten wiederum einen Hoffnungsschimmer auf bessere Zeiten, jedoch währte auch dies nicht lange. Da der Krieg und die Kriegspsychose zunächst noch fortdauerten, blieb das Mißtrauen gegenüber den Deutschen in Rußland bestehen. Der Bürgerkrieg und die Requisitionen der streitenden Parteien, die steigende wirtschaftliche Anarchie im Lande, haben den ehemaligen Wohlstand der Kolonien lebensgefährlich untergraben. Die bolschewistische Umwälzung im Herbst 1917, das Wiederaufflammen der Bürgerkriege brachten weitere Zerstörungen und Not in die Kolonien, es folgte allgemeiner Niedergang auf allen Gebieten des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens, er wurde katastrophal verstärkt durch die Mißernte und Hungerjahre 1920-21, in denen gerade auch die Wolgakolonien der Gegenstand der Aufmerksamkeit und des Mitgefühls der ganzen Welt geworden waren.

[360] In den letzten zehn Jahren hat sich das Gesicht und die Rolle des Deutschtums in Rußland völlig geändert. Nach kurzer Atempause, in der während der sogenannten Periode der NÖP (neue ökonomische Politik) die Zügel der Staatsleitung in bezug auf die Privatwirtschaft gelockert wurden und eine gewisse wirtschaftliche Erholung eintrat, standen die deutschen Kolonien vor neuen schweren Prüfungen, da sie von dem gegenwärtig sich vollziehenden Übergang zum Kollektivismus in der Landwirtschaft erfaßt wurden. Die Kollektivierung der deutschen Bauernwirtschaften, der Feldzug gegen die Kulaks, die "reichen" Bauern, der mit besonderer Heftigkeit in der Durchführung des Fünfjahrplans einsetzte, hat in den deutschen Kolonien zunächst eine ungeheuere Verwüstung, namentlich unter den Mennonitenansiedlungen hervorgerufen. An 6000 Kolonisten, meist Mennoniten, mußten unter unsäglichen Leiden das Land verlassen.

Die alten Schichten und Gruppen der Intellektuellen, der Vertreter freier Berufe, der Kaufleute, der wohlhabenden Bauern sind jetzt als solche vernichtet, und nur ein Teil von Deutschen, die dem früheren Leben das Gepräge gaben, ist noch in untergeordneten Stellungen verstreut tätig, jedes geistigen oder gar politischen Einflusses beraubt, noch physisch da. Die starke neue deutsche Einwanderung von sogenannten Spezialisten, Ingenieuren, Technikern, gelernten und anderen Arbeitern bleibt im wesentlichen ohne Berührung mit den Resten des Deutschtums und verteilt sich auf einen ungeheueren Raum. Diese Deutschen bleiben im wesentlichen eben einsame Kulturpioniere, sofern sie nicht in der parteipolitischen Struktur des neuen Staats aufgehen. Die Beteiligung des deutschen Kapitals am russischen Wiederaufbau und am Ausbau der russischen Industrieanlagen erreicht Milliardenhöhe, deutsche Gelehrte beteiligen sich an der wissenschaftlichen Fundierung der Planwirtschaft der Union, jedoch wird diese Hilfe lediglich als technische Hilfe hingenommen, als Hilfe zum Aufbau einer kommenden, von ganz neuen Voraussetzungen ausgehenden Kultur. Während dieser neue deutsche Zustrom nur ein Werkzeug der Planwirtschaft ist, geht der Kampf innerhalb der alten Reste des Deutschtums, soweit es in den Kolonien als einer organischen Gemeinschaft besteht, weiter, und zwar mit dem Ziel einer völligen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Eingliederung in einem klassenlosen, sozialistischen Staate.

Wir haben eingangs gesagt, daß die Zahl der Deutschen in der Sowjetunion etwa die Hälfte der Vorkriegszeit ausmacht. Es mögen gegenwärtig 1 300 000 sein. Fast die Hälfte dieser Zahl lebt heute in dem geschlossenen Gebiet der Deutschen Wolgarepublik (etwa 200 Kolonien). Wie sehr auch die Bevölkerung der übrigen deutschen Siedlungsgebiete zurückgegangen ist, bestehen doch noch zahlreiche deutsche Kolonien an den alten Standorten. In unmittelbarer Nähe von Leningrad, an der südlichen Küste des Finnischen Meerbusens, an der Bahn nach Finnland, an der estnischen Grenze und bei Nowgorod liegen 34 deutsche Dörfer. In der Ukraine und in der zur Russischen Republik gehörenden Republik Krim befinden sich weitere etwa 1000 deutsche Dorfsiedlungen, deren älteste Kolonien in den früheren Gouvernements Chersson, Jekaterinoslaw und Taurien liegen. In Transkaukasien haben sich 20 Dörfer der Württemberger Separatisten (in den Republiken Georgien und Aserbeidschan) erhalten. 300 weitere Kolonien liegen verstreut auf dem Wege nach dem Süd-Ural, nach West- und Mittelasien. Es handelt sich hier um [361] Tochterkolonien der Wolgadeutschen oder die der Deutschen aus dem Süden des Reiches, die allmählich in den letzten 50 Jahren angelegt wurden. Das wichtigste Zentrum dieser Kolonien ist Slawgorod, eine Bezirksstadt im früheren Gouvernement Omsk. Die deutschen Bauern an der Wolga bilden eine autonome Sowjetrepublik, die übrigen deutschen Kolonien sind entweder zu deutschen Rayons zusammengefaßt oder bilden Bezirke der einzelnen deutschen Dorfsowjets. In der Ukraine bestehen acht deutsche Rayons und 253 deutsche Dorfräte. Diese Neueinteilung, diese neue administrative Gestaltung der deutschen Kolonien hängt mit der Nationalitätenpolitik der Sowjetregierung zusammen. Durch die Verfassung der U.d.SSR. und durch die Verfassungen der Bundesrepubliken ist der Begriff der Autonomie der einzelnen Nationalitäten festgelegt. Sie nimmt zur unbedingten Grundlage den ökonomischen und politischen Zentralismus in allen für die Union lebenswichtigen Zweigen des staatlichen Lebens. Den autonomen Republiken wie der deutschen Wolgarepublik, den nationalen Rayons und den nationalen Dorfsowjets, die eine organisatorische Ausscheidung nationaler Minderheiten im sonst nationalfremden Gebiet darstellen, wird aber gleichzeitig das Recht auf kulturelle Selbstbestimmung, auf nationale Dezentralisation gewährt. Die Ausübung dieses Selbstbestimmungsrechts darf aber nur im Sinne der Festigung der neuen Staatsordnung geschehen.

Das Gebiet der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen umfaßt [362] ungefähr eine Fläche, die der von Württemberg und Hessen gleich ist (27 376 Quadratkilometer). Ein viertel Teil dieses Territoriums liegt auf dem rechten Ufer der Wolga (früheres Gouvernement Saratow) und drei Viertel - auf dem linken Wolgaufer (früheres Gouvernement Samara). Die Republik ist in 14 Kantone eingeteilt und wird nach dem System: Dorfsowjet, Exekutivkomitee des Kantons, Zentralexekutivkomitee der Republik verwaltet. 9 Kantone haben eine rein deutsche Bevölkerung, 4 - eine gemischte (deutsch-russische und deutsch-ukrainische) und 1 - rein russische. Die Bevölkerungszahl beträgt rund 670 000 Menschen (91 000 Bauernwirtschaften, die gegenwärtig zur kollektiven Wirtschaft übergehen), wovon 67% Deutsche, 17% Russen, 9% Ukrainer, 7% sonstige sind. Alljährlich versammelt sich der aus 300 Deputierten bestehende Sowjetkongreß der Wolgarepublik. Der Kongreß wählt ein Zentralexekutivkomitee aus 65 Mitgliedern und 15 Kandidaten, das viermal im Jahre tagt. Das Zentralkomitee wählt aus seiner Mitte ein Präsidium aus 7 Mitgliedern und 4 Kandidaten. Gleichzeitig wählt das ZEK auch den Rat der Volkskommissare, der aus einem Vorsitzenden, 2 Stellvertretern und einzelnen Kommissariaten besteht. Die Kommissariate für Inneres, Volksbildung, Gesundheitswesen, Landwirtschaft und soziale Fürsorge sind autonom und unmittelbar dem Zentral-Exekutiv-Komitee der Wolgadeutschen Republik verantwortlich, jedoch sind neuerdings in der Volksbildung (in der sog. Polytechnisierung der Schule) und in der Landwirtschaft (Kollektivierung) Direktiven der Moskauer Zentrale maßgebend. Die Kommissariate der Justiz, Finanzen, Arbeit, Staatskontrolle und des Handels sind den entsprechenden Kommissariaten der Bundesrepublik untergeordnet, ihre Tätigkeit wird aber vom ZEK der Wolgadeutschen Republik geleitet und den örtlichen Verhältnissen angepaßt. Für volkswirtschaftliche Fragen besteht noch ein dem ZEK unterstellter Rat. Das Militär-, Verkehrswesen, sowie die Fragen des Außenhandels und der Außenpolitik bleiben den Zentralbehörden der Union vorbehalten. Die Amtssprache der Wolgadeutschen Republik ist deutsch, dasselbe gilt auch für die nationalen Rayons und die Dorfsowjets. Man spricht oft von einer hier vorliegenden Scheinautonomie, ja man sagt, die Wolgarepublik genieße noch weniger eigene Rechte (z. B. in den Budgetfragen) als selbst die alten zaristischen Kommunalverbände. Die nähere Betrachtung dieser Frage müssen wir uns versagen. Es ist aber nicht zu leugnen, daß zu Beginn der ersten Fünfjahrperiode, also um 1928, eine Reihe von Tatsachen festzustellen waren, die vom Leben der Deutschen an der Wolga nicht unbedingt ein ungünstiges Bild geben.

Aus dem Chaos der Zeit des Welt- und Bürgerkriegs, des Hungers entwickelte sich in dieser Zeit bei den Wolgadeutschen eine anfangs geordnete Wirtschaft.

Sonntagskirchgang in der Kolonie Kukkus, Wolgarepublik.
[359]      Sonntagskirchgang
in der Kolonie Kukkus (Wolgarepublik).
Mit der Schule stand es noch recht traurig. Es fehlten genügend vorgebildete Lehrer, es fehlten deutsche Lehrbücher und ausreichende Geldmittel zum Ausbau des Schulwesens, das in den Hunger- und Notjahren zeitweilig völlig erloschen war. Nun waren wieder 50% der Kinder eingeschult und das Analphabetentum ging bereits stark zurück. Der Bildungsstand war immerhin höher als im übrigen europäischen Rußland, denn während hier von 100 Menschen 45 lesen und schreiben konnten, betrug die Zahl in der Wolgarepublik 55. Die wolgadeutschen Frauen standen in bezug auf die Elementarbildung an erster Stelle unter der ländlichen Bevölkerung der ganzen Union. Noch günstiger lagen die Bil- [363] dungsverhältnisse in den deutschen Kolonien der Ukraine, und bei den deutschen Mennoniten erreichte die Zahl der des Lesens und Schreibens kundigen Personen 100%.

Die skizzierten Verhältnisse in den Wolgakolonien haben im Verlauf der Durchführung des Fünfjahrplans manche Veränderung erfahren. Vor allem war es die Kollektivierung der Landwirtschaft, die eine neue Umstellung des Wirtschaftslebens verursachte. Bei der ersten überstürzten Periode dieser Umstellung erlitt vor allen Dingen der Viehbestand schwere Verluste, weil viel Individualbauern, besorgt um das Fortbestehen ihrer Einzelwirtschaften, das Vieh und ihren Besitz verschleuderten. Das hatte neue Stockungen in der Aufwärtsentwicklung der Kolonien zur Folge. Mit der Einführung rationeller Methoden der Kollektivierung ist der wirtschaftliche Umstellungsprozeß zwar stetiger geworden, aber man kann im Augenblick noch nicht sicher übersehen, wie die Entwicklung weiter verlaufen wird. Im Bildungswesen haben die letzten Jahre ebenfalls eine neue Umstellung mit sich gebracht, und zwar auf dem Gebiete der sogenannten Polytechnisierung des Schulwesens, dessen engerer Anschluß an die Produktionsprozesse des gegenwärtigen Wirtschaftslebens angestrebt wird, und in der verstärkten Liquidierung des Analphabetentums. Es ist nicht daran zu zweifeln, daß die Vitalität der Wolgadeutschen und auch der übrigen deutschen Kolonien, bei stetigem Ablauf der inneren Entwicklung

Die ‘'Stoßbrigade'‘ einer wolgadeutschen Kollektivwirtschaft.
[361]      Die "Stoßbrigade" einer wolgadeutschen Kollektivwirtschaft im Dorfe Seelmann.
der Union, auch hier die ihnen gestellten Aufgaben lösen werden. Das wolgadeutsche Schrifttum, das seit der Gründung der Republik weit über 200 Bücher in deutscher Sprache hervorgebracht hat, entwickelt sich [364] weiter. Um die Erforschung der wolgadeutschen Mundarten bemüht sich eine Zentralstelle in Saratow. Die bestehenden Presseorgane dienen, wie dies auch bei der Deutschen Zentral-Zeitung und der Deutschen Rundschau in Moskau und bei den übrigen für die Kolonien in deutscher Sprache herausgegebenen Blättern der Fall ist, der Durchführung der Planwirtschaft und der Vertretung der kommunistischen Politik der Moskauer Zentrale.

Ungünstiger in nationaler Beziehung als in den Wolgakolonien, sind die Verhältnisse in den sonst zerstreut liegenden Kolonien in anderen Gegenden der Union. Nach der Enteignung des isolierten deutschen Grundbesitzes ist dort das den Kolonisten gehörende Land zum Teil an die russischen oder ukrainischen Bauern verteilt worden, und um so manche Kolonie im Süden ist bereits ein enger Kreis nichtdeutschen Landbesitzes entstanden. Ferner wird der Zusammenhang der Kolonien durch die neue Einteilung in Wirtschaftsbezirke (im System der sogenannten Rayonierung) zerrissen. Auch die Bildung besonderer autonomen deutschen Bezirke hat sich infolge der inneren sozialen Kämpfe zunächst noch nicht in günstigem Sinne auswirken können. Die wirtschaftlich fortschrittlichsten Kolonien, wie die der Mennoniten, lösen sich auf. Und eine Zeitlang schien es, wie bereits erwähnt, als ob eine Massenauswanderung deutscher Kolonisten aus der Union sich anbahnte.


Wohin führt die weitere Entwicklung? Stehen wir am Beginn der Auflösung der deutschen Enklaven im russischen Osten? Die Beantwortung dieser Frage ist nicht leicht. Ich persönlich glaube an eine aussichtslose Zukunft der deutschen Kolonien nicht und bin geneigt anzunehmen, daß die deutschen Siedlungen als solche nicht nur bestehen bleiben, sondern sich sogar günstig weiter entwickeln werden, wenn das sozialwirtschaftliche Experiment der Kollektivierung gelingt und ein ruhiges, stetiges Wirtschaftsleben sich einstellt. Daß dieses Gelingen sicher eintritt, ist eine Frage des politischen und wirtschaftlichen Glaubens. Diese Frage steht hier nicht zur Entscheidung.

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herausgegeben von Dr. Eugen Schmahl.
Mit einem Geleitwort von Dr. Hans Steinacher,
Reichsführer des Volksbundes für das Deutschtum im Ausland,
und mit einem Geleitschreiben von Hans Grimm.