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Die Baltischen Lande
Max Hildebert Boehm
Baltische Lande oder auch kurz Baltikum nannte man vor dem Krieg im
wesentlichen die drei Ostseeprovinzen oder Gouvernements Livland, Estland und
Kurland, die nach wechselvollem Schicksal im 18. Jahrhundert unter
russischer Herrschaft vereinigt wurden. Im Osten ist das Baltikum durch die
Narowa und den Peipussee gegen den eigentlichen russischen Volksboden
abgegrenzt. Im Süden geht der lettische in den
litauisch-weißrussischen Siedlungsboden über. Im Norden reicht das
Land bis zum Finnländischen Meerbusen, seine Westgrenze, die sich
südwestwärts in der Küste des Memelgebietes fortsetzt,
schmiegt sich als Strand um den Rigaschen Meerbusen, doch gehören auch
die vorgelagerten Ostseeinseln, deren größte Ösel mit der
Hauptstadt Arensburg ist, zu den baltischen Landen dazu, obgleich sich auf ihnen
teilweise noch eine schwedische Bevölkerung erhalten hat. Riga, Reval,
Pernau, Baltischport, Windau und Libau sind die wichtigsten Hafenstädte,
die einen teilweise sehr alten Seeverkehr vermitteln. Die alte Hauptstadt von
Kurland, Mitau, ist ein freundliches Landstädtchen. Einige der kleineren
Städte des Landes wie Wenden, Bauske, Fellin erinnern durch ihre Burgen
an die Ordenszeit, unter den Baudenkmälern tritt die Backsteingotik, aber
auch Einwirkungen der Renaissance und des Empire, vielfach in reizvoller
Holzimitation, eindrucksvoll zutage. Dem Reisenden fällt auf, daß
der Siedlungstypus des Dorfes fast völlig fehlt. Das Landvolk lebt in
zerstreuter Siedlung und zwar heute, wo die großen Güter
zerschlagen und die Gutshöfe fast ausschließlich verfallen oder
andern Zwecken zugeführt sind, hauptsächlich in
Einzelgehöften (Gesinden). Unter den Flüssen der baltischen Lande
ist neben der livländischen und der kurländischen Aa, der Windau
und dem Embach vor allem die majestätische Düna zu nennen, die
sich unweit von Riga in die Ostsee ergießt.
Ist es nun überhaupt, oder unter welchen Voraussetzungen ist es statthaft,
das Baltikum im engeren oder weiteren Umfang als deutsches Land anzusprechen
und im Rahmen dieses Sammelwerkes zu behandeln? Die Frage ist nicht ganz
leicht zu beantworten. Die Statistik scheint sie zu verneinen. Lettland und Estland
zählen zusammen fast 3 Millionen Einwohner, unter denen nur etwa
90 000 Deutsche sind. In Lettland machen die Deutschen 3,8%, in Estland
sogar nur 1,7% der Gesamtbevölkerung aus. Dabei liegt es nicht so, wie
beispielsweise im Korridorgebiet, wo eine plötzliche und in weitem
Maße gewaltsame Verdrängung und Austreibung des deutschen
Elements die Nationalitätenstatistik künstlich zugunsten des heute
herrschenden Fremdvolkes verschoben hat. Gewiß hat, wenn schon in viel
geringerem Ausmaße, auch im Baltikum eine Deutschenverdrängung
stattgefunden. Aber schon vor dem Krieg zählte man in den
Ostseeprovinzen höchstens 7% Deutsche, tat- [341] sächlich
dürfte der Prozentsatz auch in früheren Zeiten nie höher
gewesen sein. Immer waren, nachdem im Verfolg der Ordenskämpfe Liven
und Kuren bis auf verschwindende Reste ausgestorben waren, im Norden der
baltischen Lande die Esten, im Süden die Letten als Unterschicht in starker
Überzahl gewesen. Aus diesem äußerlichen
Übergewicht haben sie nun in jüngster Zeit die Konsequenz der fast
unumschränkten Machtergreifung, der Aufrichtung eines lettischen und
eines estnischen "Nationalstaats" gezogen, in denen einstweilen jedenfalls nur
für eine deutsche "Minderheit" neben dem "Staatsvolk" Platz zu sein
scheint.
[347]
Im Dom zu Reval.
Die alten Wappen der deutschen Adelsgeschlechter.
[349]
Frauenburg. Sitz des Bischofs von Ermland,
im Dom das Grab des Kopernikus.
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Und trotzdem: "Deutsches Land"? Eine Vorfrage: Wodurch entsteht zwischen
einem Volkstum und einem Stück Erdboden jene enge und einzigartige
Verbindung, die uns erlaubt, von einem Stück deutschen, polnischen oder
sonstigen Landes zu sprechen? Warum durfte der Balte, obgleich er immer eine
verschwindende "Minderheit" war, wenigstens bis an die Schwelle der
allerjüngsten Gegenwart trotz jahrhundertelanger Fremdherrschaft in seiner
Heimat ein Stück deutschen Volksbodens verteidigen?
Vor dem Weltkrieg konnten diese Frage hier im Reich nur wenige beantworten,
seither sehr viele, denn die besten Beweise erbringt hier die Anschauung. Seit im
Sommer 1915 Kurland von der russischen Herrschaft befreit und von deutschen
Truppen besetzt wurde, seit im Herbst 1917 die Eroberung Rigas und seiner
Umgebung, im Frühjahr 1918 dann noch der Vormarsch nach Nordlivland
und Estland erfolgte, haben zahllose Deutsche, die dieses deutsche Land im
äußersten Nordosten kaum vom Hörensagen kannten, ein
lebendiges Bild seiner eigentümlichen Reize nach Hause mitgebracht. Sie
lernten in Kurland schon die deutschen Adelssitze, die Schlösser und
Wohnhäuser der viel und meist übel beredeten "baltischen Barone"
kennen, in denen sie manchen technischen Komfort der westlichen Zivilisation,
aber auch alles Prunkhafte vermißten, während in diesen vielfach
niedrigen, langgestreckten Räumen mit gestrichenen Dielen und
altmodischen Tapeten und Gardinen der [342] Geist einer im Reich
fast ausgestorbenen, vornehmen deutschen Wohnkultur und zugleich einer
Behaglichkeit wohnte, dessen Reiz man sich schwer entziehen konnte. Manche
dieser Gutshäuser waren nach den Revolutionswirren von 1904/05 von
deutschen Baumeistern neu errichtet, andere wiesen in eine alte, vielfach sehr alte
Vergangenheit zurück. Die überall gepflegten Büchereien,
Sammlungen, Jagdtrophäen und der ganze Hausrat: alles zeigte an,
daß hier eine generationenlange Überlieferung liebevoll einer
deutschen Sendung gedient hatte. Einfacher eingerichtet, aber gewiß nicht
mit weniger Liebe und Feinsinn ausgestattet stand neben dem deutschen Gutshaus
das deutsche Pastorat, die Wohnung des Landarztes oder Försters. Und
diese unbestreitbar deutsche Kultur des "landschen" Baltentums zog sich wie ein
dichtes Netz über das ganze Gebiet hin, so daß man in keiner Weise
von deutschen Inseln in fremder Umwelt, sondern von einer unmittelbaren
Fortsetzung des geschlossenen deutschen Siedlungsgebietes in den Nordosten
hinein sprechen durfte.
Aber so falsch es ist, in den Balten nur die "Barone" zu sehen, so ungerecht ist es,
die Bedeutung der Stadt für das deutsche Gepräge der baltischen
Lande zu verkennen oder zu unterschätzen. Was das Land und sein
schollenfestes Element für das baltische Deutschtum im ganzen bedeutet
hat, sieht man am besten jetzt, wo der Raubzug der "Agrarreform" das
Deutschtum in Lettland und Estland weithin entwurzelt und in den Städten
zusammengedrängt hat. Hier auf dem Land konnte nach der
Veränderung der politischen Machtverhältnisse der Schlag
plötzlich und mit katastrophaler Wirkung geführt werden,
während in den Städten im Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen
Strukturwandel unserer Zeit die Umwandlung schon seit längerem
"organisch", d. h. aufgelöst in eine Kette kleiner Niederlagen vor
sich gegangen ist, die im Endergebnis, namentlich was die Kleinstädte
anlangt, zu ähnlichen katastrophalen Wirkungen geführt haben.
Aber dem Gesicht der Landschaft vermag diese Katastrophe so schnell nichts
anzuhaben. Die Letten können erst die Jacobikirche, dann den Dom in Riga
der rechtmäßigen deutschen Gemeinde rauben, die Esten die
Olaikirche in Reval stehlen und in den Prozessen, die darum geführt
wurden, das Recht beugen, zu dessen Hüter sie sich als "Staatsvolk"
aufgeworfen haben: solange sie sich nicht entschließen, Dynamit in die
Gewölbe zu legen und diese und alle die zahllosen andern Zeugnisse
deutscher Backsteingotik, deutschen Empires und Biedermeiers kurzerhand in die
Luft zu sprengen, können sie nicht verhüten, daß die
Backsteine, die winkeligen Straßen alter Hansestädte: daß die
von Menschenhand geformte Landschaft um so vernehmlicher deutsch redet, je
mehr eine gewaltsame aber im tiefsten ohnmächtige Staatlichkeit sich
bemüht, etwa durch Austilgung deutscher Schrift, deutscher Sprache bei
den Behörden oder sonstigen mechanischen Sprachenzwang diese Winkel
geschichtlich deutschen Landes selber zum Verstummen zu bringen.
[343]
Reval. Blick vom Domberg.
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Die Gefahr ist nicht neu. Das Land ist den Wechsel seiner Herrscher gewohnt.
Bald nachdem um 1200 die Aufsegelung Rigas von Lübeck und Bremen
her und sodann die Aufrichtung des Ordensstaates erfolgt war, hatte im Norden, in
Estland, zunächst dänische Herrschaft Fuß gefaßt. Der
estnische Nationalismus erinnert selber daran, wenn er den deutschen Namen der
Landeshauptstadt Reval durch Tallin (= Dan-lin, Dänenstadt) zu
verdrängen trachtet. Erst 1346 ging Estland durch Kauf in den Besitz des
Ordens über, [343] wodurch dieser seinen
größten Besitzstand erreichte. Etwa 3½ Jahrhunderte
hielt der Ordensstaat allen Stürmen stand, die von jeher in diesem
Wetterwinkel des europäischen Nordostens geweht haben. Innerer Verfall
des Ordens, die Zerstörung seiner Grundmauern durch die Reformation und
das Erstarken Rußlands nach Abschüttelung der Mongolenherrschaft
machten der Ordensherrschaft ein Ende und führten zu einer
Zwischenepoche von über zwei Jahrhunderten, die 1561 begann und 1795
abgeschlossen war. Mit wechselnden Erfolgen traten hauptsächlich Polen
und Schweden als Wettbewerber um die Ostseeherrschaft und die Oberhoheit
über das baltische Deutschtum auf den Plan, bis 1710 durch den
Nordischen Krieg Estland und Livland an Rußland fallen und bei der letzten
polnischen Teilung dann auch das Herzogtum Kurland seine scheinbare
Selbständigkeit unter polnischer Lehnsherrschaft einbüßt und
russische Provinz wird. Damit ist der politische Rahmen gegeben, aus dem die
baltischen Lande erst durch den Weltkrieg herausgebrochen sind.
[341]
Die alte Hermannsfeste bei Narwa gegenüber
der russischen Zwingburg Iwangorod.
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Freilich verdient es Beachtung, daß diese an äußern
Katastrophen so überreiche Geschichte bis an die Schwelle der Gegenwart,
also etwa bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts die gesellschaftliche und
nationale Gewichtsverteilung innerhalb der Bevölkerung des Baltikums
kaum berührt hat. Namentlich gilt das für den Zeitraum, der auf die
eigentliche Ordensherrschaft folgte. Die ritterschaftliche Selbstverwaltung,
ergänzt durch ein Städterecht, das seine hanseatische Herkunft nicht
verleugnete, sorgte dafür, daß die privilegierte Stellung des
Deutschtums durch den Wechsel der Oberhoheit nicht in Frage gestellt wurde, so
daß sich halb koloniale Zustände im Stile der in ganz Europa
vorwaltenden absolutistischen Herrschaftsverhältnisse erhielten. Die
Vorherrschaft der Deutschen, die dem Land mitsamt dem Christentum die Kultur
gebracht haben und seine Gesittung bestimmten, war weder in sozialer noch
nationaler Hinsicht von seiten der Esten und Letten gefährdet, die als ein
sozial unselbständiges und national unbewußtes und unentwickeltes
Element dahin- [344] lebten, bis der baltische
Adel selbst wesentlich früher als der Grundbesitz im übrigen
Rußland zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts unter dem Eindruck
liberaler Zeitströmungen der Aufklärung die Aufhebung der
Leibeigenschaft und eine allmähliche Reform der ländlichen
Besitzverhältnisse und der Landesverwaltung bei der Krone durchzusetzen
versuchte.
Diese nur in den Anfängen von Erfolg gekrönten Bemühungen
fielen freilich bereits in eine Zeit, in der sich im russischen Reich jener
tiefdringende Strukturwandel anbahnte, den wir jetzt rückblickend als
geschichtliche Vorbereitung der bolschewistischen Katastrophe begreifen.
Dann wurde sehr bald die unglückselige und verhängnisvolle Lage
erkennbar, in die sich das Baltentum namentlich in den letzten Jahrzehnten vor
dem Weltkrieg immer unentrinnbarer verwickelte. Es geriet gleichsam zwischen
die Mühlsteine und rieb sich dabei naturnotwendig auf. Von oben und von
der Seite her drückte das Russentum: als Staatsgewalt und als anbrandende
Volksmasse, von unten her wuchtete der soziale und zugleich nationale Aufstand
der lettischen und estnischen Unterschicht. Die Privilegien einer stolzen
Minderheit, die es nie nötig gehabt hatte, sich durch Germanisierung
Fremdstämmiger eine prozentuell stärkere Stellung im Lande zu
erringen, die traditionelle, in gutem altem Recht verankerte Gesamtlage
deutsch-baltischer Existenz standen im offenbaren Gegensatz zu herrschenden
Zeitideen und wurden so zu einem überaus bedenklichen
Schwächepunkt. Man kann das Baltentum der Gegenwart nicht verstehen,
ohne sich diese tragische Verwicklung klarzumachen, zu der sich der
aufgezwungene Zweifrontenkampf für den begabten und
ehrbewußten deutschen Volksstamm auf altkolonialem Boden
auswuchs.
[345]
Riga. Rechts das Klubhaus der "Schwarzen Häupter".
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Zu allen Zeiten haben die Balten mit dem deutschen Mutterland in einer engen
geistigen und seelischen Gemeinschaft gestanden. Diese äußerte sich
schon in dem stetigen Zuzug namentlich bürgerlicher Familien, der bis an
die Schwelle der Gegenwart erfolgt ist; auch in den Bauten und kulturellen
Zeugnissen der Landesgeschichte tritt dieser Zusammenhang deutlich zutage. Im
übrigen braucht man nur in den Matrikeln deutscher Universitäten
der letzten Jahrhunderte zu blättern, um an den baltischen Namen, die
einem überall begegnen, die enge volksgemeinschaftliche Bindung der
alten Kolonie an das Mutterland abzulesen. Und namentlich der schnelle
Durchbruch der Reformation in Livland hat nicht wenig dazu beigetragen, gerade
diese wissenschaftliche Verbindung zwischen Baltikum und Reich besonders fest
und eng werden zu lassen. In der Zeit der Aufklärung, der Klassik und
Romantik wurden schon durch Herders Tätigkeit in Riga, durch Lenz'
Begegnung mit Goethe in Straßburg diese Kulturbeziehungen besonders
deutlich sichtbar. So wurde Dorpat, die 1802 zunächst von den
Ritterschaften begründete Landesuniversität, nicht nur zu einer
Stätte, an der der ausgeprägte Partikularismus der baltischen
Teilgebiete überwunden und durch ein gesamtbaltisches Bewußtsein,
das als solches neu war, glücklich überhöht wurde. Dorpat war
zugleich das Tor, durch das der Strom neudeutschen Geistes gerade in
wissenschaftlicher Form Eingang in das Land fand, Dorpat war das Fenster, von
dem aus das Baltikum aufmerksam und mit leidenschaftlicher Teilnahme dem
Geistesleben des national erwachenden Deutschland im 19. und noch im
20. Jahrhundert folgen konnte. Als Livland und Estland unter russische
Oberhoheit kamen, hatte der Zarismus durch Peter [345] den Großen eine
Reformaera eingeleitet, die von europafreundlichen Aufklärungsideen
beseelt war. Für ihn und seine Nachfolger wurden die Ostseeprovinzen
geradezu zu einem Balkon, den das russische Haus, dem europäischen
Markt zugekehrt, von seiner Westfront aus in die freie Luft der alten Welt
hinausragen ließ. Das Baltikum lieferte dem Reich hohe Offiziere und
Verwaltungsbeamte, eine Stütze der Zarenherrschaft über
ungebildete zurückgebliebene Massen, ein Element des Fortschritts und der
Ordnung, das die weitgesteckten Ziele des zaristischen
Aufklärungszeitalters sichern half.
Zu solchen Diensten am Kaiserhof und im weiten Russischen Reich war das
Baltikum auch in der Folgezeit bereit. Es fühlte sich durch seinen Treueid,
der ein germanisch-persönliches Gefolgschaftsverhältnis zum
Zarenhaus begründete, dazu verpflichtet. Ehrgeiz und Geltungsdrang
lockten in derselben Richtung, zumal eine unmittelbare Verrussungsgefahr mit der
Übernahme solcher Dienste zunächst nicht gegeben schien. Als aber
gerade unter der Einwirkung der deutschen Romantik eine slawophile, die eigene
Art schwärmerisch verherrlichende Strömung in Rußland
einsetzte, erwachte zunächst in der russischen Intelligenz eine
Gegenbewegung, die im Deutschen einen Überfremdungsfaktor sah und
sich gegen ihn zur Wehr setzte. Die orthodoxe Missionierungstendenz
gegenüber den nicht rechtgläubigen westlichen Randprovinzen
verwandelte sich so in eine nationale Assimilationsbewegung. Das neue
Westlertum aber im Bann der französischen Revolutionsideen setzte die
Sonde seiner Kritik an die germanisch-konservativen Einrichtungen der baltischen
Landesverfassung an und machte sich zum Anwalt demokratisierender Reformen,
die sich gegen die vielfach in der Tat überalterten
städtisch-korporativen Institutionen richteten. Die kulturelle und
zivilisatorische Überlegenheit der Balten, ihr ständischer Stolz, ihr
Deutschtum, das einen in Jahrhunderten befestigten Herrschaftsanspruch in sich
birgt, ihr evangelischer Glaube, ihre ganze menschliche Art: all das wird jetzt zu
einem Quell der Verbitterung und des Hasses für jene neuen Schichten, die
in der russischen Beamtenschaft, Intelligenz, Wissen- [346] schaft und Literatur zu
Macht und Einfluß drängen und den eigentümlichen, für
das übrige Europa so schwer begreiflichen Schwebezustand zwischen
Mystik und Nihilismus, zwischen Autokratie und Bolschewismus in sich
verkörpern, der trotz allem Wandel der Zeiten und Kräfte auch noch
das heutige Rußland mit dem früheren verbindet.
So gerät das Baltentum in eine Interessenlage, die ihm vorab den Ruf
reaktionärer Gesinnung oder gar höfischer Liebedienerei eingetragen
hat. Von Verhärtungen und Entartungen, wie sie in Einzelfällen
natürlich auch vorgekommen sind, soll hier nicht die Rede sein. Das
Baltentum als ganzes, in dessen Schoße sich teilweise sehr lebhafte
Meinungskämpfe abspielten, trug das Gepräge eines beweglichen,
geistig durchaus aufgeschlossenen Konservativismus von
norddeutsch-protestantischer Prägung. Diese konservative Gesinnung war
gesellschaftlich-korporativ und nicht staatlich-bürokratisch geformt.
Baltischer und preußischer Konservativismus unterschieden sich deshalb
sehr erheblich voneinander, und dem letzteren gegenüber erwiesen sich
baltischer Konservativismus und Liberalismus, den es durchaus gegeben hat, als
ausgesprochen familienähnlich.
Während Staat und Staatsvolk für die Balten im neuen Jahrhundert
immer mehr aus einem Beschützer zu einem Feind wurden, wuchs
dann - genährt von den gleichen
romantisch-intellektuellen Kräften - im Lande selbst in Gestalt des
erwachenden Letten- und Estentums der andere, auf die Dauer gefährlichere
Gegner auf. An sich handelt es sich hierbei um einen geschichtlich
unvermeidlichen Vorgang. Koloniale Zustände können, namentlich
wenn scharfe rassische oder konfessionelle Gegensätze fehlen, auf die
Dauer nur mit einer Vermischung von Oberschicht und Unterschicht oder aber mit
einer politisch-sozialen Gewichtsverschiebung enden, die der ursprünglich
bevorrechtigten kolonisierenden Schicht Verzichte zugunsten der alteingeborenen
zumutet. Da das Baltentum den letzteren Weg als den gegebenen ansah,
verschloß es sich der Einsicht notwendiger Zugeständnisse nicht,
wobei die Meinungsverschiedenheiten im wesentlichen Ausmaß und Tempo
betrafen. Die eigentliche Tragik der baltischen Generationen, die den
Schicksalsumschwung an sich erfuhren, lag darin, daß sie am Mutterland
keinen Rückhalt in diesen entscheidenden Fragen fanden und daß
Rußland im wesentlichen jeden organischen Ausgleich
planmäßig und rücksichtslos verhinderte. Die
macchiavellistische Absicht, die dabei bestimmend war, ging darauf,
zunächst die herkömmliche baltische Herrschaft durch
Letten- und Estentum in die Luft zu sprengen, um dann die
lettisch-estnische Bevölkerung, nachdem sie sich ihrer traditionellen
deutschen Führung selbst entledigt hatte, durch staatlichen Druck und
Massenkolonisation von Osten her zu erledigen. Eine Verständigung der
Balten mit dem lettisch-estnischen Nationalismus war deshalb fast ebenso schwer
wie mit dem Panslawismus, zumal beide sich in einer antikonservativen,
gesellschaftsrevolutionären und deutschfeindlichen Grundeinstellung
wenigstens zeitweise bestens zusammenfanden.
Es ist hier nicht der Ort, um die Kämpfe im einzelnen zu schildern, in die
das Baltentum durch dieses tragische Verhängnis seiner jüngsten
Geschichte verwickelt wurde. Ende der achtziger Jahre nahm die
Zerstörung der alten deutschen Rechtseinrichtungen und die Russifizierung
der Schule eine immer schärfere Form an. Dorpat, im neunzehnten
Jahrhundert das unbestrittene kulturelle Zentrum des Landes, sank darüber
zur unbedeutenden russischen Provinzialhochschule herab und büßte
die Fähigkeit, die Balten mit dem ge- [347] samtdeutschen
Kulturleben zu verbinden, immer mehr ein. Schon in der ersten russischen
Revolution von 1904/05 kam es zur Katastrophe. Und zwar war schon damals das
landsässige Deutschtum adliger und bürgerlicher Herkunft das
Hauptopfer der revolutionären Wirren, die bereits stark
agrarbolschewistisches Gepräge annahmen, obgleich sie
hauptsächlich von städtischem Proletariat getragen waren. Der
lettische und estnische Nationalismus trat dabei nur als ein Firnis in Erscheinung,
der die sozialen Grundmotive kaum [348] zu überdecken
vermochte. Der Terror, der monatelang herrschte, erforderte unter den Balten
bereits beträchtliche Opfer.
Als es dem Zarismus gelang, mit Hilfe demokratischer Zugeständnisse
noch einmal die Lage zu retten, schien sich in Gestalt der vielberedeten
Strafexpeditionen gegen die lettischen und estnischen Terroristen und ihren
Anhang die Verbindung zwischen Baltentum und großrussischer Reaktion
noch einmal besonders sinnfällig zu befestigen. Tatsächlich waren
die Zugeständnisse, die die russische Regierung dem
überlieferungs- und reichstreuen Baltentum machte, nur unerheblich und
blieben auf das kulturelle Gebiet beschränkt. In Gestalt des
allmählichen Übergangs des russischen Reiches zu
parlamentarisch-demokratischem Verfassungsleben zeichnete sich am Horizont
für die einstmals bevorrechtigte deutsch-baltische Minderheit sogar eine
neue schwere Gefahr ab. Im übrigen war die Atempause für das
Deutschtum nur von kurzer Dauer. Im Weltkrieg fand der russische Chauvinismus
neue Nahrung, eine Welle zügellosen Deutschenhasses brandete empor, die
Letten und Esten selber machten gemeinsame Sache gerade mit dem Volk, das
ihnen heute und auf die Dauer die ernstesten Existenzsorgen bereitet, um das
Deutschtum nunmehr vollends auszurotten.
Aber der Fortgang des Krieges brachte es mit sich, daß seit dem Sommer
1915 leider nur sehr allmählich das ganze Land von der russischen
Herrschaft befreit und zunächst unter deutsche Militärverwaltung
gestellt wurde. Daran knüpfte sich bei den Balten und ihren Freunden im
Reich die Hoffnung, daß im Frieden Formen gefunden werden
würden, die die Abtrennung von Rußland endgültig machen
und irgendeine Verbindung mit dem Reich herstellen würden. Die Letten
und Esten, die davon die Gefahr der Germanisierung fürchteten, da in diese
Pläne auch der Gedanke Verstärkung des deutschen Elements durch
Siedelung auf freiwillig zu stellendem Boden der deutschen Güter
hineinspielte, verharrten in einer Politik hauptsächlich des passiven
Widerstandes. Der Ausgang, den der Weltkrieg nahm, ermöglichte es
ihnen, unbekümmert um die geschichtlich gewordenen Landschaften und
um die politischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkte, die auch jetzt noch
für die Schaffung eines baltischen Gesamtstaates gesprochen hätten,
das doktrinäre Nationalitätsprinzip durchzusetzen und im November
1918 das estnische und das lettische Sprachgebiet zu selbständigen
"Nationalstaaten" zu machen. Der Riß ging nicht nur mitten durch die alte
Landschaft Livland hindurch, er zerschnitt sogar das kleine Landstädtchen
Walk, über dessen Verbleiben man sich nicht einigen konnte, in zwei Teile.
War früher die seelische Einheit des Baltentums durch den Partikularismus
hauptsächlich der drei historischen Landschaften gefährdet, der in
letzter Zeit weitgehend überwunden schien, so meldete sich nun die viel
ernstere Gefahr einer Auseinanderentwicklung des Deutschtums in Lettland und
in Estland.
An sich scheint es zunächst, als ob die Lebensbedingungen, unter denen
diese beiden heutigen Gruppen des Baltentums stehen, nicht eben allzu
tiefgehende Unterschiede aufwiesen. In der Tat sind die teilweise
verhängnisvollen gesellschaftlichen Strukturwandlungen, die die
Nachkriegszeit mit sich gebracht hat, für beide sehr ähnliche. Das
entscheidende Ereignis ist die Agrarumwälzung, die in Lettland und
Estland zu einer völligen Zerschlagung des deutschen
Großgrundbesitzes und damit zu einer weitgehenden Zerstörung der
baltischen [349] Schollengebundenheit
und zugleich der überkommenen Vermögensgrundlage geführt
hat. Dieser Wandel hat zur Folge, daß das Baltentum den Rückhalt an
der vornehmen Kultur des Landadels völlig verliert. Was sich
gegenwärtig auf den Resten der fast entschädigungslos enteigneten
Güter halten kann, ist der Verbauerung preisgegeben. Auch die
früheren Möglichkeiten für den bürgerlichen Deutschen,
als Pastor, Landarzt, Gutsinspektor usw. bodenständig oder doch
schollennahe zu leben, sind damit auf ein Mindestmaß
zusammengeschrumpft. Zugleich ist dem Deutschtum in den kleineren
Landstädten das Rückgrat gebrochen, so daß eine ungesunde
Zusammendrängung der Reste des Baltentums in den Hauptstädten
Riga und Reval, demnächst in einigen größeren
Landstädten die Folge ist. Auch dort aber sind infolge der nationalistischen
Autarkiebestrebungen der Letten und Esten und der wirtschaftlichen
Zerstörung, mit der die "Freiheit" dieser Völker erkauft wurde, die
Möglichkeiten des angemessenen Fortkommens, ja der nackten Existenz
für den Balten so zusammengeschrumpft, daß entweder eine
weitgehende Verelendung oder das Absickern ins Reich, dazu eine nicht immer
günstige Umschichtung innerhalb des [350] Baltentums selbst die
höchst gefährliche Folge ist. Bedenklich häufige Mischehen,
Überalterung und katastrophaler Geburtenrückgang vollenden ein
Bild, das auf weitere Sicht, was die Aufrechterhaltung der baltischen Stellung
anlangt, nur zu den allerschwersten Sorgen berechtigt.
Über diese Sachlage darf deshalb auch nicht die Tatsache
hinwegtrösten, daß sich Estland und gradweise auch Lettland durch
eine bislang einigermaßen duldsame Kulturpolitik von den meisten andern
Randstaaten Mitteleuropas unterscheiden. Die Kulturautonomie in Estland und die
jetzt allerdings stark gefährdete Schulautonomie in Lettland
ermöglichen es immerhin dem Deutschtum, ein Bildungswesen weithin in
eigener Verwaltung aufzubauen und durchzuhalten, soweit
das - und damit rühren wir an einen sehr bedenklichen
Punkt - die wirtschaftlichen Kräfte des Baltentums oder der
Rückhalt am Gesamtvolk zulassen. Man wird in der Annahme nicht
fehlgehen, zumal sie durch manche Selbstzeugnisse von lettischer und estnischer
Seite bezeugt ist, daß namentlich die Agrarreform, aber auch die immer
noch fortgesetzten Enteignungsmaßnahmen und wirtschaftspolitischen
Schikanen letzten Endes den Zweck verfolgen, dem Deutschtum alle
Existenzmöglichkeiten jedenfalls einer höhern Kultur zu entziehen,
so daß der kulturpolitische Liberalismus mehr als schmerzlinderndes
Morphium für einen Sterbenden denn als rettendes Heilmittel gedacht und
wirksam ist.
Ganz besonders erschütternd äußert sich die Katastrophe,
durch die das Baltentum in den letzten zwanzig Jahren hindurchgegangen ist, im
alten Kulturzentrum Dorpat. Auch in der Russifizierungszeit bedeutete das
"Göttingen des Nordens", an dem früher auch so manche
reichsdeutsche Gelehrte gewirkt hatten, durch das geistige Leben, das in den
Dorpater Familien herrschte, einen unvergleichlichen Stützpunkt
gesamtbaltisch-deutschen Lebens. In den alten Korporationen erneuerte sich eine
gesellschaftliche Überlieferung, die Adel und Bürgertum,
Livländer, Estländer und Kurländer zu einem baltischen Typ
zusammenschmolz. Die größten Hoffnungen wachten auf, als im
Sommer 1918, wenige Monate vor dem Zusammenbruch, wieder eine deutsche
Universität Dorpat ihre Tore öffnete. Jetzt ist "Tartu" die estnische
Landesuniversität, in der freilich auch das Deutsche neben dem Russischen
und Schwedischen als Lehrsprache zugelassen ist. Aber die Verelendung auch des
bürgerlichen Deutschtums macht sich in einer Stadt, die nicht ein
Mittelpunkt wirtschaftlicher Kräfte, sondern eben geistiger Bestrebungen
ist, doppelt erschreckend bemerkbar. Im übrigen haben die Letten das
Polytechnikum in Riga zu einer neuen Universität ausgebaut, neben
der - in der Zahl der Fakultäten freilich nicht
vollständig - das deutsche "Herder-Institut" wohl die einzige private
deutsche Hochschule verkörpert, die es auf der Welt gibt. Auch ein Teil der
alten Dorpater Korporationen ist naturgemäß nach Riga
übergesiedelt. Einen wirklich gemeinsamen geistigen Mittelpunkt
gesamtbaltischen Lebens gibt es heute nicht mehr. So ist mit der politischen auch
die geistige Einheit des Baltentums zu Bruche gegangen.
Die Balten erscheinen heute eingereiht in die Front der deutschen Volksgruppen
im Ausland, die unter vergleichsweise ähnlichen Bedingungen als
Minderheiten ihr Volkstum zu behaupten und einen rechtlich geordneten
kulturellen Zusammenhalt mit dem Gesamtvolk [351] zu gewinnen suchen.
Die bedeutsame Rolle, die dem Baltentum innerhalb dieser außendeutschen
Front zugefallen ist, erweist jedenfalls, daß diese bewährten Pioniere
des deutschen Gedankens im Osten trotz aller Unbill, die über sie
hereingebrochen ist, elastisch und widerstandsfähig genug geblieben sind,
um nicht in rein örtliche Notstände zu versinken, sondern sich der
Bewältigung neuer großräumlicher Aufgaben zuzuwenden.
Deshalb muß das Baltikum heute vom deutschen Volk aus nicht nur als ein
äußerster Vorposten des Nordostdeutschtums, sondern zugleich als
eine Flankenstellung des Randdeutschtums angesehen werden, dessen Siedlung
sich vom Finnländischen Meerbusen bis zum Balkan hinzieht. Soweit eine
Aufgabe in der Geschichte auch die Kraft verbürgt, sie
durchzuführen, brauchen die Balten nicht so tief zu verzagen, wie das einer
nüchternen Prüfung ihrer Notlage zu entsprechen scheint.
Insbesondere ist durch den wirksamen und vollbewußten Rückhalt
am ganzen deutschen Volk in das Rechenexempel der baltischen
Zukunftsaussichten ein Faktor eingetreten, dessen Auswirkungen
unübersehbar sind. Schon oft in der Geschichte schien die deutsche
Stellung dort oben am Ostseestrand verloren. Wenn überkommene
baltische Zähigkeit und gesamtdeutsches Wollen sich wirklich vereinen und
durchdringen, dann braucht die Darstellung, die hier vom baltischen Land und
seinen deutschen Bewohnern gegeben wurde,
nicht - eine bloße geschichtliche Darstellung zu werden.
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