[281]
Die echten deutschen Minderheitsgebiete (Teil
3)
Das Deutschtum in Estland
Das Jahr der deutschen Okkupation, 1918, bedeutete auch in Estland soviel wie
ein letztes Wiederaufleben der alten Zeit. Nachdem die deutschen Truppen
abgezogen waren, drangen russische bolschewistische Banden bis in die
Nähe von Reval vor. Zu den ersten Verteidigern der Heimatscholle
|
gehörte auch das estländische freiwillige deutsche Baltenregiment.
Nachdem es der estnischen Regierung mit Hilfe baltischer und
finnländischer Freiwilliger gelungen war, die mörderischen Banden
der Bolschewisten über die Grenze nach Rußland
zurückzuwerfen, woher sie gekommen
waren - in Wesenberg, Dorpat und Narva hatten sie grausame
Blutbäder angerichtet -, ging die estnische Nationalversammlung an
den formellen Ausbau der Staatsordnung. Dabei handelte es sich auch um die
Schicksalsfrage der Deutschen, zum mindesten nach der Seite ihres Besitzes
hin.
Gleich zu den ersten Staatsgesetzen gehörten das Gesetz über die
Agrarreform und das Gesetz über die Aufhebung der Stände. Das
Agrargesetz sollte, ebenso wie in Lettland, die bisherige wirtschaftliche Basis des
Deutschtums vernichten. "Wenn man ein Tier töten will, so bricht man sein
Rückgrat", äußerte der estnische Abgeordnete Weiler, als dies
Gesetz in der konstituierenden Versammlung angenommen wurde. Der erste
kürzere Teil des Gesetzes redet von der Aufhebung der Stände und
ihrer Privilegien; seinen eigentlichen Sinn aber ersieht man aus dem
umfangreichen zweiten Teile. Hier ist zunächst die Rede von der
Verstaatlichung alles ständischen Eigentums, einschließlich aller
Stiftungen. Laut diesem Gesetz wurden vor allem die der Ritterschaften von
Estland und Nordlivland gehörigen Güter und sonstigen Immobilien
mit ihrem Inventar konfisziert. Die baltischen Ritterschaften hatten zwar schon in
der russischen Zeit ihre offiziellen Funktionen in der Verwaltung des Landes
verloren, bestanden aber als anerkannte Standesvertretungen des
Großgrundbesitzes (des adligen wie des bürgerlichen) in den drei
Provinzen fort. Das Revaler Ritterhaus wurde dem estländischen
Außenministerium übergeben. Aus den Gebäuden des der
Ritterschaft gehörigen deutschen Landesgymnasiums zu Fellin in
Nordlivland wurden die deutschen Schüler und Lehrer ausgewiesen und die
Räume estnischen Schulen zur Verfügung gestellt.
Außerordentlich war die Brutalität der Esten bei der
Übernahme der Stiftungen. Auf der Insel Ösel gab es ein Stift
für adlige Fräulein, eine Zweckschenkung der Familie von
Bartholomäi. Haus und Gut der Stiftung wurden konfisziert, den
Stiftsdamen nahm man ihre Bett- und Tisch- [282] wäsche und ihr
Tafelsilber ab und überführte sie in ein estnisches Dorfarmenhaus.
Wie dort die Zustände waren, mag daraus entnommen werden, daß
nach einiger Zeit die alten Fräulein zur Entlausung nach der Stadt
Arensburg gebracht werden mußten. Ein ähnliches Schicksal hatten
die Damen des Felliner adligen Fräuleinstiftes. Unter dem Vorwand, es
handele sich um öffentliche Stiftungen, versuchte und versucht auch heute
noch die estnische Regierung, ihre Hand auch nach anderen deutschen
Institutionen auszustrecken.
Das Landgesetz vom 10. Oktober 1919 ist unter allen Agrargesetzen der
Nachkriegszeit das radikalste. Es enteignete den gesamten privaten
Großgrundbesitz; es ließ den Gutsbesitzern kein Restgut; es nahm
ihnen das Land, das Wohnhaus, das landwirtschaftliche Inventar, und es beraubte
sie der Möglichkeit, ihren gewohnten und angestammten Beruf
auszuüben. Zweck der Enteignung war es, wie in Lettland, einen
"staatlichen Landfonds" zu schaffen. Von der Enteignung ausgenommen wurden
nur Ländereien, die kommunalen Verbänden oder wohltätigen
und wissenschaftlichen Einrichtungen gehörten; ferner Kirchhöfe,
Kirchen- und Klosterboden und von Kirchenländereien das Inventar. Der
kleine Grundbesitz unterlag nicht der Enteignung, jedoch mit einer sehr
charakteristischen Ausnahme: wenn ein Hof, der nicht Rittergut war, einem
Rittergutsbesitzer gehörte, so wurde er auch enteignet. Alle Rechte, die mit
dem enteigneten Grundbesitz verknüpft sind, gehen auf den Staat
über, die Pflichten jedoch nur in beschränktem Umfange. Die
Zahlung von Entschädigung für die enteigneten Ländereien
wurde einem Sondergesetz vorbehalten. Hauptverwendungszweck des zu
bildenden staatlichen Landfonds ist die Vergebung zu erblicher
landwirtschaftlicher Nutzung in Form von kleinen Wirtschaften, also die
Aufteilung. Die Wälder werden nicht aufgeteilt, sie bleiben Staatseigentum.
Bei der Aufteilung haben Teilnehmer am Kampfe gegen Sowjetrußland ein
Vorzugsrecht.
Die Bedeutung, die dieses Landgesetz überhaupt und besonders für
die deutschbaltische Minderheit hat, ergibt sich, wenn man sich den Zustand vor
Augen hält, den die agrare Struktur vor dem Landgesetz hatte. Es gab auch
in Estland zwei Gruppen ländlichen Grundbesitzes: die Rittergüter,
den Großgrundbesitz, und die Bauernhöfe, den Kleingrundbesitz.
Eine Mittelstufe, sogenannte Landstellen, war gering an Zahl und Umfang. Auf
den Großgrundbesitz, zu dem hier die Landstellen hinzugerechnet sind,
entfielen 2 428 087 ha (= 57,9%) und auf den
Kleingrundbesitz 1 761 015 ha (= 42,1%). Ein
richtiges Bild der Grundbesitzverteilung erhält man jedoch erst, wenn man
die Art der Nutzung des Landes berücksichtigt. Da zeigt es sich, daß
der größte Teil der Wälder und der in Estland noch recht
verbreiteten Moore zum Großgrundbesitz gehörte. Das eigentliche
Kulturland aber, die Äcker, Wiesen und Weiden, gehörten zum
größeren Teile dem Kleingrundbesitz. Die Verteilung der
Nutzungsarten war folgende:
[283]
|
Großgrundbesitz |
Kleingrundbesitz |
Landwirtschaftliches Kulturland |
1 158 114 ha |
47,9% |
1 558 484 ha |
88,5% |
Wald |
743 964 ha |
30,5% |
98 471 ha |
5,6% |
Moor und Ödland |
525 609 ha |
21,6% |
104 060 ha |
5,9% |
Aber das Bild verschiebt sich noch mehr zugunsten der Kleinwirtschaft. Denn die
Großgrundbesitzer bewirtschafteten nicht ihren gesamten Besitz selbst,
sondern hatten einen bedeutenden Teil als kleine Bauernhöfe dauernd und
langfristig verpachtet. Dieses Pachtland umfaßte 557 015 ha,
darunter landwirtschaftliches Kulturland 471 818 ha. Gewiß,
die Pachthöfe waren nicht Eigentum der Pächter, nicht kleiner
Grundbesitz, aber doch Kleinwirtschaft. Für den eigentlichen
landwirtschaftlichen Großbetrieb verblieben nur 686 696 ha.
Faßt man beide Gruppen der Kleinwirtschaft, das Eigentum und die Pacht,
zusammen und stellt sie der Großwirtschaft gegenüber, so ergibt sich,
daß vom landwirtschaftlichen Kulturlande entfielen:
Kleinwirtschaft |
2 030 302 ha |
Großwirtschaft |
686 696 ha. |
Das bedeutet, daß von dem landwirtschaftlich genutzten Lande schon vor
dem Landgesetz rund drei Viertel Kleinwirtschaft waren und nur ein Viertel
Großwirtschaft. Estland war also keineswegs ein Land mit vorherrschendem
Großbetriebe in der Landwirtschaft. Dabei ging die Tendenz auch ohne
Zwangsmaßregeln in der Richtung der Zunahme des kleinen Grundbesitzes
auf Kosten des großen. Die Großgrundbesitzer haben diesem
Entwicklungsgange keinen Widerstand geleistet, und sie waren nach dem Kriege,
als das lebhafte Verlangen nach mehr Kleingrundbesitz auftrat, freiwillig bereit,
der Schaffung neuer Siedlungen entgegenzukommen. Sie stellten in der
Konstituierenden Versammlung den Antrag, ein Drittel ihres Kulturlandes der
Siedlung zur Verfügung zu stellen, freilich nicht entschädigungslos.
Über diesen Antrag ging die Versammlung, die alles wollte, hinweg, ohne
zu erkennen, daß das wahre Staatsinteresse die Erhaltung des
lebenstüchtigen Großgrundbesitzes verlangte.
Wie sehr gerade die deutsch-baltische Minderheit durch das Landgesetz betroffen
worden ist, zeigen die Tatsachen. Der private Großgrundbesitz, der
enteignet wurde, umfaßte 1 934 679 ha. Nach dem
Volkstum der Eigentümer verteilt sich dieses Land
folgendermaßen:
Deutsch-Balten |
1 672 600 ha |
86,5% |
Russen |
53 825 ha |
2,8% |
Ausländer |
124 340 ha |
6,4% |
Esten |
83 914 ha |
4,3% |
Die Enteignung war also tatsächlich eine Gewaltmaßnahme gegen die
deutsch-baltische Minderheit, um ihr "das Rückgrat zu zerbrechen".
[284] Die weltüblichen
Enteignungsgrundsätze verlangen, daß der Enteignung eine
Entschädigung vorangeht und daß diese Entschädigung dem
Wert des enteigneten Objekts gleichkommt. Das estländische Landgesetz
verfuhr anders: es stellte eine Entschädigung bloß in Aussicht.
Tatsächlich ist bisher keine Entschädigung geleistet worden, weder
als Kapital noch als Zinsen, wohl aber ist von denjenigen Gutsbesitzern, die ihre
Güter noch eine kurze Zeit bis zur Aufteilung bewirtschafteten, die Zahlung
einer Pacht verlangt worden. Erst am 9. Oktober 1925, fast genau sechs Jahre
nach dem Erscheinen des Landgesetzes, hat die Regierung dem Parlament den
Entwurf eines Entschädigungsgesetzes vorgelegt. Dieser Entwurf versucht
auf künstliche Weise, die Entschädigung bis zu einem Minimum
herabzudrücken. Das geschieht unter anderem dadurch, daß der Wert
des Landes sehr gering angenommen wird, dagegen die Grundbuchschulden zum
vollen Vorkriegswert in Abzug gebracht werden. Der Landwert wird nach einer
Vorkriegsschätzung, die in russischen Rubeln ausgedrückt war,
berechnet, auch die Grundbuchschulden lauten auf Rubel. Es war also
erforderlich, den russischen Rubel in estländische Mark umzurechnen. Die
Regierung dekretiert, daß 20 estländische Mark einem Rubel
entsprechen. Durch diesen viel zu geringen Umrechnungssatz geht die
Entschädigung tatsächlich verloren. Nach dem Börsenkurse
der Gegenwart ist ein Goldrubel 190 estnische Mark wert, nicht 20. Der Entwurf
aber geht davon aus, daß nicht der Wert des Rubels zu dem Zeitpunkt, an
dem die Entschädigung gezahlt wird, maßgebend sein soll, sondern
der Wert des Jahres 1919. Aber auch damals, als das Landgesetz erlassen wurde,
war der Goldrubel wenigstens 70 estländische Mark wert; seitdem hat die
estländische Valuta eine Inflation durchlebt, die zu weiterer
Wertverringerung geführt hat. Aus der Begründung des
Regierungsentwurfs geht hervor, daß die gesamte
Entschädigungssumme 625 337 881 estländische Mark
betragen soll. In Rubeln umgerechnet (zu 190 Mark für einen Rubel) macht
das ca. 3 Millionen Rubel aus, was etwa 3% des vorhin angegebenen
Kapitalwerts der enteigneten Güter entspricht. Die gesamte
Entschädigung käme also nicht einmal dem Ertrage eines Jahres vor
dem Kriege gleich. Diese verschwindend kleine Entschädigungssumme soll
im Laufe von sechzig Jahren gezahlt werden. Die estländische Agrarreform
hat den Ertrag der Landwirtschaft herabgedrückt, aber dennoch erzielt der
Staat von dem enteigneten Lande schon in einem Jahre annähernd so viel,
wie die Entschädigungssumme betragen soll. Welche Stellung das
Parlament zu diesem Plane annehmen wird, ist zur Zeit noch nicht bekannt; die
Entschädigungsberechtigten lehnen ihn vollkommen ab. Bei Annahme des
Entwurfs würde es sich tatsächlich gar nicht um eine
Entschädigung handeln, sondern um eine Geste. Man will sagen
können, daß eine Entschädigung gezahlt wird, und hofft,
daß das nicht orientierte Ausland, von dem der Kredit Estlands doch sehr
abhängt, nicht näher nachprüfen wird.
Das estländische Landgesetz ist von seinen Anhängern damit
begründet worden, daß es eine sozialpolitische Notwendigkeit sei:
der Großgrundbesitz müsse aufgeteilt [285] werden, um an die
Stelle der wenigen Gutsbesitzer eine große Zahl selbständiger
Bauern zu setzen. Dieser Grundgedanke deckt sich aber nicht mit der
Wirklichkeit.
Insgesamt wurden 2 346 949 ha enteignet. Davon
waren |
Privateigentum |
1 934 678 |
ha |
82,5% |
Domänen des russischen Staates |
239 518 |
" |
10,2% |
Eigentum der russischen Bauernagrarbank |
67 052 |
" |
2,9% |
Eigentum der Kirchen |
54 137 |
" |
2,3% |
Ständisches Eigentum |
51 109 |
" |
2,1% |
|
|
|
2 346 494 |
ha |
100% |
Von diesen 2 346 494 ha waren: |
zur Aufteilung bestimmt |
663 699 |
ha |
28,3% |
schon früher bestehende kleine Bauernhöfe,
die von den Gutsbesitzern verpachtet waren |
540 752 |
" |
23,0% |
zur Verwaltung durch den Staat bestimmt
(Wälder, Moore, aber auch Nutzland) |
1 142 043 |
" |
48,7% |
Dem sozialen Siedlungszwecke sollen also eigentlich nur 28,3% des enteigneten
Landes dienen. Die schon vorhandenen Pachthöfe auf den Gütern
(23%) brauchten nicht erst enteignet zu werden, um Kleinwirtschaften zu werden;
sie waren es schon. Es konnte in Frage kommen, durch einen gesetzgeberischen
Akt dieses Pachtverhältnis in Eigentum zu verwandeln. Der
Verkäufer wäre dann der Gutsbesitzer gewesen; die Kaufsumme
wäre ihm zugefallen. Durch die Enteignung aber ist der Staat der
Pacht- und Kaufpreisempfänger geworden. Die große Menge von
Ländereien, die in der direkten Verwaltung des Staates bleiben soll
(48,7%), beweist deutlich, wie sehr ein fiskalischer Zweck im Vordergrunde
stand.
Ohne Frage ist das estländische Landgesetz ebenso wie das
lettländische eine Verletzung des Minderheitenrechtes. Nach Aufnahme in
den Völkerbund hat Estland ausdrücklich anerkannt, daß es
den Schutz der Minderheiten gemäß den allgemein hierüber
aufgestellten Grundsätzen zu gewährleisten habe. Ganz besonders
wurde dabei die Gleichheit vor dem Gesetz betont; gerade diesen Grundsatz aber
hat das Landgesetz gebrochen. Auf estnischer Seite wird das Gesetz damit
verfochten, daß es eine soziale Notwendigkeit sei. Die geschilderten
Verhältnisse rechtfertigen aber diese Auffassung nicht. Außer den
"sozialen" Argumenten sind politische für die Notwendigkeit der
Enteignung angeführt worden, z. B. daß die Gutsbesitzer als
Nicht-Esten dem neuentstandenen estnischen Staate feindlich gesinnt gewesen
seien. Deutsche wie Esten haben aber in den letzten Jahrzehnten der
Zugehörigkeit zu Rußland gleichermaßen unter der brutalen
Politik der Russifizierung zu leiden gehabt. Nach dem Zusammenbruch
Deutschlands und dem Aufhören der Okkupation in den baltischen
Provinzen war es allen Deutsch-Balten klar, daß für Lettland wie
für Estland die Zeit staatlicher Sonderexistenz gekommen sei, und auch die
estländischen Deutschen [286] waren bereit, am
Aufbau des neuen Staates teilzunehmen. Sie haben diesen Willen mit den Waffen
in der Hand im Kriege Estlands gegen Sowjetrußland bewährt.
Eine wirtschaftliche Notwendigkeit war die Agrarreform gar nicht. Auch ihre
Anhänger geben zu, daß die Betriebsumstellung für lange
Dauer einen Ertragsrückgang bewirken muß. Eine andere Folge
dauernder Art sind die Wertzerstörungen auf den Gütern gewesen.
Die Baulichkeiten waren für den Großbetrieb eingerichtet; sie sind
meist für die Kleinwirtschaft nicht zu brauchen, viele Gebäude sind
schon jetzt, nachdem erst wenige Jahre vergangen sind, in Verfall geraten; viele
sind abgetragen worden. Zahlreiche Maschinen und Geräte, die nur in der
Großwirtschaft Verwendung finden konnten, sind wertlos geworden. Die
umfassenden Bodenverbesserungen, wie Moorentwässerungen und
Drainagen, welche die Gutsbesitzer ausgeführt hatten, können in der
Zersplitterung nicht aufrechterhalten werden. Von den hochgezüchteten
Rindviehherden der Güter sind schon jetzt nur noch geringe Reste
vorhanden. Der frühere landwirtschaftliche Großbetrieb arbeitete
mehr für den Markt, für die Versorgung der städtischen
Bevölkerung, als die Kleinwirtschaft. Die Folge ist gestiegener
Getreideimport und ungünstige Beeinflussung der Handelsbilanz.
Das Deutsch-Baltentum ist schwer betroffen; aber es will nicht dulden, sondern
kämpfen, es will die Bodenständigkeit zurückverlangen. Den
Geschädigten genügt keine Geldentschädigung, auch wenn sie
wirklich gezahlt werden sollte. Sie wollen das Land zurück, das ihnen
genommen ist, sei es auch nur zu einem Teil. Zurückerstattet werden kann
das Land, das für die Siedlung nicht notwendig ist, die Wälder, die
Moore, die technischen Betriebe, die nichtlandwirtschaftlichen Gebäude
und die Wohnstätten. An Kulturland ist nach der Aufteilung nur noch
wenig da. Aber auch dieses wenige, wenn es zurückgegeben wird, kann den
Grundstock bilden, von dem aus die Bewirtschaftung des übrigen und die
Urbarmachung der Moore vor sich gehen kann. Der Besitz, der so entstehen kann,
wird nicht leicht zu verwalten sein. Harte Pionierarbeit wird es sein, wieder festen
Fuß zu fassen. Der Wille ist da.
Zur Politik der estnischen Regierung gehört es weiter, den Balten, die
während der Zeit des Bolschewistenterrors aus dem Lande hatten fliehen
müssen, die Rückkehr und den Erwerb der estländischen
Staatsbürgerschaft zu erschweren oder unmöglich zu machen. Ein
raffiniert ausgedachtes Vereinsgesetz bietet weiter die Handhabe, das deutsche
Vereinswesen niederzudrücken und seiner vorhandenen
Vermögenswerte zu berauben. Agrargesetz, Ständegesetz,
Vereinsgesetz und Bürgerschaftsgesetz sind sämtlich als Mittel
gedacht, das Deutschtum zu schwächen, sei es dem Besitz, sei es der Zahl
nach. Denselben Zweck verfolgt das Kirchengesetz. Die meisten
Staatsangehörigen der Republik Estland gehören zur
evangelisch-lutherischen Kirche. Diese wurde zur russischen Zeit durch ein
Generalkonsistorium in Petersburg unter Aufsicht des Ministeriums des Innern
verwaltet. Mit der Entstehung des estländischen Staatswesens
übernahm das estländische Innenministerium die früheren
russischen Funktionen. Den deutschen Kirchengemeinden kam es darauf an, ihr
Ge- [287] meindeleben nach
ihren eigenen geistlichen Bedürfnissen zu regeln. Es gelang ihnen, sich zu
einem eigenen deutschen Propstbezirk zusammenzuschließen, der nicht
territorial gebunden ist. Zu dem Bezirke gehören neun rein deutsche
Gemeinden in den Städten Reval, Dorpat, Narwa, Pernau und der deutschen
Kolonie Wustel bei Werro in Nordlivland. An anderen Orten im Lande gibt es
auch kleinere deutsche Gemeinden, die gemeinsam mit einer estnischen
Gemeinde ein und dieselbe Kirche benutzen, die meist nachweislich von der
deutschen Gemeinde erbaut worden ist. Diesen kleinen deutschen Gemeinden
verweigert das estländische Konsistorium den Anschluß an den
deutschen Propstbezirk und erklärt sie für nicht bestehend, obgleich
sie seit Jahrhunderten nachweisbar sind und das Konsistorium selbst früher
mit ihnen in Schriftwechsel gestanden und Kirchensteuern von ihnen
entgegengenommen hat. Die Motive liegen auf der Hand: man hofft, durch das
Erdrücken der kleinen deutschen Gemeinden das Deutschtum zu
schwächen und gleichzeitig die Kirchen als estländischen
Gemeindebesitz zu erklären.
[268a]
Narwa, Portal eines deutschen
Bürgerhauses.
|
|
[268a]
Narwa, Marktplatz. |
Der empfindlichste Schlag, der dem deutschen Kirchenwesen in Estland bisher
geschah, war aber die Enteignung der deutschen Domkirche in
Reval - ein Seitenstück zur Fortnahme der Jakobikirche in Riga. War
es dort die katholische Kirche, der ein Gefallen geschehen sollte, so hier der
estnische evangelische Bischof Kukk. Dieser wünschte sich eine eigene
Bischofskirche. Es hätte nichts im Wege gestanden, ihm eine solche zu
erbauen, aber es erschien einfacher, einer deutschen Gemeinde eine Kirche
fortzunehmen. Zuerst sollte es die große deutsche St. Olaikirche in
Reval sein, die man auf dem Wege der Zwangsenteignung dem Bischof
übergeben wollte. Durch eine machtvolle Protestversammlung der
deutschen Gemeinde gelang es ihr, die Kirche zu retten. Da
traf - am Tage nach der Annahme des Gesetzes über die kulturelle
Selbstverwaltung der Minoritäten durch das estländische
Parlament - am 6. Februar 1925 die vom Innenministerium verhängte
Enteignung der Domkirche das Deutschtum in Estland als unerwarteter Schlag.
Die Enteignung rief auch im Auslande starke Erregung hervor. Alle
ausländischen Pressestimmen haben mit richtigem Takt das Hauptgewicht
auf die Verletzung der religiösen Empfindungen der Gemeinde gelegt. Es
ist bezeichnend, daß bei allen in dieser Frage geführten
Verhandlungen weder der estnische Bischof Kukk noch die Staatsregierung das
geringste Verständnis dafür zeigte, daß es sich hier um ein
religiöses Heiligtum des Deutschtums handelt und um die letzte
Zufluchtsstätte der vielen vom Lande vertriebenen deutschen Familien,
denen nicht nur die Wohnstätten genommen wurden, sondern deren
Erbbegräbnisse vielfach geschändet und verwüstet worden
sind.
Obgleich das von der konstituierenden Versammlung angenommene Grundgesetz
die Schaffung autonomer Einrichtungen für den Schutz von
Kulturinteressen der Minderheiten vorsah, gelang es erst nach langem Ringen, die
Verwirklichung [288] dieser Zusage durch
das Gesetz über die kulturelle Selbstverwaltung der Minderheiten vom 5.
Februar 1925 zu erhalten. Über dieses Autonomiegesetz wird noch etwas
genauer zu handeln sein. Vorweg muß anerkannt werden, daß sich der
estländische Staat von seiner Begründung an auf demjenigen
Gebiete, das für die Minderheiten am wichtigsten ist, dem der Schule, auf
den Standpunkt des Unterrichts in der Muttersprache gestellt hat. Das
Elementarschulgesetz schreibt den Gemeinden vor, daß für eine
Minderheit aus öffentlichen Mitteln eine Schulklasse mit einem Lehrer zu
eröffnen ist, wenn sich von ihr zwanzig schulpflichtige Kinder an einem
Orte befinden. Das Gesetz über die Mittelschulen verpflichtet die
Gemeinden ebenso, bei einer entsprechenden Anzahl von Schülern eine
öffentliche Minderheits-Mittelschule zu eröffnen. Im
estländischen Schulwesen gilt das Prinzip der Einheitsschule auf einer
sechs Schuljahre umfassenden Unterstufe. Auf dieser baut sich dann die
fünfjährige höhere Schule auf, die Mittelschule genannt wird
und sich in ihren letzten Jahrgängen in verschiedene Zweige gabeln kann.
Auf Grund dieser Schulgesetze bestehen denn auch in Reval an öffentlichen
deutschen Schulen eine Elementarschule, ein Knaben- und ein
Mädchenrealgymnasium, in Dorpat eine Elementarschule und ein für
Knaben und Mädchen gemeinsames Realgymnasium, sowie in der einzigen
deutschen Bauernkolonie Estlands eine deutsche Elementarschule.
Auf Grund des starken Kulturbedürfnisses und der Opferbereitwilligkeit
des estländischen Deutschtums ist die Gesamtzahl der deutschen
Privatschulen in Estland - es sind ihrer
fünfundzwanzig - weit größer als die der
öffentlichen deutschen Schulen. Zur Zeit der Wirren und des Krieges wurde
das deutsche Schulwesen größtenteils durch das
Pflichtbewußtsein und den Opfermut der fast ohne Entgelt arbeitenden
deutschen Lehrerschaft erhalten. Im Jahre 1919 wurde der "Verein deutscher
Schulhilfe" gegründet, der durch seine Ortsgruppen allmählich alle
privaten deutschen Schulen in Estland umfaßte. Die "Schulhilfe"
veranstaltet jährlich eine große Schulsammlung über das ganze
Land. Um das deutsche Schulwesen einheitlicher zu gestalten, wurde ein eigenes
Schulamt mit einem deutschen Schulrat gegründet. Jede Ortsgruppe hat im
Prinzip für ihre Schulen aufzukommen; bleibt eine Differenz zwischen
Schulgeld und Lehrergehältern, so wird diese von der Zentralkasse der
deutschen Schulhilfe gedeckt.
Die deutschen Organisationen und Vereine des Landes, darunter auch die
deutsche Schulhilfe, sind fast sämtlich in dem "Verband der deutschen
Vereine" zusammengeschlossen. Der Verband unterstützt das deutsche
Kultur- und Wohlfahrtswesen durch Zuführung von Spenden und durch
wirtschaftliche und rechtliche Beratung. Auf diesem Wege hat er seine
größten Erfolge erzielt. Seine Mittel schöpft der Verband aus
einer freiwilligen Selbstbesteuerung der größeren deutschen
Unternehmungen, industrieller und allgemein geschäftlicher,
während die daneben bestehende Sammlung der Schulhilfe an jeden
einzelnen Deutschen herangeht.
Der Verband der Vereine hat in jeder Stadt des Landes seine
Vertrauensver- [289] tretung und in Reval
ein Hauptsekretariat, das nicht nur die Zentrale für die wirtschaftliche
Beratung ist, sondern auch Stellen vermittelt, berufliche Aufklärungen gibt
und zu Informationszwecken dient. Zur Betreuung des Kulturwesens, im
besonderen der Büchereien, des Lichtbild- und Filmdienstes wie auch des
Vortragswesens, der Theater- und Musikaufführungen arbeitet beim
Vorstande des Verbandes ein Kulturamt, dessen Organ die
Halbmonatsschrift Aus deutscher Geistesarbeit bildet. Auch liegt es im
Bestreben des Verbandes, die Jugendfragen von einer Zentrale aus zu bearbeiten.
Kommt es doch vor allem darauf an, die schulentlassene Jugend in Organisationen
zu fassen und dem deutschen Volkstum zu erhalten. Ein besonderes Gebiet des
Verbandes bildet die Studentenfürsorge.
Von den kulturellen Vereinen, die dem Verbande angehören, sei die rein
wissenschaftlich arbeitende "Estländische Literarische Gesellschaft"
hervorgehoben, die eine eigene Zeitschrift, Beiträge zur Kunde
Estlands, herausgibt. Der sehr tätige "Estländische deutsche
Frauenverband" mit seinen Ortsgruppen leistet hervorragendes in der
Werbe- und Aufklärungsarbeit in Schule und Haus, Kinderfürsorge,
weiblicher Berufsberatung, Fortbildung, Bibliothekswesen und vornehmer
baltischer Geselligkeit. Der "Deutsche Lehrerverband" beschäftigt sich mit
pädagogischen Sachfragen. Zu erwähnen sind auch die
größten deutschen Krankenhäuser - die
Diakonissenanstalt in Reval und die "Mellinsche Klinik" mit Schwesternschule in
Dorpat. Das deutsche Lied und die Musik wird von den großen
Gesangvereinen in Reval (Männergesangverein, Liedertafel usw.)
und anderen Orten mit größter Liebe gepflegt. Den deutschen Sport
betreiben mit glänzendem Erfolge der Estländische Seejachtklub und
der Estländische Lawntennisklub, wie auch die
Turn- und Rudervereine.
Um das durch die Aufhebung der Zünfte in Verfall geratene deutsche
Handwerk neu aufzubauen, wurde vom Verband der Vereine der deutsche
Gewerbeverein ins Leben gerufen. Durch Schaffung von besonderen
Handwerksstipendien soll den deutschen Lehrlingen das Erlernen des Handwerks
bei deutschen Meistern ermöglicht werden.
[268b]
Dorpat, Universität.
[268b]
Dorpat, Chor der Domruine (Universitätsbibliothek).
|
Die deutsche Schule kann die deutsche Jugend nur bis zur Hochschule
führen. Diese ist undeutsch. Die Tradition der alten Dorpater
Universität ist gebrochen, wenn auch noch gegenwärtig 30
Professoren deutsch lesen, da entsprechende estnische Gelehrte noch nicht
vorhanden sind. Dazu kommen etwa 15 russische, schwedische, finnische und
ungarische Professoren; auch unterhält der französische Staat auf
seine Kosten eine französische Professur in Dorpat. Von den 529
deutsch-baltischen Studenten Estlands im Vorjahre studierten in Dorpat 330,
gegen 199 in Deutschland und in Österreich. Da Estland nur ein Technikum
besitzt, müssen die technischen Fächer in ausländischen
Hochschulen erlernt werden. Ernste Sorgen bereitet das Finden eines Broterwerbs
im Lande für die akademischen Berufe, da bei der geringen
Bevölkerungszahl von 1 113 000 Einwohnern sich wenig
Lebensmöglichkeiten für sie bieten. Um den deutschen Studenten
einigen Ersatz deutschen wissenschaftlichen [290] Geistes zu bieten,
werden vom Kulturamt des Deutschen Verbandes vom Herbst dieses Jahres an
Hochschulkurse reichsdeutscher Professoren ins Leben gerufen. Auch ist
für sie eine zentrale Bibliothek und ein reicher Lesetisch gegründet
worden.
Die wirtschaftliche Lage des Deutschtums hat bei der Begründung des
estländischen Staates schwer gelitten. Die Verstaatlichung des
Großgrundbesitzes entzog dem Deutschtum nicht nur die
Bodenständigkeit, sondern auch die bisherige wirtschaftliche Basis. Die
Hochkonjunktur des Transits nach Rußland in den ersten Jahren der
Republik hatte ein gewisses Gründertum gezeitigt, das von der Regierung
durch Darlehen aus der Staatskasse gestützt wurde. Der Sturz der
estnischen Mark zwang aber zur Sperrung. Zusammenbrüche auf estnischer
Seite waren die Folge, während die deutschen Unternehmungen, die sich
mit eigener Kraft durchgerungen hatten, trotz manchen durch die Wirtschaftslage
bedingten Abbaues bestehen blieben. Die Folge war eine gegen das deutsche
Wirtschaftsleben einsetzende Hetze der estnischen Presse. Man wollte in dem
Umstande, daß sich die deutschen Geschäfte erhielten, geradezu ein
moralisches Verbrechen sehen. Charakteristisch ist der Ausspruch des bekannten
estnischen Generals Laidoner während der Debatten über das
Autonomiegesetz: "Wir versuchten, das Deutschtum wirtschaftlich und kulturell
zu brechen; wir müssen aber gestehen, daß uns dieses nicht gelungen
ist."
Politisch bildet das Deutschtum Estlands eine geschlossene Gruppe ohne
Parteizersplitterung. In dem ersten verfassungsmäßig
gewählten estnischen Parlament, 1920, erhielten die Deutschen vier Sitze;
im zweiten, das 1923 gewählt wurde, nur drei. Die kleine deutsche Fraktion
ist in der parlamentarischen Arbeit sehr tätig. Ihr Kampf gegen das
Agrargesetz war vergeblich, der für das Autonomiegesetz von
Erfolg gekrönt. Wenn eine nationale Gruppe im Staate den Wunsch und die
Eignung zu einem nationalen Eigenleben, ihre Organisationsbedürftigkeit
und ihre Organisationsbefähigung in ihrer Geschlossenheit nachzuweisen in
der Lage ist, so ist das Gegebene, daß ihr kulturelles Leben in der
Verwaltung, in der Organisation und in der Überwachung aus der Hand des
Staates in die Hand der staatsrechtlich organisierten Minorität selber
übergeht und die nationale Gruppe die Selbstverwaltung als
öffentliches Recht erhält. Ihre Organe greifen als behördliche
amtliche Stellen zahnradmäßig in das Getriebe des Staates ein, dessen
ministeriellen Organen das Aufsichtsrecht zusteht. Das etwa ist kurz umrissen der
Gehalt des estländischen Gesetzes vom Februar 1925. In der
"Kultur-Autonomie" gipfeln sein Sinn und sein Wert für
Minoritäten- und Mehrheitsvolk. Im November 1925 trat der erste deutsche
Kulturrat in Estland nach erfolgtem Wahlgang in Reval zusammen. Die Wahlen
hatten nach territorialen Wahlkreisen stattzufinden, damit der Kulturrat die
Versammlung der örtlichen Vertreter darstellt. Hierdurch wird ein
natürliches Band zwischen dem Zentrum und den örtlichen Gruppen
geschaffen, besonders da die einzelnen Vertreter im Kulturrat innerhalb ihres
Wahlbezirks das örtliche
Kultur-Kuratorium bilden: Exekutiv-Organe der Kulturverwaltung zwecks
Durchführung [291] einer
zweckentsprechenden Dezentralisation und Wahrung der örtlichen
individuellen Interessengebiete in der Vorarbeit und der Verwirklichung von
einzelnen Bestimmungen. Der deutsche Kulturrat in Estland beschloß, die
kulturelle Selbstverwaltung zu verwirklichen, das deutsche kulturelle Leben
(private und öffentliche Schulen aller Typen, Museumspflege,
Theaterwesen, Vortragswesen und dergleichen mehr kulturelle Aufgaben) auf die
Grundlage des staatsrechtlichen Neulandes überzuführen, die Leitung
und Verantwortung für diese neuen Gebiete in eigene Hand zu nehmen.
Zug um Zug erfolgte dann die Überleitung der einzelnen
Verwaltungsgebiete aus den Händen der privaten Vereine und vor allem
aus den Händen der staatlichen Institutionen in die Hände der
Kulturverwaltung.
Gleich von vornherein wurde der Beweis erbracht, daß die nötige
nationale Disziplin, und damit die Organisationsfähigkeit vorhanden war,
indem sich rund 100% der estländischen Deutschen in der Grundlage des
ad hoc veranlagten Nationalregisters zu ihrem Volkstum und damit
sich selbst als Träger ihres national-kulturellen Eigenrechts und gewisser
staatsamtlicher Pflichten bekannten. Auch die weiteren Examina, wenn man so
sagen darf, wurden gut bestanden: die mehr als 50prozentige Wahlbeteiligung bei
den Kulturratswahlen und die einmütige Verwirklichung der
Beschlüsse. Es sei hier - dieses wird häufig
vergessen - der Grundsatz erwähnt, daß der Staat, bevor er sich
von einer seiner wichtigsten Pflichten, der Schulorganisation und Verwaltung,
zugunsten einer nichtterritorialen, auf Personalrecht basierten Selbstverwaltung
trennt, selbstverständlicherweise den Nachweis fordern muß,
daß er seine Obliegenheiten in die richtigen Hände legt. Deswegen
muß der Kulturrat die Mehrheit der Angehörigen der betreffenden
Volksgruppen hinter sich haben, deshalb muß die Leitung in der Hand von
Männern des nachgewiesenen Vertrauens liegen. Keine völkische
Minorität ist ohne eine zentralistische, einem Kuppelbau zu vergleichende
Organisation imstande, ihre kulturellen Aufgaben zu regeln. Der Staat ist daran
interessiert, daß diese Organisation sich nicht im Gegensatz zu staatlichen
Interessen betätigt und nicht abseits vom Staatsorganismus stehend einen
Staat im Staate darstellt. Beispiele solcher Organisationen haben sich zumeist in
denjenigen Staaten gezeigt, wo sich die Minoritäten mit Recht kulturell
bedrückt und verfolgt fühlten. Die
öffentlich-rechtliche Selbstverwaltung trägt in ganz anderem
Maße die Verantwortung wie ein privater Verein und nimmt dem Staate
Pflichten ab, welche dieser durch beamtete Personen des Mehrheitsvolkes
begreiflicherweise nicht in genügendem Maße zu erfüllen in
der Lage ist. Die ersten Aufgaben, an die der Deutsche Kulturrat in Estland
herantrat, lassen sich in folgendem umreißen: Wahl des Präsidenten
der Verwaltung der örtlichen Kultur-Kuratorien und der einzelnen
Ämter (Kulturamt, Finanzamt, Ausschüsse usw.); Festsetzung
der Tätigkeitsbezirke für die einzelnen territorialen Kreise der
Kultur-Kuratorien; Geschäftsordnung für den Rat und
Verwaltungsausbau und ordnungsmäßige Regelung des
Nationalregisters; Schaffung der nötigen Grundlage für die Erhebung
der [292] Kultursteuern;
Überleitung der Schulen, die bisher dreizehn verschiedenen estnischen
kommunalen Schulämtern unterstellt waren, in die Verwaltung des
deutschen Schulamts und dergleichen mehr.
Der Staat und die Kommunalverwaltungen sind gehalten, der deutschen
Selbstverwaltung für die zu ihr gehörigen Schüler
(Nationalregister) nicht weniger Mittel jeglicher Art zur Verfügung zu
stellen, als dies auf Grund der allgemeinen Staatsgesetze für wichtige
territoriale Gruppen von Schulpflichtigen zu erfolgen hat. Die zersplitterte
Siedlungsart des estländischen Deutschtums macht es aber notwendig, in
denjenigen Städten, wo die zur Eröffnung einer öffentlichen
Schule erforderliche Zahl von Schulkindern (20 Kindern im Durchschnitt jeder
Klasse) fehlt, ein weitverzweigtes Privatschulwesen zu unterhalten. Zu diesem
Behufe, zur Finanzierung des behördlichen Apparates der
Selbstverwaltung, zu Zwecken, für welche der Staat keine oder nur geringe
Subventionen bewilligt, müssen die Mittel durch öffentliche Steuern
aufgebracht werden. Die kürzlich erlassene Steuerverordnung des
Deutschen Kulturrats sieht eine Zusatzsteuer zur staatlichen Einkommensteuer vor
und wird in gleicher Weise wie diese ausgeschrieben und behördlich
eingezogen. Da das Autonomiegesetz bloß ein Rahmengesetz darstellt, so
muß es Zug um Zug auf dem Wege der Verordnung ausgebaut werden. Die
Verordnungen, welche sich ausschließlich auf die Interna der
Selbstverwaltung beziehen, erläßt der Kulturrat, während alle
Verordnungen, welche die Interessen und Kompetenzen zwischen der kulturellen
Selbstverwaltung und den allgemeinen politisch-administrativen
Selbstverwaltungen abgrenzen, von der Staatsregierung erlassen werden. Diese
Arbeit ist in vollem Gange. Das Neuland wird bestellt, und sowohl der Staat als
auch die Minorität sind mit dieser Neuregelung zufriedengestellt worden.
Das Ausbalancieren des nationalen Eigenrechtes der Minorität und der
allgemeinen staatlichen Rechte wird natürlich stets und überall eine
Frage des guten Willens beider Parteien bleiben und dadurch nie ganz frei von
politischen Einwirkungen sein. Als zweifellose Tatsache steht heute schon fest,
daß in Estland niemand mehr das Gespenst eines Staates im Staate sieht,
daß die Bindung des Einzelnen und des gesamten Deutschtums an eine fest
umrissene Körperschaft national-ständischen Charakters, an Rechte
und Pflichten, an Gesamtverantwortung und Gesamtleistung eine psychologisch
wertvolle Stimmungsgrundlage in der Erkenntnis geschaffen hat, daß die
national-kulturelle Gewissensfreiheit ein ebenso teures Gut der Kulturwelt
darstellt wie die religiöse konfessionelle Gewissensfreiheit. Derjenige, der
sich in diese Arbeit stellt und diese Arbeit stützt, ist damit am Aufbau eines
großen Werkes beteiligt, dessen richtige oder falsche Lösung
für Europa, insbesondere für den europäischen Osten, nicht
nur eine ethisch-rechtliche Angelegenheit, sondern eine Schicksalsfrage ist.
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