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Die echten deutschen Minderheitsgebiete (Teil 4)

Das Deutschtum im früheren und im jetzigen Ungarn (Teil 1)

Durch die Friedensschlüsse nach dem Weltkriege ist das alte Ungarn, das geographisch eine der geschlossensten Einheiten war, die es in Europa gab, in der Weise zerstückelt worden, daß der Südosten an Rumänien, der Süden an Jugoslawien und der Norden an die Tschechoslowakei gekommen ist, während das verbliebene Reststück, "Rumpfungarn", nur noch etwa ein Drittel des früheren Staates ausmacht. Die Sieger begründeten diese Teilung damit, daß eine große Zahl ihrer Volksgenossen, Rumänen, Serben, Kroaten, Slowaken, zwangsweise in den Grenzen des alten ungarischen Staates festgehalten und dort unterdrückt worden sei. Allerdings füllen die National-Ungarn, das eigentliche madjarische Volk, bei weitem nicht die Grenzen Ungarns im geographischen Sinne aus. Ihre Wohnsitze liegen in der Tiefebene, während das Hügel- und Gebirgsland, das diese Ebene auf allen Seiten umgibt, von den vorhin genannten Völkern bewohnt wird. Nur ein von der Hauptmasse getrennter madjarischer Stamm, die Szekler, wohnt im siebenbürgischen Bergland. Die Schwierigkeit des Nationalitätenproblems in Ungarn lag vom Erwachen der Nationalitäten an darin begründet, daß es eine Vielheit von solchen in einem von Natur geschlossen und einheitlich gestalteten Raume gab, und daß jedes der nichtmadjarischen Volkselemente eine starke politisch-nationale Verwandtschaft jenseits der natürlichen Grenzen Ungarns besaß.

In früheren Jahrhunderten, als, namentlich bei kleineren und weniger entwickelten Völkern, kaum ein Nationalitätsgefühl vorhanden war, bildete der geographische Raum über die Grenzen der Nationalitäten hinweg ein so starkes, bestimmendes Moment der Staatenbildung, daß auch Ungarn, bis auf die anderthalb Jahrhunderte der Türkenherrschaft, innerhalb der karpathischen Umwallung durch ein volles Jahrtausend sein staatliches Dasein unter madjarischer Führung besaß. Die national-ungarischen Könige und später die Habsburgischen Herrscher haben daher ihre militärischen, kulturellen und bevölkerungspolitischen Maßnahmen stets ohne Rücksicht auf den verschieden gearteten Untergrund von Nationalitäten durchgeführt. Unter allen diesen Maßnahmen die wichtigste, und zwar in jeder von den drei obengenannten Richtungen, war die Herbeirufung deutscher Kolonisten. Deren Ansiedelung geschah zu verschiedenen Zeiten und an den verschiedensten Stellen des Reiches, bald benachbart der rumänischen, bald der serbischen, bald der slowakischen oder ukrainischen, bald der madjarischen Nationalität. Eine Völkerkarte des alten Ungarn [295] zeigt ein über den ganzen Staat hin bunt zerstreutes Bild deutscher Siedlungsparzellen, auf denen insgesamt zwei Millionen Deutsche wohnten.

Völkerkarte von Österreich-Ungarn

[Gefunden bei http://www.österreich-ungarn.de]
     Völkerkarte von Österreich-Ungarn.     [Vergrößern: 3,8 MB]
[Scriptorium merkt an: in Ermangelung einer Völkerkarte des alten Ungarn im Original dieses Buches haben wir hier einen Scan der "Völkerkarte von Österreich-Ungarn" aus "Richard Andrees Allgemeinem Handatlas" aus dem Jahre 1881 eingefügt.]

Diese zwei Millionen sind durch die Friedensverträge staatlich in der Weise auseinandergerissen worden, daß ein reichliches Drittel an Rumänien gelangt ist, je ein Viertel an Serbien kam und bei Rumpfungarn verblieb, der Rest aber tschechoslowakisch oder österreichisch wurde. Wir haben nun die Aufgabe, auf der einen Seite das frühere gesamtungarische Deutschtum nach seiner neuen staatlichen Zugehörigkeit, getrennt als Deutschtum in Rumänien, Jugoslawien usw., zu betrachten; auf der anderen Seite aber ist diese Aufgabe unmöglich, ohne daß fortdauernd auf die Geschichte dieser Deutschen in der alten ungarischen Zeit zurückgegriffen wird, die von ihnen nicht, wie die Gegenwart, als eine Periode staatlicher Trennung, sondern staatlicher Gemeinsamkeit erlebt wurde. Aus alledem folgt, daß wir zunächst von der geographisch-geschichtlichen Einheit des alten Ungarn auszugehen haben und uns den heutigen Verhältnissen des auf dem früheren gesamtungarischen Staatsboden erwachsenen, durch die Friedensverträge zerteilten Deutschtums erst zuwenden können, nachdem wir uns vergegenwärtigt haben, wie es entstanden ist und wie es sich bis zur Zerstückelung des alten ungarischen Staates entwickelt hat. Nur von den Deutschen in der früher ungarischen Slowakei wurde der Zweckmäßigkeit halber schon im Anschluß an das Sudetendeutschtum gesprochen.


Für das Verständnis der Siedelungsvorgänge im Rahmen der ungarischen Natur und Geschichte müssen wir uns nun in Kürze das geographische Bild Ungarns vergegenwärtigen. Ungarn, geographisch gesprochen, ist der Innenraum des durch die östlichsten Teile der Ostalpen und durch die Karpathen gebildeten, fast in sich selbst zurücklaufenden Gebirgsbogens. Dieser Raum ist ein großes Senkungsfeld, dessen Hauptteil, die ungarische Tiefebene, auf weite Strecken unabsehbar flach erscheint, während die Südostecke, Siebenbürgen, eine etwas höhere Lage beibehalten hat und bergigen Charakter trägt. Siebenbürgen ist auch vom übrigen Ungarn durch ein breites, stark zerfurchtes Gebirge getrennt, das in früheren Jahrhunderten ein zusammenhängendes, schwer durchdringliches Waldgebiet bildete. Daher stammt der alte Name für Siebenbürgen: Transsylvanien, das Land hinter dem Walde.

Die ungarische Tiefebene gehört zu den seit alters bewohnten Teilen von Europa, und zwar aus dem Grunde, weil sie offenes Land ist. Waldränder werden von Völkern, deren Technik und Kultur noch nicht höhere Stufen erreicht haben, stets gescheut, offene werden bevorzugt. Wald und Gebirge sind von Natur Rückzugsgebiete der Schwachen und werden von Starken erst aufgesucht, wenn Volkszunahme und feste Grenzen dazu nötigen, den nährenden Boden innerhalb des eigenen Besitzes zu erweitern. Zur römischen Zeit gehörten auch von der ungarischen Tiefebene ziemlich ausgedehnte Teile zu den Grenzländern des Imperiums. Danach nahmen [296] die Hunnen Ungarn ein, danach die Avaren und schließlich die Ungarn. Diesen Völkern, ursprünglich asiatische Nomaden, sagte die waldlose Ebene besonders zu.

Durch die Christianisierung der Ungarn wurde vor einem Jahrtausend die große Steppe im Innenraum des Karpathenbogens, ungeachtet ihrer asiatischen Natur, zu einem Bestandteile und zugleich zu einer Vormauer des abendländischen Europa. Die Angriffe, gegen die Ungarn sich selbst und damit auch die rückwärts gelegenen mitteleuropäischen Länder zu verteidigen hatte, kamen von Süden und Osten, von dort, wo die Steppennatur der Gebiete am Nordufer des Schwarzen Meeres und an der unteren Donau kriegerischen und räuberischen Nomaden eine Daseinsmöglichkeit nach ihren Gewohnheiten darbot, und wo später das asiatische Eroberervolk der Türken seine Herrschaft ausbreitete. Nach dieser Seite hin war Siebenbürgen die am meisten ausgesetzte Bastion Ungarns, und darum mußten die ungarischen Könige auf eine besondere Verstärkung dieses Gebietes bedacht sein. In unmittelbarem Zusammenhang hiermit stand die im 12. Jahrhundert begonnene, im 13. Jahrhundert fortgesetzte deutsche Kolonisation in Siebenbürgen, aus der das dortige Sachsenvolk hervorging. Eine wichtige Stelle im Verlauf der ungarischen Grenze war auch im Norden das Hauptübergangsgebiet nach Polen. Auch hier erfolgte daher eine starke deutsche Schutzsiedlung, und aus ihr entwickelte sich das Zipser Sachsentum.

Mit Siebenbürgen und mit der Zips ist aber die Stellung und Bedeutung des Deutschtums in Ungarn in den ersten Jahrhunderten des ungarischen Staatswesens noch lange nicht umschrieben. Im westlichen Ungarn ist die noch heute dort vorhandene deutsche Bevölkerung zum Teil sogar älter als die madjarische, denn bis in diese Gebiete ist schon die älteste deutsche Kolonisation vorgedrungen. Nachdem Ungarn christlich geworden und als Staat in die mittelalterlich-europäische Gemeinschaft eingetreten war, war es noch lange nicht imstande, sich aus eigenen Kräften zu entwickeln und gegen seine zum Teil sehr feindlichen Nachbarn zu behaupten. Die Umsiedlung von wehrfähigen Deutschen mit königlichem Privileg in Siebenbürgen und in der Zips bildete nur einen Teil des Systems, das notwendig war, um den Staat und das Königtum zu stärken. Vor allen Dingen gehörte dazu eine erhöhte Finanzkraft, und diese mußte erst durch Förderung von Handel und Gewerbe geschaffen werden. Eins wie das andere konnte nur zur Blüte gelangen, wenn in dem städtelosen Lande Städte und Märkte gegründet wurden. Das geschah durch die Deutschen. Es gibt kaum eine größere Stadt in Ungarn, mit Ausnahme von Szegedin und ein paar anderen, die nicht ursprünglich als "königliche" von herbeigerufenen Deutschen gegründet worden wäre. Dasselbe gilt von den Bergwerken, die in der zweiten Hälfte des Mittelalters für Ungarn von größter Wichtigkeit waren. Auch sie sind samt und sonders mit den dazugehörigen Ortschaften von deutschen Bergleuten angelegt worden. So haben wir zunächst in Kürze das alte westungarische Deutschtum zu betrachten, danach das ursprüngliche Deutschtum in den ungarischen Städten, danach die Siebenbürger und endlich die Zipser Sachsen.

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Deutschtum in Not!
Die Schicksale der Deutschen in Europa außerhalb des Reiches.
Paul Rohrbach