[268]
Die echten deutschen Minderheitsgebiete (Teil
2)
Das Deutschtum in Lettland
Nach Vertreibung der Bolschewisten und nach Liquidierung des
Bermontunternehmens mußte das Deutschtum seinen wirtschaftlichen und
kulturellen Aufbau von den Fundamenten aus neu errichten. Die Aufgabe war
denkbar schwierig: die Rigaer Industrie, früher eine Quelle des Reichtums,
existierte seit der im Kriege vorgenommenen "Evakuierung" der Fabriken durch
die Russen nicht mehr. Die zweite finanzielle Stütze des Deutschtums, der
Großgrundbesitz, wurde durch ein konfiskatorisches Agrargesetz beseitigt,
und seine Mitglieder vermehrten die Zahl der Arbeitslosen. Die Intelligenz war
durch Krieg, Mord, Auswanderung auf Bruchteile zusammengeschmolzen. Das
ganze Land war durch die fünfjährige Kriegszeit und die
Bolschewistenherrschaft verwüstet.
Die sogenannte Agrarreform war der schwerste Schlag, der das Deutschtum in
dem jungen lettischen Staate traf. Allerdings wurden durch ihn nicht nur deutsche,
sondern auch polnische und russische Großgrundbesitzer betroffen, aber das
Deutschtum am verhängnisvollsten. Gerade dies aber war auch ihr Zweck.
Die Gesamtoberfläche Lettlands beträgt 6,5 Millionen Hektar, von
diesen gehörten vor dem Kriege den Städten und kommunalen
Institutionen 0,15 Millionen Hektar, dem Staate 1,05 Millionen Hektar; 0,45
Millionen Hektar entfielen auf Unland. Dem Großgrundbesitz
gehörten 2,8 Millionen Hektar, während Eigentum des durchweg
lettischen Bauernstandes 2,5 Millionen Hektar waren. Diese Zahl gibt aber noch
nicht den gesamten von dem lettischen Bauernstand landwirtschaftlich genutzten
Raum an, insofern als von den 2,8 Millionen Hektar Großgrundbesitzerland
0,5 Millionen Hektar im Pachtbesitz des lettischen Bauern waren. Zieht man von
dem Gutsbesitzerlande noch das Unland und die für die Siedlung nicht
geeigneten Wälder ab, so wurden vom Großgrundbesitz 1 Million
Hektar genutzt, während in bäuerlich lettischer Nutzung rund 3
Millionen Hektar waren. Das Verhältnis von Großbetrieb zu
mittlerem landwirtschaftlichen Betrieb war mithin durchaus gesund, besonders
wenn man berücksichtigt, daß die Bauernhöfe durchweg eine
der Ertragsfähigkeit des Bodens angemessene Größe hatten.
Sie betrug etwa 53 Hektar im Durchschnitt, während als gesetzliches
Minimum zur Verhütung unrentabler Zwergwirtschaften eine
Größe von 32 Hektar festgesetzt worden war. Der Waldbesitz war
zum größten Teil in der Hand der Großgrundbesitzer: ihm
gehörten 1,15 Millionen Hektar, dem Staate 0,2 Millionen Hektar.
Demgegenüber verschwindet der bäuerliche und kommunale
Waldbesitz mit 0,05 Millionen Hektar.
[269] Die gesunde Lage des
Bauerntums war wie gesagt eine Schöpfung des
Großgrundbesitzerstandes, der, als er noch im Besitz der Macht war,
unbeeinflußt von Rußland, zum Teil im Gegensatz zur russischen
Regierung, im 19. Jahrhundert das Werk der persönlichen und
wirtschaftlichen Verselbständigung der Bauern durchgeführt hatte.
Er hatte nicht nur dafür gesorgt, daß gesetzlich festgelegt wurde, von
Bauern genutztes Land dürfe von Großgrundbesitzern weder gekauft
noch gepachtet werden, so daß dadurch die vielfach im übrigen
Europa vorhandene Erscheinung des Auskaufs der Bauernwirtschaften durch
Großgrundbesitzer und die Umwandlung der Bauern in besitzlose
Proletarier verhindert wurde, sondern er hatte auch durch Schaffung von
Kreditinstitutionen dem Bauern die Möglichkeit zur
Verselbständigung und Weiterentwicklung gegeben. Das Resultat einer
klugen und erzieherisch wirkenden jahrhundertelangen Gesetzgebung durch den
Großgrundbesitzerstand war ein Bauernstand, der wirtschaftlich und
moralisch westeuropäischen Begriffen entsprach und von den ungesunden
Verhältnissen Rußlands stark abstach.
Bei dieser vom Großgrundbesitz durchgeführten Entwicklung kam
nicht nur der Bauer, sondern auch die Wirtschaft des ganzen Landes auf ihre
Kosten. Kornbau wurde genügend betrieben, so daß sich das Land
trotz seiner starken Industriebevölkerung selbst ernähren konnte. Die
Viehzucht stand hoch und fand im russischen Reiche einen lohnenden Absatz.
Der Holzexport war bedeutend, aber die Waldungen wurden rationell genutzt und
geschont. Statt nun diese, auch bei einigen selbstverständlich vorhandenen
Mängeln immerhin günstige Lage vorsichtig und allmählich
weiter zu entwickeln, wurde durch das Agrargesetz der lettländischen
Konstituante vom 16. September 1920 der gesamte Großgrundbesitz mit
einem Federstrich bis auf einen minimalen Rest von etwas über 2% des
bisher zu Eigentum besessenen Grund und Bodens enteignet. Die
Entschädigungsfrage sollte durch ein späteres Gesetz geregelt
werden, das vier Jahre nach der Güterkonfiskation, am 30. April 1924,
fertiggestellt wurde. Nach ihm erhalten aber die Großgrundbesitzer
für das enteignete Land und die aufgehobenen Rechte und Forderungen
überhaupt keine Entschädigung. Die auf dem konfiszierten Lande
ruhenden Hypotheken werden nach jenem Gesetz vom Staate übernommen,
aber nur mit 0,5% ihres ursprünglichen Wertes, d. h. der
Hypothekengläubiger erhält für eine Mark einen halben
Pfennig.
In welche Lage das Deutschtum in Lettland durch die lettische Konfiskation und
Ausraubungspolitik versetzt worden ist, und wie sehr sich der lettländische
Staat und die national-lettische Wirtschaft seit dem Umsturz auf Kosten des
deutsch-baltischen Bevölkerungsteils bereichert haben, darüber
findet sich eine zusammenfassende, ebenso eindrucksvolle wie zuverlässige
Übersicht (aus der Feder von Dr. Paul Schiemann) in dem in Riga
erschienenen Jahrbuch des Deutschtums in Lettland von 1925. In dieser
Übersicht werden zugleich die Reihenfolge der von lettischer Seite gegen
den deutschen Besitz verhängten Maßnahmen und ihr innerer
Charakter erläutert, so daß sich die weitere Darstellung auf diesem
Fundament aufbauen kann.
[270] Als Lettland am 18.
November 1918 sich als Staat konstituierte, waren seine Mittel auf das Erbe
seines Vorgängers beschränkt, das natürlich zu einer
staatlichen Haushaltung nicht ausreichte. Daneben bestand ein sehr bedeutender
Privatbesitz, der sich im wesentlichen aus folgenden Faktoren zusammensetzte:
- Auf dem Lande:
- ein großes Bar- und Immobilvermögen der
Ritterschaften - in nichtlettischen Händen,
- ein sehr reicher Großgrundbesitz mit ungeheuren
Waldbeständen, die den Hauptreichtum des Landes
darstellten - in nichtlettischen Händen,
- ein zum Teil wohlhabender, zum Teil verschuldeter
Mittel- und Kleingrundbesitz - in lettischen Händen.
- In den Städten:
- eine zum großen Teil zerstörte
Industrie - in nichtlettischen Händen,
- ein lebensfähiger Handel - in nichtlettischen Händen,
- Rentenvermögen, verbunden mit einer auf breiter Grundlage
angelegten
Haushaltung - in nichtlettischen Händen,
- ein wenig verschuldeter Immobilienbesitz, nicht zum wenigsten auch von
Vereinen - in nichtlettischen Händen,
- ein meist überschuldeter Immobilienbesitz - in lettischen
Händen.
Für den Staat gab es damals die Möglichkeit, den Weg
einzuschlagen: die Produktivität des bestehenden Privatbesitzes mit allen
Mitteln zu fördern und dessen Erträge in dem notwendig
erscheinenden Maße für die staatlichen Bedürfnisse
heranzuziehen.
In Wahrheit aber wurde folgender Weg eingeschlagen:
- Das gesamte staatliche Vermögen der deutschen Ritterschaften
wurde vom Staate konfisziert.
- In bezug auf den Großgrundbesitz wurden zunächst zwei
provisorische Maßnahmen ergriffen. Es wurde eine Kriegsgewinnsteuer
eingeführt, wobei - da ein tatsächlicher Gewinn
natürlich nicht vorhanden war - dieser aus der Geldentwertung vom
Golde zum Papierrubel erklügelt wurde. Die Steuer wurde von Letten
festgelegt und erstreckte sich fast ausschließlich auf Nichtletten. Die
Höhe wurde ganz willkürlich von Leuten bestimmt, die in die
tatsächlichen Verhältnisse keinen Einblick hatten.
Des weiteren wurden nichtlettische Güter in Zwangsverwaltung
genommen. Das Ergebnis davon war, daß große, bis dahin
höchst ertragreiche Güter nicht nur keine Erträge mehr
brachten, sondern mit ungeheuren Defiziten gebucht wurden, die zum Ausgleich
auf die angekündigte Entschädigung für enteignetes Inventar
benutzt wurden, so daß die Gutsbesitzer häufig nicht nur keine
Entschädigung bekamen, sondern ihnen noch immense Nachforderungen
präsentiert wurden. Rekla- [271] mationen wurden
dadurch unmöglich gemacht, daß die Sequesterbestimmungen auf
dem Verordnungswege für diese Abrechnungen eingeführt wurden,
die eine Beklagung auf wenige Tage beschränkten, also illusorisch
machten. Das Gericht erklärte diese Verordnung für ungültig.
Damit entstand denn nun die Möglichkeit, daß grobe
Mißwirtschaft aufgedeckt würde, die lettischen Verwalter ihre
unrechtmäßigen Einnahmen zurückgeben müßten
und Nichtletten einen Teil ihres legalen Einkommens zurückerhalten
könnten. Daraufhin hat die Regierung in den Parlamentsferien ein Gesetz
herausgegeben, durch das die Sequesterbestimmungen aufrecht erhalten wurden,
den Nichtletten jede Genugtuung versagt, den lettischen Beamten ihr
unrechterworbenes Gut zugesprochen wurde.
An diese vorläufigen Maßnahmen schloß sich dann die
Agrarreform, durch welche der Großgrundbesitz in Staatseigentum
übergeführt wurde; mit ihm auch alle Forsten, von deren
Exploitation der Staat bisher im wesentlichen gelebt hat.
[288a]
Kurländischer Bauernhof.
[288a]
Landschaft in Kurland.
|
Das Gesetz sichert dem Gutsbesitzer ein Restgut, die industriellen Betriebe und
die Häuser an besiedelten Plätzen. In der praktischen
Durchführung sind die Restgüter den Nichtletten meist so
angewiesen worden, daß sie nicht lebensfähig sind; die Betriebe und
die Häuser sind, entgegen dem Gesetz, den Nichtletten in
größtem Maße weggenommen worden. Die Gutszentren, sehr
ertragreiche Pachtungen, Betriebe und Häuser wurden Letten
eingeräumt. Ausnahmen sind für die wenigen lettischen
Großgrundbesitzer gemacht worden, denen man ihre Gutszentren, ihre
Betriebe und Häuser beließ und denen man auch sonst praktisch so
viel Entgegenkommen zeigte, daß ihre Situation kaum schlechter zu nennen
ist, als vor der Agrarreform.
Was geschah unterdes mit dem lettischen Mittel- und Kleingrundbesitz?
Zunächst wurde er von seinen Schulden befreit, indem das Gesetz vom 18.
März sie auf einen Bruchteil reduzierte, das heißt, der in lettischen
Händen befindliche Besitz blieb unangetastet, die in nichtlettischen
Händen befindlichen Obligationen wurden devolviert. Schließlich
wurden noch die im nichtlettischen Besitz stehenden Bodenkreditbanken samt den
Gebäuden entschädigungslos vom Staate übernommen.
Gleichzeitig setzte eine agrare Zoll- und Steuerpolitik ein, die den lettischen
Grundbesitzern die denkbar größten Chancen bot. Damit verbunden
waren umfangreiche staatliche Unterstützungen und Darlehen, von denen
nur die wenigen deutschen Kleingrundbesitzer ausgenommen waren, die zum
großen Teil von ihren rechtmäßig erworbenen Landstellen
vertrieben und denen alle nur denkbaren Schwierigkeiten in den Weg gelegt
wurden.
In den Städten war die erste Waffe gegen den nichtlettischen Handel und
die nichtlettische Industrie die ruinöse Kriegsgewinnsteuer. Daran
schloß sich ein teils mittelbares, teils unmittelbares Konzessionssystem,
welches jede Form von Geschäften von dem Wohlwollen einzelner
Beamten abhängig machte, so daß schließlich nur zwei Wege
übrigblieben: die Hinzuziehung lettischer Teilnehmer in den [272] Betrieb oder die
Opferung großer Summen zwecks Erreichung des
Notwendigen - "auf Umwegen". Man erkennt leicht, daß beide Wege
nur dazu dienten, nichtlettisches Kapital in lettische Taschen zu führen.
Die nichtlettischen Rentenvermögen hatten in erster Linie natürlich
durch die Ausschaltung der russischen Werte gelitten. Es blieben die
einheimischen Papiere und der private Hausrat. Die Papiere wurden durch das
Gesetz vom 18. März vor allem zugunsten lettischer Immobilienbesitzer
wertlos gemacht. Dem Hausrat kam man durch das Mittel der Requisition bei, das
ausschließlich gegen Nichtletten, hauptsächlich gegen Deutsche,
angewandt wurde.
Der deutsche Immobilienbesitz war gleichfalls bedrängt. Er war fast immer
das Letzte, was dem Deutschen vom einstigen Wohlstand noch geblieben, da ihm
auf dem oben geschilderten Wege alles übrige genommen war und Kredit
nicht zur Verfügung stand. Unter den ungünstigsten
Umständen ist daher ein großer Teil deutschen Hausbesitzes ganz
unvorteilhaft verkauft worden und zum Teil in lettische Hände, zum Teil in
die der glücklicher gestellten anderen Minoritäten
übergegangen. Ein besonderes Kapitel ist der deutsche Vereinsbesitz, der
sich von Tag zu Tag unsicherer fühlt. Nun rechne man noch hinzu,
daß durch die rigorosen Forderungen der Staatssprache die freien Berufe
immer schwieriger werden, daß aus den gleichen Gründen zahllose
staatliche und kommunale Beamte brotlos geworden sind; dann sind leicht die
Schlüsse zu ziehen, von wem der Staat in diesen fünf Jahren mehr
empfangen hat, von den Letten oder von den Nichtletten?
[272d]
"Höfchen" (Sommervilla) bei Riga.
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Die deutsche Bevölkerung Lettlands hat in diesen Jahren gewiß 90
Prozent ihres gesamten Vermögens verloren. Unterdes haben sich
große lettische Vermögen gebildet, ehemalige und
gegenwärtige lettische Beamte kauften sich Häuser und Güter,
lettische Unternehmungen wuchsen aus der Erde wie Pilze nach dem Regen.
Von diesen 90 Prozent der deutschen Verluste hat der
lettländische Staat gelebt, und zum großen Teil lebt er von ihnen auch
noch heute. Aus diesen 90 Prozent ist das neue lettische Privatkapital
entstanden.
Soweit die Darlegungen in dem Jahrbuch des lettländischen Deutschtums.
So schwer auch alle anderen Verluste und Beraubungen wiegen, denen das
deutsche Element im lettländischen Staate
unterlag - der planmäßig geführte Hauptschlag war doch
das Septembergesetz von 1920 über die Fortnahme des deutschen
Großgrundbesitzes, der ja praktisch so gut wie allein betroffen wurde. Nicht
nur die materielle, sondern auch die moralische Wirkung der Maßnahme
war verderblich, denn außer einer schweren Erschütterung aller
wirtschaftlichen Verhältnisse handelt es sich auch um die Zerstörung
des Rechtsbegriffs in dem neuen Staate durch die neue Regierung. Dies
moralische Vergehen wiegt um so schwerer, als der deutsche
Großgrundbesitz schon im Jahre 1919 ein Angebot gemacht und es
später mehrmals wiederholt hatte, das allen wirklichen Bedürfnissen
nach der Zuweisung von Land [273] genügt
hätte. Um dem sinnlosen Zerschlagen der landwirtschaftlichen Organismen
vorzubeugen, hatten die Besitzer sich bereit erklärt, für die von der
lettländischen Regierung vorgeschobene ländliche Siedlungspolitik
sukzessive so viel Land zur Verfügung zu stellen, wie angefordert wurde.
Daß es weniger auf eine Agrarreform abgesehen war, als auf die
Vernichtung der deutschen Vermögen, geht ja auch daraus hervor,
daß durch die Fortnahme nicht nur der landwirtschaftlich benutzte und
nutzbare Boden betroffen wurde, sondern auch alle Waldländereien, die
für eine praktische Siedlungspolitik gar nicht in Betracht kommen.
Die Resultate der Agrarreform in wirtschaftlicher Hinsicht waren schlecht. Aus
den blühenden Großwirtschaften wurden geschaffen oder sollten
geschaffen werden 120 000 Kleinwirtschaften. Das Land aus dem durch die
Agrarreform geschaffenen Landfonds wurde an alle Landforderer verteilt, einerlei,
ob sie dazu geeignet waren, ob sie etwas von Landwirtschaft verstanden oder
nicht, ob sie das nötige Inventar besaßen oder nicht. Ehemalige
Soldaten erhielten sogar das Vorrecht. Kein Wunder, daß sehr viele der
neuen Bauern nur das noch von den Gutsbesitzern gesäte Getreide
abernteten und ihr Land noch im selben oder im folgenden Jahre verkauften. Kein
Wunder, daß der größte Teil der noch bestehenden
Kleinwirtschaften sich nur durch die Regierungssubsidien, vor allem durch das
frei gelieferte Holz, hält. Für das ganze Land sind die neu
entstandenen Kleinwirtschaften, auch da, wo sie weiter am Leben bleiben, kein
Vorteil. Denn Kleinwirtschaften von 20 ha und darunter produzieren in
dem lettländischen Klima an Brotfrucht nur soviel wie sie selbst brauchen,
tragen also zu der Ernährung der Städte oder gar zur Ausfuhr nichts
bei. Die einst hochstehende Viehzucht, wie sie von den Großgrundbesitzern
betrieben wurde, ist vernichtet, da die reinblütigen Herden
auseinandergerissen und an die Neusiedler verteilt worden sind, denen das Kapital
und die Kenntnisse fehlen, um eine derartige Hochzucht zu treiben. Die
Gutsgebäude und ihre Wirtschaftsgebäude verfallen, vielfach leben
jetzt die Kleinwirte in den ehemaligen Schlössern. Man kann oft drei
Familien, nur durch Bretterwände voneinander getrennt, mitsamt ihrem
Kleinvieh in einem der Säle der alten Schlösser vorfinden. Um die
Tausende von Kleinwirtschaften zu erbauen, fehlt es an Holz. Die
Gutsgebäude aber werden natürlich von den neuen Bewohnern, die
sich darin nur provisorisch untergebracht glauben, nicht repariert und verfallen.
Brotgetreide wird schon jetzt nicht mehr genügend produziert. Um den
Ausfall zu decken und um den überaus teueren Staatshaushalt zu
bezahlen - Lettland hat mit 42 000 Staatsbeamten mehr Beamte als
das Königreich Schweden - müssen die lettländischen
Waldungen herhalten. Da das Holz für die Neubauten, für den
Betrieb der Eisenbahnen und Industrien und für den Export, der einem
Jahreskahlhieb von 12 000 ha gleichkommt und der zur Bilanzierung
des lettländischen Haushalts notwendig ist, aus den Wäldern
entnommen wird, so wird in den lettländischen Forsten in acht bis zehn
Jahren kein Stamm schlagreifen Holzes mehr vorhanden sein.
[274] Das sind die zu
erwartenden oder bereits eingetretenen Folgen der Agrarreform für
Gesamtlettland. Für das Deutschtum und die anderen nichtlettischen
Gutsbesitzer bedeutet sie mehr als einen bloß finanziellen Verlust. Den
Besitzern ist eine Fläche von 2,8 Millionen Hektar genommen worden, die
einen Wert von über eine Milliarde Goldmark darstellt. Aber das
Entscheidende ist, daß das Deutschtum durch den Verlust fast seines
gesamten ländlichen Besitzes auf die Städte zurückgeworfen
ist und seine jahrhundertelange Bodenständigkeit verloren hat. Die
deutschen Gutsbesitzer haben deshalb in diesem Jahre (1926) beim
Völkerbund eine durch die Gutachten englischer und französischer
Autoritäten gestützte Klage eingereicht, in der sie den Nachweis
führen, daß die Agrarreform eine Maßregel ist, die sich
ausschließlich gegen die nichtlettische Bevölkerung richtet, die also
im Widerspruch zu der von Lettland vor dem Völkerbund
übernommenen Verpflichtung steht, seine nichtlettischen Bürger
ebenso zu behandeln, wie die lettische Bevölkerung.
Einen zweiten, moralisch noch schwereren Schlag erhielt das Deutschtum im
Jahre 1923, als ihm durch Parlamentsbeschluß die altehrwürdige
Jakobikirche in Riga, in der außer einer deutschen auch eine lettische
Gemeinde untergebracht war, weggenommen wurde, um die lettländischen
Katholiken zu befriedigen - eine Gewalttat, die das ganze protestantische
Ausland erregt und mit der die Regierung in Riga ihrem moralischen Ansehen
unwiederbringlichen Schaden zugefügt hat.
Der lettländische Staat war als Nationalstaat auf der Grundlage des
Selbstbestimmungsrechts der Völker gegründet worden. Es
mußte unter diesen Umständen die Frage entstehen, was in den
Staaten geschehen solle, die, wie z. B. Lettland, etwa ein Fünftel
nichtlettischer Bewohner zählten. Die lettländischen Deutschen
griffen als erste auf einen Gedanken des österreichischen Sozialdemokraten
Renner zurück und verkündeten als ein Prinzip, das allein die
fremden Nationalitäten in ihrem nationalen Bestande sichern, sie damit zu
treuen Staatsbürgern machen und die nationalen Zänkereien
ausschalten könne, die national-kulturelle Autonomie,
d. h., die fremden Nationalitäten sollten ihre kulturellen
Angelegenheiten selbständig verwalten. Es wird trotz aller anderen
Beschwerden ein Ruhm des lettländischen Staates bleiben, den ersten
Schritt zur Verwirklichung dieser national-kulturellen Autonomie in der
Anerkennung der Schulautonomie der Minderheiten getan zu haben.
Die Aufrichtung eines deutschen Schulwesens war das erste, was das Deutschtum
in Lettland neben der Sorge für die dringlichsten wirtschaftlichen
Notwendigkeiten zu leisten hatte. Es muß anerkannt werden, daß der
neugegründete lettische Staat ihm hierbei im weitesten
Maße entgegengekommen ist. Die gesetzliche Grundlage des Neubaus
wurde das "Gesetz über das Schulwesen der Minoritäten Lettlands"
vom 18. Dezember 1919, das, von der deutschen Fraktion ausgearbeitet, noch von
dem lettländischen Volksrat, d. h. einer Parteivertretung, die vor der
Kon- [275] stituierenden
Versammlung als provisorisches Parlament fungierte, angenommen wurde. Dieses
Gesetz, das nicht nur den Deutschen, sondern ebenso den Juden, Russen, Polen
und Weißrussen zugute gekommen ist, gewährt den Minderheiten
Lettlands folgende Rechte:
- Staat und Kommunen sind verpflichtet, Kindern, die im Alter des
sieben bis acht Jahre währenden obligatorischen Unterrichts stehen, in der
Familiensprache der Eltern Unterricht zu erteilen.
- Darüber hinaus besteht das Recht, Privatschulen zu
begründen.
- Die Minderheiten haben das Recht, eigene Programme aufzustellen, die
ihren Bedürfnissen entsprechen.
- Die Minderheiten haben das Recht, eine eigene Abteilung zur Verwaltung
ihres Schulwesens zu beanspruchen. So gibt es also eine Verwaltung des
deutschen Bildungswesens, eine solche des jüdischen usw. Deren
Leiter sind für ihre Tätigkeit nur dem Bildungsminister
verantwortlich.
- Die Leiter der Schulverwaltungen werden vorläufig, d. h. bis zur
Schaffung der sogenannten Nationalräte, von den Fraktionen der
betreffenden Minoritäten im Parlament gewählt. Nicht der
Bildungsminister, sondern das Ministerkabinett bestätigt diese Leiter;
ebenso werden die übrigen Beamten der Schulverwaltungen von den
Parlamentsfraktionen der entsprechenden Minderheit gewählt.
- Der Chef der Minoritätenschulverwaltung vertritt in allen
Kulturfragen seine Minorität mit beratender Stimme im
Ministerkabinett.
- Bei der Wahl ihrer Lehrer ist jede Minderheit nur an die Bestimmung
gebunden, daß deren Ausbildung nicht hinter der Ausbildung der Lehrer
entsprechender lettischer Schulen zurücksteht.
Nicht weniger wichtig als diese verwaltungstechnischen Grundlagen sind die
finanziellen Fundamente, die durch die Dezembergesetzgebung für das
deutsche und das übrige Minderheitenschulwesen gelegt wurden. Zu ihrem
Verständnis muß gesagt werden, daß es nach dem allgemeinen
lettländischen Schulgesetz zwei Schularten gibt: 1. die
sieben- bis achtklassigen Grundschulen für die im schulpflichtigen Alter
stehenden Schulkinder; 2. auf diese aufgebaut die sogenannten
Mittelschulen (höhere Schulen) verschiedener Typen, mit
vierjährigem Kursus, und die zweijährigen Fachschulen. Für
schulpflichtige Kinder, d. h. also Kinder, die nach ihrem Alter in eine
Grundschule gehören, muß die Kommune nach dem Dezembergesetz
eine Schulklasse eröffnen, sobald ihr an dem betreffenden Ort dreißig
Kinder eines bestimmten Alters von der betreffenden Minorität
präsentiert werden.
Etwas anders sind die finanziellen Grundlagen für das nichtobligatorische
Mittelschulwesen - Gymnasien und verwandte
Anstalten - geregelt. Hier erhalten die Deutschen wie die anderen
Minderheiten einen prozentualen Anteil an dem [276] Budget. Stellt
z. B. die Stadt Riga eine Million lettische Rubel für die Erhaltung
von Mittelschulen ein, so erhält die deutsche Minderheit, weil sie in Riga
16% der städtischen Bevölkerung bildet, 16% von einer Million
Rubel. Stellt der Staat für die Erhaltung von Mittelschulen z. B. zehn
Millionen Rubel ein, so erhält die deutsche Minderheit davon 3,6%, weil
die Deutschen 3,6% der Bevölkerung von Lettland bilden.
Auf diesen theoretischen Grundlagen hat das Deutschtum in Lettland ein
Schulwesen aufgebaut, das 98 Unterrichtsanstalten umfaßt, von denen 10
Mittelschulen, 10 Fachschulen und eine ein pädagogisches Institut zur
Ausbildung von Grundschullehrern ist. Dieses ganze Schulwesen untersteht, wie
gesagt, der Verwaltung des deutschen Bildungswesens.
Dazu kommt dann noch eine private deutsche Universität, das Herderinstitut,
das vier Abteilungen, eine
nationalökonomisch-juristische, eine theologische, eine
naturwissenschaftlich-mathematische und eine humanistische (Germanistik,
Geschichte, Philosophie) umfaßt. Die Mittel zur Erhaltung des
Herderinstituts bringt das Deutschtum selbst auf, ebenso wie die staatlichen und
kommunalen Beihilfen selbstverständlich nur einen Teil des Schulwesens
decken, während die darüber hinausgehenden Ausgaben durch eine
freiwillige Selbstbesteuerung, die einmal im Jahre umgelegt wird, aufgebracht
werden müssen.
Eine wichtige Errungenschaft ist es einstweilen, daß auf der Grundlage des
Gesetzes vom Dezember 1919 kein Chef des Bildungswesens und kein Beamter
der Schulverwaltung den Deutschen gegen ihren Willen aufgedrängt
werden kann. Ebenso ist durch das allgemeine Schulgesetz dafür gesorgt,
daß an die deutschen Schulen keine Direktoren und Lehrer kommen, die der
deutschen Minderheit unerwünscht sind. Die deutsche Minderheit hat
ferner das Recht, für ihre Schulen ihren deutschen Bedürfnissen
entsprechende Schulprogramme aufzustellen, und die Befugnis, Schulen zu
eröffnen und zu schließen. Diese Schulen bilden einen geschlossenen
Selbstverwaltungskörper, und es kann in Lettland keine deutschen Schulen
geben, die nicht der Verwaltung des deutschen Bildungswesens unterstellt
sind.
Trotzdem muß das Dezembergesetz vom Jahre 1919 und die in ihm
enthaltene Schulautonomie nur als etwas vorläufiges angesehen werden.
Denn diese Regelung bezieht sich nur auf die Schule, nicht auch auf die anderen
kulturellen Angelegenheiten, z. B. die sozialen Einrichtungen. Es
muß weiter die Verwaltung der kulturellen Angelegenheiten auf eine
breitere demokratische Basis gestellt werden. Es ist dringend notwendig,
daß es eine gewählte Körperschaft gibt, die die kulturellen
Verhältnisse der Deutschen Lettlands nach einem einheitlichen Plane
regelt.
[272c]
Riga, Partie an der Petrikirche.
|
Die Konstituierung des lettländischen Staates brachte weiter eine
vollständige Neuregelung des Kirchenwesens mit sich. Seit der
Reformation gehören bekanntlich die Deutschen, Esten und Letten zum
allergrößten Teil der evangelisch-lutherischen Konfession an,
während in dem nach dem Frieden mit Rußland zu Lettland
hinzu- [277] gekommenen
Lettgallen neben dem altgläubigen Russentum und der
griechisch-orthodoxen Kirche die katholische Kirche herrschend blieb. Nach der
Begründung Lettlands wurde es notwendig, das lutherische Kirchentum des
Landes einheitlich zusammenzuschließen, innerhalb der lutherischen Kirche
aber eine praktisch schon durch die Zweisprachigkeit geforderte und in
Ansätzen bereits vorhandene nationale Scheidung durchzuführen.
Auf diese Weise entstand die evangelisch-lutherische Gesamtkirche Lettlands,
deren Angelegenheiten durch eine Presbyterialsynode geregelt werden, an deren
Spitze ein Oberkirchenrat steht und die nach außen hin durch einen
lettländischen Bischof vertreten wird. Innerhalb dieser Gesamtkirche bilden
die 43 deutschen Gemeinden eine eigene Gruppe, die unter der Leitung des
Bischofs der deutschen Gemeinden Lettlands und der deutschen Abteilung des
Oberkirchenrates selbst ihre Angelegenheiten verwaltet.
[272d]
Riga, Portal der Petrikirche.
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Weiter gelang es dem Deutschtum, seine alten kulturellen Institutionen wieder
neu aufleben zu lassen. So begann der Naturforscherverein in Riga wieder seine
Tätigkeit durch Herausgabe seiner bekannten Mitteilungen und
Wiederherstellung seiner schönen naturwissenschaftlichen Sammlung im
Dommuseum, obgleich ihm die Verwaltung der von der russischen Regierung als
Naturschonstätte ihm übergebenen Moritzinsel im Usmaitenschen
See entzogen wurde und dieses lebende Dokument der alten Flora und Fauna
Lettlands seitdem in Verfall gerät. Ebenso haben die alten historischen
Erforschungsstätten, die Gesellschaft für Geschichte und
Altertumskunde in Riga, die Gesellschaft für Literatur und Kunst in Mitau,
die heraldische Gesellschaft, ihre Tätigkeit wieder aufgenommen. Die
deutsche Presse begann wieder zu erscheinen. An Tageszeitungen in deutscher
Sprache besitzt Lettland die Rigasche Rundschau, die Libausche
Zeitung, das Neue Rigaer Tageblatt; an Wochenblättern den
Deutschen Boten und die Windausche Zeitung, an Zeitschriften
das Evangelisch-lutherische Kirchenblatt, die Baltischen Blätter
für allgemein kulturelle Fragen, die Baltischen akademischen
Blätter, die Rigaer Zeitschrift für Handel und Industrie,
die Woche im Bild.
[276a]
Mitau, Trinitatiskirche.
|
|
[284b]
Alter Speicher in Mitau. |
Nur mit großen Schwierigkeiten gelang es, das deutsche Theater neu zu
beleben. Hierin besaß Riga eine alte ehrwürdige Tradition: das
frühere deutsche Stadttheater, das aus einer Oper und einem Schauspiel
bestand, und an dem namhafte Größen, wie Richard Wagner, gewirkt
hatten. Nach der Begründung des lettländischen Staates gingen die
Theatergebäude, vor allem das schöne "Erste Stadttheater", dessen
deutsche Inschrift "Die Stadt den darstellenden Küsten" von ruchloser
Hand abgeschlagen wurde, mitsamt dem Bühnenfundus, obgleich dieser
nicht der Stadt, sondern einer privaten deutschen Organisation gehörte, in
lettische Hände über. Es fehlte also den Deutschen zunächst an
einem eigenen geeigneten Gebäude, bis es gelang, die Mittel zum Umbau
einer privaten Turnhalle zu beschaffen. Im Jahre 1924/25 gelang es endlich, ein
künstlerisch wertvolles deutsches Schauspiel zu schaffen.
Das baltische Deutschtum hat in den Jahren, wo es im Gebiete des heutigen
[278] Lettlands herrschend
war, in seiner Fürsorgearbeit nie einen nationalen Unterschied gekannt. Die
von fast rein deutschem Gelde gegründeten Irrenanstalten,
Diakonissenkrankenhäuser, Alters- und Krüppelheime,
Waisenhäuser usw. kamen zum weit größeren Teil der
lettischen Bevölkerung zugut. Die Verarmung infolge des Krieges und der
Bolschewistenzeit hat es mit sich gebracht, daß die Deutschen ihre private
Fürsorge auf ihre Volksgenossen beschränken mußten. Die
große Vermögensumschichtung, die der Krieg verursachte, der
Verlust der in russischem Gelde oder in russischen Werten angelegten
deutsch-baltischen Vermögen, die Proletarisierung des Gutsbesitzerstandes
durch die Agrarreform, die Zerstörung der Industrie und die dadurch
entstandene Arbeitslosigkeit hatten das baltische Deutschtum im ganzen
genommen aus einer wohlhabenden Schicht zu einer Klasse von Besitzlosen und
Arbeitslosen gemacht. Das soziale Elend war und ist bei ihnen daher besonders
groß. Die etwa 70 Organisationen umfassende Deutsche
Fürsorgezentrale in Riga tut ihr Möglichstes, um das Elend zu
mildern. Einmal im Jahre, im Herbst, wird von dieser für die soziale Arbeit
ein Beitrag nach dem Prinzip der Selbstbesteuerung von allen Deutschen
eingehoben.
Die Grundlage für die oben als Beispiele angeführten kulturellen
Arbeiten des baltischen Deutschtums bildet natürlich das wirtschaftliche
Leben. Vor dem Kriege ruhte der wirtschaftliche Wohlstand des heutigen Lettland
auf drei Säulen: dem russischen
Handel - ein Drittel von ihm ging durch die baltischen
Häfen -, der Industrie Rigas und der Produktion der Landwirtschaft,
die etwa zur einen Hälfte vom deutschen Großgrundbesitz, zur
anderen vom lettischen Bauernhofsbesitz getrieben wurde. Von diesen
Säulen ist nur die des lettischen Bauernhofsbesitzes stehen geblieben. Der
Großgrundbesitz ist durch die Agrarreform zerstört und an seine
Stelle ein Kleingrundbesitz gestellt, der nur durch staatliche Subventionen
lebensfähig ist. Die Rigasche Industrie war von den Russen fortgeschleppt
worden. Der Rigasche Handel hat durch den Verlust des russischen Hinterlandes
so gut wie zu existieren aufgehört. Eine ungeheure wirtschaftliche
Depression war die natürliche Folge, unter der die Deutschen und die
Letten gemeinsam leiden. Doch muß bemerkt werden, daß sich das
wirtschaftliche Leben wieder zu heben begonnen hat. Die bäuerliche
Landwirtschaft, soweit es sich um die alten, aus der Vorkriegszeit stammenden
Bauernhöfe handelt, hat sich gekräftigt. Eine neue, in erster Linie
für lokale Bedürfnisse arbeitende Industrie ist im Entstehen.
Insbesondere hat das Handwerker- und Großhandwerkertum viel verdienen
können. Neue Vermögen haben sich
gebildet - wenn man auch an diesen relativen Aufschwung nicht im
entferntesten die Maßstäbe der Vorkriegszeit legen darf. Auch das
Deutschtum hat an diesem allgemeinen Aufleben der lettländischen
Wirtschaft teilgenommen; insbesondere hat sich unter den deutschen
Handwerkern ein bescheidener Wohlstand gebildet. Wie in ganz Europa ist
natürlich der Kapitalmangel ein Haupthindernis, die wirtschaftlichen
Möglichkeiten des Landes auszunutzen. Um dem Deutschtum Kredite zu
be- [279] schaffen, ist die
Genossenschaftsbank für Handel und Industrie bei der Großen Gilde
geschaffen worden, und zu einer segensreichen Institution haben sich die
deutschen Genossenschaftskassen, deren es zur Zeit zehn gibt, und die nach
reichsdeutschem Vorbild in einem Revisionsverband zusammengeschlossen sind,
ausgebildet.
Das Dezembergesetz von 1919 bildet für die kulturellen Rechte des
Deutschtums in Lettland zwar eine gewisse Grundlage, aber es kann nicht entfernt
als ein Abschluß angesehen werden. Überdies hat sich im Laufe der
Zeit herausgestellt, daß die Bedürfnisse der verschiedenen
Minoritäten Lettlands nach ihrer Geschichte und ihrer nationalen
Zusammensetzung sehr verschieden sind. Die Deutschen sind z. B. eine
Nationalität, die mit dem Lande durch ihre siebenhundertjährige
Kulturarbeit, durch die sie das Land für Europa erschlossen haben, ganz
anders verwachsen ist, als die anderen Nationalitäten. Sie fühlen sich
in Lettland zu Hause und als Träger der Geschichte dieses Landes,
während z. B. Russen und Juden nur ein zufälliges Element
darstellen, und Polen und Weißrussen nur seit wenigen Jahren dem
historischen Kernkomplex angegliedert sind. Um dieser zwingenden
Gründe willen sah sich die deutsche Landtagsfraktion gezwungen, den jetzt
(Frühjahr 1926) zur Debatte stehenden Gesetzentwurf "über die
deutsche Volksgemeinschaft" einzureichen. Was enthält nun dieser
Entwurf, der von der öffentlich-rechtlichen Kommission des Landtags
bereits angenommen, aber im Parlamente noch nicht behandelt worden ist?
Nach ihm bilden die lettländischen Bürger deutscher
Nationalität eine Volksgemeinschaft
öffentlich-rechtlichen Charakters, die die
national-kulturellen Angelegenheiten der Bürger deutscher
Nationalität in Lettland auf Grund dieses Gesetzes autonom verwaltet. Das
wichtigste Organ der deutschen Volksgemeinschaft ist der deutsche Nationalrat,
der aus 58 Abgeordneten bestehen soll, die auf drei Jahre gewählt werden.
Das Wahlrecht zu diesem Nationalrat hat jeder lettlandische Bürger
deutscher Nationalität. Die Zugehörigkeit zur deutschen
Nationalität ist durch den Paß oder einen Personalausweis zu
beweisen. Auf Grund von persönlichen Erklärungen des
volljährigen Inhabers des Dokuments müssen die zuständigen
Behörden den Vermerk ergänzen oder verändern. Damit ist
grundsätzlich festgelegt: die deutsche Volksgemeinschaft ist eine
Gemeinschaft, zu der jeder Deutsche als solcher gehört, in die man also
hineingeboren wird, der man aber nicht freiwillig beitreten oder aus der man nicht
ausscheiden kann. Es wird also in Zukunft in Lettland keine lettländischen
Bürger geben, die sich Deutsche nennen, aber nicht zur deutschen
Volksgemeinschaft gehören. Die Frage der Zugehörigkeit ist der
Willkür entzogen, wohl aber bleibt die Frage der Zugehörigkeit zum
Deutschtum eine Bekenntnisfrage. Der Nationalrat tritt normalerweise einmal im
Jahre zusammen. Sein ständig tagendes Vollzugsorgan ist ein "engerer
Rat", das Präsidium, das aus fünf Mitgliedern besteht und auf ein
Jahr vom Nationalrat gewählt wird. Der deutsche Nationalrat hat das Recht,
die Spenden und freiwilligen Zahlungen, sowie die ihm vom [280] Staate oder dem
lettländischen Kulturfonds zugewiesenen Mittel zu empfangen und zu
verwalten, das Budget auszuarbeiten, den Chef und die Glieder der Verwaltung
des deutschen Bildungswesens zu wählen, den Bezirksräten
Spendensammlungen zu gestatten, die Budgets der Bezirksräte zu
bestätigen usw.
Die deutsche Volksgemeinschaft in Lettland soll also ein festgeschlossenes und
doch reich gegliedertes Ganzes sein, das seinen Bezirken die nötige Freiheit
zur Erledigung ihrer Angelegenheiten läßt. Zu den
selbstverständlichen Rechten einer
national-kulturellen Selbstverwaltung hätte das Recht gehört, den
Mitgliedern der deutschen Volksgemeinschaft durch den Nationalrat und die
Bezirksräte Steuern aufzulegen. Leider ist dieses Steuerrecht den Deutschen
in der öffentlich-rechtlichen Kommission des Landtages nicht zugestanden
worden, sondern die Organe der deutschen Volksgemeinschaft haben nur das
Recht, sich an die Bürger deutscher Nationalität wegen freiwilliger
Zahlungen zu wenden.
In dem dritten Teil, der die eben erwähnten Rechte und Pflichten der
deutschen Volksgemeinschaft behandelt, sind auch die Verpflichtungen des
Staates und der Kommunen der deutschen Volksgemeinschaft gegenüber
festgelegt. Danach sind der Staat und die Kommunen verpflichtet, die Mittel
für den Unterhalt einer Klasse einer obligatorischen Schule (Grundschule)
herzugeben, wenn sich an einem Orte dreißig lettländische Kinder
deutscher Nationalität im schulpflichtigen Alter zusammenfinden.
Der vierte Abschnitt des Gesetzentwurfs behandelt die Verwaltung des deutschen
Bildungswesens. Danach sollen die Verhältnisse, wie sie das
vorläufige Gesetz vorsieht und wie sie sich in der Praxis ausgebildet haben,
im großen und ganzen bestehen bleiben. Doch sind die Bestimmungen im
neuen Gesetz schärfer gefaßt und beseitigen manche Unklarheiten,
die durch die mangelhafte Fassung des bestehenden Gesetzes zu Streitigkeiten
geführt hatten.
Der fünfte Abschnitt behandelt den Gebrauch der deutschen Sprache in
Lettland. Danach wird der freie Gebrauch der deutschen Sprache in Wort, Schrift
und Druckerzeugnissen im privaten und öffentlichen Leben
gewährleistet. In allen öffentlich-rechtlichen Institutionen
(z. B. Landtag, Stadtverordnetenversammlung usw.), in denen sich
unter den gewählten Mitgliedern Deutsche befinden, ist es diesen erlaubt,
sich bei den Debatten der deutschen Sprache zu bedienen. Vor Gericht
dürfen sich die Parteien in Wort und Schrift der deutschen Sprache
bedienen. In den Zentralinstitutionen des Staates, sowie in staatlichen und
kommunalen Behörden in Städten und Flecken, wo die Zahl der
deutschen Einwohner nicht kleiner als 5% ist, werden Schreiben in deutscher
Sprache entgegengenommen und ist der mündliche Verkehr in deutscher
Sprache erlaubt.
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