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Die echten deutschen Minderheitsgebiete (Teil
1)
Das baltische Deutschtum
Das Ostseebecken ist ein wohl charakterisierter Teil des europäischen
Innenraums zwischen den westwärts gekehrten atlantischen Gebieten und
der großen "hintereuropäischen" Landmasse im Osten. Für
den deutschen, dänischen, schwedischen und finnischen Teil der Ostseeufer
gibt es einheitliche Namen, nach den Ländern, zu denen diese Strecken
gehören, aber für den Teil zwischen dem Finnländischen
Meerbusen und dem Memelflusse hat sich, obwohl dies ganze Gebiet von Natur
sehr verwandt, ja einheitlich gestaltet ist, keine gemeinsame Bezeichnung
entwickelt. Zwei geographische Faktoren heben diese baltischen
Länder aus dem hinteren oder östlichen Europa heraus und
machen sie zu einem Stück von Inneneuropa. Der eine Faktor ist durch ihre
geschlossene Lagerung rings um den tief eindringenden, durch die beiden Inseln
Dagö und Oesel fast zu einem Binnengewässer gemachten
Meerbusen von Riga gegeben; der andere durch eine deutliche natürliche
Abgrenzung gegen Osten. Diese wird gebildet zuerst durch den großen
Peipussee und danach durch ein Sumpf- und Seengebiet, das, mit einer
Durchgangspforte südlich des Sees, von dort über die mittlere
Düna bis an die Ostpreußische Seenplatte heranreicht. Durch ihre
Meereslage kamen die baltischen Länder zuerst in Handelsverbindung und
danach in politischen Zusammenhang mit Deutschland, und in der
Seen- und Sumpfzone besaßen sie eine Schutzwehr gegen den Osten. Esten,
Letten und Litauer zählen zusammen kaum 5 Millionen Seelen. Daß
diese drei kleinen Völker sich bis heute erhalten haben und daß sie,
infolge einer für sie überraschend günstigen, durch den
Ausgang des Weltkrieges hervorgerufenen Konstellation, sich sogar staatlich
selbständig machen konnten, verdanken sie ihrer geographischen
Schutzlage und ihrer Einbeziehung in die westliche
Staaten- und Kulturregion vom Beginn der zweiten Hälfte des Mittelalters
an.
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Alle drei baltischen Länder gehören mit zum Gebiet der großen
nördlichen Vereisung. Ihre Oberflächenformen sind durch Erosion
im lockeren glazialen Schutt entstanden; alte Moränenwälle,
zahlreiche Seen, erratische Blöcke und sonstige Züge eiszeitlicher
Herkunft bestimmen den Charakter der Landschaft. Die Eingangspforte des
baltischen Gebiets im Norden ist Reval, an einer kleinen Bucht des Finnischen
Meerbusens. Reval ist Hauptstadt des neuen Staates Estland; seine zweite Stadt ist
Dorpat. Das baltische Mittelgebiet wird von der Düna durchströmt.
Diese scheint von Natur als Weg in die baltischen Länder und bis tief nach
Rußland bestimmt [261] zu sein, aber sie ist als
Schiffahrtsweg flußaufwärts gar nicht, flußabwärts nur
sehr beschränkt brauchbar. Nur ihre Mündung ist für
große Schiffe zugänglich, und darum entstand hier, im innersten
Winkel des Meerbusens, ein großer Handelsplatz: Riga, die jetzige
Hauptstadt von Lettland. Südlich der Düna liegt das lettische
Kurland, das seinen natürlichen Mittelpunkt in der Ebene von Mitau
besitzt. Die eigentliche kurische Halbinsel ist ein
Korn- und Waldland, mit dem Haupthafen Libau, dicht an der deutschen Grenze,
der von den Russen ausgebaut wurde, um den Handel von Königsberg und
Memel abzulenken.
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Riga, von der Düna aus gesehen.
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In Lettland und Estland hat das Deutschtum eine mehr als
siebenhundertjährige Position. Äußerlich hat diese durch den
großen Umschwung nach dem Weltkriege verloren; es bildet in den beiden
Staaten nur noch eine zahlenmäßig geringe, geschwächte und
beraubte Minderheit. Dabei ist aber das gesamte Kulturleben im lettischen wie im
estnischen Gebiete durchaus deutschen Ursprungs. Eine selbständige
lettische oder estnische Kultur ist nicht möglich; vielmehr handelt es sich
hier wie dort nur um eine Wahl zwischen Anlehnung an die russische oder an die
deutsche. Das beweisen Geschichte und Gegenwart.
Das Deutsche Reich hat im Mittelalter eine große Kolonie an der Ostsee
besessen. Sie gehörte mit in die Grenzen des Reiches und erstreckte sich
von der Mündung des Memelflusses bis zur Narowa, die den Abfluß
des Peipussees in den Finnländischen Meerbusen bildet. Der
mittelalterliche Name dieses ganzen Gebiets war Livonia,
Livland - eine Bezeichnung, die sich später nur auf den mittleren
Teil des Landes beschränkte, neben Estland im Norden und Kurland im
Süden. Die "Aufsegelung" Livlands geschah am Ende des
12. Jahrhunderts durch deutsche Kaufleute, die es unternahmen, einen
direkten Weg zum Handel mit Rußland zu finden. Rußland war
damals ein Gebilde von ganz anderer Art als später, wo es unter die
Herrschaft der Mongolen geraten war. Der russische Staat ist ursprünglich
eine normannische Gründung. Schwedische Wikinger, die Warjager oder
auch Rhos genannt wurden, besetzten im 9. Jahrhundert die beherrschenden
Punkte auf dem "Großen Wasserweg", der alten Handelsstraße, die
auf den Flußsystemen des Wolkow, der Düna und des Dnjepr, mit
Benutzung verschiedener Nebenflüsse und über ein paar kurze
Wasserscheiden, von der Ostsee bis zum Schwarzen Meere führte. Ihre
Endpunkte lagen an den Ufern des Bosporus und des Mälarsees.
Konstantinopel war der Zielpunkt der normannischen Kriegerscharen, sei es, um
in den Ländern des byzantinischen Kaisers Kampfbeute zu machen, sei es,
um gutbezahlten Kriegsdienst zu nehmen. Die wichtigsten Plätze am
großen Wasserweg waren im Norden Nowgorod, im Süden Kiew.
Das russische Großfürstentum entstand in Kiew; dort bildete sich ein
mächtiger Staat, dessen Herrscher Normannen waren, und ebenso ihre
Gefolgsleute, mit einem slawischen Untertanenvolke. Allmählich aber
verschmolzen die normannischen Krieger und Fürsten mit den slawischen
Vornehmen [262] zu einer gemeinsamen
Herrenschicht. Im 11. und wahrscheinlich auch noch im 12. Jahrhundert
war deren Charakter noch mehr normannisch als slawisch; gegen Ende des 12., so
kann man annehmen, wurde das "Russische" herrschend.
Das Großfürstentum Rußland oder das alte Reich von Kiew
wurde nach germanischer Sitte fortgesetzt unter den Nachkommen Ruriks, des
ersten Fürsten, den nach der Überlieferung die Slawen von
Nowgorod aus Schweden zu sich gerufen hatten, geteilt. Nowgorod am Ilmensee,
mit seinem "jüngeren Bruder" Pskow, und Polozk an der oberen
Düna waren die bedeutendsten Teilfürstentümer im Norden,
und von beiden Stellen aus versuchte die russische Macht gegen das Meer
vorzudringen. Großfürst Jaroslaw, der Sohn Wladimirs des Heiligen
(1019 - 1054) - er war mit Ingegerd, der Tochter des
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Schwedenkönigs Olaf vermählt und noch ganz und gar
Normanne - eroberte im Estenlande die Burg Tarbete, das spätere
Dorpat, und nannte sie Jurjew, nach seinem eigenen christlichen Namen Jurij
(Georg). Die Esten waren ein tapferes Volk und nahmen nach Jaroslaws Tode die
russische Zwingfeste wieder ein; danach war sie abwechselnd in russischen und
estnischen Händen. Um dieselbe Zeit schob sich die russische Macht auch
im Dünatal abwärts. Am Ende des 12. Jahrhunderts
saßen kleine russische Fürsten, die von Polozk abhängig
waren, bis in die Nähe des späteren Riga und erhoben Tribut von den
umwohnenden Liven. Ohne die deutsche Aufsegelung von Livland wäre
dieser ganze Teil des ostbaltischen Küstengebiets allmählich ohne
Zweifel von den Russen unterworfen worden. Das Russentum hätte sich bis
an die Ostsee ausgebreitet und Esten, Liven und Letten wären mit der Zeit
ebenso der Russifizierung erlegen, wie die finnischen Stämme an der
oberen Wolga, an der Oka und Moskwa.
Es hat verhältnismäßig lange gedauert, bis aus den
Sommerfahrten der deutschen Kaufleute, die zuerst um 1160 von Wisby aus den
Eingang in den Meerbusen und die Mündung der Düna fanden, eine
feste Ansiedlung wurde. 1184 kam ein Mönch, Meinhard, aus Segeberg in
Holstein, mit den Kaufleuten und beschloß, zum ersten Male auch
über den Winter im Lande zu bleiben und den Heiden das Christentum zu
predigen. Bei dem Livendorf Ykeskola, ein Stück oberhalb des
Sommerhandelsplatzes, wo später Riga sich erhob, ließ er durch
gotländische Steinmetzen im Sommer 1185 ein steinernes Haus bauen, das
erste auf livländischem Boden. Die Erlaubnis zur Niederlassung und zum
Predigen holte sich Meinhard bei dem Fürsten Wladimir von Polozk, der
die Oberhoheit über das ganze Dünaland in Anspruch nahm.
Charakteristisch ist die Bemerkung, die der Chronist Heinrich, von dem wir
später noch zu reden haben werden, an diesen Anfang der deutschen
Niederlassung in Livland knüpft. Wladimir, so erzählt er, habe die
Bitte Meinhards bewilligt, unter der Bedingung, daß ihm der Tribut von den
Liven nicht geschmälert werde, denn seine, die russische Kirche, war nach
Heinrichs Worten, "eine unfruchtbare Mutter, welche nicht in Hoffnung auf die
Wiedergeburt durch den Glauben [263] an Jesus Christus,
sondern in Hoffnung auf Schatzung und Beute die Heiden zu unterwerfen
trachtet."
Nach Meinhards Tode kam ein Mann von größerem Format an seine
Stelle, Albert, ein Domherr der Bremer Kirche. Dieser gründete an der
Stelle des bisherigen Sommermarktes der Kaufleute eine feste deutsche Stadt,
Riga, im Jahre1201, und im Jahre danach den Orden der Schwertbrüder, um
die Eingeborenen dem Christentum zu unterwerfen. Schon 1207 erklärte
König Philipp von Hohenstaufen Livland als einen Bestandteil des
Deutschen Reiches. Der Schwertbrüderorden ging bald in schwerem Kampf
mit den Eingeborenen zugrunde. Seine Reste vereinigten sich mit dem Deutschen
Orden, der kurz vorher nach Preußen gekommen war und nun auch in
Livland Fuß faßte. Der Landmeister von Livland wurde in der
Marienburg der Oberste unter den Gebietigern des Ordens nächst dem
Hochmeister. Die vollständige Unterwerfung von Livland hat nahezu ein
Jahrhundert gedauert. Am tapfersten waren im Norden die Esten, im Süden
die den Letten verwandten Semgaller, die erst nach 1290 besiegt wurden.
Vom 13. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts war der Orden die Vormacht in
Livland. Neben ihm bestanden das Erzbistum Riga, mehrere Bistümer und
die Städte. Der Handel nach Rußland und Deutschland brachte
großen Reichtum. Die erste Handelsstadt war Riga, danach kamen Reval
und Dorpat. Alle waren sie Mitglieder der Hansa. Die Bürgerschaft in den
Städten, die adligen Vasallen des Ordens und der Bischöfe, die
Geistlichkeit und die Ordensritter selbst waren deutsch; der deutsche Bauer aber
fehlte, weil er im Mittelalter nicht übers Meer ging. Das Niederdeutsche
war herrschend. Letten und Esten bildeten den Bauernstand. Sie hießen die
"Undeutschen"; ihre Lage war ungefähr dieselbe wie die der leibeigenen
Bauern in Deutschland um die Zeit. Im Reiche wußte man, solange die
Kolonie bestand, wohl Bescheid über Livland. Von Luther existiert ein
Sendschreiben "an die Christen zu Riga, Reval und Dorpat in Livland".
Die beiden großen Gefahren der Kolonie waren im Innern die zunehmende
moralische Aushöhlung des Ordens, der eigentlich keinen Zweck mehr
hatte, seit es keine Heiden mehr zu bekämpfen gab, und nach außen
die wachsende russische Gefahr. Seit der Abwerfung des Mongolenjochs
begannen die unter Moskau zum großen Teil geeinten Kräfte
Rußlands sich von neuem gegen Westen zu regen. Moskau wollte ans Meer.
Zu Beginn des 16. Jahrhunderts, unter dem Zaren Iwan III., kam der
erste große Ansturm gegen Livland. Der Ordensmeister Walter von
Plettenberg, ein Staatsmann und Held, rettete das Land durch kriegerische Taten
und diplomatisches Geschick, aber was er gewann, war doch nur ein Aufschub der
Katastrophe um fünfzig Jahre. In dem langen Zeitraum vom Beginn des
13. Jahrhunderts an war jedoch Livland, welches auch später sein
Schicksal werden mochte, mit seiner deutschen Kultur und seiner
Zugehörigkeit zur römischen, später zur protestantischen
Kirche ein für allemal ein Stück des Abendlandes geworden. [264] Das war die
große geschichtliche Bedeutung dieser einzigen Koloniegründung,
die das deutsche Volk im Laufe eines Jahrtausends über See zustande
gebracht hat. Wäre Livland im 13. Jahrhundert russisch geworden
statt deutsch, so hätte vieles in der europäischen Geschichte vom
späteren Mittelalter bis zur Neuzeit eine andere Wendung genommen, und
schwerlich zum Vorteil des Deutschtums.
Im Jahre 1559 erneuerte Iwan IV., der Schreckliche, den russischen Krieg. Unter
furchtbaren Greueln wälzten sich die moskowitischen und tatarischen
Heerscharen nach Livland hinein. Das Reich wurde um Hilfe angegangen, aber es
hatte nichts als Worte. Iwan wäre an sein Ziel gelangt, er hätte
Livland und die Ostseeküste erobert, wenn ihm nicht Polen und Schweden
entgegengetreten wären. Diesen erschien es gefährlich, den
Moskowiter ans Meer zu lassen. Nach zwanzigjährigem Kampfe, in dem
ganz Livland zur Wüste wurde, mußte der Zar von seinem Wunsche
ablassen, und Polen und Schweden teilten sich in die Leute. Das war nach dem
ersten, im 13. Jahrhundert, der zweite Kampf zwischen Deutschtum und
Russentum um Livland. Als ein geringer, gleich dem "Herzogtum" Preußen
säkularisierter Rest des Ordensstaates erhielt sich unter polnischer
Oberhoheit das Herzogtum Kurland. Gotthard Kettler, der letzte Ordensmeister,
wurde der erste Herzog. Von den kurländischen Herzögen aus dem
Hause Kettler war der bedeutendste Jakob, ein Zeitgenosse des Großen
Kurfürsten und mit ihm verschwägert, aber nicht so glücklich
wie jener in dem Bemühen, eine von Polen unabhängige Herrschaft
zu gründen. Riga wurde von Gustav Adolf den Polen abgenommen und
blieb ein Jahrhundert lang die wichtigste
Hafen- und Handelsstadt des schwedischen Ostseereiches.
Im nordischen Kriege verlor Schweden Estland und das eigentliche Livland an
Peter den Großen. Reval und Riga kapitulierten beide im Jahre 1710. Der
Zar beschwor freiwillig das deutsche Recht in den eroberten Provinzen. Als ihn
nach der Kapitulation von Reval der estländische Ritterschaftshauptmann
mit den Worten anredete, wenn er nicht gedächte, den Eid zu halten, so
stände es ihm ja frei, ihn nicht zu schwören, rief Peter aus: "Bei Gott,
ich werde ihn halten!" Die durch den russischen Krieg abermals auf das
furchtbarste verwüsteten und verarmten Provinzen erholten sich unter
Rußland, dem es nun endlich, fünfhundert Jahre nach den ersten
Kämpfen zwischen dem Orden und den russischen Kleinfürsten um
Livland, gelungen war, bis an die Ostsee vorzudringen. Mit der letzten Teilung
Polens, 1795, wurde auch das Herzogtum Kurland russische Provinz. 1803 wurde
unter Alexander I. die schon von Gustav Adolf ins Leben gerufene, aber
wieder verfallene Universität in Dorpat als deutsche Hochschule
gegründet. Neunzig Jahre lang blieb ihr Name einer der vornehmsten, so
weit die Welt deutscher Wissenschaft reichte.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann in den baltischen
Provinzen die Russifizierung. Sie zerstörte zuerst die zwar altmodische,
aber den Bedürfnissen des Landes angepaßte, gut arbeitende und
moralisch intakte Eigenver- [265] waltung zugunsten eines fremden, auf nicht
immer saubere Kräfte angewiesenen Schematismus. Dasselbe geschah mit
dem deutschen Gerichtswesen. Es folgte die Zerstörung des
glänzenden, teils aus Landes-, teils aus Staatsmitteln unterhaltenen
deutsch-baltischen Schulwesens und der Universität. Nichts blieb
übrig, als ein wüster Trümmerhaufen, in dem unfähige,
dem nationalen Chauvinismus oder dem Nihilismus ergebene Lehrkräfte in
einer fremden und verhaßten Sprache ein mißmutiges
Schülermaterial abrichteten. Vom ersten bis zum letzten Augenblick unter
russischer Herrschaft haben die deutschen Balten gegenüber dem russischen
Wesen ihre Verschiedenheit und ihre Überlegenheit gefühlt und
betont. Ebenso aber betonten sie ihr Treuverhältnis zum russischen
Herrscherhause.
Der innere Konflikt, in dem das baltische Deutschtum stand, seit der Schwur
Peters des Großen gebrochen und der Vernichtungsfeldzug gegen alles
Deutsche angefangen war, steigerte sich aufs höchste mit dem Ausbruch
des Weltkrieges, aber trotzdem ist es niemals vorgekommen, daß Balten, so
wie die Tschechen es taten, den Staat, an den ihr Schicksal sie gekettet hatte,
verrieten und zu dem "Feinde" überliefen, der ihres Blutes und ihrer
Sprache war. Zahlenmäßig haben die Deutschen nie mehr als etwa
ein Zwölftel der baltischen Gesamtbevölkerung ausgemacht. Ihre
Schichtung blieb durch siebenhundert Jahre gleich und umfaßte den
Großgrundbesitz auf dem flachen Lande, das Bürgertum in den
Städten und die akademisch gebildeten Berufe in Stadt und Land. Erst mit
der Russifizierung kamen "aus Rußland", wie man zu sagen pflegt,
minderwertige Beamte, die moralisch und sozial als Fremdkörper
empfunden wurden, ins Land.
Entscheidend für das Schicksal des Deutschtums war schon im 13.
Jahrhundert die Tatsache, daß keine deutschen Bauern, so wie sie nach
Pommern und Schlesien, nach Siebenbürgen und nach der Zips gegangen
waren, auch nach Livland gingen. Das Meer war und blieb die Grenze der
mittelalterlichen deutschen Wanderung. So kam es zu keiner Germanisierung des
lettischen und estnischen Landvolkes, aber das lettische, wie das estnische Volk
sind doch nur darum erhalten worden, weil durch die deutsche Kolonisation das
Vordringen der Russen gegen die Ostsee vom Beginn des 13. bis zum Beginn des
18. Jahrhunderts verhindert wurde. Nicht nur das, sondern es wurden auch
erst von deutscher Seite im 19. Jahrhundert die Lebensbedingungen
hergestellt, die Letten und Esten brauchten, um jedes aus einer unfreien
bäuerlichen Masse zu einem Volk mit höherem nationalen Eigengut
zu werden. Die eine bestand in der Schaffung eines freien lettischen und
estnischen Bauernstandes, die andere in der Ausbildung der beiden einheimischen
Sprachen bis zur Brauchbarkeit für den Ausdruck höherer
Kulturwerte. In Rußland wurde die bäuerliche Leibeigenschaft erst
1861 aufgehoben; in den baltischen Provinzen nur wenig später als in
Preußen durch die Stein-Hardenbergsche Reform. Nach der baltischen
Bauernbefreiung ging allmählich durch ein liberal organisiertes
Abzahlungssystem fast die Hälfte des ländlichen Grund und Bodens
aus den Händen [266] der deutschen
Großgrundbesitzer in die lettischer und estnischer Bauern über. Die
Führung bei der baltischen Bodenreform hatte der berühmte
Landmarschall von Livland, Hamilkar v. Fölkersahm.
Diese baltische Agrarreform war ein wirtschafts- und kulturpolitischer Vorgang,
wie er sich nach Anlage und Durchführung nie und nirgends wiederholt hat,
wo auch immer es galt, den Weg aus der bäuerlichen Leibeigenschaft zu
freiem bäuerlichen Grundbesitz zu finden. In den baltischen Provinzen
geschah, aus freiem Antrieb der deutschen Ritterschaft, genau das Umgekehrte
wie kurz vorher in Preußen, wo in der Zeit nach Beseitigung der
Leibeigenschaft die Gutsherren Freiheit erhielten, um das Bauernlegen im
großen Stile zu betreiben. Trotzdem aber auf diese Weise eine gesunde
wirtschaftliche Basis für das Verhältnis von Großgrundbesitz
und selbständigem Bauerntum geschaffen war, erhoben sich
Schwierigkeiten zwischen den deutschen Balten auf der einen, den Letten und
Esten, den "Indigenen", wie sie genannt wurden, auf der andern Seite auf Grund
der nationalen Verschiedenheit. Sie waren unausbleiblich, sobald die beiden
Völker, dem Zuge des Jahrhunderts folgend, zu nationalem
Bewußtsein erwachten, und dies Erwachen wurde von zwei Seiten her
gefördert: durch das Entstehen einer lettischen und estnischen
Zeitungs- und Literatursprache, und durch eine planmäßige
Verhetzung von Rußland her. Durch den Protestantismus wurden zuerst
Bibel und Gesangbuch in die einheimischen Sprachen übersetzt. Danach
entstand als eine Schöpfung der deutschen lutherischen Pastoren und
deutschen Gutsbesitzer die lettische und estnische Volksschule. Auch die ersten
wissenschaftlichen Arbeiten, durch die eine wissenschaftliche lettische und
estnische Grammatik geschaffen und die Sprachen zum literarischen Ausdruck
fähig gemacht wurden, geschahen durch deutsche Gelehrte. Der
kurländische Pastor Bielenstein war geradezu der wissenschaftliche
Schöpfer des Lettischen. So nur konnte verhältnismäßig
schnell bei Letten und Esten ein Zeitungswesen und ein mannigfaltiges Schrifttum
in der eigenen Sprache entstehen.
Der große Krieg brachte zunächst eine plötzliche und mit
unerhörter Brutalität einsetzende Unterdrückung jeder
Äußerung von deutschem Leben durch den vereinigten
russisch-lettischen und russisch-estnischen Terror. Dann kam die deutsche
militärische Okkupation und mit ihr die vorübergehende Hoffnung,
den alten Kolonialboden des Reiches in irgend einer Form auch wieder politisch
zu einem Gebiet deutschen Einflusses zu machen. Mit dem Zusammenbruch von
1918 mußte auch sie begraben werden. Die deutschen Truppen
räumten das Land, und sofort ergoß sich eine blutige Welle von
Mord, Plünderung und Brand, zu der sich russischer und lettischer
Bolschewismus vereinten - im estnischen Gebiet waren die Zustände
nicht ganz so furchtbar - über das Land. In bestialischen Massacres,
bei denen sich am meisten der lettische Pöbel auszeichnete, voran die
entmenschten "Flintenweiber", wurden Tausende von Deutschen niedergemacht,
ohne Unterschied, ob Männer, Frauen oder Kinder. Die Gebildeten,
Geistliche, Lehrer, Ärzte usw., und der Adel [267] waren die am meisten
gesuchten Opfer. Vorübergehend leuchtete noch eine Hoffnung auf, als die
deutsch-baltische freiwillige Landeswehr zusammen mit der Truppe des Generals
v. d. Goltz Riga eroberte und die Bolschewisten hinauswarf. Durch
die fatale Verquickung des v. d. Goltz'schen Unternehmens mit den
Absichten eines russischen Abenteurers, Bermont, und mit phantastischen
Plänen anderer Art lag in diesem baltischen Feldzug von vornherein der
Keim des Mißlingens. Das Friedensdiktat der Sieger nach dem Weltkriege
gestattete dem lettischen und estnischen Volke, sich in Form zweier
unabhängiger nationaler Republiken zu konstituieren. Von den Deutschen
war, als der Bolschewistenschrecken im Lande herrschte, ein großer Teil
geflohen. Ein Teil dieser Flüchtlinge ist als baltisches Emigrantentum in
Deutschland geblieben; ein anderer ist in die Heimat zurückgekehrt,
nachdem dort mit der Wiederkehr einer gesetzlichen Ordnung wenn auch
schwere, so doch wieder erträgliche Verhältnisse für das
Deutschtum geschaffen waren.
Von nun an trennt sich die mit einer vorübergehenden Unterbrechung durch
sieben Jahrhunderte einheitlich verlaufene Geschichte des Baltikums in die der
beiden Staaten Lettland und Estland. Lettland ist nicht ganz so
groß wie Bayern, mit rund 1,6 Millionen Einwohnern, davon nicht ganz 1,2
Millionen Letten und etwa 70 000 Deutschen; der Rest besteht aus
Großrussen, Weißrussen, Nationaljuden, Polen, Litauern usw.
Estland ist etwas kleiner als Lettland und hat rund 1,1 Millionen Einwohner,
darunter etwa 27 000 Deutsche; außerdem geringe Minderheiten
russischer, jüdischer und schwedischer Nationalität. Bemerkenswert
ist, daß sich unter den Deutschen in Lettland auch ein in kräftiger
Vermehrung begriffener Stamm von deutschen Bauern befindet, der sich von
einer, nach der ersten russischen Revolution begonnenen, weitblickenden und nur
zu früh zum Stillstand gekommenen inneren Kolonisation herschreibt. Das
Material dazu stammte aus den deutschen Siedlungen im Inneren von
Rußland.
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