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Die Schweiz
Jakob Schaffner

Es wäre keine Vermessenheit, zu behaupten, daß die Schweiz eines der am wenigsten bekannten Länder Europas ist und das Schweizer Volk das verborgenste und heimlichste. Denn was kennt der Fremde von der Schweiz? Die Berge und Hotels, die Gebirgsbahnen und Autostraßen, allenfalls ein Paar Städte, und damit ist es getan. Wenn es ganz hoch kommt und köstlich ist, so denkt man noch an Wilhelm Tell von Schiller und an Goethes Schweizer Reisen. Aber das sind dann die ganz durchdringenden Geister, denen auch gar nichts verborgen bleibt, und die unerbittlich bis auf den Grund tauchen. Die Ignoranz steigert sich in anschaulicher Stufenfolge, je weiter man nach Westen kommt. Die Deutschen sind immerhin noch für unsre Freiheit begeistert. Die Franzosen schätzen uns als dankbare Abnehmer von Waren und feiner Lebensart. Den Engländern rangieren wir neben den Botokuden als Eingeborene. Die Amerikaner führen uns irgendwo in ihrem Gedächtnis als eine Kuriosität. Doch mag man sich getrösten, wir wissen von den andern auch nicht viel. Wir sind zwar eines der internationalsten Völker, aber von der wahren Wesensart anderer Menschengruppen haben wir eigentlich wenig Begriff, und seitdem der Völkerbund in Genf residiert, verstehen wir überhaupt nichts mehr. Aber fangen wir immerhin bei der Freiheit an.

Man weiß von Schiller her, daß wir da einmal mit unsrer damaligen Obrigkeit, die Gewalt über uns hatte, und welcher wir nach den Worten der Schrift Untertan sein sollten, nicht mehr recht zufrieden waren, und sie mit einiger sanften Gewalt oder gewalttätigen Sanftmütigkeit abgesetzt haben. Wir haben dabei niemand etwas getan. Von denen, die uns ihre andersartige Meinung aufdrängen wollten, wurden einige totgeschlagen, aber sie haben ausdrücklich dazu gedrängt. Und ganz nebenbei wurde so die erste europäische Freiheit aufgerichtet. Zunächst hatte man aber wirklich nichts im Sinn als eine zweckmäßige häusliche Einrichtung. Man hielt es für richtig, den Ertrag seiner Arbeit selber einzunehmen, anstatt einen Teil davon ganz verwirrenderweise an österreichische Vögte und feudale Grundherren abzuführen, als ob sie arbeiten geholfen hätten. Dann gab es da noch die Pässe nach Italien, die man ebenfalls besser selber beaufsichtigte und bewirtschaftete, da die Straßen doch einmal durch eidgenössisches Land führten. Nach der Auflösung der alten Reichsgewalt bestand nur die Frage, wer künftig da kommandierte, das ansässige Volk oder das ferne Habsburg, das gerade anfing, seine immer hungrige Hauspolitik auszubreiten. Es ergibt sich da eine bedenkenswerte Ähnlichkeit mit gewissen gegenwärtigen Gemütsverfassungen bei andern Völkern.

Wolfgang Götz hat uns in schöner Männlichkeit angegriffen, weil wir in der Folge dieser Neuordnungen vom Reich abgegangen seien. Ich muß, schon zum Verständnis des [366] Schweizer Charakters, hier betonen, daß dies so wenig im Zug unsrer Unternehmungen gelegen hatte wie die Trennung von der Kirche bei Luther. Der Bruch mit dem Reich ergab sich durch den Bruch mit Habsburg, das damals in der Lage war, sich mit dem Reich zu identifizieren und uns Reichsheere auf den Hals zu hetzen, um mit ihnen habsburgische Politik zu machen. Das hielten wir dann wieder nicht für zweckmäßig. Gegen das Reich an sich hatten wir gar nichts. Bis zu allerletzt betrachteten sich die Schweizer als freie Glieder des deutschen Reiches, in dessen oberstem Schutz sie standen und dessen Hoheit sie immer anerkannten. Die polypenartige Ausbreitung der Habsburgischen Hausmacht auf Kosten des ganzen deutschen Volkes fand endlich in der Schweiz den Widerstand und die Antwort, von denen das ganze Reich hätte hallen sollen. Und das ist der kleine Denkunterschied, der die Schweizer fortan von den Reichsdeutschen trennte. Der Einschnitt liegt im Jahr 1499, 23 Jahre, nachdem die Eidgenossen die Schlachten gegen den Burgunder Karl, genannt den Kühnen, geschlagen hatten, und da sie doch einmal daran waren, Ordnung zu schaffen, liest man auch bald, daß sie einen päpstlichen Legaten, der Unfug mit dem Ablaß trieb, "in ein Wasser schossen". Darauf machten sie auf eigene Faust und auf ihre Weise Reformation, und zwar gleich in doppelter Ausfertigung, humane auf zwinglische Art in Zürich, und inhumane auf calvinische in Genf. Die zwinglische Reformation unterscheidet sich von der lutherschen durch die Form des Abendmahls und durch den Glauben Zwinglis, daß er im Himmel neben den Propheten und Aposteln zu gleichen Rechten auch fromme Heiden finden werde. Man muß das alles wissen, um zu begreifen, was schweizerisch ist. Dazu gehört dann noch die weltberühmte humanistische Universität in Basel mit ihrem Erasmus, gehören die Baseler Drucke, gehören die Holbein und Konrad Witz, Niklaus Manuel und Hans Leu und die ganze ruhmreiche oberrheinische Kulturentfaltung, die so viel Gesicht und Eigenart und Unabhängigkeit hat und dabei so viel gesunde Sinnenhaftigkeit und Formkraft. Dazu gehören eine ganze Reihe berühmter Klosterbauten, kräftiger, schöner Bürgerstädte, Häuser voll von einheimischem Kunstgut und reichem, tüchtigem Lebensniederschlag, wohin der Blick fällt, ein Land voll von gedeihlichen Dörfern mit einem heute noch ungebrochenen, lebensfreudigen Bauernstil, und überall steht dazwischen ein Schloß oder ein Schlößchen, das von erfolgreicher Vergangenheit und zäher, trotzig froher Gegenwart erzählt. Davon weiß der reisende Fremde bedeutend weniger, aber es ist just das, was Land und Volk ausmachen, wodurch, worin und wofür gelebt wird, der Sinn, das Unabänderliche und Unwandelbare, die eigentliche Erscheinung.

Nach Schiller ist die Schweiz noch einmal ganz schnell und unbedeutend durch Keyserling literarisch berühmt geworden. Er hatte da etwas erfahren vom Volk von Wirten, zu welchem die Schweizer aus einem Volk von Hirten geworden seien. Dies und einige von ihm flüchtig angestellte Beobachtungen und nur halb verdaute Erlebnisse hatte er zu einem modernen Bild der Eidgenossenschaft zusammengestellt mit der Oberflächlichkeit und Fixigkeit, die nun einmal bei solchen journalistischen Leistungen aus dem Tag für den Tag nicht zu vermeiden sind. Grundsätzlich sollte man über nichts schreiben, was man nicht versteht. Aber seitdem Goethe gesagt hat, wenn man eine Materie nicht kenne, so solle man einen Aufsatz darüber schreiben oder einen Vortrag halten, ist in der Literatur eine gemeingefährliche Entdeckerfreudigkeit ausgebrochen, welcher in diesem Fall auch die [367] Schweiz zum Opfer fiel. Das Vorkommnis führt uns mitten in die gegenwärtige Schweiz und ihre Probleme hinein. Tatsächlich würde dem heutigen Stadt- und Bildungsschweizer keiner mehr sein Herkommen von jenen Haudegen und Rauhbärten ansehen. Wenn vollends Keyserling Schlüsse zieht aus der Anfälligkeit gewisser Schweizer Kreise für ihn und seine Philosophie, so kann man ihm nicht einmal so sehr unrecht geben. Auch die große Verehrung des Volkes für Besitz und Stellung scheint mit der früheren Haltung nicht mehr ganz zusammenzuklingen. Aber dann muß man untersuchen, welches Volk man meint. Der Innerschweizer in Uri oder Schwyz unterscheidet sich zum Beispiel vom Schweizer in Zürich stärker als vom Schweizer in Graubünden oder im Kanton Basel Land, während andererseits die vielberufenen Unterschiede zwischen dem deutschen und dem französischen Schweizer längst nicht so groß sind, wie sie dem Deutschen vorkommen, und nicht so bedeutend, wie der Unterschied zwischen dem Oldenburger und dem [368] Bayern. Überall ist es das Bergvolk, das mit der französischen Zunge genau dieselbe Art von Berglersprache spricht wie mit der deutschen, und das mit derselben unwandelbaren Grundgesinnung zum gesamten Freiheitsstaat steht, der aus seinen Tälern herausgewachsen ist.

St. Moritz - Dorf mit See.
[367]      St. Moritz - Dorf mit See, der eleganteste Wintersportplatz der Schweiz.

Dasselbe Unwesen von rührendem Mißverstehen ist es mit der Rede vom Volk der Wirte. Die Fremdenindustrie hat einen gewissen Anteil an der Gesamtwirtschaft, und es ist viel Geld darin investiert, das ist wahr. Aber als moralischer Faktor spielt sie eine ganz kleine Rolle. Der zahlenmäßige Anteil der Menschen an der Fremdenindustrie verschwindet neben den andern Grundindustrien und vollends neben den bodenständigen Gewerben, von denen das Volk in Wahrheit lebt. Aber weil der Fremde nicht mehr die Begabung hat, über den Hotelportier hinweg selber mit Volk zu verkehren, glaubt er, was er erlebt, das ist auch schon alles. Nach den Bergen ist das Leben sehr spät und zuerst außerordentlich zögernd hinaufgestiegen, nachdem es in den großen Zügen der Flußtäler bereits jahrtausendelang Wirtschaft, Politik, Geschichte und Kultur in äußerst kräftiger und eigenartiger Weise getrieben hatte. Oberrheinische Menschheit ist es, die da trotzig und begabt ihr formen-, gestalten- und farbenreiches Eigendasein geführt hat, angeleitet, gehegt, getragen und geführt von ihren Flüssen, von ihnen bedingt, charakterisiert, gebildet, mit Gehalt erfüllt und mit Seele und Geist ausgestattet. Von den Zeiten der Pfahlbauern bis zu den Hochhäusern in Zürich ist es ein weiter, reicher, ausdrucksmächtiger Weg, in jeder Flußwindung und in jedem Jahrzehnt von langlebigen Dokumenten, weittragenden Handlungen und tiefgreifenden Schicksalen begleitet, und in jedem Augenblick eigen, unverwechselbar, ausdrücklich schweizerisch, oberrheinisch, frühgeweckt und selbstbehauptungsfroh.

Ein Volk kann man immer nur aus seinem Raum verstehen. Es ist kein Zufall, daß eine norddeutsche Menschengruppe so wenig Ähnlichkeit mit einer süddeutschen hat. Die Schweiz setzt sich zusammen aus einer Fülle von mehr oder weniger in sich abgeschlossenen Talschaften, die eine Selbstverständlichkeit für Einzelsein ermöglichen; der demokratische Charakter ist damit bereits gegeben im Gegensatz zur Tiefebene, die den Menschen auf die Unterworfenheit oder die Selbsthilfe durch Sozialismus und Kommunismus hinweist. Die Schweiz ist ungefähr die Gegenerscheinung zum kommunistischen Rußland und hat ja auch, wie man weiß, einstweilen keinen diplomatischen Verkehr mit ihm. Aus dieser Lage in leicht übersichtlichen Talschaften hat sich ferner der Freiheitssinn entwickelt, militärisch begünstigt durch die Lage selber, die den Wert eines kleinen Volksheeres gegenüber technisch ausgerüsteten Ritterheeren immer unterstützte und ungemein erhöhte. Aber diese Landschaft hat zugleich einen hohen Schönheitswert, der sich in einem gesteigerten Lebensgefühl äußert.

Adelboden.
[369]      Adelboden.

Die Gegenwart der Alpenkette mit ihren Zinnen und Firnen, letzten Höhen und Abgründen ist jedem Volksgenossen real und symbolisch immer mehr oder weniger bewußt. Aber die Lebensvoraussetzungen eines kleinen und politisch stets gefährdeten Staates mahnen zur Umsicht und zur Besonnenheit, und so hat sich dieser Volkscharakter zusammengesetzt aus Stolz und Ehrenhaftigkeit, Verschlagenheit und Treue, Anspruch auf Bescheidenheit, Großmut und Genauigkeit, Selbstschätzung und Mißtrauen, Unbefangenheit und Neigung zum Abwarten und der politische Grundsatz der Neutralität ist als Lebensstimmung bis tief ins Moralische und Menschliche hineingedrungen. Darum ist die Haltung dieses Volkes geschichtlich bewußt unheroisch geworden, antiimperialistisch, [369] abgeneigt allen Expansionen und Ausladungen, durchdringend bürgerlich, verkehrsfreundlich, individualistisch und gemeingesonnen, entwicklungsliebend, gleichzeitig fortschrittsfreundlich und zäh am Herkommen festhaltend. Kein Volk ist so im Innersten konservativ, wenn es sich um die Lebensgestaltung handelt. Mit elektrischem Licht und elektrischen Bahnen und den besten und komfortabelsten Hotels leben sie ihre alten Bräuche weiter, halten sie streng an der überkommenen Moral fest, an den allgemein angenommenen und erprobten Wertmaßstäben, die durch das ganze Land dieselben sind, an einem gemeinsamen Ton, an der Pflege ihrer nationalen Eigenart, an der Liebe zu ihrer Geschichte, der Ehrfurcht vor ihren Einrichtungen und der Neigung zu einem ziemlich hohen Lebensstandard bei einmütiger Verwerfung des persönlichen Luxusaufwandes in wirtschaftlicher wie in geistiger und seelischer Beziehung. Der reiche Protz war bisher in der Schweiz keine typische Erscheinung. Den Raffke kennt man nicht. Des ausländischen Imports an solchen Erscheinungen hat man sich schnell und ohne viel Aufsehen entledigt. Zur hohen Lebenshaltung gehört eine nahe Beziehung zu allem Kulturellen. Die deutschen Vortragenden wissen, daß sie ruhig in einer Schweizerstadt von fünftausend und noch weniger Einwohnern auftreten können, und sind dabei, wenn sie Wesentliches zu bieten haben, eines guten, schön mitgehenden und verständnisvollen Publikums sicher. Wagnisse lieben sie allerdings mehr auf dem Seil; für Exzentrizitäten haben sie sehr wenig Sinn, und von schnoddrigen Drüberhereinrednern lassen sie sich immer nur eine kurze Zeit verblüffen. Sie haben eine Anfälligkeit für fortschrittliche Ideen, die aber seit dem Bestehen des Völkerbundes eher abgenommen hat und eine natürliche Dankbarkeit für Wahrheit und Schönheit.

In jedem Haus, wo gemütsentwickelte Menschen wohnen, trifft man eine Reihe ernster Bücher aus der Gegenwart, eine seriöse Musikpflege, oft Kammermusik, überhaupt auf- [370] fallend viel Streichmusik, und fast überall findet man ein paar anständige Bilder von Zeitgenossen. Es gibt sogar nur wenig Angehörige der sogenannten höheren Stände, die an dieser Kulturliebe keinen Anteil nehmen. Hoch angesehen ist die Bildung, und zwar die weltmännische auf Sprachenkenntnis beruhende, wie die humanistische, die von den vielen Universitäten und Bildungsgesellschaften gepflegt wird, die künstlerische und die modernistische auf der Linie von den sozialistischen Pfarrern bis zu Jung und der modernen Architektur, Denkweise und Kunstgebarung. Von dem vielen theoretischen Wissen geht natürlich wie überall in den gebildeten Ständen eine gewisse Schwächung des Instinktes und des natürlichen Urteils aus, aber aus dem Volk wächst immer genug gesunder Sinn nach, um die Gesamtkultur einstweilen noch vor Wipfeldürre zu bewahren. Alles in allem ergibt sich hier eine Kulturbilanz von absolutem Wert und hohem Rang. Das Volk hat lange keinen Krieg mehr geführt. Ungestört hat sich von Jahrhundert zu Jahrhundert der Kulturhumus niederschlagen und sättigen können. Nicht wie bei großen Völkern ist von Zeit zu Zeit der Boden aufgerissen und bis auf die Steine und den blauen Ton hinunter immer wieder durcheinandergeworfen worden, so daß von neuem angefangen werden mußte. Nirgends sieht man in den Häusern so selbstverständlich das schöne alte Mobiliar stehen und in Gebrauch sein, ohne daß jemand dabei an Altertum denkt. Es ist eben ununterbrochen Leben und Fortwirken von Geschlecht zu Geschlecht. Nicht umsonst treibt die Schweiz diese liebevolle und genaue Geschlechterpflege mit Anhängung des Frauennamens an den Mannesnamen, wodurch das Herkommen der Frau im gleichen Wort mit dem des Mannes angezeigt wird, bis auf die Führung von Wappen und den Rückweis in die Geschichte, der sehr oft weite Aspekte in die Vergangenheit eröffnet. So ist immer alles gleichzeitig in einem Raum und in einem Begriff beisammen. Altes und Neues, Totes, das nie ganz stirbt, und Lebendiges, das die Erbmasse weitergibt und dem Zustand wieder ein paar neue Züge beifügt. Eilig geht nichts. Man hat Zeit, zu warten. Hast kann nur verderben. Lärm ist nicht beliebt. In der Stille keimt jede Frucht. Und das Echte kommt auf leisen Sohlen.

Die Burg von Laupen zwischen Bern und Freiburg.
[371]      Die Burg von Laupen zwischen Bern und Freiburg.

Seit dem Ausgang des Mittelalters und der eidgenössischen Expansion hat die wirtschaftliche und soziale Struktur des Volkes mehrere Wandlungen durchgemacht. Lange Zeit hat man sich an Kriegszügen entwickelt, bereichert und aufgebaut. Die Einflußkarte der Eidgenossenschaft reichte nördlich bis Rottweil und Straßburg als den nördlichsten Verbündeten; südlich saß man als Herrscher in Mailand, und westlich gehörte Burgund zum Herrschaftsgebiet, außerdem das Veltlin und Savoyen. An der neuen Kriegstechnik der Franzosen scheiterte die eidgenössische Entfaltung, womit es mit eigenen Kriegszügen vorbei war. Jahrhundertelang kannte man die Schweizer als Soldnehmer der großen Herren. Mit der französischen Revolution ging auch diese Epoche zu Ende, und die Eidgenossen mußten nun, nachdem sie lange genug Raubbau getrieben hatten, ernstlich nachdenken, wie sie ihre Jungmannschaft im Lande selber ernährten. Sie haben diese Frage vorbildlich gelöst. Zuerst wurde bewußt die Viehwirtschaft entwickelt mit der gleichzeitigen Erschließung des Weidebetriebes auf den Bergwiesen, der nicht etwa ein alter, eingeführter Brauch war. Dann ging man an die systematische Gründung von eigenen Industrien, wovon die Uhren, die Schokolade und die Spitzen besonders bekannt geworden sind. Seit der Hugenottenzeit hatte sich schon die Seidenindustrie in der Schweiz heimisch [371] gemacht. Dazu kam später noch eine hochentwickelte Maschinenindustrie und die chemische Industrie mit sehr bedeutenden Eigenposten. Damit hat sich die Schweiz auf einem neuen Gebiet selbständig gemacht und sich gleichzeitig eine Expansionssphäre geschaffen, die sie weniger mit politischem Druck, dessen sie ja nicht mehr mächtig ist, als durch unbedingte Qualität stetig ausbauen und erweitern konnte. Kaum ein Land ist so auf reine Veredlungsindustrie angewiesen wie die Schweiz, und dieser Zug auf das Solide, Echte, Gute geht durch das ganze Volk, gleichzeitig mit der Haltung auf Besonderheit und Anspruch, die man von sich verlangt. Was wir in unsrer Jugend ungeduldig und angreifend forderten, die Elektrifizierung der Wasserkräfte, ist inzwischen in großem Ausmaß ins Werk gesetzt worden, so daß die Schweiz nicht bloß alle ihre Bahnen elektrisch betreibt und Zehntausende von Maschinen elektrisch laufen, sondern man ist auch ein Stromexporteur erster Klasse geworden.

Die Kraft und Wirkung eines Volkes beruht einzig und allein auf der richtigen Einschätzung der eigenen Hilfsmittel und ihrem klugen und kräftigen Gebrauch. Aus dieser Einstellung ist das hochentwickelte Versicherungs- und Rückversicherungswesen hervorgegangen. Es entspricht einer ausgemachten schweizerischen Lebensauffassung, die die Versicherung in jeder Form sucht und zu schaffen strebt in einer fast religiösen stillen Leidenschaftlichkeit. Mit der gleichen Kraft wird alles Un- [372] sichere, Zufällige, Abenteuerhafte gehaßt und möglichst gemieden. Die Botschaft Shaws in dem Stück "Zu wahr, um schön zu sein", die sich gegen die Versicherungen im Leben wendet, ist nicht im Sinn des Schweizer Volkes. Eine solche Gesinnung, verbunden mit der Umsicht und der Unternehmungsgabe, die man immer mehr an den Schweizern beobachtete, zog dann noch Kapitalien ins Land in einem Ausmaß, daß es nachgerade zu einem Problem geworden ist. Um nur einen Begriff von dem erarbeiteten eigenen Reichtum zu geben: Die Steuerlisten der Stadt Zürich ohne den Kanton, die öffentlich sind, weisen einen versteuerten Vermögensbetrag von vier und einer halben Milliarde aus. Auch das muß man wissen.

Wie aber geht es zu, daß bei einer solchen ungeheuren Verschiebung des Nationalvermögens, wie es diese Ziffer zweifellos enthält, in der Schweiz noch verhältnismäßig ruhige Zustände herrschen? Nun, die Verschiebung ist nicht so groß, wie sie in Deutschland wäre, da hier nicht im deutschen Sinn ein ausgesperrtes Proletariat gegenübersteht. Die ganze Wirtschaft baut sich auf einem freien, demokratischen Boden auf, den das Volk unmittelbar selbst besitzt und bebaut und ausnützt. Da also der Boden nicht wie im Norden fortwährend enterbtes Landproletariat ausspeit, um Stadtproletariat daraus zu machen, so steht der Industriearbeiter hoch im Preis. Man muß nur seine Haltung, seine Kleidung und seine Ansprüche mit denen seiner deutschen Kollegen vergleichen, so fällt ein grundsätzlicher Unterschied in der ganzen Lebensstimmung auf. Der Kapitalismus hat in der Schweiz die klassische Form nicht verlassen. Er ist immer noch reine Privatindustrie ohne Trustcharakter und ohne egoistische Verschwörung gegen das konsumierende Volk. Es gibt also weder die Klasse der feudalen Agrarier noch die Klasse der feudalen Unternehmer, die sich auf jener aufbaut, und darum auch nicht die Klasse der

Burgdorf im Emmental.
[373]      Burgdorf im Emmental
mit dem als Amtssitz dienenden alten Schloß.
Proletarier, die sich von der Gesamtkultur und vom Gesamtstaat lossagt, weil sie keinen unmittelbaren Anteil mehr daran hat. Die politischen Rechte spielen hier nicht wie anderswo lediglich die Rolle des Freiheits- und Lebensersatzes ohne große praktische Wirkung, sondern dies anspruchsvolle, wachsame und zähe Volk würde jeden ernsten Versuch zur Verlagerung des Gleichgewichtes durch eine Abstimmung niederschlagen - und auch durch einen Waffengang, wenn es sein müßte. Dies Volk ist demokratisch und bleibt demokratisch. Nur daß der Begriff "Demokratie" in der Geschichte je und je eine Verschärfung und Auferweckung erfahren hat, abgesehen davon, daß er in jedem Himmelsstrich ein anderes Gesicht zeigt. Und jetzt ist man daran, ihm wieder einen frischen Impuls und Gehalt zu geben. Das wird einige Kämpfe setzen, gespornt durch die steigende Arbeitsnot, aber man wird damit fertig werden, man wird sich nicht umwerfen lassen, wie man auch nicht das Kind mit dem Bade ausschütten wird, und die Erfahrung, Zielwitterung und eingeborene Bodenkraft dieses Volkes wird zu seinen friedlichen Siegen einen neuen hinzufügen.

Denn die Wirtschaft eines Volkes ist ja nicht sein Leben, sondern sie ist, neben andern Ausdrücken, ein Ausdruck des Lebens. Sicher hat man auch hier wie überall eine Zeitlang und in gewissen Kreisen Wirtschaft und Politik mit dem Leben selber verwechselt. Aber ein Volk, das so eng und nah und leidenschaftlich mit seinem Boden lebt, mit seiner Landschaft und seinem übersinnlichen Raum, ist nicht so leicht um sich selbst zu betrügen. Und ein Volk mit der Vielgestaltigkeit, mit welcher das schweizerische [373] zwischen Rhein und Alpen lebt und webt, verkehrt, wirkt, denkt und gestaltet, ein solches Volk schläft auch nicht auf die Dauer ein. Eines Tages erkennt es, daß seine Sicherungen doch nicht ausgereicht haben, daß der Lebenstrieb und das Naturgesetz größer sind, und dann geht es eine Weile mit dem Trieb und lebt mit den großen Hintergründen, um sich dann langsam wieder der Arbeit an seinen Sicherungen zuzuwenden.

Von Zeit zu Zeit ist es nötig, daß wir uns wieder neu werden. Aus diesen Tälern strömt immer noch alte, urdeutsche Freiheitskraft. In diesen vielen gutgehaltenen und trotzigen kleinen Städten lebt der alte Sinn für Erhaltung und Dauer weiter und erfüllt von Jahrzehnt zu Jahrzehnt seine Mission im Moralhaushalt des Volkes. In den Industrie- und Handelsplätzen knistert und blitzt unaufhörlich die Entwicklung, die wir gern Fortschritt nennen, und die nur die sinnvolle ewige Umwandlung ist. Auf den Schlössern haust noch wie ehemals der frische, kühne und auf Unabhängigkeit bedachte Einzelgänger, der Naturliebhaber und bewußte Kulturträger, der freigestellte Mann, der die Fragen seiner Gegenwart am liebsten ohne viel Worte lebt und beispielt. Vom alten Kloster Sankt Gallen bis zur Stadt Calvins, vom berühmten Platz Dissentis in den Bündner Bergen [374] bis zur Stadt Jakob Burckhardts und Bachofens spielt eine geistige Wechselwirkung und webt sich ein kulturelles Meisterstück, das zwar nie fertig wird, das aber jeden Augenblick lebendig und hoffnungsvoll ist.

Dazu kommt der goldene Faden Gottfried Kellers und der leidenschaftlich glühende Einschlag Gotthelfs, der Farbentraum Böcklins und die Gebärde Hodlers, das zarte Bild des Armen Mannes in Toggenburg, der Geist Pestalozzis samt der namenlosen Fülle von Volksfreunden, Begabungen, Temperamenten und Liebhabern Gottes und der Natur, an denen dies Volk immer reich gewesen ist: Alles in allem das Bild eines freien Volks auf freiem Grund im ehrlichen Bestreben, je und je mangelnde Größe und Weite durch Höhe, Tiefe und Innigkeit zu ersetzen und den wirtschaftlichen Impuls in Einklang zu bringen mit der geistigen Forderung und dem höchsten Sinn.

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Deutsches Land: Das Buch von Volk und Heimat
Unter Mitarbeit von Schriftstellern aller deutschen Stämme
herausgegeben von Dr. Eugen Schmahl.
Mit einem Geleitwort von Dr. Hans Steinacher,
Reichsführer des Volksbundes für das Deutschtum im Ausland,
und mit einem Geleitschreiben von Hans Grimm.