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[Bd. 3 S. 620]
Jakob Burckhardt, 1818-1897, von Erich Rothacker

Jakob Burckhardt.
[624a]      Jakob Burckhardt.
Photographie von Hans Lendorff, um 1890.

[Bildquelle: Hans Lendorff, Basel.]
Das äußere Leben Jakob Burckhardts verläuft in so einfachen Linien und blieb so eng an die Vaterstadt Basel gebunden, daß man fast geneigt sein könnte, sich der besonderen Vorliebe dieses Kultur- und Kunsthistorikers für die "Hintergründe" des Geschehens zu erinnern, um sein Leben ganz in das stolze epische Gemälde der Geistes- und Universitätsgeschichte dieses kleinen Stadtstaates einzugliedern.

Welche seltsame, fast providentielle Rolle Basels, auf der Schwelle der abklingenden Goethezeit und der eigentlichen Moderne des neunzehnten Jahrhunderts im Umkreise seines Münsterturmes gleichzeitig drei Männer zu beherbergen, denen es zufiel, dem lichtübergossenen Bilde des klassisch antiken Menschentums, ja darüber hinaus aber des Menschentums überhaupt, das die Winckelmann, Goethe, Schiller, Humboldt, Ernst Curtius hinterließen, die düsteren, aber lebenswahreren Schatten einzuzeichnen. Als der junge, vierundzwanzigjährige Nietzsche 1869 nach Basel kam, war Johann Jakob Bachofen dreiundfünfzig Jahre alt, Jakob Burckhardt einundfünfzig.

Welche eigenartige Konstellation aber auch, daß hier, auf dem Schnittpunkte des deutschen und französischen Kulturkreises, nahe schon dem italienischen, Menschen unseres Blutes und Geistes Gelegenheit geboten ward, trotz innerer Anteilnahme an den Jahrhundertkämpfen, aber ohne den Schmerz des Ausgeschlossenseins und ohne den peinigenden Ruf des Gewissens und der Pflicht, die Alternative von Festung oder Amerika selbst auf sich zu nehmen (vor die damals die politischen Jugendfreunde Burckhardts gestellt waren), einen Beobachtungsposten zu beziehen. Daß sie die kontemplative Weltanschauung des achtzehnten Jahrhunderts und der deutschen Klassik ausleben und aus ihr heraus Blicke in die Zeit und die menschliche Natur tun konnten, deren Tiefe und Reife nicht vielen Kämpfern dort draußen beschieden war. Heute empfinden wir doppelt, daß hier eine moralische Schwäche des neutralen Daseins mit seiner Versuchung zu Hochmut und billiger Überheblichkeit liegt. Aber dieses Draußenstehn war bei Burckhardt schicksalhaft, und der Geist, der wehet, wohin er mag, hat diese Schwäche durch einen Segen geistiger und künstlerischer Offenbarungen ausgeglichen, ohne die wir alle ärmer wären.

Jakob Burckhardt ist am 25. Mai 1818 als Sohn des Basler Münsterpredigers geboren und studierte nach dem Besuch des Pädagogiums und nach [621] einer dankbar erinnerten Gelegenheit, sich in Neufchâtel den Zugang in die französische Gedankenwelt zu eröffnen, zunächst Theologie. Mit dem leichten Übergang, den er nach zwei Jahren zur Geschichte fand, beginnen seine Wanderjahre. Er bezieht im Herbst 1839 die Universität Berlin und hat dort die besten Lehrer seiner Zeit gefunden: Leopold Ranke für die Geschichte, August Boeckh für die Altertumswissenschaft, Franz Kugler für die Kunstgeschichte. Daneben Droysen, Jakob Grimm, Homeyer, Ritter, Stahl, Panofka; welch Rang und Glanz der Namen! Der Anerkennung Rankes, bei dem er 1843 promovierte, rühmt er sich noch in dem kurzen Lebensabriß, den er zur Verlesung bei seiner Leichenfeier selbst verfaßte. In Franz Kugler fand er den Führer und Freund, der ihm das zweite Reich eröffnete, das er königlich beherrschen sollte: die Kunst. Bald sammelt sich ein Freundeskreis um den launigen und vielseitig begabten Jüngling.

Das Bonner Zwischensemester 1841 bietet ihm zwei weitere Geschenke des Schicksals: die rebenumrankten fränkischen Kernlande des Reichs werben um den jungen Schweizer in ihrer ganzen Poesie und Schönheit; und er kann sie als Genosse eines Kreises jugendlich begeisterter und geistig bewegter Menschen genießen, die sich, in dichterischem Wettstreit freundschaftlich verbunden, um Gottfried und Johanna Kinkel gesammelt hatten. "In Bonn und Köln ruhen die schönsten Erinnerungen meines Lebens", hat Burckhardt später bekannt.

Nochmals ruft Berlin zum Studienabschluß. Im Hause Bettinas kommt er noch in unmittelbare Berührung mit dem Freundeskreis Goethes, dann erfolgt über einen neuen Besuch in Bonn, Düsseldorf, Cleve, Neuß, Holland, Belgien und einen längeren Aufenthalt in Paris die erste Heimkehr. 1844 habilitiert sich Burckhardt in Basel für Geschichte und beginnt die Vorlesungen über deutsche Geschichte und Kunstgeschichte. Es ist erschütternd, welche Zeugnisse seiner Liebe zu Deutschland sein Nachlaß uns entschleiert. Wie oft hat er in diesen Jahren sein Dankesgefühl gegenüber den Rheinlanden auf das ganze Deutschland ausgedehnt, hat es ein heiliges Land genannt und die tiefe Schuld bekannt, in der er gegen Deutschland stehe. "Es werden noch die Zeiten kommen, wo mir diese reichen Jahre in Deutschland als Mittelpunkt meiner Sehnsucht, als Kapitol aller schönen Erinnerungen vorkommen werden." In seinem Gedichte "Altenahr" schildert er einen Aufbruch um Mitternacht nach der Ahrschlucht, wo die Begeisterten in der Felseinsamkeit bei hochgehobenen Fackeln "Was ist des Deutschen Vaterland?" anstimmten. "Ich erkenne die Mutterarme unseres großen gemeinsamen deutschen Vaterlandes, das ich anfangs verspottete und zurückstieß; auf mich hat Deutschland seine Güter ausgeschüttet und mich an sein warmes Mutterherz gezogen. Und daran will ich mein Leben setzen, den Schweizern zu zeigen, daß sie Deutsche sind... Was mich an Deutschland fesselt, ist die frohlockende Gewißheit, daß auch ich zu dem Stamm gehöre, in dessen Hände die Vorsehung die goldenste, reichste Zukunft, das Geschick und die Kultur einer Welt gelegt hat."

[622] Dem Mittelalter und zumal dem deutschen hatten auch seine bisherigen wissenschaftlichen Arbeiten gegolten, und es ist bedeutsam, sich diese ein Jahrzehnt umfassende innere Anteilnahme an diesem Thema in ihrer ganzen Ausdehnung zu vergegenwärtigen. Sie gelten der "Baseler Münsterkirche" (1842), den "Kunstwerken der belgischen Städte" (1842), dem mutmaßlichen Erbauer des Kölner Doms "Konrad von Hochstaden" (1843), den "Vorgotischen Kirchen am Niederrhein" (1843), "Karl Martell" (1843), dem "Armagnakenkrieg", der "Päpstlichen Nunziatur in der Schweiz", der "Kirche zu Ottmarsheim im Elsaß" (1844), dem "Kloster Sankt Gallen" (1844), den "Alemannen und ihrer Bekehrung zum Christentum", dem "Abte Suger und der Kathedrale von Sankt Denis" (1846), dem "Erzbischof Andreas von Krain und dem letzten Konzilversuch in Basel" (1850). Die Dissertation über Karl Martell pries diesen als Retter der europäischen Kultur, war voll des Lobes germanischen Geistes, germanischer Kunst, deutscher Treue (C. Neumann). Die Kunstwerke der belgischen Städte, Burckhardts erstes kleines Buch, das, wie später der Cicerone, Franz Kugler gewidmet war, war der methodische Vorbote dieser späteren, berühmten "Anleitung zum Genuß der Kunstwerke Italiens". Auch diese kleine Schrift darf schon zu den Grundlegungen der modernen Kunstgeschichte gezählt werden. Wenn man Karl Schnaase (1798 bis 1875) und Franz Kugler (1808 bis 1858) nach Winckelmann und Rumohr als die Begründer der modernen deutschen Kunstwissenschaft preist, wird man nicht vergessen dürfen, daß die Kunstgeschichte damals den Stilbegriff der Renaissance noch nicht kannte, daß selbst Burckhardt in seiner Jugendschrift den Begriff des "Romanischen" noch durch "byzantinisch" ersetzte und erst 1843 angewendet hat; daß er in den Kunstwerken der belgischen Städte den Begriff des "Rokoko" erstmalig einführte und zwar für die später "barock" genannte Periode (nach W. Waetzold).

Jakob Burckhardt.
[624a]      Jakob Burckhardt.
Zeichnung von Franz Kugler, 1843.
Das Mittelalter blieb auch über diese erste Dozententätigkeit hinaus das Hauptthema seiner Studien. Er hält 1843 in einem Briefe an Kinkel eine neue und "interessante" Darstellung des Mittelalters für seine eigentliche wissenschaftliche Aufgabe. Er denkt noch 1848, als er diese Periode in einer Vorlesung behandelte, an eine "Bibliothek der Kulturgeschichte", in welcher der Schilderung der späteren römischen Kaiserzeit eine Darstellung des achten Jahrhunderts folgen sollte, oder vielmehr eine breite Zeitschilderung des "alten Alemannien" bis auf Karl den Großen, gewissermaßen eine Entwicklungsgeschichte des "okzidentalen Gemeinschaftsgefühls". Er wollte damals die Geschichte noch die Vergangenheit mit der Gegenwatt vermitteln lassen. Die Kultur der Renaissance, so glaubte er später, wäre, wenn er nicht aus der Bahn geworfen wäre, der Abschluß einer mehrbändigen Kulturgeschichte des Mittelalters geworden.

Aber schon 1846 trat eine Wendung seines Schicksals ein, die ihn erst dem weltanschaulichen Fundamente dieser Aufgabenstellungen, dann diesen selbst zu entfremden begann. In Europa und nicht zuletzt in Deutschland bereitete sich das [623] Sturmjahr 1848 vor, und Burckhardt, dessen Freundeskreis einem politischen Martyrium zueilte, war selbst, mehr als ihm lieb war, in die Politik gezogen worden. Der leidige Gelderwerb zwang ihn, eine Redaktionsstelle in der konservativen Basler Zeitung anzunehmen. Er hat sich dieser Aufgabe mit Geschicklichkeit und Takt, aber mit wachsendem innerem Ekel am politischen Tagesgetriebe unterzogen. Die Unaufhaltsamkeit der revolutionären Bewegung ward dem stockkonservativen Basler, der

Federzeichnung Jakob Burckhardts.
[623]      Federzeichnung Jakob Burckhardts:
Blick aus dem Fenster der Polizeistation von Macagno in Norditalien, wo er 1838 mit seinen Wanderkameraden wegen Paßvergehens eingesperrt war.
schon als Gymnasiast während der gewaltsamen Abtrennung von Basel-Land aus dem Rahmen von Basel-Stadt die Blindheit, Zerstörungswut und Kulturfeindlichkeit der erregten Masse erlebt hatte, zum bestimmenden Eindruck seiner politischen Gegenwart. Basel ward ihm zu eng und unerträglich. Bereits 1838 hatte er enthusiastisch Norditalien kennengelernt. Nun hatte er Ersparnisse genug, seine wachsende Sehnsucht nach dem Süden zu verwirklichen. Er fuhr im Frühjahr 1846 nach Rom, und diese Stadt ward – nicht zum erstenmal im geistigen Leben eines jungen Deutschen – sein Schicksal.

Nochmals rief unser unglückliches Deutschland den grenzdeutschen Basler. Auf der Heimreise erreichten ihn in Venedig bedeutsame Nachrichten Kuglers. Dieser war in das preußische Kultusministerium berufen worden und war dadurch in seinen wissenschaftlichen Arbeiten so behindert, daß er dem jungen Freund die Umarbeitung seiner berühmten Geschichte der Malerei seit Konstantin dem Großen und des Handbuchs der Kunstgeschichte antrug. Zugleich mit Aussicht auf einen Lehrstuhl der Berliner Akademie der bildenden Künste. Es war die angestrengte Arbeit eines vollen Jahres, der Burckhardt sich damit unterzog, und man darf wohl annehmen, daß die Notwendigkeit, das gesamte kunstgeschichtliche Gebiet mit der vollen Verantwortung des Autors durchzuarbeiten, einen zweiten, nochmaligen [624] Studienabschluß höchsten Grades für ihn bedeutete. Aber dann macht er den Zweifeln einer drängenden und schwierigen Wahl zwischen Berlin und Basel ein entschlossenes Ende, indem er in dem Gefühl, sein italienisches Dasein 1846 nicht ausgelebt zu haben, ja, in dem mehr und mehr sich verstärkenden Glauben, außerhalb Roms nie mehr recht glücklich sein zu können, die zweite Romreise antritt.

Erst im Frühjahr 1848 kehrt er nach Basel zurück. Anscheinend, um nun ganz seinem akademischen Beruf leben zu können. Der Geschichtsunterricht am Pädagogium ernährt ihn. Die Vorlesungstätigkeit führt ihm selbst in dieser kleinen Stadt Hunderte von Hörern zu, und aus Vorlesungen über die römische Kaisergeschichte erwächst ihm das erste große Werk: Die Zeit Konstantins des Großen (1853). Aber in überraschender Weise geht dem nunmehr Vierunddreißigjährigen gerade auf dieser Höhe der Leistung das Lehramt am Pädagogium verloren. Und noch einmal finden wir ihn in Italien, nun als reifen Forscher, dem bereits 1855 der Cicerone glückt. Das Buch bringt ihm sofort einen Ruf nach Zürich ein. Aber Burckhardt hat wie so mancher Basler den Weg nach Zürich weiter gefunden als ins Reich oder nach Paris. Wiewohl man sich das Dasein mit Gottfried Keller und Friedrich Theodor Vischer für den Schöpfer des modernen Renaissancebegriffs, der damals in Zürich, wo auch Gottfried Semper wirkte, geradezu einen Höhepunkt erreichte, höchst erquicklich denken könnte, hat Burckhardt den Aufenthalt doch als Exil empfunden, bis endlich den Vierzigjährigen 1858 Basel zum dritten und letztenmal ruft. Er hat in seiner Lebensgeschichte diese Zurückberufung als Rehabilitation eingeschätzt, die sein seliger Vater noch habe erleben dürfen, und ist dann Basel bis zu seinem Tode 1897 treu geblieben.

1872 hat er selbst einen Ruf nach Berlin auf den verwaisten Lehrstuhl Rankes verschmäht. Er hat dort dem Konstantin und dem Cicerone 1860 sein berühmtes Buch, die Kultur der Renaissance in Italien, folgen lassen, die ursprünglich ein der "Geschichte des Schönen" gewidmetes Werk hatte werden sollen, also eigentlich eine zu köstlicher Reife gediehene Vorarbeit war. Dann hat er 1867 in der Geschichte der Renaissance in Italien den methodisch auf lange Sicht epochemachenden kunsthistorischen Teil nachgeliefert. Seit 1862 beschäftigt ihn der dem deutschen Geiste seit Generationen vertraute Plan einer griechischen Kulturgeschichte. Er bereitet einen Kursus "Vom Geiste der Hellenen" vor, um in ihm auf seine "kuriose und wildgewachsene Manier" das Griechentum zu durchstreifen. Ein "Totalbild der Menschheit" schwebt ihm vor, "einigermaßen in der Art der Kultur der Renaissance". Im Sommer 1872 liest er zum erstenmal nach zweijähriger ganz besonderer Vorbereitung dies "mühsamste Kolleg seines Lebens", das er vor Hörern vom Range Erwin Rhodes alle zwei Jahre wiederholte, bis es 1880 zur Ausarbeitung der ersten zwei Bände kommt. Die folgenden sind nach Kollegnotizen Burckhardts selbst und nach Nachschriften seiner Hörer zusammengestellt.

[625] Nicht anders ist das zweite Hauptwerk seiner Alterszeit ediert, das heute in vielen Händen ist, die sogenannten Weltgeschichtlichen Betrachtungen. Sie sind entstanden aus einer Vorlesung "Über das Studium der Geschichte", die Burckhardt 1869 vorbereitete und hielt, um vor der schweren Aufgabe der Griechischen Kulturgeschichte nochmals sein Werkzeug zu prüfen, ein großartiges Dokument der Selbstbesinnung eines Historikers, einer philosophischen dem ganzen Gehalte nach, trotz aller Polemik gegen die Geschichtsphilosophie. Geeint mit der Griechischen Kulturgeschichte in dem tiefen, aus Schopenhauer nur bestätigten und vertieften Pessimismus in der Auffassung der menschlichen Natur. Die unentbehrliche Ausgabe der Schrift in der "Gesamtausgabe" (1929) zeigt in der Verdoppelung ihres Umfangs durch eine wahre Perlenkette von weiteren Randbemerkungen zur Geschichte Europas, welche Schätze der Nachlaß noch birgt. Erst nach dem Tode erschienen die Beiträge zur Kunstgeschichte von Italien und das Buch einer ein Leben lang gehegten Liebe: die Erinnerungen an Rubens. Schließlich die unerschöpflichen Vorträge. Außer den Briefen, in denen wir, wie bei so vielen unserer Großen, ein Werk für sich besitzen, hat die treue biographische Denkmalspflege auch die Erinnerung an zwei Gedichtbändchen erneut, Spuren glücklicher und unglücklicher Tage an der Wende der Jugend.

Ergreifend aber ist die Schlichtheit, mit der der berühmte Schriftsteller in seinem Lebenslauf schließlich seiner selbst für Basels geistige Ruhmesgeschichte einzigartigen Lehrtätigkeit gedenkt: "Nachdem in den ersten Jahren die Ausarbeitung unternommener Schriftwerke beendigt war, lebte er ausschließlich seinem Lehramt, in welchem die beharrliche Mühe durch ein wahres Gefühl des Glückes aufgewogen wurde. Die Aufgabe seines akademischen Lehrstuhls glaubte er, den Bedürfnissen einer kleineren Universität gemäß, weniger in der Mitteilung spezieller Gelehrsamkeit erkennen zu sollen als in der allgemeinen Anregung zu geschichtlicher Betrachtung der Welt. Eine zweite Tätigkeit, der Unterricht am Pädagogium,... welcher ihm ebenfalls zu einer beständigen Freude gereichte, wurde – ungerne – teilweise und endlich völlig aufgegeben, um dafür an der Universität neben der Geschichte noch möglichst ein vollständiges Pensum der Kunstgeschichte zu übernehmen. Endlich ist Schreiber dieses auch häufig vor dem Publikum unserer Stadt aufgetreten, anfangs mit eigenen Zyklen von Vorträgen, später in der Reihe der allgemeinen Unternehmungen dieser Art, welche teils in der Aula, teils im Bernouillianum stattfinden." Als Nietzsche 1869 nach Basel kam, gehörte Burckhardt längst zum festen Bestand der Stadt. Dem äußeren und dem inneren Stadtbild. Im Äußeren ein etwas sonderlicher Junggeselle, der "Köbi", von dem zumal die Erinnerungen Heinrich Gelzers (Ausgewählte kleine Schriften, 1907) ein köstliches Bild entwerfen. Die tagelangen Wanderungen, von denen die charakteristische kleine Geschichte der Berliner Berufung berichtet, sind dem Leser des besonders bedeutenden Briefwechsels mit dem benachbarten badischen Amtmann von Preen anmutigst vertraut. Zur Geistesgeschichte Basels dagegen liefern [626] die Schilderungen einen Beitrag, die uns die Schüler von dem Redner Jakob Burckhardt hinterließen, für dessen Wirkung das Urteil keines Geringeren als Nietzsches bürgt, der auf Burckhardts Vorlesungen für Basel geradezu einen "Vorrang an Humanität" begründet sah.


Weit undurchsichtiger als der äußere Gang des Lebens bleibt trotz der verdienstlichen Editionsarbeit der Schweizer Freunde und der biographischen Arbeit, besonders Carl Neumanns, die innere Geschichte des einsamen Mannes. Dabei liegt das Problem weniger bei den seelischen Kräften, die stark genug waren, das gewaltige Gebäude seiner kulturgeschichtlichen und kunstgeschichtlichen Leistung zu tragen, als in dem schicksalshaften Untergründe der geistigen Wandlungen: sie ließen den jungen Historiker des deutschen Mittelalters, den seine Freunde noch 1843 mit dem altdeutschen Barett sahen, zum Schöpfer des ästhetischen Mythus der romanischen Renaissance werden; dann in einer dritten Lebensphase zu dem tief pessimistischen, an Eindringlichkeit des Blicks für menschliche Existenz Nietzsche ebenbürtigen Kulturkritiker, als der er sich in der Griechischen Kulturgeschichte und in den Weltgeschichtlichen Betrachtungen erweist.

In beiden Fällen sind die Triebkräfte nicht von den zuständigen Ereignissen der Umwelt abzulösen, mit denen sie sich verbündet und gemessen haben. Was Burckhardt an Kraft und Leidenschaftlichkeit des Anschauens, an Schönheitsdurst und an Fähigkeit des "ästhetischen Genusses" zu seinem Werke mitbrachte, war sein persönliches Erbteil. Auch dies natürlich geweckt, aber mehr doch von den schönen Dingen selbst als durch Lehrer. Man sucht diese Kräfte seiner Sinnlichkeit am besten im Werke selbst, in welchem der Unterschied von Kraft und Leistung, Innen und Außen, Kern und Schale aufgehoben ist. Aber die Briefe und Schilderungen der Freunde geben zugleich die Möglichkeit, diese Kräfte auch in ihrem freien Wuchse zu belauschen, noch ehe sie in Gestalt und Tat eingingen. Die Freunde, die ihn auf der ersten Fahrt nach Italien begleiten, "erschrecken fast vor der Exaltation, zu der ihn der Eindruck der italienischen Kunstwerke hinreißt" (C. Neumann).

Immerhin fanden diese Neigungen Burckhardts, sein Durst nach Anschauung, auch außerhalb seiner selbst eine gute Weltstunde. Von der Theologie war er in diesem Jahrhundert müheloser freigekommen, als das in anderen Zeiten möglich gewesen wäre. Seine Neigung zu bildhafter Anschauung sowie seine Abneigung gegen geschichtsphilosophische Konstruktion und Spekulation, gegen Apriorismus, Prinzipienreiterei, Fanatismus des Systems zeigt ihn unmittelbar im Zusammenhang der "Deutschen Historischen Schule", zu deren Meistern sein Lehrer Ranke gehört. Man hat Goethes "in Anschauungen denkend" ebenso auf ihn anwenden können wie auf Ranke. Seiner Neubearbeitung von Kuglers Kunstgeschichte schickte er, ganz im Sinne dieser Schule, als Motto das Wort Humboldts voraus: "Einzelheiten der Wirklichkeit können nicht aus Begriffen abgeleitet, konstruiert [627] werden." Der berühmte Vergleich der Geschichtsphilosophie mit einem Kentauren, den man gern hier und da an einem Waldesrand der geschichtlichen Studien begrüße, ist vom Geiste der Historischen Schule gespeist. Die ganzen Weltgeschichtlichen Betrachtungen, in deren Einleitung diese Stelle sich findet, bis zu den unvergeßlichen Schlußsätzen atmen diesen Geist. Hier war der Unzeitgemäße mit seiner Umwelt einig.

Das eigentlich kritische Problem liegt in der weltanschaulichen Wandlung, mit der er sich von seiner Zeit abwandte. Natürlich wird man über diesem Negativen die starke positive Antriebskraft, das ursprüngliche Talent und die innerste Neigung zum Schönen nicht außer acht lassen dürfen. Ebenso nicht das Fehlen bindender Verpflichtungen des Schweizers, sich im politischen Weltgetümmel und zumal im Wirrwarr der deutschen Krisenjahre zu halten. Aber man wird auch dann den kontemplativ-ästhetischen Zug der neuergriffenen Geisteshaltung nicht voll verstehen, wenn man ihn nicht wiederum auf dem Hintergrunde der deutschen Geistesgeschichte sieht. Jetzt allerdings nicht der zeitgenössischen, sondern der großen Traditionen der sich in mehreren Abschnitten immer wieder belebenden und erst in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts auslebenden "Goethezeit", die selbst wieder Krönung und Schlußglied des achtzehnten Jahrhunderts war.

Wer je mit der Nachdenklichkeit, mit der unsere Klassiker aufgenommen sein wollen, einen Vers las wie Schillers:

      In des Herzens heilig-stille Räume
      Mußt du fliehen aus des Lebens Drang!
      Freiheit ist nur in dem Reich der Träume,
      Und das Schöne blüht nur im Gesang...

der konnte hier wohl den tragischen Untergrund unserer klassischen Dichtung ahnen. Welch furchtbare Resignation vor dem Leben spricht aus diesen Sätzen!

Von Natur zur Eigenbrödelei und zu einem weltfernen Sicheinspinnen in die reiche Innerlichkeit veranlagt, zur Teilnahme am öffentlichen Leben höchstens in den Reichsstädten erzogen, und auch da für eine viel zu kleine Welt, an die Werkstatt gebunden und vom Leben der großen Entscheidungen wesentlich ausgeschlossen, hat das deutsche Bürgertum in der spätgeborenen Literatur, die es im achtzehnten Jahrhundert hervorbrachte, recht eigentlich nicht sein Leben als seine Sehnsucht verklärt. Es hat sich in ihr ein Reich der Phantasie errichtet, als eine Freistatt erst seiner weltabgelösten Empfindung, dann eines aus neuer Berührung mit dem Griechentum geborenen Kultus des Schönen und der Form.

War immer die lebendige Erscheinung dieser großartigsten Kulturschöpfung des achtzehnten Jahrhunderts reicher auch an realistischen Zügen, als dies vereinfachende Schema sagt, die in Schillers Versen deutlich genug ausgesprochene Richtung auf einen Rückzug in die ästhetisch geläuterte Innerlichkeit des Individuums drückt der Bewegung dennoch ihren Stempel auf.

[628] Wie die Kräfte des abwärtsströmenden Wassers, wo sie auf einen unüberwindlichen Widerstand stoßen, sich ein neues Bett suchen, so hatte sich hier ein mit Tiefe und Begabung hoch gesegnetes Menschentum ein neues schöpferisches Gleichgewicht seiner Seele errungen, in dem der Großteil seiner vom äußeren Wirken ausgeschlossenen Kräfte moralisch-ästhetisch-philosophischen Ausgaben zugeleitet wurde. Das Ergebnis war eine seit den Blütetagen von Athen und Florenz einzigartige Höchstleistung auf Gebieten, deren Basis ebenso unvergänglich ist wie besonders und begrenzt im Ganzen der zum Kampf um ihr volles Dasein angelegten Menschenart.

Man braucht sich die Belege für diese Geisteshaltung nicht mühsam zusammenzusuchen, sie liegen in den Äußerungen der Zeit überall zutage. Wie eine so kluge Beobachterin wie die Madame de Staël gesehen hatte, so war es: es habe, so sagte sie, in Deutschland für den nichts Rechtes zu tun gegeben, der sich nicht mit dem Weltall zu schaffen machte. "Nicht in die politische Welt verschleudere du Glauben und Liebe, aber in der göttlichen Welt der Wissenschaft und der Kunst opfere dein Inneres in den heiligen Feuerstrom ewiger Bildung" (Friedrich Schlegel).

Daß gegen diese Gesinnung die junge Generation, deren Weltbild und Lebensproblem sich erst in der Zeit der Freiheitskriege, dann aber bald am Geiste des Wartburgfestes geformt hatte, Sturm lief, ist nur zu gut zu verstehen. Nicht immer hat sie selbst Goethe gegenüber den Takt des Freiherrn vom Stein besessen, zu dem dieser beim gemeinsamen Besuch des Kölner Doms den Begleiter Arndt gemahnt hatte. Aber was im Ausklang des achtzehnten Jahrhunderts wirklich der Weisheit letzter Schluß gewesen war, mußte jetzt, wo neue Möglichkeiten des Handelns sich geöffnet hatten, als Weltflucht und Tatenscheu empfunden werden. Von einer wundergleichen Schöpfung einer Seele ohne Leib hat später Friedrich Theodor Vischer gesprochen. Die Zeitgenossen schlugen oft härtere Töne an... "Ein Kunstwerk war für euch das Leben, uns war es nichts als eine Tat." So empfand mit Kinkel die junge Generation. Wenn nun aber gerade diese "Täter" kein größeres Ausmaß hatten als die Kinkel und Herwegh? Wenn ihre "Taten" auf einer völlig falschen Einschätzung der politischen Gesamtlage wie der eigenen Kräfte beruhten? Wenn das Jahr 1848 die greifbarsten Bestätigungen für die Hoffnungslosigkeit dieser Art von Politisierung brachte? Nicht nur der Flüchtling von 1848, Richard Wagner, hat sich nach der Schweiz zurückgezogen. In allen beteiligten Ländern Europas, besonders in Frankreich, ging damals ein Rückzug der Intellektuellen in die ästhetisch-kontemplative Welt vor sich, das heißt auf ein Feld, auf dem sie ohne Hemmungen positive Arbeit leisten konnten. Was aber lag in Deutschland näher als dieser Rückzug in eine Stellung, die, noch kaum verlassen, die letzte große europäische Lebensform gewesen war, die Deutschland geschaffen hatte? So wendet auch Burckhardt dem ganzen "verrückten Jahrhundert" den Rücken und beschließt, Privatmensch zu werden. Die Qual des politischen Jahres und die scharfe Beobachtung der Ereignisse hat ihn für alle Zeiten politischer Wirksamkeit [629] ferngehalten. Wieder einmal findet ein repräsentativer Deutscher seine Heimat in einem ästhetischen Jenseits.

Die Freunde schelten den Abtrünnigen, den "virtuoso des Genusses". Burckhardt vereinsamt. Die Briefwechsel seiner Jünglingsjahre brechen ab. Enttäuschungen des Herzens haben zu dem Rückzug in sich selbst beigetragen. Fast mönchisch schließt sich der asketische Junggeselle in seiner bescheidenen Stube von der Welt ab und läßt niemanden mehr ganz nahe an sich heran. Alle Leidenschaft seiner Seele ergießt sich in seine wissenschaftliche Tätigkeit und gibt seinen künstlerischen Beschreibungen einen unsäglichen Zauber persönlichen Erlebnisses.

Aber man wird auf dem Wege Burckhardts zu diesem Endziel wohl mehrere Etappen unterscheiden können. Als sich seinem Ekel der Ausweg nach Italien und zumal Rom bot, für dessen Erfassung er eine providentielle Neigung und Befähigung mitbrachte, war Burckhardt jung und burschikos genug, seine Abwendung von dem hoffnungslosen "Brüllradikalismus" der Zeit und seinen Entschluß, "sich selbst zu leben", in Formeln zu kleiden, die noch nicht den tiefsten und edelsten Kern seines Entschlusses voll zum Ausdruck brachten.

In seinem ungewöhnlichen politisch-sozialen Ahnungsvermögen war er den Freunden allerdings weit überlegen. In dem geschickt ausgewählten Quellenmaterial, das W. von der Schulenburg seinem liebenswürdigen Buche über den "jungen Burckhardt" (1926) kapitelweise beigegeben hat, finden wir einige Briefe an Kinkel und H. Schauenburg zusammengestellt, die allein schon ausreichten, seinen politisch-historischen Weitblick zu bekunden: der Passus über die "furchtbar gesteigerte Berechtigung des Individuums", die in dem Anspruch "cogito ergo rego" gipfele, die Warnung vor Frankreichs Außenpolitik, die Beurteilung der Presse und ihrer Tyrannei, der Folgen des Zeitungslesens und der Agitation, die Beurteilung der kommunistischen Dichter und Maler und des Endes der Demokratie und des Proletariats in Despotismus (das war zwei Jahre vor dem Staatsstreich Napoleons III.), dies alles sind Vorbereitungen der großen politischen Briefe an Friedrich von Preen (1864 bis 1893) und zumal der Weltgeschichtlichen Betrachtungen.

Burckhardt hatte in der Auseinandersetzung mit den Jugendfreunden auch im kleinen oft recht, etwa Kinkel vor der Unvorsichtigkeit seines Auftretens zu warnen. Er selbst hatte als Redakteur viel mehr Talent bewiesen, alles, was er zu sagen hatte, in diplomatischer Form zu sagen. Aber den armen Kerlen, die als Reichsdeutsche nun einmal die politischen Geburtswehen unseres Staates am eigenen Leibe miterleiden mußten, war doch recht wenig gedient mit den Schilderungen seiner "südländischen Schwelgerei", dem Lob der Anmut italienischer Bettler, den Verklärungen venezianischer und römischer Feste und verschwärmter Nächte im Schatten der römischen Brunnen. Höchstens hätte die asketische Bedürfnislosigkeit, das "bettelarm, doch im Herzen warm", der Wille, in "einfache, schöne Zustände" zu flüchten, in allen dem Sozialismus zustrebenden Ländern eine tiefere [630] Beachtung verdient. Wer denkt nicht an die häufigen ähnlichen Mönchsbekenntnisse Nietzsches?

Aber mit diesem Glück der Abgelöstheit von aller Politik, die für ihn tot war, dem Glück, seine Art von Leben zu genießen, die sich übrigens lehrreich abhob von dem Burckhardt nicht zusagenden Pariser Literatendasein, war sicher noch nicht der Kern seiner Mission ausgesprochen. Er deutet sich nur an in der ersten Aufforderung zur Hingabe ganz an das Schöne. Er wird deutlicher in der Art, wie Burckhardt den zweiten römischen Aufenthalt (1853 bis 1854) durch die Abfassung des Cicerone fruchtbar macht. Die jugendliche Schwärmerei mündet in einen neuen Dienst, sein Dienst am Schönen gewinnt einen priesterlichen Zug. Die Kunst und Schönheit Italiens hatte nicht nur seine Sehnsucht, sondern seine Gestaltungskraft gelöst. Als der, zu dem er wurde: ein abseits vom Weltgetümmel stehender Beobachter, unbekehrbarer Individualist, weit mehr ästhetisch-ethisch als politisch-ethisch gestimmt, erfüllt von einer wahren Leidenschaft der Beschauung schöner Dinge, dabei von einer kaum wieder erreichten humanistischen Bildung, nichts weniger als pathetisch, eher ironisch skeptisch, höchst apart im Urteil, umschwebt von allen Grazien eines großartigen Dilettantismus in der Liebhaberei alles Schönen, wollte Burckhardt gewiß keine neue Religion stiften. Aber dennoch ist es keine Phrase, daß ihm der Cicerone das Stationenbuch einer Wallfahrt gewesen sei. Und mehr noch ist es schlechthin eine Tatsache, daß das Buch Ungezählten nach ihm zum "Stationenbuch auf der Wallfahrt zum Heiligtum des Schönen" geworden ist. Burckhardt wurde auf Jahrzehnte der Schöpfer der herrschenden europäischen Geschmacksbildung. Die Kultur der Renaissance, zunächst nichts anderes als ein umfassendes historisches Kulturgemälde, hat eine neue Phase des deutschen Klassizismus eingeleitet. Was für Hölderlin Griechenland war, ward nun weiten Schichten der gebildeten Welt die Renaissance: ein Wunschbild heroisch erhöhten Menschentums, eine ideale Zuflucht empfindsamer Seelen aus der Nüchternheit des im neunzehnten Jahrhundert endlich eroberten realistischen Daseins. Der Historiker ward doch zum Propheten. Nietzsche hat in seiner Weise diese Prophetie der Renaissance ausgenommen, Conrad Ferdinand Meyer hat sie in seiner Dichtung verklärt.

Wer weiß, zu welchem Ende? In dem schwer überschaubaren Schwanken unserer kulturellen Ideale zwischen Urzeit, Bronzezeit, südgermanischer und isländischer Frühzeit, mittelalterlichem Wikingertum, niedersächsischem Bauerntum, angeblich germanischem oder gar deutschem Griechentum, deutscher Romanik, gotischem und barockem Deutschtum, deutscher Mystik, Reformation, deutschem Idealismus und anderem mehr, taucht bereits der Gedanke auf, in der Renaissance liege eine nordisch-antike Synthese vor. Mag dies in der Zukunft dunklem Schoße liegen, so bleibt an Burckhardts Wandlungen doch dies die schmerzlichste, daß die Zuwendung zur Renaissance für ihn auf jeden Fall eine Abwendung vom Deutschtum bedeutete. Und hier greift es uns ans Herz, wenn der Freund Hermann [631] Schauenburg ihn in einem hin und her wogenden Gedichtkampf vorwurfsvoll beschwört: "O komm zurück ins Vaterland", "den Weg nach Deutschland mußt du finden", "und mußt du wandern, sei es hier". Daß für Burckhardt Kultur etwas so ausschließlich Mittelländisches wurde, daß ihn nicht einmal die großen "antiken Augenblicke" (W. Pinder) germanisch-deutsch-mittelalterlichen Kunstschaffens an Deutschland banden, liegt freilich historisch mitbegründet in den unendlichen Umwegen, die der deutsche Geist benötigt, um sich kulturell selber zu finden, bleibt aber für uns ein schmerzlicher Verlust.

War Burckhardt aber der Priester der Renaissance geworden, so besteht Priestertum nicht allein in Prophetie, sondern bewahrt stets auch einen Schatz ererbter Offenbarung und Überlieferung. Und hier müssen wir nochmals des innigen Bandes gedenken, das Burckhardt mit der Goethezeit und über sie hinaus mit aller humanistischen Tradition Europas verbindet.

Seine Kritik am Zeitgenössischen zielt ja nicht nur auf rein politische Irrwege, sondern fast noch mehr auf die Gefährdung der "Kultur Alteuropas" durch die eingeschlagenen politischen Richtungen. Hier möchte man einmal fast uneingeschränkt die ganze spätere Haltung in ein Jugenderlebnis zurückführen, dasselbe, dessen oben schon gedacht wurde. Als sich 1833 Basel-Land von Basel-Stadt trennte, haben die ländlichen Banausen, denen unwürdigerweise das goldene, von Kaiser Heinrich II. dem Baseler Münster gestiftete Antipendium zufiel, es für ein Nichts an einen Goldschmied verschleudert, für den dann freilich der Verkauf an das Cluny-Museum in Paris noch vorteilhafter war als die vorgesehene Einschmelzung. Wir können es wohl verstehen, daß die Zeugenschaft dieser Barbarei einen Menschen wie den jungen Burckhardt zum priesterlichen Wahrer unseres Bildungserbes vorbestimmen konnte. Er hat sich gegenüber der zunehmenden Gefährdung der geistigen Güter unseres Erdteils als der Wahrer der europäischen Kultur gefühlt und hat, wie zumal W. Rehm eindringlich dartat, als einer der letzten großen Humanisten schließlich mit Goethe den Gegensatz von Kultur und Barbarei für den eigentlich entscheidenden Streitpunkt der Weltgeschichte gehalten.

Die für jede Lebensphase neu heranzuziehende Grabrede möchte fast Anlaß geben, auch die dritte "pessimistische" Phase von Burckhardts Entwicklung an eine in der Jugend empfangene seelische Wunde anzuknüpfen: den Tod der Mutter im Jahre 1830 nennt er das "erste Leid im Leben", in dessen Folge "sich bei ihm schon früh der Eindruck von der großen Hinfälligkeit und Unsicherheit alles Irdischen geltend" machte und "bei aller seiner sonst zur Heiterkeit angelegten Gemütsart" "seine Auffassung der Dinge" bestimmte. Man möchte auch bei einem Menschen, der so viel vom "Glück" sprach und der, wenn wir an ein berühmtes Wort Goethes denken, beneidenswert oft sein Leben in den verschiedensten Etappen glücklich genannt hat, wohl eine Prädisposition zu einem späten Pessimismus entdecken. Aber dabei würde doch eine irrige Verschiebung des Schwerpunkts seiner pessimistischen Menschbetrachtung ins Sentimentalische unterlaufen. Denn ihre [632] eigentliche Grundhaltung ist von Lebenserfahrung gespeiste Weisheit, ein scharfer Blick für die unvermeidlichen Opfer, die das Glück kostet. Man fühlt hier wohl den Ansatz, den Nietzsche radikalisiert hat. Das großartige Kapitel im zweiten Band der Griechischen Kulturgeschichte zur "Gesamtbilanz des griechischen Lebens" lehrt uns nicht das Leben oder gar dessen höchste Steigerungen zu verachten, sondern Bilanzen des Lebens zu lesen. Es lehrt uns nicht nur, wie schon Burckhardts Berliner Lehrer Boeckh gesehen hatte, daß die Griechen "im Glanze der Kunst und der Blüte der Freiheit unglücklicher waren, als die meisten glauben", daß die Griechen von allen Kulturvölkern das waren, "welches sich das bitterste, empfundenste Leid angetan hat", sondern lehrt zugleich, in diesen dunklen Seiten des Daseins das zu erkennen, womit sie den Glanz ihrer Kunst bezahlt haben. "Wie düster die Griechen persönlich vom Erdenleben gedacht haben mögen, ihre Energie verzichtete niemals darauf, freie und große Bilder von dem, was in ihnen lebte, ans Licht hervorzuschaffen."

Der letzte Sinn geschichtlicher Arbeit scheint darin zu liegen, den Menschen sich selber besser verstehen zu lehren, teils durch illusionslos treue Aufdeckung der Voraussetzungen seines Daseins in vergangenen Ereignissen, teils dadurch, daß große Darstellungen dieser Art das menschliche Dasein und die Verflechtungen des menschlichen Schicksals zugleich in generellen Wesenszügen aufleuchten lassen. Die letzte Würdigung der einzelwissenschaftlichen Leistung Burckhardts müßte füglich einem ganzen Stabe von Fachgelehrten überlassen werden. Daß trotz der neuen Etappe, die die Renaissanceforschung in dem Lebenswerke Konrad Burdachs erreichte, die Akten über diese Epoche noch lange nicht geschlossen sind, beweisen etwa die letzten Bände der Deutschen Vierteljahrsschrift.

Die methodologische Diskussion über "politische Geschichte oder Kulturgeschichte", kollektivistische oder individualistische Geschichtsbetrachtung, selbst Burckhardts viel diskutierte Philosophie der "Macht" ist uns merkwürdig ferngerückt, in ihrer Bedeutsamkeit verblaßt. Man ist sich, der Sache nach, längst darüber einig, daß die Totalität des Lebens, auf deren Erfassung es ankommt, weder in staatloser "Kultur" noch in kultur- und volkloser Staatlichkeit bestehen kann. Von Blindheit für die Bedeutung des Staates gerade für das kulturelle Leben kann aber beim Verfasser der Weltgeschichtlichen Betrachtungen gar keine Rede sein. In dem Kapitel über die "Historische Größe" steht: "Schicksale von Völkern und Staaten, Richtungen von ganzen Zivilisationen können daran hangen, daß ein außerordentlicher Mensch gewisse Seelenspannungen und Anstrengungen ersten Ranges in gewissen Zeiten aushalten könne. Alle seitherige mitteleuropäische Geschichte ist davon bedingt, daß Friedrich der Große dies von 1759 bis 1763 in supremem Grade konnte." Der vielzitierte Satz aber, daß die Macht an sich böse sei, der dann unvermeidlicherweise die Erinnerung an F. Chr. Schlosser zu wecken pflegt, spricht eine moralische Selbstverständlichkeit aus. Er konnte nur mißverstanden werden, weil man das "an sich", das dem Worte [633] angehängt ist, nicht ausreichend beachtete. Die wahre Meinung steckt in anderen Sätzen des Abschnittes "Über den Staat". So, daß Gewalt sich in Kraft verwandeln müsse. Oder auch in Größe. Dies war auch Treitschkes eigentliche Meinung.

Die abschließende Würdigung der in Burckhardts Lebenswerk enthaltenen "Geschichtsweisheit" könnte nur eine philosophische Wissenschaft vom Menschen leisten, die es noch gar nicht gibt. Ihr erster und elementarster Schritt zu diesem Zwecke wäre etwa der, den theoretischen Gehalt des großen Kapitels "Die Griechen und ihr Mythus" im ersten Bande der Griechischen Kulturgeschichte "ernst zu nehmen", als eine These über die Struktur von Kulturen, als einen Satz des Sinnes, daß eine Kultur in ihrer Eigenart sich dadurch charakterisiere, wie sie zu ihrer Vergangenheit stehe. Eine Methode, die übrigens Spengler sich zu eigen machte und ohne die er seine Charakteristik der griechischen, ägyptischen, magischen, faustischen Kultur nicht hätte unternehmen können.

Jakob Burckhardt.
Jakob Burckhardt.
Holzschnitt von Albert Krüger nach Sprengel.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 383.]
Was aber versucht werden kann, ist die Aufgabe das Burckhardtsche Werk in den Zusammenhang einzustellen, aus dem die Leistung der großen Geisteswissenschaftler des neunzehnten Jahrhunderts für den Gang des geschichtlichen Geschehens dieser Epoche verständlich zu machen ist. Auch dies setzt freilich eine Kenntnis des neunzehnten Jahrhunderts und des Aufbaues geschichtlicher Epochen voraus, die mindestens noch nicht Allgemeingut ist.

Mit der Französischen Revolution war das europäische Kultursystem zusammengebrochen, nicht ohne daß es mit mächtigen politischen, sozialen und besonders geistigen Trümmerkomplexen in das neunzehnte Jahrhundert hineinragte. Neben diese noch immer mehr oder weniger stabilen Reste traten die gesellschaftlichen Neuschöpfungen der in den Revolutionsarmeen, dann in der preußischen Armee der Befreiungskriege zum modernen Nationalbewußtsein in der uns selbstverständlichen Form erwachten Stände. Auch sie fragmentarisch, ungeformte und ungefüge Neuansätze voll unklar gärenden Lebens. Verhältnismäßig spät erst reiht sich ihnen das nochmalige gesellschaftliche Novum an, der in kaum dagewesenen Zahlen sich vermehrende vierte Stand. Daneben aber wirkte sich negativ die ungeheure Lücke aus, die die Schwächung der bis dahin lebenbeherrschenden religiösen Mächte im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts hervorrufen mußte.

Das ganze Jahrhundert kann angesehen werden als eine Folge von Tastversuchen der europäischen Menschheit nach neuen Lebensformen. Ein Tasten ins All, ein Tasten nach nie gefundenen Lösungen nie gestellter Lebensaufgaben. Und dies gar in Deutschland, wo zumal dank der mangelnden politischen Einheit ein allgemeingültiger Lebensstil in weit geringerem Grade vorhanden war als in den älteren Schwesternationen. Die Basis des friderizianischen, dann in der Reformzeit fortgebildeten Offiziersideals, wie ebenso die des klassischen Bildungsideals erwies sich als zu schmal, um alle Lebenskräfte der Nation in sich aufzunehmen. Die unbekümmerte Heiterkeit des west- und süddeutschen Lebensstils, die im Österreich des neunzehnten Jahrhunderts ausklang, war zum Beispiel in Mainz vor dem [634] Stoß der neuen Zeit zusammengebrochen. Sie gibt bis heute dem westdeutschen und süddeutschen Wesen seine größere Anmut, Weite und Urbanität, bedingte aber auch seine politische Schwäche.

Will man einen Überblick gewinnen, welche Keime und Ansätze möglicher Lebensstile und repräsentativer Haltungen des weiteren um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts vorhanden waren, kann man einen großen Teil von ihnen in Radowitz' Gesprächen über Staat und Kirche anschaulich Revue passieren lassen. Wer weiß, wie lange sich gewisse Entscheidungen noch verzögert hätten, wenn nicht die konservative Gruppe in Bismarck einen Genius der Tat gefunden hätte! Und damit Raum für die Entwicklung einer deutschen Lebensform – wenigstens für das politische Leben. Aber gerade der Begriff der "schmalen Basis" einzelner an sich höchst lebensfähiger partikularer Gebilde zeigt, wo bei uns dauernd das Problem lag. Die Mannigfaltigkeit und damit die Spannung der Kräfte war zu groß, als daß sie noch im neunzehnten Jahrhundert alle eine letzte Fruchtbarmachung in einer allgemeingültigen Form des Lebens gefunden hätten.

Unter diesem Aspekte aber werden auch die zahlreichen Versuche des neunzehnten Jahrhunderts zu Kulturkritik und Gesellschaftskritik und nicht zuletzt die vielfachen, aber auch vielfältig ernsteren oder oberflächlicheren Versuche, einen "Religionsersatz" zu finden, in ihrem formalen und funktionalen Sinne erst verstehbar. Mit den verschiedensten Mandaten und in vielen Gradabstufungen sind auch die geistigen Führer des europäischen Lebenskreises, und gerade sie, mit Hegel zu sprechen, die Geschäftsführer der weltgeschichtlichen Aufgabe gewesen, Europa als dem Träger der indogermanischen Rassen und innerhalb seiner einzelnen Nationen neue Lebensformen zu finden. Mitten im Fluge das Flugzeug umzubauen, das ist das eigenartigste, keineswegs überall zu vollkommenen Lösungen gelangende technische Problem dieser Aufgabe.

In diesem Sinne sind alle die Kulturentwürfe dieses Jahrhunderts zu werten, die ständigen Auseinandersetzungen mit der antiken, der christlichen, der rassischen Substanz, mit Romanismus und Germanismus, Frühzeit und Mittelalter. Nicht minder aber mit den besonderen Lebens- und Schaffensbereichen, von deren Vormacht jeweils das Gleichgewicht des Ganzen bedingt ist: Religion, Staat, Recht, Wirtschaft, Philosophie, Kunst, Wissenschaft, Technik, Volkstum. Daß zumal das Problem des Religiösen brennend war, ist bereits angedeutet. Das Erbe der Aufklärung bedingt es, daß die geistigen Führer in ihrer überwiegenden Mehrzahl mit der Aufgabe einer profanen Kultur rangen.

In diesem Zusammenhang klärt sich auch Jakob Burckhardts kulturgeschichtliche Mission. "Kulturgeschichtlich" jetzt nicht mehr im Sinne einer einzelwissenschaftlichen Leistung, sondern in dem einer kulturellen Leistung. Wie Nietzsche und Wagner, nein, wie alle geistig bedeutenden Menschen der Epoche ringt er mit dem Versuch um eine mehr oder weniger allgemein oder national verbindliche Lebensform, in der das ganze geistige Erbe, zugleich mit dem politischen, unter Wahrung des [635] mit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts erreichten geistigen Niveaus voll einverleibt wäre.

Einige wenige haben die Aufgaben sowohl ideell als auch organisatorisch angefaßt. So Richard Wagner. Andere nur ideell. Wieder andere haben sich um die Unterbauung dieser ideellen Entwürfe bemüht. Hierher gehören die vielfachen Versuche, die Totalität der menschlichen Natur aus einer Polarität ihrer Kräfte zu begreifen, von Görres über Bachofen zu Nietzsche. Hierher auch Gobineaus Rassentheorie mit ihrer eigenartigen, selten aus dem Original gewürdigten Chemie mehr oder weniger farbiger Mischungen. Aber auch der Pessimismus gehört in diese Reihe gewaltiger Anstrengungen des Selbstverständnisses und der Selbstbesinnung einer um ein neues Gleichgewicht ringenden Menschheit. Gerade er untersucht mit einer neuen, realistischen Nüchternheit die Gesetze des Baustoffes, ohne deren Kenntnis die Errichtung von Idealen scheitern muß.

Hier aber gliedern sich auch Burckhardts unvergleichliche Blicke in das Wesen einzelner Kulturen und Epochen, wie der Menschheit überhaupt ein. Die Charakteristik der Frühphasen der griechischen Kultur als "heroisch", "kolonial und agonal" und so fort, die Entdeckung der intimeren Struktur der Polis, der moralinfreien Kraft der Renaissancefürsten, der Politik als Kunst, der Struktur des "virtuoso", des modernen Ruhmes, des modernen Spottes und Witzes, die Analyse der Geselligkeit, dies alles sind Beiträge eines der weisesten Kenner der geschichtlichen Menschheit zur Frage nach deren Natur. Und unter diesen Gesichtspunkt fällt schließlich der Gehalt des ganzen Werkes. In Reflexionen über die "drei Potenzen" und die "sechs Bedingtheiten" ganz offen, aber nicht minder in den Sonderuntersuchungen über Religionen ohne Priestertum, über die freie Persönlichkeit, über die Stellung der Frau, über die Erkundung der Zukunft, über das Glück, über Genius und Größe, über Krisen, über die Entdeckung der Welt und des Menschen.

Was bedeutet es für das Wesen eines Volkes oder einer Epoche, wie sie die Zukunft erkundet, offenbar doch wohl aus einer Mitte ihres Schicksalsgefühles heraus? Was bedeutet es, in welchem Umfang sie ihren Horizont der Welt und ihren Horizont des menschlichen Selbstverständnisses geweitet hat? Also gibt es auch Religionen ohne Priestertum und Dogma? Verlaufen alle Krisen nach dem von Burckhardt gebotenen Schema? Alle diese Fragen wird eine künftige Wissenschaft vom Menschen "ernst" nehmen müssen, um sich zu vollenden. Alle diese Kapitel erhellen uns Möglichkeiten des Menschseins, die für unsere Lebensgestaltung fruchtbar zu machen an uns liegt.




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Die großen Deutschen: Neue Deutsche Biographie.
Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz