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Der grenzdeutsche
Gürtel (Teil 7)
Das Deutschtum in Kongreßpolen
In Kongreßpolen leben nicht weniger als 530
000 Deutsche, vielleicht sogar mehr. Albert Breyer schreibt zu dieser Frage im
Maiheft 1926 der in Posen erscheinenden Deutschen Blätter in
Polen folgendes:
"Die Angaben des Warschauer
Statistischen Komitees aus dem Jahre 1910 stellen über 620 000
Deutsche fest, was 4,5 v. H. der Gesamtbevölkerung ausmacht.
Davon sind 50 v. H. in der Landwirtschaft, 38 v. H. in der Industrie
beschäftigt.
Die Verteilung der deutschen Bevölkerung war
nicht gleichmäßig; die Mehrheit davon befand sich im westlichen,
beziehungsweise nordwestlichen Teile Kongreßpolens.
Im Gouvernement Petrikau lebten 13,2 v. H. im
Verhältnis zur Gesamtbevölkerung, im Gouvernement Kalisch 8,6
v. H., im Gouvernement Plozk 6,7 v. H., im Gouvernement
Warschau 4,5 v. H., im Gouvernement Suwalki 4,3 v. H., im
Gouvernement Radom 3,5 v. H.; in den übrigen Gouvernements von
2,6 v. H. bis 0,3 v. H. (Nach Dr. Wakar, Die Entwicklung
der nationalen Verhältnisse in polnischen Landen,
Band III.)"
Freilich war dieses Deutschtum vor dem Weltkriege zum Teil geneigt, in dem es
umgebenden Polentum zu versinken. Wie labil es mit der Zeit geworden war,
schildert Dr. E. von Behrens in einem Aufsatz "Das Deutschtum in
Kongreßpolen" (Deutsche Blätter in Polen, Heft 5, 1924) sehr
lebendig.
"Der Statistiker könnte mit
Recht sagen: Das Thema stellt eine ganz unbestimmte Größe dar.
Denn die Quantität, die Anzahl derjenigen Bürger des Polnischen
Staates, die in seinen Zentralgebieten ansässig sind, die als zur deutschen
Nationalität gehörend bezeichnet werden können, ist etwas
ebenso Unsicheres, wie ihre völkische Qualität, die durch das
Bewußtsein der Zugehörigkeit zum Deutschtum bedingt ist. Beides,
die völkische Qualität der [Deutschen] Kongreßpolens und ihre
numerische Quantität, sind auf das engste untereinander verbunden und
sind gesondert nicht zu begreifen. Unbegreiflich erscheint zuweilen der
Widerspruch, dem man begegnet, wenn man die Angaben ein`erseits der
polnischen, andererseits der deutschen Quellen über diese Abzweigung der
deutschen Diaspora miteinander vergleicht. Die einen behaupten glatt, daß
ein richtiges Deutschtum am mittleren Laufe der Weichsel und des Bugflusses
eigentlich schon gar nicht mehr bestehe. Die anderen behaupten dagegen,
daß es dort noch über 360 000 Männer, Frauen und
Kinder gibt, die zuhause nur oder vorwiegend deutsch sprechen, deutsch denken
und deutsch beten, und sonst als Deutsche zu bezeichnen sind. Um recht zu
behalten, sagen die ersteren: »Bitte, besuchen Sie doch diese Leute
daheim. - Finden Sie im Hause eines deutschen 'Kolonisten'
Kongreßpolens viele deutsche Bücher oder deutsche Zeitschriften?
Nein. - Interessiert diesen angeblichen Deutschen das Schicksal seines
Volkes oder die heutige Notlage der alten Heimat seiner Vorväter? Gar
nicht oder nur ganz oberflächlich! - Bekennt er sich stolz und mutig
zur nationalen Angehörigkeit, zum deutschen [130] Volkstum?
Kaum, - denn er protestiert nie oder nur vereinzelt, wenn ihm der
Gemeindeschreiber in seinem Paß oder in das Volkszählungsformular
in der Rubrik Narodowosc anstatt 'Niemiec', d. h.
deutscher Nationalität, das Wort 'Polak' ohne weiteres
hineinschreibt. Wollen Sie diese Leute denn wirklich für Deutsche halten?
Wissen Sie denn nichts davon, daß sogar zu Zeiten der deutschen
Okkupation 1915 - 1918 in dem größten Zentrum des
dortigen Deutschtums, in der ausschließlich von deutschen Auswanderern
(1820 - 1881) ausgebauten Emigrantenstadt Lodz die meisten
Vereine sich nur ja nicht 'deutsche', sondern 'deutschsprechende' Vereine
nannten? So z. B. 'Vereine der deutsch-sprechenden Katholiken', 'Verein
der deutsch-sprechenden Büro- und Handelsangestellten', sogar
'Deutschsprechender Theaterverein'? Alles - um nur ja nicht der
Angehörigkeit zum Deutschen Reiche verdächtigt zu
werden. - Und fragte man solch einen deutschsprechenden Untertan des
Zaren, wofür er eigentlich sich selber hält? Für einen Russen?
Einen Deutschen? Oder auch einen Polen? So bekam man regelmäßig
zur Antwort ein schlaues: 'Mir sein Lodzermenschen'...«
Dagegen könnte man vieles erwidern, wenn auch
die angeführten Tatsachen wahr sind. Man könnte z. B. mit
Recht sagen, daß der deutsche 'Kolonist' von seinem polnischen Nachbarn
nie als ein Pole, sondern immer als 'Szwab' (die
altgermanischen Suebenstämme beherrschten bis ca. 480 das ganze
Weichselbecken noch, und sind es doch die Protestanten der 'Augsburgischen'
Konfession, die zu 98% das Deutschtum Zentralpolens seit dem
16. Jahrhundert bilden) anerkannt. Seine Kirche wird von den
Eingeborenen aller Stände - zur unbeschreiblichen Verzweiflung des
Bischofs der Evangelisch-Augsburgischen Landeskirche Julius Bursche und der
ihm unterstellten ebenso wie er selbst polonisierten
Geistlichen - nie anders, als die 'deutsche' - niemiecki
kosciól geschimpft. Sein Glaube heißt bei den Eingeborenen im
Gegensatz zu dem 'polnischen Glauben' - die niemiecka wiara, und
er selbst nennt seine evangelisch-lutherische Konfession nie anders. Und schreibt
man ihn einmal 'aus Versehen' in den Staatsregistern als katholisch an, so
schlägt unser Bauer fürchterlichen
Krach - ohne viel auf die Folgen zu achten. Seine deutsche Bibel, sein
deutsches Gesangbuch und seinen deutschen landwirtschaftlichen Kalender hat er
auch stets zur Hand. Und Zeitungen?
Bücher? - »Ja, lieber Herr, mer sein keene Dokters, mer sein
Landwirte. Mer haben vor det Leesen keene Zeit nich... Ooch kostet so e
Blättle zu tajer!« - Die urdeutsche Bauernsparsamkeit und der
urdeutsche Bauernfleiß lassen kein deutsches Buch und keine deutsche
Zeitung zum Artikel des Familienbedarfs werden. Hat der Bauer einmal eine
halbe Stunde Zeit am Sonntag, da singt er aus dem alten fettigen Gesangbuch ein
Kirchenlied. Man würde ja ganz gerne eine weltliche Weise nachher
anstimmen, aber... die schönen alten plattdeutschen Volkslieder kennt
schon kaum jemand im ganzen Dorfe. Vergessen. Genau so vergessen, wie sie
selbst, diese Vorposten des deutschen Volkes im Osten, seit dem Rückzug
der Preußenbehörden 1807 aus Bialystok, aus Warschau, Plozk,
Lowicz, Kalisch, Petrikau und Tschenstochau (1795 bis 1807 Provinz
Süd-Preußen) von ganz Deutschland vergessen
waren. - Vergessen..."
Inzwischen ist der tote Punkt überwunden; vom deutschen
Sejmabgeordneten Utta, einem früheren Volksschullehrer aus der Lodzer
Gegend, ist der "Deutsche Volksbund" gegründet worden, der die
deutschen Bauern in wirtschaftlicher, kultureller und nationaler Beziehung immer
mehr zusammenfaßt. Es bestehen bereits über 200 Ortsgruppen mit
mehr als 8500 Mitgliedern, und daneben arbeitet in Lodz noch eine deutsche
Genossenschaftsbank an der wirtschaftlichen Stärkung des deutschen
Bauerntums.
[131] Jedoch das Deutschtum
in Kongreßpolen ist nicht nur auf das Bauerntum beschränkt; es
besitzt noch in Lodz und in benachbarten kleineren Weberstädten ein
deutsches Zentrum. Lodz selbst weist nicht weniger als 70 000 Deutsche
auf, es gibt dort drei deutsche Tageszeitungen, die Stadt und Land mit deutschem
Schrifttum versorgen. Mit der deutschen Schule steht es, was die Mittelschule
anlangt, nicht schlecht. Das Lodzer Deutschtum hat in den Jahren vor dem Kriege,
wo es der Industrie und dem Handel, von denen erstere stark in deutschen
Händen lag, noch glänzend ging, für seine deutschen
Privatschulen eine offene Hand gezeigt. Das Gebäude der deutschen
Realschule für Knaben und Mädchen gehört zu den
schönsten Häusern der Stadt und könnte sich auch in einer
deutschen Großstadt durchaus sehen lassen. Im ganzen gibt es im Lodzer
Gebiet für die deutschen Knaben und Mädchen nicht weniger als
sechs Mittelschulen, die sämtlich von privaten Schulvereinen unterhalten
werden. Schlechter steht es mit dem deutschen Volksschulwesen. Hier versucht
die polnische Schulverwaltung durch mancherlei Schikanen, wie Umteilung der
Schulbezirke, die Zahl der deutschen Kinder unter 40 herunter zu drücken,
um auf diese Weise die Handhabe zu bekommen, die deutsche Volksschule zu
schließen. Trotzdem gibt es noch etwa 200 deutsche Volksschulen in
Kongreßpolen, um deren Erhaltung jetzt von dem "Deutschen Volksbund"
ein energischer Kampf geführt wird. Leider wird die deutsche Volksschule
nur sehr wenig von den lutherischen Geistlichen unterstützt. Dreiviertel von
ihnen segelt nämlich ganz im Fahrwasser des Warschauer
Generalsuperintendenten Bursche, der zu den eifrigsten Polonisatoren
gehört. Die Mehrzahl der lutherischen Geistlichen in den deutschen
Gemeinden arbeitet nicht nur politisch im polnischen Sinn, sondern ist bereits
mehr oder weniger im Polentum aufgegangen. Die meisten von ihnen sprechen zu
Hause polnisch und sind daher nicht geeignet, im deutschen Dorf den festen
Mittelpunkt für die Erhaltung des Deutschtums abzugeben.
Erfreulicherweise hält der Rest der lutherischen Geistlichen, etwa 20
Pfarrer, um so fester zum Deutschtum, und gerade unter den jungen Predigern ist
mancher kraftvolle deutsche Führer vorhanden. Da sich jetzt auch der
"Deutsche Volksbund" unter Utta energisch regt und dafür sorgt, daß
in den deutschen Gemeinden nur national zuverlässiger Nachwuchs in die
Pfarren hineingelangt, so ist mit der Zeit eine Besserung der kirchlichen
Verhältnisse in Kongreßpolen zu erhoffen. Vorbedingung
dafür ist freilich, daß es gelingt, genügend geistlichen
Nachwuchs zu beschaffen. Wenn auch durchschnittlich die Drangsalierung der
Deutschen in Posen und Pommerellen
durch die polnische Obrigkeit größer ist als in Kongreßpolen,
so sind doch auch dort die Verhältnisse noch lange nicht normal. Folgende
Interpellation der deutschen Sejmfraktion zeigt, wie weit noch die Willkür
der polnischen nachgeordneten Stellen in der Provinz oft geht. Der Abgeordnete
Utta und Genossen haben Ende März an den sattsam bekannten
Unterrichtsminister St. Grabski folgende Interpellation gerichtet, die
für sich selbst spricht:
[132] "In der Kolonie
Bechcice, Kreis Lask, haben die deutschen Kolonisten im Jahre 1839 ein kleines
Grundstück erworben und auf eigene Kosten ein Schulhaus
errichtet. In diesem Gebäude haben sie die ganze Zeit hindurch ohne
Unterbrechung eine Volksschule für ihre Kinder unterhalten. Nach
Übernahme der Schulen des ehemaligen Deutschen Landesschulverbandes
im Jahre 1919 bestand diese Schule weiter auf Grund des Art. 19 des
Ministerratsbeschlusses über die Schulen mit deutscher Unterrichtssprache
vom 3. März 1919. Am Ende des Schuljahres 1923/24 ordnete der
Schulaufsichtsrat der Gemeinde Lutomiersk auf Grund des Art. 24 des
obenerwähnten Gesetzes zum zweiten Male die Einreichung von
Deklarationen betreffend die Unterrichtssprache in dieser Schule an.
Sämtliche Eltern haben sich auch diesmal für die Beibehaltung
der deutschen Unterrichtssprache auch für die Zukunft ausgesprochen.
Die Schule besuchten damals 43 Kinder, und es waren Aussichten vorhanden,
daß im kommenden Schuljahr die Zahl noch steigen würde.
Ungeachtet dessen hat der Schulaufsichtsrat, an
dessen Spitze der polnisch-katholische Geistliche aus Lutomiersk, ein erbitterter
Gegner der deutsch-evangelischen Schulen, steht, beschlossen, diese Schule zu
schließen. Der Kreisschulrat hat diesen Beschluß
bestätigt, ohne die falschen Angaben des Schulaufsichtsrates und
dessen unbegründeten Antrag überhaupt zu prüfen. Die
interessierten Eltern wurden davon nicht in Kenntnis gesetzt. Als jedoch diese
Nachricht auf Umwegen zu ihnen drang, entsandte sie eine Delegation
zum Kreisschulinspektor und ersuchten ihn um Aufhebung des ungesetzlichen
Beschlusses. Dieser versprach der Delegation, die Ausführung der
Anordnungen des Schulrates aufzuhalten und den Beschluß desselben einer
Revision zu unterziehen.
Als trotzdem die Vertreter des Schulaufsichtsrates nach
Bechcice gekommen waren, um das Gebäude der deutschen Schule in
Besitz zu nehmen, kamen etliche deutsche Väter und Mütter der
Schulkinder zusammen und forderten von dem Schulaufsichtsrat die Vorzeigung
einer schriftlichen Anordnung der Schulbehörde. Darauf
entfernten sich die erschienenen Vertreter des Schulaufsichtsrates und kamen am
4. Oktober 1925 in Begleitung von vier Polizisten und einer
größeren Anzahl polnischer Bauern aus den
Nachbardörfern wieder vor das Gebäude der deutschen Schule und
sandten nach dem Schulvorsteher, damit er ihnen das Gebäude öffne.
Das Erscheinen der Polizei und einer größeren Anzahl von Fremden
lockte mehrere deutsche Männer, Frauen und Kinder vor das
Schulgebäude. Nach einer Weile wandten sich die versammelten Deutschen
in äußerst höflicher Weise an die Vertreter der Behörde
mit der Bitte, ihnen eine schriftliche Weisung der Schulbehörde
vorzeigen zu wollen. Die versammelten Mütter bemerkten hierbei,
daß doch die polnischen Gesetze das Bestehen von Volksschulen mit
deutscher Unterrichtssprache gestatten, der Schulaufsichtsrat hier also ein Unrecht
gegen Kinder begehe und das Recht breche. Sie ersuchten den
Polizeikommandanten daher, sich doch zuerst vom Schulinspektor als dem
Vertreter der Staatsbehörde Weisungen holen zu wollen. Als Antwort
drauf zog der Oberpolizist seinen Säbel und mit den Worten: »Fort,
ihr Schweinebande, von hier. Wollt ihr eine deutsche Schule haben, so geht nach
Berlin!« warf er sich mit den übrigen Polizisten auf die
Wehrlosen. Alle versammelten Männer und Frauen, unter letzteren sogar
schwangere, wurden mit Gewehrkolben geschlagen und mißhandelt. Darauf
wurde die Tür zum deutschen Schulhaus erbrochen und die ganze
Einrichtung auf den Hof hinaus geworfen, wobei ein Teil der Möbel
zerbrochen wurde. In das Lokal aber wurde die polnische Lehrerin mit ihrer
Schule aus dem Dorfe Bechcice eingeführt.
Darauf fertigte die Polizei, um ihre Brutalität zu
rechtfertigen, eine Anzahl von gefälschten Protokollen an, in welchen
die Deutschen des Widerstandes gegen die
Be- [133] hörde
beschuldigt (!) wurden. Da diese Protokolle nicht mit der Wahrheit
übereinstimmten, verweigerten die Beschuldigten ihre Unterschrift.
Dafür belästigte und schikanierte sie die Polizei mehrere Tage, erst
auf meine (des Abg. Utta - D. Schriftl.) Intervention bei dem
Kreiskommando der Polizei in Lodz wurde diesem Treiben ein Ziel gesetzt.
In diesen Tagen forderte der Untersuchungsrichter des
Lasker Kreises die von der Polizei beschuldigten Deutschen aus Bechcice,
darunter eine 72jährige Greisin Margarete Mendel, zu sich und
verhaftete sie alle nach kurzem Verhör. Elisabeth Mendel,
Friedrich Feige, Karl Kirschner, Oswald Scharmann, Wanda Steuernagel, Julius
Klee und andere wurden nach Hinterlegung einer größeren Kaution
befreit. Die übrigen Angeklagten müssen sich zweimal in der Woche
auf einem weit entfernten Polizeiposten melden. Alle von der Polizei Angeklagten
sind ständige Einwohner der Kolonie Bechcice, besitzen dort
unbewegliches Eigentum und fühlen sich keines Vergehens schuldig. Da in
dieser schweren Zeit kein Landwirt Bargeld besitzt, wurden sie gezwungen, zu
Wucherzinsen Geld zu borgen, um die geforderten Kautionen zu hinterlegen. Das
Melden bei der Polizei raubt ihnen viel teure Zeit und bereitet ihnen viele
Unannehmlichkeiten.
Wie aus dem oben Geschilderten zu ersehen ist, haben
sich die deutschen Katholiken keines Verstoßes gegen das Gesetz schuldig
gemacht. Sie hatten ein Recht, schriftliche Anordnungen der Behörde zu
fordern, um so mehr, da sie vom Kreisschulinspektor die mündliche
Zusicherung erhalten hatten, daß ihre Schule nicht liquidiert werden
würde. Einen Rechtsbruch hat vielmehr der Schulaufsichtsrat und die
Polizei begangen. Durch Mißachtung der gesetzlichen Bestimmungen,
durch Gewalttaten und Beleidigungen haben sie die deutschen Kolonisten, die
doch ruhige und loyale Bürger des Staates sind, die Behörden achten
und ihre gesetzlichen Anordnungen genau erfüllen, herausgefordert, um sie
dann weiter schikanieren zu können.
Dieser Vorfall hat nicht nur in Bechcice, sondern auch in
der weiteren Umgebung unter den Deutschen und allen gerecht denkenden Polen,
mit denen sie immer in gut nachbarlichen Beziehungen gestanden haben,
große Verwunderung und furchtbare Erbitterung
hervorgerufen.
Daher fragen die Unterzeichneten an:
1. |
Ist den Herren Ministern der oben geschilderte Vorfall bekannt? |
2. |
Sind sie bereit, in dieser Angelegenheit eine genaue und unparteiische
Untersuchung durch eine spezielle Kommission, der auch Vertreter der deutschen
Bevölkerung angehören würden, durchführen zu lassen
und die des Rechtsbruches Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen? |
3. |
Hält der Justizminister es nicht für angebracht, die
Durchführung der Untersuchung einem anderen Untersuchungsrichter zu
übertragen und die Angeklagten, die doch durch ihr Verhalten und mit
ihrem unbeweglichen Eigentum die Gewähr dafür bieten, daß
sie sich dem Gericht nicht entziehen werden, von der Hinterlegung der Kaution
und der Polizeiaufsicht zu befreien?" |
Noch ein Wort gebührt den deutschen Katholiken in Kongreßpolen,
die auf etwa 100 - 110 000 Seelen geschätzt werden.
Sie wohnen in einzelnen Dörfern verstreut; hauptsächlich aber sitzen
sie in Lodz und seiner Umgebung. Die große Gewerbestadt Lodz, diese
noch gar nicht alte merkwürdige Gründung, zog viel Arbeiter,
besonders aus der Textilwarenbranche, an sich. Diese Arbeiter haben ihre
Religion sowohl wie ihre Nationalität unter den schwierigsten
Verhältnissen ganz [134] gut zu bewahren
verstanden. In Lodz selbst werden zur Zeit noch etwa 10 000 deutsche
Katholiken vorhanden sein, die von einem Geistlichen pastoriert werden, der wohl
der deutschen Sprache mächtig, sonst aber Pole ist. Es ist leider zu
befürchten, daß durch die geringe Fürsorge, die diesen
katholischen Deutschen und auch denen in der
Umgebung - es gibt dort noch etwa
15 000 - zuteil wird, sehr viele ihr Deutschtum nach und nach
einbüßen werden.
Mit welchen Mitteln das polnische Kultusministerium unter St. Grabski zu
arbeiten pflegt, dafür möge auch folgendes Vorkommnis ein Beleg
sein. In Lodz, das durch den Fortfall seines Exports nach Rußland eine
schwere, schon mehrere Jahre lang anhaltende Krise durchzumachen hat, herrscht
auch unter den zahlreichen deutschen Arbeitern große Not. Um ihnen ein
wenig beizustehen, wollten der deutsche Großgrundbesitz und die
deutschen Bauern in Posen und in Pommerellen auf einige Monate Lodzer
Arbeiterkinder bei sich aufnehmen und verpflegen. Dieser menschenfreundliche
Plan konnte aber nicht zur Ausführung gelangen, weil die polnische
Unterrichtsverwaltung sich nicht verpflichten wollte, inzwischen nicht die
deutschen Schulen zu schließen, wenn durch den vorübergehenden
Fortzug der deutschen Kinder nach Posen und Pommerellen weniger als vierzig
Kinder vorhanden sein würden! So mußte dieser
menschenfreundliche Plan, den verhungerten Stadtkindern gesunden
Landaufenthalt zu gewähren, unterbleiben. Solche chauvinistische
Engherzigkeit müßte in der ganzen Welt um so stärkere Kritik
finden, als es nach dem Weltkriege allgemein üblich geworden war, sogar
arme Stadtkinder fremder Völker für den Sommer aufzunehmen.
Selbst die feindlichen Staaten haben sich davon nicht ausgeschlossen. In Polen
aber wurde diese soziale Hilfsaktion den eigenen Volksgenossen durch
raffinierten bureaukratischen Formalismus unmöglich gemacht. Durch eine
regelmäßige Übersendung von Nahrungspäckchen aus
Posen und Pommerellen an die Lodzer Schulkinder konnte natürlich der
dadurch entstandene Schaden nicht beseitigt werden.
Trotz all dieser Schikanen und der furchtbaren Bedrückungen geht es doch
mit dem Deutschtum in Kongreßpolen vorwärts. Dr. E. von
Behrens hat recht, wenn er zum Schluß seines oben angeführten
Artikels schreibt:
"Und doch - weht seit 1915 ein neuer
Geist unter den deutschen Bauern an der Weichsel. Der bisher hierzulande nie
gesehene Parlamentarismus mit seinem Wahltreiben, seinen freien Reden und
seinem Werben um die Gunst des kleinen Mannes hat es bewirkt.
Stürmisch verlaufen jetzt die Kirchenvisitationen des verhaßten
Deutschtumfeindes Bursche, der auf seinem Bischofssessel kaum sich noch zu
halten vermag. Immer lauter schreien die Vertreter der Deutschen um ihre Schulen
und ihre Bethäuser, denn sie fühlen im Volke einen immer
stärkeren Hinterhalt. Und - aus den ehemals preußischen und
ehemals österreichischen Teilgebieten kommen zum vergessenen deutschen
Kolonisten immer öfter richtige deutsche »Herrschaften«, zu
deren Wissen und Können der arme und bisher von allen verlassene
»Schwab« von seiner Scholle stolz hinaufblicken
kann. - Der Posten kann gehalten werden. Dieser Vorposten
soll und wird auch von uns gehalten
werden!"
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