Im neuen Polen
Folgerichtige Entwicklung
des Verhältnisses
der Deutschen in Polen
zum polnischen Staat |
Als die deutsche Versammlung in Lodz am 2. Oktober 1918 das Telegramm
an den Polnischen Regentschaftsrat richtete, war damit eine weitere Stufe in
der folgerichtigen Entwicklung des Verhältnisses der Deutschen
zum polnischen Staat erreicht. Am 10. Dezember 1916 wurde es in der
großen Versammlung klar ausgesprochen, daß die deutsche
Bevölkerung bereit sei, sich mit ihren Wünschen dem
polnischen Staatswohl unterzuordnen und mit der vollendeten Tatsache der
Staatsbildung zu rechnen. Es lag nicht in ihrer Absicht, eine deutsche
Irredenta zu schaffen. Wiederholt, so in der Eingabe des Deutschen Vereins
an den Staatsrat bezüglich der Landtagswahlordnung,
erklärten sie, daß nicht separatistische Wünsche sie bei
ihren Bemühungen um Sicherung ihrer Zukunft leiteten. Dennoch
wurden sie hart angefeindet, nicht zuletzt aus den Reihen ihrer passivistischen
Volksgenossen, die sich in den mehr als drei Jahren der deutschen
Herrschaft, erbittert durch mehr oder weniger unkluge Maßnahmen
auf wirtschaftlichen Gebieten, aus russophilen Mitläufern zu
strammen Neupolen entwickelten.
Im politischen Kräftespiel der deutschen Verwaltung mit den
polnischen Politikern in Kongreßpolen waren die Polen immer mehr
die Fordernden und Nehmenden gewesen, während die Deutschen,
durch die beginnenden Waffenstillstandsverhandlungen im Westen ihrer
wesentlichsten Stütze, der militärischen Geltung, beraubt, in
eine unhaltbare Lage gerieten. Natürlich mußten nun auch die
Führer des bodenständigen Deutschtums die Hoffnung
aufgeben, daß die deutsche Regierung in der Lage sein würde,
den beabsichtigten Schutz der Deutschen in Kongreßpolen
durchzuführen.
Auswirkungen der
deutschen Revolution
in Polen |
Vor ganz neue Aufgaben wurden sie gestellt, als am
10. und 11. No- [146] vember 1918
die deutschen Heeresverbände ihren Befehlshabern den
Gehorsam aufsagten und die Soldatenräte in raschen
Verhandlungen mit den Führern der bunt
zusammengewürfelten, meistens noch waffenlosen polnischen
Heerhaufen in die Abgabe ihrer Waffen und der gesamten in Polen
vorhandenen großen Vorräte von
Heeresbedarfsgegenständen willigten. Die Ereignisse nahmen indessen
einen noch rascheren Verlauf als die Verhandlungen.
"Tapferkeitstaten"
der polnischen Jugend
bei der Entwaffnung
der deutschen Soldaten |
In Warschau und Lodz und bald auch in allen anderen Provinzstädten
hatten sich die deutschen Soldaten durch polnische Schulbuben entwaffnen
lassen. Und wenn hier und da einmal einige deutsche Soldaten mit einem
Maschinengewehr, unter Führung eines Offiziers, den beutelustigen
Pöbel in Schach zu halten versuchten, so mischte sich sofort irgendein,
oftmals nicht mehr ganz nüchternes, Mitglied eines deutschen
Soldatenrates ein und rettete das neue
"deutsch-polnische Bündnis", indem er auf Ausfolgung der Waffen
bestand. Deutsche Offiziere und Soldaten waren allen möglichen
Angriffen, vom Angegrinst- bis zum Angespienwerden und
heimtückischer Ermordung ausgesetzt. Noch nach Jahrhunderten
wird man polnischen Kindern von den "Tapferkeitstaten" der polnischen
Jugend erzählen, die es fertig brachte, das starke und mit allen
Ausrüstungsstücken versehene deutsche Heer in die Flucht zu
treiben. - Nur einzelne kleine Gruppen erzwangen sich mit ihren
Waffen den Rückmarsch zur Grenze.
Während dieser Zeit hatte der Regentschaftsrat dem aus der
deutschen Internierung entlassenen Pilsudski Platz gemacht, der als
provisorischer Staatschef die Leitung des Landes übernahm. Polen
selbst bildete in diesen Tagen ein Chaos. In Warschau, Lublin und Krakau
hatten sich Regierungen gebildet. Sachliche und persönliche
Meinungsverschiedenheiten trennten die Führer der Bewegung. Allen
gemeinsam war nur der Deutschenhaß.
Schlimm war die Lage der Deutschen auf dem Lande. Schon vor dem
Umsturz hatten die aufgehetzten polnischen Bauern Drohungen gegen
die deutschen Kolonisten geäußert. Nun wurden sie vielfach
aufgefordert, innerhalb kürzester Zeit dem deutschen Heere zu folgen.
Örtliche Machthaber schlossen willkürlich deutsche Schulen
und nahmen den deutschen Rückwanderern das ihnen von der
deutschen Verwaltung gelieferte Vieh und die ihnen überlassenen
Baumaterialien zum Wiederaufbau der zerstörten Gebäude
weg. In einigen Dörfern hatten bereits Raubüberfälle
und Deutschenmorde stattgefunden.
Eine
öffentliche
Erklärung der
deutschen Verbände |
Die Führer der deutschen Organisationen
fanden sich täglich in Lodz zusammen, um zu beraten, was im
Interesse des Deutschtums zu unternehmen sei. Im polnischen Staatswesen
fehlte immer noch die ordnende Hand. Man wußte nicht, wo der
verantwortliche Mann zu suchen sei. In Warschau war trotz wiederholter
Versuche kein richtiges Ministerium zustande gekommen. Inzwischen
brachten die polnischen Zeitungen eine Deklaration der Lubliner Regierung,
die neben sonstigen Zusicherungen auch die Gleichstellung aller
Nationalitäten und Konfessionen verkündete. An diese
Deklaration anknüpfend, erklärten sich die Deutschen,
vertreten durch ihre Vereinigungen, den Deutschen Verein, die
Deutsch-Evangelischen und Deutsch-Katholischen
Landesschulverbände, den Deutschen Genossenschaftsverband, die
Christliche Gewerk- [147] schaft und den
Verband deutschsprechender Katholiken, durch eine öffentliche
Erklärung bereit, die Bemühungen der neuen Regierungen um
Aufrechterhaltung der Ordnung in den kommenden kritischen Tagen zu
unterstützen.
Eine
Aussprache
mit dem polnischen
Gesandten in Berlin |
Kurz nachher hielt sich der Vorsitzende des
Deutschen Vereins, Eichler, in Berlin auf. Als ihn dort neue Nachrichten
über grausame Deutschenverfolgungen erreichten, hielt er den
Zeitpunkt für gekommen, eine schon früher in der
Deutschen Post geäußerte Absicht zu verwirklichen und
an die derzeitigen Träger des
Völkerverbrüderungsgedankens wegen des Schutzes der
deutschen Minderheit in Polen heranzutreten. Vorher noch sollte der
Versuch gemacht werden, von dem neuen Vertreter des amtlichen Polens,
den zum Gesandten bei der deutschen Regierung ernannten Sachwalter der
polnischen Aktivisten in Berlin, Wilhelm Feldman, zu erfahren, inwieweit
mit einer gefestigten polnischen Zentralbehörde zu rechnen und ob sie
gewillt sei, der schrankenlosen Willkür in der Behandlung ihrer
deutschsprechenden Staatsbürger zu steuern. Es kam zu einer
Aussprache zwischen Feldman und Eichler. Feldman wollte die im Laufe des
Gesprächs erwähnte Möglichkeit, daß die in steter
Gefahr lebenden Deutschen in Polen einen Appell an Europa richteten, als
Drohung auffassen, worauf ihm erwidert wurde, daß keine Regierung
sich wundern dürfte, wenn, im Zeitalter des Selbstbestimmungsrechtes
der Völker, bedrohte Volksteile sich mit allen Kräften
für die Anerkennung der bloßen Menschenrechte einsetzten.
Feldman bedauerte die Vorkommnisse und meinte, daß sowohl
Pilsudski wie auch das in diesen Tagen an die Spitze der Regierung berufene
sozialistische Ministerium Moraczewski für die praktische
Durchführung des Gleichberechtigungsgedankens seien. Er versprach,
in diesem Sinne nach Warschau zu schreiben.
Der
politische
Zusammenschluß
und die politische
Arbeit der Deutschen
im neuen Polen |
In Warschau hatte das neue Ministerium
inzwischen, dem Drucke der öffentlichen Meinung nachgebend,
Wahlen zum verfassunggebenden Landtag ausgeschrieben. Auch die
politisch noch nicht organisierten Deutschen waren genötigt, sich
politisch zu gliedern. Der politische Zusammenschluß der
Deutschen war besonders in Lodz schwer, wo sich nicht nur die seit
langem bestehenden Gegensätze zwischen deutschen Aktivisten und
Passivisten verschärften, sondern auch die während des Krieges
nach Deutschland abgewanderten deutschen Industriearbeiter in
großen Massen zurückkehrten, vollgepfropft mit
Schlagwörtern der deutschen Revolution, an der manche von ihnen
tätigen Anteil genommen hatten. Aber auch aus Rußland waren
große Scharen Deutscher zurückgekehrt,
Heeresangehörige und schon früher entlassene
Kriegsteilnehmer, Kaufleute und Verschleppte. Bolschewistische Ideen
haben ihr Denken beeinflußt. Nur schwer konnten die einen und die
anderen sich an die heimatlichen Verhältnisse gewöhnen und
den richtigen Maßstab für das während ihrer
Abwesenheit Neugeschaffene finden. Die Vorgänge in der letzten Zeit
führten alle Einsichtigen zu der Überzeugung, daß es
töricht wäre, sich politisch zu zersplittern. Die
Bemühungen, in Lodz Deutsche aller Richtungen zu gemeinsamem
Vorgehen zu bringen, hatten Erfolg. Nur die schon sehr weit Polonisierten,
darunter der größte Teil der Pastoren und die deutschen
Kommunisten versagten die Gefolgschaft und schlossen sich den
Gleichge- [148] sinnten im
anderen Lager an. Bedauerlicherweise zogen sich die im gemeinsamen
Ausschuß sitzenden, gelassener auftretenden deutschen Passivisten
zurück und die zurückgebliebenen Schreier, die sich nun die
Führung anmaßten, entwickelten ihre Tatfreudigkeit nach der
falschen Richtung, indem sie die gemeinsam aufgestellten Kandidaten, soweit
sie dem aktiven Flügel angehörten, wie auch den Deutschen
Verein und seine Führung in unerhörter Weise angriffen, und
die einen wie auch die anderen nicht einwandfreier Beziehungen zu der
deutschen Okkupationsverwaltung beschuldigten.
Einen ganz besonders hervorragenden Anteil an dieser Hetze nahm die
Neue Lodzer Zeitung, die in dieser Zeit erklärt hatte, sie sei
eine polnische Zeitung in deutscher Sprache. Einer ihrer
Herausgeber, der Renegat Milker, hatte sich während des Umsturzes
aus eigener Machtvollkommenheit zum Gebieter der deutschen
Presseverwaltung und ihrer Akten gemacht. Er überließ den
polnischen Zeitungen Berichte, Charakteristiken der deutschen
Stadtverordneten und anderes Material aus ihren Akten. Er und der zweite
Mitinhaber der Zeitung, der Lette Drewing, der je nach den
Zeitumständen als Verteidiger oder Bekämpfer deutscher
Interessen auftrat, konnten sich nicht genug tun in Angriffen gegen die
deutsche Bewegung und ihre Leiter. Einen würdigen Bundesgenossen
fanden sie in dem Oberlehrer Habermann, einem politischen Streber, der
seinen Geist in schwulstigen Hetzartikeln erschöpfte. Als die
Ausfälle der Drei immer gehässiger und persönlicher
wurden, nahm der geschäftsführende Ausschuß des
Deutschen Vereins in einer öffentlichen Erklärung Stellung
dazu. Er führte aus, daß die Absicht der Neuen Lodzer
Zeitung und ihrer Freunde offensichtlich darauf gerichtet sei, die
polnische Öffentlichkeit und die polnischen Behörden
voreingenommen gegen den Verein zu machen und stellte fest:
"Der Deutsche Verein ist ohne
Zutun und ohne Befürsorgung von seiten der deutschen
Verwaltungsbehörden entstanden, ja, er wurde lange Zeit hindurch
von diesen Behörden als oppositionell betrachtet und in seiner
Entwicklung gehemmt. Erst als der Deutsche Verein viele Tausende von
Mitgliedern hatte und nicht mehr ignoriert werden konnte, brachten ihm die
deutschen Behörden Interesse entgegen, wie es jede andere
Behörde bei gegebenem Anlaß ebenso getan hätte. In
einer Zeit, wo neue Verhältnisse sich gestalteten, mußten die
führenden Männer des Vereins, der aktiv sein
wollte - und dies gerade deshalb sein wollte, weil andere deutsche
Organisationen tot schienen - ebenso wie die Leiter anderer
Organisationen und Institutionen natürlich auch mit den
Behörden in sachlicher Hinsicht verkehren. Ein gleiches haben in viel
umfangreichere Weise ja auch die polnischen Aktivisten in Lodz,
Warschau, Berlin, Wien und anderswo getan. Es sei ausdrücklich
festgestellt: Zu keiner Stunde war die Unabhängigkeit des Deutschen
Vereins in Frage gestellt, der Deutsche Verein war immer, was er sein wollte,
eine Organisation der bodenständigen, einheimischen Deutschen zur
Vertretung ihrer Interessen. Während andere Persönlichkeiten,
Vereine und Institutionen sich noch russophil gaben, hat der Deutsche
Verein als erste deutsche Organisation Polens in einer Massenversammlung
im Dezember 1916 sich bereits auf den Boden [149] des polnischen
Staates gestellt. Daß er an die damals abgegebene Erklärung die
Forderung nach Gewährung jener Rechte knüpfte, die nach
zeitgemäßen Auffassungen allen Minderheiten zukommen, kann
ihm niemand verübeln. Der Deutsche Verein wird den Wunsch nach
einer weitgehenden kulturellen Autonomie der jetzigen staatlichen
Behörde ebenso vortragen, wie er ihn der deutschen Verwaltung
vorgetragen hat. Festzustellen ist ferner, daß der Deutsche Verein
s. Z. gegen die von unverantwortlicher Seite begonnene Agitation
für die Abwanderung der hiesigen Deutschen bzw. für ein
Reichsdeutschwerden hiesiger Landeseinwohner mit Entschiedenheit
aufgetreten ist. Es ist also Verdächtigung, wenn behauptet wird, die
führenden Männer des Deutschen Vereins hätten im
Auftrag der deutschen Verwaltung eine deutsche Bewegung gemacht. Sie
haben im Dienste der einheimischen Deutschen uneigennützig, unter
Leistung persönlicher Opfer gearbeitet. Jede andere Darstellung ist
böswillige Verleumdung."
Obgleich der Deutsche Verein und die ihm nahestehenden Kreise die Losung
ausgegeben hatten, sich durch die Schimpfereien der Passivisten nicht von
der Wahl abhalten zu lassen, blieb das nicht zu entschuldigende Gebaren der
anderen Seite nicht ohne Einfluß auf manche Aktivisten, die sich zum
Teil der Wahl enthielten, so daß in Lodz nur 18 130 deutsche
Stimmen abgegeben wurden, die nur einem deutschen Kandidaten, dem
Handwerksmeister Spickermann, zum Abgeordnetensitze verhalfen.
Tausend Stimmen mehr hätten den Deutschen einen zweiten
Abgeordneten aus Lodz gebracht.
Die
"Deutsche Volkspartei" |
In ruhigeren Bahnen bewegte sich die sehr rege
deutsche Wahlarbeit in der Provinz. Anfang Dezember 1918 konnte die
"Deutsche Volkspartei" gegründet werden. Es war nicht Zufall,
daß in der Gründungsversammlung, in Leitung und Arbeit fast
ausschließlich die aus der bisherigen deutschen Bewegung bekannten
Männer zu finden waren. Im Wahlbezirk
Lodz-Lask-Brzeziny erhielt sie 17 733 Stimmen. Wären nicht
an vielen Stellen große Mengen deutscher Wähler nicht
eingetragen gewesen, so hätte sie in diesem Kreise zwei Abgeordnete
durchbringen können. So mußte sie sich mit einem
Abgeordneten begnügen, dem Hauptlehrer und späteren
Seminardirektor Ludwig Wolff. In den Kreisen Konin, Lipno und Gostynin
waren ebenfalls deutsche Listen eingereicht worden, doch konnten infolge
ungenügender Stimmenzahl keine Mandate erlangt werden. In Lipno
hatte der dortige polnisch gesinnte Pastor Michelis den fast sicheren Erfolg
der deutschen Partei durchkreuzt, indem er für die Kandidatur des
Generalsuperintendenten Bursche eintrat, die aber von der Mehrzahl der
deutschen Kolonisten abgelehnt wurde. Die Absicht der polnisch gesinnten
Pastoren, im Landkreise Lodz eine Zersplitterung durch Aufstellung einer
eigenen Liste ihres nie in Tätigkeit getretenen "evangelischen
Volksverbandes" herbeizuführen, blieb erfolglos.
Eine
Abordnung
in Sachen der
Deutschen-Verfolgungen
in Warschau |
Noch vor der Wahl, am 13. Januar 1919, hatte die
Deutsche Volkspartei ihre beiden ersten Kandidaten im Landkreise Lodz mit
einer Denkschrift nach Warschau entsendet, um dort bei den
zuständigen Stellen an Hand von zahlreichen Berichten wegen
fortgesetzter Willkürhandlungen örtlicher
Gewalthaber gegen die deutsche [150]
Landbevölkerung vorstellig zu werden. Am schlimmsten erging es den
deutschen Rückwanderern, über deren bittere Erfahrungen in
der Denkschrift ausgeführt wird:
"Es mag zugegeben werden,
daß die Rechtsverhältnisse nicht ganz klar liegen, dafür
sind aber freiwillige Übereinkommen vorhanden, wonach der
polnische Landwirt, der das Land bearbeitet hat, die Hälfte der Ernte
von 1918 erhält, während den aus der Verbannung
zurückgekehrten Besitzern die andere Hälfte zusteht. Nach
Abzug der deutschen Okkupationsverwaltung nahm aber der polnische
Landwirt auch die andere Hälfte mit Gewalt an sich, so daß den
nach vierjähriger Verbannung zurückgekehrten deutschen
Kolonisten, die meistens die Ernte noch mit einbringen mußten, nichts
übrig bleibt. Ebenso wird ihnen das Vieh, das sie von der
Okkupationsbehörde gegen Zahlung erworben haben,
weggeführt, ohne daß ihnen das hierfür gezahlte Geld
zurückgezahlt wird. In verschiedenen Fällen wurden deutsche
Kolonisten zur Entrichtung einer Entschädigung für
Viehbenutzung verurteilt... Daß evangelischen Lehrern verboten wird,
in deutscher Sprache zu unterrichten, daß man diese Lehrer aus der
Schule vertreibt und daß Schultüren vernagelt werden, so
daß weder Lehrer noch Kinder in die Schule hineinkönnen, wird
aus allen Teilen des Landes mitgeteilt. Ja selbst vor dem Betsaal macht die
Willkür nicht Halt. So wird aus Siedliska, Gemeinde Sompolno, Kreis
Kolo, berichtet, daß der katholische Geistliche mit dem
Kanzleischreiber und dem katholischen Lehrer und mehreren Landwirten
von dem deutsch-evangelischen Lehrer verlangen, er möge Altar und
Kreuz aus dem evangelischen Betsaal entfernen. Nach drei Tagen kamen die
polnischen Landwirte in Begleitung von vier polnischen Soldaten wieder,
und als der Lehrer sich weigerte, den Altar und das Kreuz zu entfernen,
gingen die Landwirte tätlich gegen die anwesenden Deutschen vor.
Unter Schimpfen und Drohen schafften die polnischen Landwirte dann
selbst Altar, Kreuz und Kronleuchter aus dem Betsaale und verboten den
Evangelischen, ihre Toten auf dem evangelischen Friedhofe zu beerdigen.
Diese Beispiele bieten nur eine kleine Auslese aus den uns zugehenden
Zuschriften und persönlichen Klagen. Daß es bei allen diesen
Vorkommnissen nicht ohne körperliche Mißhandlung abgeht, ist
fast selbstverständlich."
In Warschau wurde der Abordnung versprochen, jeden einzelnen Fall zu
untersuchen und für Abhilfe zu sorgen.
Die
Auflösung
der deutschen
Landesschulverbände |
Noch während der Wahlkämpfe wurde
Sturm gegen ein anderes deutsches Werk, den
Deutsch-evangelischen Schulverband gelaufen. Schon am 27.
November 1918 sprach eine Abordnung der beiden deutschen
Schulverbände beim polnischen Minister für
Volksaufklärung vor. Sie legten die Richtlinien beider
Verbände für die Ausübung ihrer Rechte und Pflichten
dar und baten um Abstellung von eigenmächtigen Verfügungen
untergeordneter Stellen. Der Minister äußerte sich, daß
nach seiner Kenntnis einzelne Schulgemeinden von der
Okkupationsbehörde "mit Gewalt" gegründet worden seien,
daß aber trotzdem alles beim alten bleiben solle, bis zur Einberufung
des verfassunggebenden Landtages. Seitdem hatte ein unterirdisches
Wühlen der Feinde der Landesschulverbände begonnen. Eine
Anzahl junger Lehrer (Rennert, Schramm, Gerhard und Jeß) hatte
sich von beamteten und unbe- [151] amteten Gegnern
des Verbandes, zu denen auch die polnischgesinnten Pastoren
gehörten, unter Zusicherung besonderer Vergünstigungen dazu
gewinnen lassen, in Warschau Anträge wegen Auflösung des
Verbandes zu stellen. Sie waren sogar in das Bureau des
Deutsch-Evangelischen Schulverbandes eingedrungen und hatten versucht,
sich als "Lehrerrat" von eigenen Gnaden darin einzurichten. Daraufhin
berief die Leitung des Verbandes zum 3. Januar 1919 eine
außerordentliche Hauptversammlung der Vertreter sämtlicher
Schulgemeinden, die aus dem ganzen Lande gut besucht war. Wie zu
erwarten war, verlief sie sehr bewegt. Der Gang der Verhandlungen wurde
wiederholt durch verlogene und undisziplinierte Ausfälle der
betreffenden jungen Lehrer gestört, so daß die Vertreter der
deutschen Kolonien sie gewaltsam aus dem Saale entfernen wollten. Die
Versammlung, deren einzelne Teilnehmer prachtvolle Zeugnisse ihres
Deutschbewußtseins ablegten, wie jener Lehrer Will, der
erklärte, daß er bereit sei, für das halbe Gehalt zu
arbeiten, um der deutschen Schule die Selbstverwaltung zu erhalten,
erklärte sich für das Weiterbestehen des Verbandes. Bei der
Abstimmung sprachen sich von den 250 Anwesenden nur 28 für die
Auflösung des Verbandes aus, Gesinnungsgenossen der jungen
Lehrer, die auf eine Aufbesserung ihres Gehalts bei der Verstaatlichung der
Schulen hofften.
Polnische Hetzer, im Verein mit den deutschen Verrätern, ruhten
nicht in ihren Anstrengungen, den beiden Landesschulverbänden
noch vor der Entscheidung durch die verfassunggebende Körperschaft
ein vorzeitiges Ende zu bereiten. Es verdient hervorgehoben zu werden,
daß auch die Vertreter der "Polnischen Sozialistischen Partei", die die
Gleichberechtigung aller Nationalitäten in ihrem Programm
verkündigte und die während der Wahlzeit dort, wo die
Deutsche Volkspartei keine eigenen Kandidaten aufstellte, die Wahlhilfe der
Deutschen erhielt, in der Praxis sich ebenfalls deutschfeindlich verhielten. So
haben die beiden Säulen der Partei in Lodz, Rzewski und
Remiszewski, die sich während des Umsturzes zu hohen
Beamtenstellungen emporschwangen, durch ihre Stellungnahme die Lage
sehr verschärft. Am 2. März 1919 faßte der Ministerrat
den Beschluß, die deutschen Schulgemeinden und die beiden
Schulverbände am 31. März 1919 aufzulösen. Das
Vermögen der Schulgemeinden sollte an die politischen Gemeinden
fallen und die Entlassung oder Belassung der Lehrer im Dienst von den
staatlichen Organen entschieden werden. Nach den gleichzeitig
veröffentlichten neuen Bestimmungen über die
öffentlichen Schulen mit deutscher Unterrichtssprache, sollte die
deutsche Unterrichtssprache in den öffentlichen Volksschulen
fortbestehen bleiben, falls dies die Mehrheit der Eltern wünschte. Zur
Feststellung der Willenskundgebung waren die Eltern verpflichtet, in einem
umständlichen Verfahren schriftliche Erklärungen abzugeben.
Wiederum bot sich dem Deutschen Verein Gelegenheit, aufklärend
und richtungweisend zu wirken. Überall, in Stadt und Land, ließ
man sich durch die übelwollende Stellung der zuständigen
Behörden nicht einschüchtern. Es fehlte auch diesmal nicht an
rührenden Beweisen dafür, wie teuer dem einfachen Manne sein
vornehmstes Erbgut, die deutsche Sprache, war. Nur an einigen Stellen
gingen durch Gleichgültigkeit der Eltern deutsche Schulen
verloren.
Änderungen
im deutschen
Zeitungswesen |
[152] Während der Umsturztage gingen
die Deutschen ihrer Tageszeitung verlustig. Zur Fortführung
der Deutschen Lodzer Zeitung und der deutschen Staatsdruckerei in
Lodz hatte sich eine aus Einheimischen zusammengesetzte Gesellschaft
gebildet. Es war auch bereits zur Herausgabe der ersten Nummer der
Lodzer Volkszeitung gekommen, als die polnischen Behörden
die Druckerei beschlagnahmten. Da in der Staatsdruckerei auch die
Deutsche Post gedruckt wurde und weder die neuen Gebieter der
Staatsdruckerei noch andere Lodzer Druckereien das Blatt drucken wollten,
so blieben die bewußt deutschen Kreise eine Zeitlang ohne Organ. Erst
nach einiger Zeit konnte mit der Herausgabe einer neuen deutschen
Tageszeitung, der Lodzer Freien Presse, und der Wochenschrift des
Deutschen Vereins Volksfreund begonnen werden. Beide
Blätter setzen die Arbeit ihrer Vorgänger im bedeutend
verengten Rahmen fort. Da nach dem Übergang des während
der Okkupationszeit vom Warschauer
Evangelisch-Augsburgischen Konsistorium herausgegebenen und in gut
deutschem Sinne geleiteten Wochenblattes Unsere Kirche in die
Hände der polnischgesinnten Pastoren das Blatt dauernd
gehässige Ausfälle gegen alles, was den Deutschen in Polen lieb
und wert war, brachte, so mußte der Volksfreund auch die
Ausgabe eines kirchlichen Blattes für die deutschgesinnten Landsleute
übernehmen und einen religiös-erbaulichen Teil einrichten.
Der
deutschfeindliche Kurs
des Ministeriums Paderewski |
Noch vor dem Zusammentritt des
verfassunggebenden Landtags wurde das Moraczewskische Kabinett durch
das Ministerium Paderewski abgelöst. Den
Volksminderheiten in Polen machte sich der Regierungswechsel bald durch
die nicht nur geduldete, sondern auch von offiziellen Seiten einsetzende
Verfolgung fühlbar. Das Ministerium des Innern setzte eine
Untersuchungskommission zur Feststellung der Beziehungen der
einheimischen Deutschen und ihrer Organisationen zu der deutschen
Okkupationsverwaltung ein. Mit Wonne suchten nun Milker, Drewing,
Habermann und andere Denunzianten ihr Wissen, ihre Mutmaßungen
und Erfindungen nutzbar zu machen. Die Leiter der deutschen
Organisationen sahen sich von allen Seiten bespitzelt. Der von Milker und
Genossen angekündigte vernichtende Schlag gegen die deutschen
Unternehmen und ihre Führer konnte an jedem Tage erwartet
werden.
Die sich
bekämpfenden
Deutschen während der
städtischen Wahlen in
Lodz |
Es durfte nicht wundernehmen, daß nach den
ungünstigen Erfahrungen bei der Landtagswahl auf seiten der
deutschen Aktivisten keine Neigung bestand, bei den für Februar 1919
vorgesehenen städtischen Wahlen ein Abkommen mit den
Passivisten zu treffen. Beide Richtungen traten gesondert auf. Wieder
wurden von den Passivisten die sachlichen Gegensätze auf das
persönliche Gebiet hinübergelenkt. Minderwertige Personen
suchten die Leitung der passivistischen Regierung zu erhaschen, nachdem
alle Einsichtigen sich, voller Ekel über das Treiben in ihren eigenen
Reihen, von der neugebildeten Partei der
"Deutsch-polnischen Demokraten" abgewandt hatten. Selbst Polen
äußerten sich mit Verachtung über die plumpen
Anbiederungsversuche dieser geistig unreifen Renegaten, die davon
sprachen, daß sie bereit seien, polnisch zu denken. Das Wahlergebnis
war dementsprechend: die deutsch-polnischen Demokraten konnten nur
einen ihrer Kandidaten durchbringen, während die mit der Deutschen
[153] Volkspartei
vereinigten "Vereinigung deutschsprechender körperlicher und
geistiger Arbeiter" sieben Stadtverordnetensitze errang, obwohl eine Anzahl
Mitglieder des aus Vertretern bürgerlicher und gemäßigt
sozialistischer Parteien zusammengesetzten Wahlausschusses der
"Vereinigung" unter der Anschuldigung, bolschewistische Propaganda
getrieben zu haben und indirekt an der Ermordung eines eine deutsche
Wahlversammlung besichtigenden polnischen Polizeibeamten beteiligt zu
sein, während der schärfsten Wahlarbeit verhaftet gewesen
waren.
Der Wahlerfolg der deutschen Aktivisten wurde von ihren Gegnern zu einer
Wiederbelebung der sogenannten "reichsdeutschen Agitation" umgedeutet
und ihnen neue Pläne untergeschoben. Die Drahtzieher
drängten zum Handeln. Am 28. Februar 1919 kamen zwei
Ministerialräte aus Warschau nach Lodz. Im Polizeipräsidium
fand die Übergabe von angeblich 3000 in den deutschen Amtsstellen
gefundenen, einheimische Deutsche und ihre Organisationen belastenden
Schriftstücken statt. In der darauffolgenden Nacht wurden, ganz nach
dem Muster der berüchtigten russischen "Ochrana", im Deutschen
Verein, im Deutsch-Evangelischen Landesschulverband, im deutschen
Gymnasium, im Luisen-Lyzeum und in den Wohnungen ihrer Leiter
Haussuchungen gehalten und ganze Wagenladungen mit
Schriftstücken, Büchern und Bildern weggeholt.
Verhaftung der Führer
der deutschen Organisationen |
Nach zwei Tagen erfolgte die Verhaftung des Vorsitzenden des Deutschen
Vereins Eichler, des Leiters des Deutsch-Evangelischen
Landesschulverbandes Flierl, des Direktors des Deutschen Gymnasiums
v. Eltz, und eines Vorstandsmitgliedes der deutschen Organisationen,
des Gymnasiallehrers Günther. Die Amtsbureaus und die Wohnungen
einzelner der Verhafteten wurden versiegelt.
Eine Vernehmung der Verhafteten erfolgte nicht. Ebensowenig wurde ihnen
auf ihr Drängen der Grund ihrer Freiheitsberaubung mitgeteilt. Der
mit der Sichtung des beschlagnahmten Materials beauftragte Staatsanwalt
konnte die Beweise des ihnen von den Denunzianten zur Last gelegten
Hochverrats nicht finden. Im besonderen mußte er feststellen,
daß der Deutsche Verein nie für das Reichsdeutschwerden der
deutschen Kolonisten eintrat. Gegen die vom Staatsanwalt verfügte
Freilassung erhob der Lodzer Polizeipräsident Zbrozek im Namen des
Ministeriums des Innern Protest. Die Angelegenheit reifte einer
Kompetenzstreitigkeit entgegen, als ein Sektionschef des Justizministeriums
das Gefängnis inspizierte. Erst nach zwölftägiger Haft
konnte die "einstweilige" Freilassung verwirklicht werden. Sehr eifrig hatte
die polnische Kriminalpolizei während der wiederholten
Haussuchungen im Geschäftsbureau des Vorsitzenden des Deutschen
Vereins nach unterirdischen und drahtlosen Fernsprecheinrichtungen
gespürt; es war ersichtlich, daß Habermanns und Milkers
stadtbekannte Beziehungen zur polnischen politischen Polizei nicht ohne
Einfluß auf die Handlungen ihrer Agenten waren.
Schließung des
Deutschen Vereins |
Im April 1919 verfügte das Ministerium des
Innern die Auflösung des Deutschen Vereins und seiner
sämtlichen Abteilungen. Der Verein hatte noch kurz vorher zu seiner
sonstigen Tätigkeit Fortbildungskurse für deutsche Arbeiter
und Arbeiterinnen eingerichtet und den aus Deutschland
zurückgeströmten beschäftigungslosen armen
Volksgenossen [154] Gelegenheit zu
geselligen und aufklärenden Zusammenkünften geboten. Das
Vermögen und die Einrichtungsgegenstände des Vereins sollten
dem Staate zufallen. Einige Tage nach der Freilassung wurde v. Eltz
ausgewiesen. Eichler, gegen den vom Ministerium des Innern noch weiteres
geplant war, entzog sich weiteren polizeilichen Verfolgungen, indem er das
Land verließ. Flierl, der bei der Liquidation des
Deutsch-Evangelischen Landesschulverbandes zugegen sein sollte und unter
Polizeiaufsicht stand, folgte später. Die Ausüber der
örtlichen Gewalt konnten bei der Schließung der Ortsgruppen
des Vereins ihr Verlangen, gegen einzelne tatkräftige Mitarbeiter der
deutschen Bewegung in der Provinz durch vorübergehende
Inhaftnahme oder andere Verfolgungsarten vorzugehen, nicht
bändigen.
Mit Willkürtaten gegen die deutsche Minderheit hatte sich das
Ministerium Paderewski eingeführt. Seine und seiner
Nachfolger weitere Tätigkeit bedeutet für die Deutschen im
Lande eine ununterbrochene Kette von Leiden und Gewalttaten. Die
dem einheimischen Deutschtum entstammenden Angestellten
sämtlicher Verwaltungszweige und Behörden, ohne deren
Mitwirkung viele Abteilungen der Verwaltung schon wenige Tage nach dem
Übergang in polnische Hände zusammengebrochen
wären, wurden, nachdem sie ihre polnischen Nachfolger angelernt
hatten, entlassen. Als im Sommer und Herbst 1919 einzelne Industriebetriebe
nach mehr als vierjährigem Stillstand ihre Arbeit aufnehmen konnten
(von den vor dem Kriege in Lodz beschäftigten 150 000
Arbeitern wurden bis Oktober 1919 nur 20 000 eingestellt), traten die
polnischen Berufs- und Arbeiterverbände an die zum
größten Teil deutschen Unternehmer mit der Forderung heran,
deutsche Meister, Angestellte und Arbeiter zu entlassen. Infolge dieser und
anderer Zwangsmaßnahmen sahen sich Tausende von deutschen
Arbeitern und Angestellten genötigt, Lodz zu verlassen. Schon im
Januar 1919 wurde eine Abordnung deutscher Stadtverordneter bei dem
damaligen Volkskommissar für die Stadt Lodz mit einer Denkschrift
vorstellig, in der über die täglichen Schmähungen der
deutschen Bevölkerung durch die polnischen Zeitungen und
über zahlreiche Willkürtaten geklagt wurde. Während
die russischen Behörden deutsche Schilderaufschriften erlaubt hatten,
führte sich der Vertreter der freien polnischen Republik mit einem
Verbot der deutschen Aufschriften ein. Die elektrischen
Straßenbahnen verweigerten den Schülern deutscher
Lehranstalten die Ausfolgung von ermäßigten
Schülerfahrkarten. Im März wurde der gesamte reichsdeutsche
Lehrkörper des Luisen-Lyzeums ausgewiesen. Mit dem Beginn des
neuen Schuljahres im Herbst 1919 wurde die Weiterbeschäftigung
einzelner reichsdeutscher Lehrkräfte an den deutschen Mittelschulen
untersagt. Das Luisen-Lyzeum wurde gezwungen, das von ihm innegehabte
Schulgebäude zu räumen. Es fand vorläufige Aufnahme
im Deutschen Gymnasium. Nach kurzer Zeit beanspruchte die
Beschwerden des
Abgeordneten Wolff
im polnischen Landtag
über die andauernden
Deutschenverfolgungen |
Militärverwaltung das Haus des Deutschen Gymnasiums für
Lazarettzwecke und besetzte es kurzerhand. Erst nach langwierigen
Verhandlungen gelang es, in Warschau die Freigabe des Gebäudes zu
verlangen.
Noch schlimmer als der deutschen
städtischen Bevölkerung erging es [155] den deutschen
Ansiedlern. Während der Verhandlungen im Warschauer
Landtag über die dem polnischen Staat von der Koalition
auferlegten Verpflichtungen zugunsten der Minderheiten in den neuen
polnischen Gebieten erwähnte der Abgeordnete Wolff am 31. Juli
1919, nachdem er sich ängstlich gegen den Vorwurf verwahrt hatte,
daß der Minderheitenschutz von der Deutschen Volkspartei beantragt
worden sei:
Die
zerstörte Illusion
von der Toleranz der Polen |
"Jeder
untergeordnete Beamte, jeder Wojt oder Dorfschulze hält sich
für seinen eigenen Gesetzgeber und handelt vollständig
eigenmächtig... Unsere Kolonisten müssen in einigen
Ortschaften geradezu Folterqualen aushalten, ganz besonders im Kreise
Nieszawa und in der Nähe der Festung Modlin. Sie leben dort in
fortwährender Furcht, von ihren Besitzungen vertrieben zu werden.
Aus vielen Institutionen werden die evangelischen Beamten ohne jeglichen
Grund entlassen, nur weil sie evangelisch sind. Trotzdem am 7. März
das Dekret über die Erhaltung der deutschen Unterrichtssprache
herausgegeben worden ist, werden von einigen Schulinspektoren unsere
Kantorate geschlossen, die Lehrer entlassen. Dorfschulzen schließen die
Bethäuser, verbieten die Gottesdienste und nehmen sogar die
evangelischen Friedhöfe weg. In Lodz wurden die Lokale zweier
deutscher Gesangvereine für Offizierskasinos requiriert, obgleich in
der Stadt an geeigneten leerstehenden Räumen kein Mangel war. Das
Gebäude des Deutschen Gymnasiums wurde im Juni in ein
Militärhospital verwandelt, obgleich es auch dafür viele andere,
mehr entsprechendere Räume gibt. Dieses Gymnasium wird aus
eigenen Mitteln erhalten und von 1200 Kindern besucht, die jetzt der
Möglichkeit beraubt sind, die Schule zu besuchen. Der
Gymnasialverein hat der Militärbehörde ein anderes,
fünfstöckiges Gebäude angeboten, das mit allen
Bequemlichkeiten ausgestattet ist. Die Militärbehörde hat dieses
Gebäude angenommen, das Gymnasium aber noch nicht
freigegeben."
Aber nicht nur beamtete Polen erlauben sich fort und fort
Eigenmächtigkeiten und große Rechtsverletzungen. In
unzähligen Berichten wiederholen sich Schilderungen über die
von der polnischen Bevölkerung ausgehenden fortgesetzten
Verfolgungen, die sich in verschiedenen Fällen bis zur grausamen
Ermordung ganzer Familien in deutschen Dörfern des Warschauer
Bezirks steigerten.
Der
Wunsch der
deutschen Ansiedler,
der polnischen Hölle
zu entfliehen |
Es überrascht deshalb nicht zu hören, daß überall
in den deutschen Ansiedlungen der Wunsch besteht, sich aus der polnischen
Hölle zu retten. Vielfach verlassen die Ansiedler ihren Besitz, den sie
für einen billigen Kaufpreis an den ersten Käufer abgeben, und
lassen sich auf Schleichwegen über die Grenze nach der Heimat ihrer
Väter in Sicherheit bringen. Beide deutsche Landtagsabgeordnete
forderten im Herbst 1919 die deutschen Ansiedler in Polen auf, sich durch
die jetzt herrschenden Verhältnisse nicht zu unüberlegter
Preisgabe ihres ererbten Besitzes und zur Auswanderung verleiten zu lassen,
da für die Deutschen in Polen auch wieder bessere Zeiten kommen
werden. Es bleibt abzuwarten, ob diese Versicherungen den in Bewegung
gesetzten Auswanderungsstrom aufhalten können. Vielfach ist unter
den Auswanderungslustigen die Meinung verbreitet, daß sich ihnen in
Südrußland und dem jetzigen rumänischen Bessarabien
eine neue Heimat böte. Trotz der bösen Erfahrungen mit den
Russen während des Krieges, hofft man auf ein gutes [156] Einvernehmen mit
ihnen, weil in früheren Zeiten ein gutes nachbarliches
Verhältnis mit den Russen bestand, während die Zukunft in
Polen in ihren Köpfen sich nur als eine ununterbrochene Kette von
Verhöhnungen und Unterdrückungsmaßnahmen
malt. - Zur Entgegennahme von Meldungen über ungesetzliche
Handlungen der kleinen Machthaber haben die deutschen
Landtagsabgeordnete eine Auskunfts- und Beratungsstelle in Lodz
eingerichtet. Der Erfolg ihrer Arbeit ist indessen gleich Null, da die in
Warschau von den Zentralstellen der Behörden gegebenen
Zusicherungen nur der schönen Illusion von der Toleranz der Polen
dienen. Die Behörden in Warschau besitzen nicht den Einfluß,
um ihren Absichten in der Provinz Verwirklichung zu verschaffen.
Es fehlt den Deutschen in Polen z. Z. nicht nur ein Schutzverband, sondern
auch eine Vereinigung mit kulturellen Zielen. Der in Lodz bestehende
Deutsche Schul- und Bildungsverein beschränkt sich, in Verkennung
der Absichten seiner Schöpfer, ebenso wie alle anderen
während des Krieges erst spät zu neuer Tätigkeit
erwachten deutschen Vereine, auf gesellige Veranstaltungen.
Ein
Generalsuperintendent,
dessen Tätigkeit seiner
Kirche zum Schaden gereicht |
Unklar ist die Stellung des
Generalsuperintendenten Bursche und des neuen
Präsidenten des Evangelisch-Augsburgischen Konsistoriums Glas zu
der in Polen sich behauptenden Intoleranz. Bursche, der einer deutschen
Familie entstammt, befaßte sich schon in jüngeren Jahren mit
der großpolnischen Agitation unter den polnische Dialekte
sprechenden Evangelischen in den Landschaften Teschen
(Österreichisch-Schlesien) und Masuren (Ostpreußen). Zur
Beweisführung der Berechtigung der polnischen Ansprüche auf
beide Provinzen ließ er sich im Januar 1919 nach Paris entsenden, wo
er die Bedenken der Koalition, und insbesondere der amerikanischen
Mitglieder bei den Friedensverhandlungen, hinsichtlich der Toleranz der
Polen gegen ihre evangelischen Staatsbürger zu zerstreuen verstand,
indem er die auf dem Papier vorhandene Gleichberechigung aller
Nationalitäten und Konfessionen in Polen als gradezu ideal schilderte.
Von den evangelischen Deutschen in Polen wird Bursche zum Vorwurf
gemacht, daß während er in seinem verlogenen Aufruf an die
Masuren von preußischer barbarischer Unterdrückung ihres
nationalen Empfindens spricht, er an der Not seiner Glaubensgenossen in
Kongreßpolen teilnahmslos vorübergeht und sich nicht die Zeit
nimmt, gegen die Ungerechtigkeiten, unter denen der größte Teil
der Evangelischen in Polen seufzt, einzuschreiten, was ihm bei seinem
Einfluß auf die polnischen Regierungsstellen viel leichter gelingen
müßte als anderen. Auch sein kirchenpolitischer Ehrgeiz, mit
dem er bestrebt ist, die im Bekenntnis und in der Verfassung andersgeartete
evangelische Kirche der posenschen und westpreußischen
Abtretungsgebiete unter die Oberhoheit des Warschauer Konsistoriums zu
bringen, wird als etwas der evangelischen Kirche Polens Abträgliches
empfunden. Zu seiner Unbeliebtheit hat auch manche bei gegebenen
Anlässen gezeigte Parteilichkeit, so bei der Hintertreibung der Wahl
eines deutschgesinnten, fast von der ganzen Gemeinde einstimmig verlangten
Pfarrers nach Lodz, beigetragen. Jedenfalls ist überall die
Überzeugung vertreten, daß seine weitere Wirksamkeit den
Deutschen und Evangelischen in Polen nur zum Schaden gereichen wird.
[157] Bei der unsicheren
politischen Lage in Polen, die jeden Tag Überraschungen bringen
kann, wäre es ein müßiges Beginnen, die
Zukunftsaussichten des Deutschtums in Polen festlegen zu wollen. Solange
die Verhältnisse sich in ihrer heutigen verworrenen Form zeigen, die
Leidenschaften sich nicht ausgeglüht haben und die
Zentralbehörden in Warschau nicht in der Lage sind, bei den
nachgeordneten Stellen in der Provinz ihren nicht
übermäßig weitgehenden Wünschen nach
Duldsamkeit der Volksminderheiten Erfüllung zu verschaffen, wird
sich das Sehnen der Deutschen in Polen naturgemäß auf eine
erträgliche physische Existenz erstrecken. Vielleicht wird der
Zuwachs größerer deutscher Volksteile mit der Angliederung
der Provinz Posen und Westpreußen den Deutschen in
Kongreßpolen ihre Lage erleichtern.
Freilich, der Fortbestand der deutschen Volksgesamtheit in
Kongreßpolen wird im wesentlichen auch davon abhängen, ob
die z. Z. gebundenen kulturellen Kräfte ein freies
Betätigungsfeld und in sich Entschlußfreudigkeit finden. Die
Frage, ob die Deutschen in Polen noch eine Zukunft haben, ist zu bejahen,
wenn, wie es auch die vorliegende Schilderung ihrer geschichtlichen
Entwicklung beweist, sie noch Männer aus ihrer Mitte hervorbringen
können, die in entsagungsvoller Mühe zu selbstlosen
Kämpfern um die Zukunft ihrer Volksgenosse werden. Wie vom
großen deutschen Gesamtvolk, so heißt es auch von dem
deutschen Volksteile in Polen:
Nur das Volk ist verloren,
das sich selbst aufgibt.
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