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Der Wiederaufbau

Die Lodzer Deutschen
in der Verwundetenfürsorge
Während der dreiwöchigen Kämpfe vor Lodz im November und Dezember 1914 waren weite Kreise des Lodzer Deutschtums zur Verwundetenpflege herangezogen. Der Führer der Mittelpartei in der russischen Reichsduma, Gutschkow, kam als Beauftragter des Russischen Roten Kreuzes nach Lodz
Russische Umwerbung
und suchte Fühlung zu einflußreichen Lodzer Deutschen, denen er in deutscher Sprache seine Mißbilligung der von der Nowoje Wremja in Petersburg neuerdings aufgenommenen Hetze gegen die Deutschen in Polen aussprach, wobei er sich anheischig machte, auf Grund der selbstgewonnenen Kenntnis der örtlichen Verhältnisse für eine Berichtigung einzutreten. Sein Appell an den Opfersinn der Lodzer Deutschen blieb nicht vergeblich. Der früher organisierte Verwundetendienst hätte angesichts der Zehntausende von Verwundeten, die von den Schlachtfeldern bei Lodz in die Stadt gebracht wurden, versagt, wenn ihm nicht aus der einheimischen Bevölkerung, und nicht zuletzt aus den Reihen der Lodzer Deutschen, ungezählte Scharen freiwilliger Helferinnen und Helfer zugeströmt wären. Bei der Ausstattung von Lazaretten und der Nahrungsmittelbeschaffung waren es wieder die Deutschen, die fast ausschließlich größte Opfer brachten. Das deutsche Gymnasium beherbergte die größte Zahl von Verwundeten. Warmherzige Lodzer deutsche Frauen und Mädchen nahmen sich auch der vergessenen, in Gefangenschaft geratenen deutschen verwundeten Soldaten an, obgleich uniformierte und nichtuniformierte Mithelfer und Mithelferinnen in der Verwundetenfürsorge scheel sahen und es an hämischen Bemerkungen und Drohungen nicht fehlen ließen. So wie in Lodz war es auch in den Nachbarstädten mit starkem deutschen Einschlag, die im Kriegsoperationsgebiet lagen.

Voreilige Schlußfolgerungen
der reichsdeutschen
Kriegsberichterstatter
über das Deutschtum
Reichsdeutsche Zeitungsberichterstatter, die bald nach dem Einzug der deutschen Truppen nach Lodz kamen, haben, unter Verkennung der im Laufe des kriegerischen Geschehens gewordenen Verhältnisse und ohne Rücksicht darauf, daß es der dritte deutsche Einmarsch während des Krieges war, den Lodzer Deutschen den Vorwurf gemacht, daß sie es unterlassen hätten, die deutschen Stammesbrüder als Befreier zu empfangen.1 Man wird es nach dem im vorigen Abschnitt Geschilderten verständlich finden, daß auch diejenigen, die sich aufrichtig über die deutschen Erfolge freuten, es vermieden, ihrer Gesinnung in Worten oder in ihrer Haltung Ausdruck zu geben. Noch lag das Schwere und Zermürbende der dreiwöchigen Schlachten in nächster Nähe der Stadt auf ihren Bewohnern. Wußte man doch auch, und gelegentliche Äußerungen der Beteiligten [114] stellten es außer Zweifel, daß jedes Wort und jeder Schritt der deutschen Einwohner der Stadt von scharfhörigen und helläugigen Aufpassern beobachtet wurden. Und wer gab die Sicherheit, daß die Kampflage nicht einen neuen Rückzug der deutschen Armee nötig machen würde? Waren dann die Lodzer Deutschen, die ihre deutschfreundliche Gesinnung bekundet hatten, nicht ebenso der russischen Vernichtungswut ausgesetzt, wie ihre Volksgenossen auf dem platten Lande?

Nur langsam kehrte das Vertrauen zu der Dauer des bestehenden Zustandes ein. Während der Kampftage, als deutsche Geschosse und Fliegerbomben in die Stadt kamen und der großfürstliche Oberbefehlshaber der russischen Verteidigungsarmee die Weisung gab, die Stadt unter allen Umständen und ohne Rücksicht auf die ihr und ihren Bewohnern durch deutsche Beschießung drohenden Schäden zu halten, hatte die Sorge um Erhaltung des eigenen Lebens und Besitztums, die Verwundeten-Unterbringung und Pflege und der durch das Aussetzen der Zufuhr entstandene Mangel an Lebensmitteln alle anderen Interessen in den Hintergrund gedrückt. Nun suchte das aus seiner Bahn geschleuderte bürgerliche Leben wieder in den Gleichschritt des Alltags zu kommen. Da durften und mußten die Lodzer Deutschen wieder die Frage stellen und zu beantworten suchen: Wohin gehören und was sind wir?

Aus den reichsdeutschen Zeitungen, die nun nach halbjährigem Ausbleiben wieder nach Lodz kamen, gewann man erst ein richtiges Bild von der Weltlage, von Deutschlands Opfern und Aussichten. Und als aus den Erzählungen der feldgrauen Gäste und der nachgelieferten Zeitschriften Deutschlands Erwachen zu heldenhafter Größe in den ersten Augusttagen bekannt wurde, da quoll auch in den Herzen der Lodzer Deutschen das deutsche Gefühl auf.

Die Ausschaltung der
Deutschen aus dem
öffentlichen Leben
durch die polnischen
Bürgerkomitees
Nach dem Ausgleich der inneren Spannung lenkte sich die Aufmerksamkeit aller, die dem Deutschtum in Polen den ihm nach seiner geschichtlichen Entwicklung und seiner geistigen und wirtschaftlichen Bedeutung zukommenden Platz sichern wollten, auf die Verhältnisse in der Nähe. Schmerzlich war es für viele, immer aufs neue feststellen zu müssen, daß die Deutschen aus dem öffentlichen Leben aus Lodz und den benachbarten Industriestädten ausgeschaltet waren. Die Bürgerkomitees, die die Verwaltung der Städte in Händen hatten, bestanden fast nur noch aus Polen oder polonisierten Deutschen und Juden. Die deutsche Sprache war in den Amtszimmern nicht mehr zu hören. Jeder zur Ergänzungswahl für den Hauptausschuß oder die Unterabteilungen des Bürgerkomitees Vorgeschlagene mit deutschklingendem Namen wurde, ohne daß er es wußte, daraufhin geprüft, wie weit der Polonisierungsprozeß bei ihm schon vorgeschritten sei. Zur Entscheidung von Rechtsfragen waren Milizgerichte eingerichtet, denen die Entgegennahme deutscher Schriftsätze und auch deutsche Verhandlung untersagt waren, während die früheren russischen Richter, je nach Neigung und Entgegenkommen, den Gebrauch des Deutschen in den Verhandlungen zugelassen hatten. Das Bestreben der leitenden Herren ging offensichtlich dahin, den Städten des Lodzer Industriegebiets ein polnisches Gesicht zu geben.

Ansätze der
deutschen Aktivisten
zum Handeln
Eine Anzahl Männer, solche, die schon in den früheren Abschnitten [115] der Entwicklung des Deutschtums eine Rolle gespielt hatten, und andere, die ebenfalls von heißer Liebe zu ihrem Volke gedrängt wurden, fanden sich zu Besprechungen zusammen, um zunächst unter sich darüber einig zu werden, ob es angesichts der noch überall laut werdenden Furcht vor der Wiederkehr der Russen angezeigt sei, als Vertreter der deutschen Volksgesamtheit hervorzutreten und den ihr von Rechtswegen zukommenden Einfluß in der Leitung der Verwaltung zu heischen, oder ob es ratsamer sei, zunächst noch zu warten, bis die noch in der Entwicklung begriffenen Dinge festere Form angenommen haben. Die Meinungen gingen auseinander und es blieb vorläufig bei unproduktivem Ansichtenaustausch, bis sich diejenigen, die für deutsches Handeln waren, zu dem Entschluß aufschwangen, zur Tat überzugehen. Mußten sie doch fürchten, daß es bei einem Hinziehen der Entscheidung, angesichts des zielbewußten Vorgehens der Polen, leicht zu einem "Zu spät" kommen könnte.

Im Stabe des neuen Militärgouverneurs von Lodz befand sich auch der Herausgeber der Grenzboten, Georg Cleinow, dem die Schaffung einer Presseverwaltung für das okkupierte Gebiet übertragen wurde. An Stelle der unterdrückten Lodzer Zeitung rief er die Deutsche Lodzer Zeitung ins Leben. Mit ihr trat, nach der Unterdrückung der Lodzer Rundschau, wieder eine bewußtdeutsche Zeitung auf den Plan. Sie öffnete ihre Spalten den Beschwerden der einheimischen Deutschen und brachte Aufrufe von Heinrich Zirkler und Adolf Eichler, die die schlummernden Deutschen zur Tat ermunterten.

Gelegenheit zum Handeln bot sich, als sich eine Vereinigung deutscher Männer bildete, zwecks Einrichtung von deutschen Analphabeten- und Fortbildungskursen für Erwachsene. Solche Lehrgänge bestanden bereits für polnische Arbeiter und Arbeiterinnen. Als das Bürgerkomitee um Zuweisung von Mitteln für die deutschen Kurse ersucht wurde, suchte es die Entscheidung hinzuziehen und redete sich damit aus, daß keine Mittel mehr vorhanden wären. Ähnliche unliebsame Erfahrungen machte man bei den Bemühungen um die Erhaltung der deutschen Volksschulen. Noch war zwar, dank dem Eifer einiger deutschen Lehrer, eine Anzahl deutscher Schulen im Betrieb, aber es lag doch das Bestreben vor, eine neue Polonisierung der Schulen zu versuchen und den Schulen, die ihren deutschen Charakter bewahren wollten, die Unterstützung zu entziehen. Zirkler, der alte Kämpe um die Erhaltung des deutschen Schulwesens, trat mit einer Statistik hervor, die die Absichten der Schulabteilung des Bürgerkomitees enthüllte.

Dieser Anlaß und einige andre Vorkommnisse führten die Teilnehmer der Besprechungen zu der inzwischen eingerichteten deutschen Zivilverwaltung in Lodz, an deren Spitze als Polizeipräsident Geh. Oberregierungsrat v. Oppen stand. Bis dahin hatten die Ergebnisse der deutschen Beratungen den Stempel des Unverantwortlichen getragen. So lange man es nicht mit einer einigen deutschen Gesellschaft zu tun hatte, wollte man nicht vor deutsche Behörden treten. So oft auch der Vorschlag gemacht worden war, sich um Abhilfe an die Zivilverwaltung zu wenden, - immer war der Einwand zu hören, daß man noch nicht das Recht habe, sich ohne Auftrag einer größeren Gemeinschaft deutscher Wünsche wegen an die Verwaltung zu wenden. Die Versuche, den Kreis der Beratenden zu [116] erweitern, endeten damit, daß die vielen Fragen, die bei früheren Zusammenkünften besprochen und halb entschieden worden waren, noch einmal erörtert werden mußten. Ein das Bewußtsein vieler ausfüllender Fehlschluß hinderte jedes Handeln: Man nahm an, daß die deutschen Behörden sich ungebeten um die einheimischen Deutschen bemühen und ohne ihr Zutun ihnen die Geltung verschaffen würden, auf die sie im Hinblick auf ihr geschichtliches Recht Anspruch hatten. Die Schulfragen und späterhin die Vertretung der Deutschen in der in Aussicht genommenen neuen Stadtverwaltung wurden im Juni 1915 in einem erweiterten Kreise von Vertretern aller deutschen Gesellschaftsschichten besprochen und Obmänner gewählt, die als Beauftragte der deutschen Gesellschaft verschiedene Wünsche dem Polizeipräsidenten vortragen sollten. Es waren dies Dr. Bräutigam, Zirkler und Eichler, die in ihrer Besprechung bei Geheimrat v. Oppen das größte Verständnis fanden und das Versprechen erhielten, daß die deutschen Interessen wahrgenommen werden sollten. Freilich flocht der Präsident in seine Ausführungen die Bemerkungen ein, daß die Lodzer Deutschen reichlich spät mit ihren Ansprüchen kämen, Vertreter der polnischen und jüdischen Bevölkerung fände er in offiziellen Missionen täglich bei sich.

Deutscher Einfluß
in den neuen
Städteverwaltungen
Ende Juni 1915 kam die Verordnung des Oberbefehlshabers Ost heraus, die den Bürgerkomitees der polnischen Städte links der Weichsel, die sich in ihrem Machtgefühl zu Verwaltungen kleiner Republiken auswuchsen, das verdiente schmerzlose Ende bereitete. Von deutscher Seite hatte man, unter Berufung auf die früheren Zusicherungen der russischen Zentralbehörden in Petersburg, wonach bei der Einführung der städtischen Selbstverwaltung die steuertragenden deutschen Gesellschaftsschichten nicht zu kurz kommen sollten, eine Drittelung der städtischen Verwaltung, entsprechend ihrer nationalen Zusammensetzung, gefordert und auch zugebilligt erhalten. Ähnlich vollzog sich die Umbildung der städtischen Behörden auch in den anderen Städten des Lodzer Bezirks. Nach der Verordnung waren die Magistratsmitglieder und Stadtverordneten in ihre Ämter durch Ernennung zu berufen. Die deutschen Aktivisten traten selber dafür ein, daß auch Vertreter der passivistischen Richtung berufen werden sollten. Ähnlich geschah es auch bei den anderen nationalen Gliederungen. Da ein größerer Teil der jüdischen Kommunalpolitiker, entsprechend der damals noch bei den polnischen Juden vorhandenen und durch die deutschen Siege gefestigten deutschfreundlichen Gesinnung in die deutsche Fraktion eintrat, so bekamen die Stadtparlamente in Lodz und seinen Nachbarstädten deutsche Mehrheiten. In Lodz gehörten der Stadtverwaltung außer den bereits genannten drei deutschen Aktivisten noch an: Ludwig, Triebe, Schwarzschulz, Daube, Ramisch, Schmidt, Vogel, Scheibler, Steinert, Sanne, Mühle und Zemann, die sowohl in den Sitzungen wie auch in den Deputationen wertvolle produktive Arbeit leisteten. Zum ersten Bürgermeister wurde der in der deutschen Zivilverwaltung beschäftigte Oberbürgermeister von Gnesen, Schoppen, zum zweiten Bürgermeister Manufakturrat Leonhardt ernannt.

Nach der Verordnung waren für alle Zweige der städtischen Selbstverwaltung beide Sprachen, Deutsch und Polnisch, gleichberechtigt. Infolge stärkerer Inanspruchnahme sachkundiger Beamten der deutschen [117] Zivilverwaltung für alle Spezialgebiete der städtischen Wirtschaft kam das Deutsche zu einer gewissen, unbeabsichtigten Vorherrschaft. Mit Staunen sah man, wie in kurzer Zeit in das verfahrene Stadtwesen Zug kam und die während der Herrschaft des Bürgerkomitees sich schon allenthalben breitmachende Korruption der Ehrlichkeit und redlicher Pflichterfüllung wich. Nie vorher und nie nachher sind in und um Lodz in den städtischen Gemeinwesen mit geringen Mitteln so viel schöpferische Leistungen vollbracht worden. Orts- und Wohnungshygiene mußten frisch in Angriff genommen, die mangelnde oder verwahrloste Wasserversorgung eingerichtet, die Beseitigung der Abwässer durchgeführt, die Nahrungsmittelhygiene in allen ihren Teilen erzwungen werden. Dazu kam die Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten, für die bakteriologische Institute, Seuchenhospitäler, Absonderungshäuser für Ansteckungsverdächtige und Desinfektionseinrichtungen zu beschaffen waren. Außerdem kamen hinzu das allgemeine Schulwesen, für das die bekannten Hindenburgschen Schulverordnungen erlassen wurden, die Kleinkinderfürsorge, Kranken- und Siechenpflege und die Fürsorge für das Leichenwesen. Das gänzlich im argen liegende Finanzwesen mußte von Grund auf neu geregelt, Steuerquellen gefunden und reichsdeutsche Bankgruppen zu Anleihen willfährig gemacht werden. Arbeitslosenunterstützungen verschlangen Unsummen, da die Industrie infolge des fehlenden Rohmaterials und der späteren Beschlagnahmen während des ganzen Krieges stillag. Auch die Beträge, die von den Städten für Rechnung des russischen Staates an die Reservistenfrauen gezahlt wurden, liefen in die Millionen. Zu sichtbaren nationalen Reibungen ist es während der 1½jährigen Tätigkeiten der ernannten Mitglieder des Magistrats und der Stadtverordnetenversammlung nicht gekommen. Die vorbildliche Arbeit, die von deutschen Beamten im Verein mit einheimischen Deutschen, Polen und Juden getan wurde, schien von allen Beteiligten anerkannt zu werden. Nur assimilatorische Juden brachten ab und zu in ihrem polnisch-nationalen Übereifer Konfliktstoff in die Verhandlungen.

Die deutschen Aktivisten konnten sich, als sie mit ihrer praktischen Arbeit begannen, bereits auf breitere deutsche Massen stützen. In Kongreßpolen sind auch die deutschen Städter noch kirchlich interessiert. Der Besuch der evangelischen Gottesdienste hatte aber während der Periode des Polterns der einheimischen Kanzelredner gegen deutsche Gottlosigkeit nachgelassen. Um so stärker wurden nach dem Einzug der deutschen Truppen die Militärgottesdienste besucht. Divisionspfarrer Willigmann aus Königsberg brachte in seine Predigten eine starke nationale Note, ohne daß ihre religiöse Seite dadurch litt. Zuerst war es nur ein Häuflein Lodzer Deutscher, das sich zu den Militärgottesdiensten einfand. Allmählich wurden es aber Hunderte und Tausende, die sich in der etwa 5000 Menschen fassenden evangelischen St. Johanniskirche in Lodz zusammenfanden und ergriffen den aufrüttelnden Worten des begabten Redners lauschten und durch ihren ständigen Besuch dieser Gottesdienste ein Bekenntnis zum Deutschtum ablegten. Anfangs drohten noch minderwertige Volksgenossen,die sich auf die Seite der Passivisten geschlagen hatten, mit schwarzen Listen der Besucher der Willigmannschen Predigten in Lodz und den Nachbarstädten zwecks Namhaftmachung der noch in weiten Kreisen erwarteten Wieder- [118] kehr der Russen. Allmählich mußte die Tatsache ruhiger hingenommen werden. Die von den Militärgottesdiensten ausgehende religiös-nationale Bewegung wurde, als Willigmann im August 1915 mit den vorrückenden Truppen nach Warschau ging, weiter gepflegt und vertieft durch den Gouvernementspfarrer Lic. Althaus, der bis zum Ende der deutschen Verwaltung in Lodz weilte und der deutschen Arbeit in Polen durch seine Predigt-, Vortrags- und literarische Tätigkeit wertvolle Dienste leistete. Die deutsche Bewegung in Pabianice und Umgegend wurde durch das verdienstvolle Wirken des Gouvernementspfarrers Paarmann in Sieradz gefördert.

Das eigene Organ
der deutschen Aktivisten,
die "Deutsche Post"
Während der Vorbereitungen zu der Überführung des Lodzer Deutschtums in eine Periode schöpferischer Tätigkeit hatten die führenden Männer das Fehlen eines eigenen Organs bitter empfunden. Wenn sie zu den sie bewegenden Fragen der Zeit Stellung nehmen wollten, waren sie auf die Deutsche Lodzer Zeitung angewiesen, die als amtliches Blatt galt. Die Neue Lodzer Zeitung, die sich damals um die Gunst der deutschen Aktivisten bemühte, konnte ihrer sie schwer belastenden Vergangenheit und ihrer Unzuverlässigkeit wegen nicht herangezogen werden. Um ihre Aufsätze als unbeeinflußte Meinungsäußerung kenntlich zu machen, zeichneten die Verfasser sie mit vollem Namen. Dennoch blieben unbeabsichtigte und beabsichtigte Mißverständnisse nicht aus. Deshalb wurde von den Aktivisten eine eigene Wochenschrift, die Deutsche Post, gegründet, zu deren Herausgeber Eichler berufen wurde. In der Einleitung zur ersten Nummer wurde über die Notwendigkeit des Blattes folgendes ausgeführt:

      "Deutsche Arbeitskraft, deutsche Intelligenz und deutsches Kapital haben den hiesigen Industriebezirk geschaffen. Wir müßten denken, daß Deutsche überall, in allen Körperschaften, die sich mit öffentlichen Fragen befassen, die ihrer Bedeutung entsprechende Vertretung haben. Ach! die Wirklichkeit ist anders. Wir wissen es und hören es jeden Tag aufs neue, daß der Respekt vor den einheimischen Deutschen in unserem Lande gesunken ist. Man sagt uns hiesigen Deutschen nach, wir seien »unters Rad« gekommen; wir kämen, um mit Schopenhauer zu sprechen, »mit hundert Absichten und tausend Rücksichten belastet unseres Weges daherlaviert«. Es soll hier nicht erklärt werden, wie alles gekommen ist. Wir denken an Gegenwart und Zukunft. Wir wollen dafür eintreten, daß die Deutschen zu der Geltung kommen, die sie gerechterweise verdienen... unser Ziel ist: eine sich eins und kräftig fühlende deutsche Gesellschaft, ein Wiederaufleben der deutschen Vereine mit aller ihrer kulturfördernden Arbeit, eine jedem deutschen Kinde zugängliche deutsche Schule, auf der unsere Zukunft beruht, und eine deutsche Volkskirche. Wir wollen nicht nur an Schaffung materieller Güter denken, sondern daran arbeiten, daß ein arbeitsfreudiger deutscher Idealismus bei uns Wurzeln schlägt."

Die Deutsche Post, in deren Schiftleitung man bald nach ihrer Gründung Friedrich Frierl berief, wurde der Mittelpunkt aller deutschen Arbeit in Lodz. Jede ihrer Ausgaben bekundete nicht nur die Berechtigung, sondern auch den Zweck ihres Daseins. In ihr spiegelte sich das gesamte Lodzer deutsche Leben wider. Sie diente während ihres fast 3½jährigen Bestehens bis Mitte November 1918 allen deutschen Unternehmungen als Schrittmacherin. Was alle Deutschen in Stadt und Land ersehnten und [119] forderten, was alle drückte und plagte, wurde in ihren Spalten besprochen und der Grund für eine bessere Zukunft gelegt.

Wichtig für das Ansehen und die richtige Bewertung des Deutschtums in Polen war die Zurückweisung der Vorwürfe, die Lodzer Deutschen wären samt und sonders "Rubelpatrioten" und schielten alle nach Rußland hinüber, wie reichsdeutsche Zeitungsberichterstatter oder Broschürenschreiber auf Grund eiliger Besuche oder des durch Hörensagen Erfahrenen immer wieder behaupteten. Eine nicht minder unrichtige Schilderung der Wirklichkeit ließen sich die deutschschreibenden polnischen Schriftsteller zuschulden kommen, die sich bemühten, der deutschen Öffentlichkeit die Meinung beizubringen, Lodz sei eine rein polnische Stadt mit polnischer Industrie. - Die Deutsche Post hat dazu beigetragen, daß das alte Mutterland sich wieder seiner vergessenen Kinder erinnerte und etwas von ihrem Dasein erfuhr. Zu den wichtigsten Fragen, die die Deutsche Post, anregend oder kritisch, behandelte, gehörten Kirche und Schule. Das Problem der Durchdringung der evangelischen Kirche mit völkischem Geiste ist von ihren Mitarbeitern wiederholt besprochen worden. Aufsätze über Schulfragen, sowohl solche, die den Bestand und die Entwicklung der deutschen Volksschule, wie auch andere, die die drohende Entdeutschung der von den Deutschen gegründeten Mittelschulen behandelten, dienten der Förderung des Schulwesens. Die Notwendigkeit der Wiedereröffnung des deutschen Gymnasiums, das noch bis in den Hochsommer 1915 von den zurückgebliebenen russischen Verwundeten belegt war und gegen dessen Freigabe für Schulzwecke sich die russophilen Passivisten wandten, und die Gründung einer im deutschen Geiste geleiteten höheren Töchterschule wurden zuerst in ihren Spalten erörtert. - Aufrufe, Erwägungen und Ausführungen aller Vorschläge gingen in folgerichtiger Entwicklung vor sich. Urheber und Ausführer der jeweils besprochen Absichten waren fast immer dieselben Personen, die sich mit den Namen der Mitarbeiter des Blattes deckten.

Noch im Herbst 1915 gelang es den Bemühungen des Direktors des deutschen Gymnasiums, v. Eltz, alle äußeren und inneren Schwierigkeiten zu beseitigen und, nach mehr als einjähriger Pause, mit dem Schulbetrieb zu beginnen. Seiner Arbeit war es auch zu danken, daß das Interesse für die höhere Mädchenschule sich zur Gründungsfreudigkeit auswuchs, so daß das neue Luisenlyzeum im nächsten Schuljahr mit reichsdeutschen Lehrkräften eröffnet werden konnte. Die deutsche Zivil- und Militärverwaltung hat das Schulwerk tatkräftig gefördert. Ohne die durch den Polizeipräsidenten v. Oppen vermittelten Beihilfen und die Abgabe kriegsbeschädigter und im Etappendienst stehender Oberlehrer wäre die Verwirklichung der Schulpläne, die über 1000 deutschen Schülern und Schülerinnen die erwünschte Unterrichtsgelegenheit bot, nicht zu ermöglichen gewesen.

Werktätiges Christentum hatte sich schon bald nach Kriegsausbruch der notleidenden Kranken der deutsch-evangelischen Gemeinden in Lodz angenommen. Von Sonntagsschulhelfern und Helferinnen des deutschgesinnten Pastors Dietrich wurde ohne Satzung und Wahlen eine freie Vereinigung geschaffen, die sich mit dem Sammeln, Kochen und Austragen von Krankenspeisen und später mit der gesamten Kranken-, [120] Krüppel- und Siechenfürsorge befaßte. Mit geringen Mitteln wurde von der im stillen wirkenden Organisation Großes geleistet, die ihren Sammelpunkt in dem bereits fertigen und zu Predigtgelegenheiten benutzten Konfirmandensaal der Matthäuskirche, dem dritten, noch im Bau begriffenen großen evangelischen Gotteshaus in Lodz, hatte. Zeitweise mußten über tausend Kranke betreut werden, von denen ohne ihre Hilfe sicher ein Teil verhungert wäre. Ihr Tätigkeitsbereich erweiterte sich vor der ersten Kriegsweihnacht durch Beschaffung von Kleidungsstücken und Schuhen für die Ärmsten. Als der Sommer nahte, konnte man, dank einer durch Präsident v. Oppen erreichten Beihilfe die Aussendung von über 1000 entkräfteten deutschen Volksschulkindern in Ferienkolonien durchführen. Später wurde in Verbindung mit Landpfarrern und Lehrern die Aufnahme von unterernährten deutschen Stadtkindern in den deutschen Kolonien ermöglicht. Ergänzt wurde dieses Werk durch die aus Oberschlesien nach Lodz gekommenen Miechowitzer Schwestern, die hier ein Kriegswaisenhaus und später ein Magdalenenheim einrichteten. Reichsdeutsche Damen fanden sich zur Säuglingsfürsorge zusammen.

Deutsches kulturelles und
wirtschaftliches Schaffen:
"Deutsche Selbsthilfe",
"Deutsche Abende",
"Deutscher Verein"
Im Herbst 1915 nahmen die bereits genannten deutschen Aktivisten Stellung zu der Frage des Lebensmittelwuchers. Noch im November konnte der Einkaufs- und Verbraucherverein "Deutsche Selbsthilfe" gegründet werden, der sich innerhalb kurzer Zeit zu dem größten Konsumverein der Stadt ausweitete und nach dreijährigem Bestehen bereits über 3500 Mitglieder mit einem Jahresumsatz von über 2 Millionen Mark aufwies. Das Lodzer Beispiel hatte anspornend gewirkt. In Pabianice, Zgierz, Konstantinow, Alexandrow und Ozorkow entstanden Konsumvereine unter derselben Bezeichnung, die sich alle gut entwickelten und ihren Mitgliedern, d. h. also dem deutschen Mittel- und Arbeiterstand, mittelbare und unmittelbare Vorteile verschafften. Aus ihrem Reingewinn wurde satzungsgemäß immer ein Teil deutschen kulturellen Zwecken zugängig gemacht. Nach dem Muster der "Deutschen Selbsthilfe" in Lodz entstand auch eine "Jüdische Selbsthilfe".

Fast gleichzeitig entstanden die "Deutschen Abende". Sie vereinigten einmal in der Woche die feldgrauen Gäste mit den einheimischen Deutschen und boten durch die in ihrem Rahmen veranstalteten Ansprachen und musikalischen und gesanglichen Vorträge Anregungen und wertvollen Genuß. Oftmals waren die einige tausend Menschen fassenden Gesellschaftsräume des Hauses des Lodzer Männergesangvereins überfüllt.

Der Höhepunkt deutschen kulturellen Schaffens in Polen während der Kriegszeit wurde durch die Gründung des "Deutschen Vereins" erzielt. Beabsichtigt war die Gründung eines "Bundes der Deutschen in Polen". In dem Aufruf der Deutschen Post, der zur Schaffung der deutschen Vereinigung aufforderte, heißt es:

      "Während der letzten Zeit der Russenherrschaft haben die deutschen Bewohner Polens oftmals spüren müssen, daß sie trotz ihres Entgegenkommens den Russen und Polen gegenüber beargwöhnt und wie Feinde betrachtet wurden. Diese Stimmung ist auch jetzt, da das Land unter deutscher Verwaltung steht, nicht verflogen. Das ist für Tausende unserer deutschen Landsleute ein trüber Ausblick in die Zukunft. Und in manchem, der seine Isoliertheit fühlt, wächst der [121] Wunsch, sich mit Schicksalsgenossen zu verbinden, aus denen Gleichgesinnte und allmählich Mitkämpfer werden für das von den Vätern und durch eigene Arbeit verdiente Recht auf das Dasein in diesem Lande. Schon vor Monaten, als noch vieles ungewiß war, traten beherzte Männer auf, um die durch Kriegsschrecken und Russenwut auseinandergerissene deutsche Gesellschaft in Lodz neu zu vereinen. Die meisten der früheren deutschen Vereine schliefen damals noch den Winterschlaf des Krieges, die Furcht vor einer Wiederkehr der Russen veranlaßte noch viele, eine abwartende Stellung einzunehmen. Dennoch wurde gearbeitet. Wir erhielten nun von verschiedenen Seiten Anregung, die Gründung eines deutschen Bundes zu befürworten, der, ein großer Verein für sich und zugleich ein Kartell der deutschen Vereine und Gesellschaften, eine Sammelstelle und ein Ausgangspunkt für die in nächster Zeit zu leistende völkische und kulturelle Arbeit sein soll. Wir fordern gern zu dieser Gründung auf. Denn nötig wird uns dieser Bund werden, dem als Zielpunkte vorschweben müßten: die Stärkung und Förderung aller schwachen und bedrohten deutschen Gemeinschaften in Polen, die Erweckung der Arbeiter und Landwirte für deutschvölkische Interessen, die Verbreitung von Bildung und die Vertretung deutscher, wirtschaftlicher und, wo es nottut, politischer Interessen."

Der Gründung des Bundes wurden erhebliche Hemmnisse bereitet. Und zwar war es die deutsche Verwaltung in Warschau, die, im Zeichen der ihr von Berlin aus vorgeschriebenen Polenpolitik, Befürchtungen hegte, ob die Gründungserlaubnis nicht als polenfeindlicher Akt und Versuch einer Germanisationspolitik gedeutet werden könnte. Schon glaubte man in Lodz, den Gründungsplan einsargen zu müssen, als Polizeipräsident v. Oppen sich entschloß, von der ihm zustehenden Gründungserlaubnis für unpolitische Verbände innerhalb seines Verwaltungsbezirks, der sich auf die drei Kreise Lodz, Brzeziny und Lask erstreckte, Gebrauch zu machen und den Bund unter dem nüchternen Namen "Deutscher Verein für Lodz und Umgegend" zu gestatten, wobei es dem Verein und seinen Mitgliedern zur Pflicht gemacht wurde, die künftige politische Gestaltung Polens nicht zu behandeln. Die Gründung fand am 5. März 1916 in einer gutbesuchten öffentlichen Versammlung statt. Nach einer wirkungsvollen, die Verhältnisse scharf beleuchtenden Ansprache Flierls wurde die Gründung beschlossen und die umfangreichen und auf eine vielverzweigte Organisation berechneten Satzungen angenommen. Die Vereinsaufgaben bestanden satzungsgemäß in "Weckung und Belebung deutschnationaler Gesinnung, die Pflege des Bewußtseins der Zusammengehörigkeit mit den Stammesbrüdern in Deutschland und die Wahrung deutschen Volkstums und landsmannschaftlichen Gemeinsinns". Die Deutsche Post sollte als Vereinsorgan übernommen, Flugschriften veröffentlicht, Wanderredner hinausgesandt und ein Pressebureau zur Versorgung der reichsdeutschen Zeitungen mit Aufsätzen über das Deutschtum in Polen eingerichtet werden. Zum Vorsitzenden wurde Eichler, zu seinem Stellvertreter Zirkler und zu Mitgliedern des engeren Vorstandes Flierl, v. Ludwig, Gustav Hessen und der Arbeitersekretär Hugo Neumann gewählt.

Der "Deutsche Verein" hat sich in der ersten Zeit seines Bestehens nicht des Wohlwollens der deutschen Zentralbehörden in Warschau zu er- [122] freuen gehabt. Seine wiederholten Gesuche um räumliche Erweiterung seines Tätigkeitsbereiches blieben ergebnislos. Dem Präsidenten v. Oppen ist sein Eintreten für den Verein verübelt worden. Als durch polnische Berichterstatter Nachrichten über vermeintliche Germanisationsbestrebungen der deutschen Verwaltung in Polen in französische Zeitungen kamen und unter den Beispielen auch der "Deutsche Verein" genannt wurde, rückte man in Warschau noch weiter von ihm ab. Erst nach einem Jahre erhielt man die Erlaubnis, sich über das ganze Generalgouvernement Warschau auszudehnen und in Zukunft "Deutscher Verein, Hauptsitz in Lodz" nennen zu dürfen.

Der Hauptleitung des Vereins konnte es nur angenehm sein, ihre Arbeit ohne amtliche Bevormundung leisten und damit die Gründe der deutschen Passivisten, die jede selbständige deutsche Arbeit gern als bestellte Sache der deutschen Verwaltung hinstellten, entkräften zu können. In kurzer Zeit wurde das innerhalb der Grenzen des Polizeipräsidiums Lodz und später das im Generalgouvernement liegende deutsche Ansiedlungsgebiet mit einem Netz von Ortsgruppen überzogen. Überall wurde dieselbe Erfahrung gemacht: nach anfänglichem Zaudern und Zögern haben auch die Tat- und Wunschlosen sich überzeugt, daß die deutsche Organisationstätigkeit nicht "zu früh" erfolgte. Der Verein galt in Polen als Freund und Führer der deutschen Volksgesamtheit. Anfang 1919 hatte er in 230 Ortsgruppen über 30 000 Mitglieder.

In Lodz, wo bis dahin nur polnische und jüdische Volksbüchereien und Lesehallen bestanden, richtete der Verein die erste deutsche Volksbücherei und Lesehalle ein. Der Bestand seiner zumeist aus geschenkten Büchern zusammengewachsenen Bücherei war Ende 1918 auf 5000 Bände gestiegen. Zahlreiche Ortsgruppen in kleineren Städten und auch auf dem Lande richteten sich eigene Büchereien, ja manchmal auch Lesehallen, ein. Überall wurde auf guten Lesestoff geachtet. Die Entleiher der Bücher hatten bis dahin zumeist nur die von den Kolporteuren vertriebene Schundliteratur in die Hände bekommen. In der eigenen Verlagsabteilung sind die Jahrbücher des Vereins für 1917 und 1918 in größeren Auflagen und für die Jahre 1918 und 1919 auch ein Volkskalender in Auflagen von 30 000 sowie andere Schriften und Bücher erschienen. Die Büchervertriebsstelle vermittelte den Kauf von Volks- und Schulbüchereien.

Erfreuliches Wachstum zeigte auch die Jugendabteilung des Vereins, zu deren ehrenamtlichen Leiter ein in der Jugendpflege erfahrener Fachmann, Fritz Weigt, berufen wurde, der in Lodz das deutsche Eisenbahnerheim leitete. Sie begann ihre Tätigkeit mit Fortbildungskursen für die Jugend, die über 800 Teilnehmer und Teilnehmerinnen hatten. In den behaglich eingerichteten zwei Jugendheimen in Lodz, öfters auch in größeren Sälen, fanden Vortrags- und sonstige Veranstaltungen und Familienabende statt. Wanderungen, Gesang- und Musikchöre und die Turnabteilung boten über 900 Mitgliedern Gelegenheit zur Betätigung. Für die tiefer Veranlagten wurden religiöse Ausspracheabende eingerichtet. Um in Lodz Mitarbeiter heranzubilden, wurde ein Lehrgang für Jugendpflege eingerichtet und ein Lehrgang für Leiter schon bestehender oder [123] noch ins Leben zu rufender auswärtiger Jugendabteilungen beabsichtigt. Zu ihrem ersten Jahresfest, am 26. August 1917, weilte der auf einer Reise durch das Ostgebiet in Lodz Aufenthalt nehmende Oberhofprediger D. Dryander in der Mitte der Feiernden und überbrachte ihnen die Grüße des Heimatlandes. Beim Auseinandergehen fanden sich die Tausende von Teilnehmern in Gruppen zusammen, die durch die Straßen der Stadt unter Gesang von deutschen Volksliedern zogen. Lodz sah zum ersten Male ein solches Schauspiel. Für die älteren Schüler der deutschen Mittelschulen konnte ein Pfadfinderkorps eingerichtet werden, das sich frisch und froh entwickelte.

Stadt- und Landdeutschen wurde durch die Rechtsauskunftsstelle des Vereins gedient. In dem Wirrwarr von behördlichen Verfügungen, mit denen während der deutschen Okkupationszeit das bürgerliche und wirtschaftliche Leben in Polen eingeengt wurde, kannte sich kaum noch jemand aus. Da war es für alle Deutschen etwas Tröstliches, zu wissen, daß ihr Verein in Lodz sich ihrer annehme und in allen Notlagen für sie eintrete. Dauernd wurde die Geschäftsstelle von Vertretern aller deutschen Ansiedlungsgruppen aufgesucht, die in Tausenden von Fällen die Beurlaubung von kriegsgefangenen Familienangehörigen, Herabsetzung von zu hoch bemessenen Lieferungsmengen, Erlaß oder Milderung von Strafen usw. anstrebten. Bedürftigen wurde mit der Stellenvermittlung gedient. Zahlreichen Notleidenden in Stadt und Land konnte durch eine vom "Hilfsausschuß für die evangelischen Notleidenden im Gouvernement Warschau" (Sitz Schildberg in Posen) dem Verein zur Verteilung überwiesene Gabe geholfen werden. Die Absicht der Königsbacher Ansiedler, nach Fertigstellung von Notbauten an Stelle der von den Russen niedergebrannten Wohn- und Wirtschaftsgebäude mit dem Wiederaufbau ihres Bet- und Schulhauses zu beginnen, wurde vom Verein unterstützt. Die rasche Verwirklichung des Planes war im wesentlichen dem "Deutschen Verein" und seinen Freuden zu verdanken, so daß bereits am 8. Dez. 1917, drei Jahre nach dem Schreckenstage, ein schmuckes Kirchlein und ein geräumiges Schulhaus den Königsbachern zur Verfügung standen.

Dem Verlangen der deutschen Landwirte, ihnen zu einem ähnlichen Unternehmen zu verhelfen, wie es die Städter in der "Deutschen Selbsthilfe" hatten, konnte im Herbst 1916 durch Gründung der "Landwirtschaftlichen Bezugs- und Absatzgesellschaft des Deutschen Vereins" entsprochen werden. Sie vermittelte den Kauf von Düngemitteln und landwirtschaftlichen Maschinen und Geräten. - Die Höherentwicklung des vernachlässigten deutschen Landmannes wurde durch Abhaltung von Vorträgen über Ackerbau, Wiesenkultur, Viehzucht und genossenschaftliche Unternehmungen, Berufung eines Wanderlehrers, Einrichtung von Winterkursen für junge Landwirte in den Jahren 1917 und 1918 und Herausgabe einer landwirtschaftlichen Beilage zur Deutschen Post erreicht.

Als dringende Hilferufe aus der Provinz kamen, auch dort deutsche Mittelschulen ins Leben zu rufen, da die deutschen Schüler und Schülerinnen der polnischen Gymnasien und Progymnasien in der Regel ihrem Volkstum verlorengingen, bereiteten örtliche Aus- [124] schüsse des "Deutschen Vereins" die Gründung von deutschen Progymnasien in Pabianice, Zgierz, Sompolno, Wloclawek, Wiontschemin an der Weichsel und Rypin vor. Bis zum Umsturz konnten die Gründungen in Pabianice, Zgierz und Sompolno durchgeführt werden. Bei der Aufstellung des Lehrplanes dieser Schulen wurde der Anschluß an die höheren Klassen des deutschen Gymnasiums und des Luisen-Lyceums in Lodz für Schüler und Schülerinnen, die nach höherer Bildung strebten, berücksichtigt. Vorher schon, im Jahre 1916, war die Wiedereröffnung des deutschen Lehrerseminars in Lodz ermöglicht worden, nachdem der "Verein für das Deutschtum im Auslande" sich bereit erklärt hatte, eine größere Beihilfe zu gewähren. - Im Jahre 1918 konnte der "Deutsche Verein" erstmalig acht deutschen Studierenden Studienbeihilfen geben. Sie verpflichteten sich, nach beendetem Studium in die Heimat zurückzukehren und neben ihren beruflichen Interessen auch nationale Aufgaben zu pflegen.

Das Zusammengehörigkeitsgefühl der Stadt- und Landdeutschen wurde durch Abhaltung von Familienabenden und Volksfesten gefördert. In Lodz konnte noch im Sommer 1918 ein großes deutsches Volksfest veranstaltet werden, zu dem über 10 000 Menschen aus der Stadt und ihrer Umgegend gekommen waren. - Aus kleinen Anfängen und allen ihm von behördlichen Stellen und passivistischen, russisch- und polnisch-orientierten Deutschen in den Weg gelegten Schwierigkeiten zum Trotz, war der "Deutsche Verein" zu einer starken Einflußquelle für das völkische und wirtschaftliche Leben der Deutschen in Polen geworden. Durch Verbindung mit dem "Verein für das Deutschtum im Auslande", dem "Gustav Adolf-Verein", dem "Caritas-Verbande für das katholische Deutschtum", der "Vereinigung für deutsche Siedlung und Wanderung", dem "Fürsorgeverein für deutsche Rückwanderer" und dem "Verband der deutschen Genossenschaften in der Provinz Posen", deren Vertreter zu gelegentlichen Besprechungen mit den Vorstandsmitgliedern des "Deutschen Vereins" nach Lodz gekommen waren, wurden die Fäden der Kulturgemeinschaft mit den das gleiche Ziel verfolgenden Vereinigungen des Stammlandes fester geknüpft.

Noch größer als unter den evangelischen Deutschen war die Furcht vor dem Strafgericht der Russen bei den deutschen Katholiken. Erst im September 1917 rafften sie sich, beraten durch den katholischen Gouvernementspfarrer Brettle, zur Tat auf und gründeten den Verein deutschsprechender Katholiken, der sich auf kirchlich-nationaler Grundlage betätigte.

Neben den Arbeiten zur Sammlung und kulturellen Durchdringung der deutschen Volksgemeinden gewannen die Fragen: Was wird aus Polen? Welches ist das Schicksal der Deutschen im künftigen Polen? immer größere Bedeutung. Aus den früheren Erwägungen heraus, daß dem siegreichen Deutschland Kongreß-Polen als eine reife Frucht in den Schoß fallen würde, wuchs das reichverästelte polnische Problem seiner Reife entgegen, als Warschau und ganz Ostpolen von den Mittelmächten erobert wurden und es zur Errichtung des deutschen Generalgouvernements und des K. und K. Militärgeneralgouvernements Lublin kam. Mit Aufmerksamkeit wurden die gelegent- [125] lichen Mitteilungen über den zwischen den Regierenden der Mittelmächte vor sich gehenden Meinungsaustausch hinsichtlich der künftigen Form Polens verfolgt. Im Herbst 1915 bereiste Professor Dr. Sering im Auftrage der deutschen Regierung Polen und nahm auch Fühlung zu führenden Lodzer Deutschen. Er hörte ihre Ansichten über die Berücksichtigung der Interessen des bodenständigen Deutschtums auf politischem, kulturellem und wirtschaftlichem Gebiete bei der endgültigen Regelung der polnischen Frage. Für die meisten Deutschen und einen Teil der Polen schien eine Angliederung eines autonomen Polen an das Deutsche Reich das Gegebene zu sein. Über das Wie zu bestimmen, glaubte man den Staatsmännern überlassen zu müssen, dagegen wollte man sich bei der Feststellung der Minderheitsrechte beratenden Einfluß sichern und der Industrie des Lodzer Bezirks, die auf den russischen Bedarf eingestellt war und mit der der wirtschaftliche Halt des städtischen Deutschtums stand und fiel, den russischen Absatzmarkt zurückgewinnen. Mit Sorge wurde auf die weitere Entwicklung der Dinge gesehen. Als es schien, als ob bei der Neuordnung der Verhältnisse die Daseinsberechtigung der Deutschen außer Betracht bleiben und die mehrhundertjährigen Erfahrungen in den Beziehungen der Polen zu den Deutschen mit Absicht außer acht gelassen werden sollten, fühlten sie die moralische Verpflichtung, sich im Dezember 1915 in einer Denkschrift an Bethmann Hollweg über diese Fragen auszusprechen. Die Denkschrift hat, als sie später bekannt wurde, die Wut der polnischen Aktivisten entfesselt, weil sie durch sie ihre Arbeit durchkreuzt fühlten. Dieselben Besorgnisse führten eine Abordnung der Lodzer Deutschen im Februar 1916 zu Generalgouverneur v. Beseler, dem die Vergangenheit und die Zukunftserwartungen des Deutschtums in Polen nahe gebracht wurden. Er sah sich außerstande, Versprechungen zu machen, weil die Verhältnisse noch im Fluß waren und die Frage, was aus Polen und seinen Bewohnern werden würde, noch kein Mensch beantworten konnte. Das eine glaubte er versichern zu können, daß Polen nie mehr an Rußland zurückfallen würde.

Professor Dr. Dietrich Schäfer führte in seiner Schrift Die Schuld an der Wiederherstellung Polens aus, daß der deutsche Reichskanzler von verhängnisvoller Verblendung befallen war, als er es für richtig hielt, die Anfänge des polnischen Imperialismus, der sich in erster Linie gegen das deutsche Volk kehren mußte, zu pflegen.

      "Bethmann Hollweg täuschte sich vollständig, wenn er im Anschluß an solche Anerkennung der polnischen Ansprüche glaubte, daß die beginnende neue Entwicklung die alten Gegensätze zwischen Deutschen und Polen aus der Welt schaffen und eine neue Zukunft herbeiführen werde, in der Polen die Eigenart seines nationalen Lebens pflegen und entwickeln könne. Er hätte wissen müssen, daß die vornehmste, die unverbrüchlichste Eigenart polnischen nationalen Lebens der Gedanke der Wiederherstellung des polnischen Reiches war und ist, und zwar in einem Umfange, der nicht Halt machen würde an den Grenzen des Gebietes, das zufällig unter russische Herrschaft geraten war, daß also Eigenart polnischen Lebens völlig unvereinbar war mit den Daseinsbedingungen des preußischen Staates und des Deutschen Reiches."2

[126] Am 5. April 1916 sprach Bethmann Hollweg sich im Reichstag öffentlich über Polen aus. Er sagte:

      "Unsere und Österreich-Ungarns Absicht ist es nicht gewesen, die polnische Frage aufzurollen; das Schicksal der Schlachten hat sie aufgerollt. Nun steht sie da und harrt der Lösung. Deutschland und Österreich-Ungarn müssen und werden sie lösen. Den status quo ante kennt nach so ungeheuren Geschehnissen die Geschichte nicht. Das Polen, das der russische Tschinownik noch hastig Bestechungsgelder erpressend, das der russische Kosak brennend und raubend verlassen hat, ist nicht mehr. Selbst Mitglieder der Duma haben offen anerkannt, daß sie sich die Rückkehr des Tschinownik an den Platz, wo inzwischen ein Deutscher, ein Österreicher, ein Pole ehrlich für das Land gearbeitet haben, nicht vorstellen können. Herr Asquith spricht in seinen Friedensbedingungen vom Prinzip der Nationalität. Wenn er das tut und wenn er sich in die Lage des unbesiegten und unbesiegbaren Gegners versetzt, kann er dann annehmen, daß Deutschland freiwillig die von ihm und seinem Bundesgenossen befreiten Völker zwischen der Baltischen See und den wolhynischen Sümpfen wieder dem Regiment des reaktionären Rußlands ausliefern wird, mögen sie Polen, Litauer, Balten oder Letten sein?"3

Bemühungen
polnischer Aktivisten
um die Wiederherstellung
Polens und die Stellung
der Deutschen dazu
Inzwischen hatten sich polnische aktivistische Politiker bemüht, Berliner politische Kreise für ihre Pläne zu gewinnen. Wilhelm Feldmann gab in ihrem Auftrage in Berlin die Polnischen Blätter und politische Broschüren heraus. Lempicki, der frühere Dumaabgeordnete, besuchte Sering und verstand, ihn für seine Absichten zu erwärmen. In seinem Bericht über eine Besprechung mit Feldmann und Lempicki führt Sering aus:

      "Lempicki wünschte die Aufrichtung des Königsreichs Polen noch während des Krieges und legte das Hauptgewicht auf den moralischen Effekt, den dieser Vorgang in der ganzen Kulturwelt ausüben werde, weil dadurch der Weltdemokratie eines der großen gegen die Mittelmächte gerichteten Schlagworte genommen werde. Ich dagegen stimmte unter dem Gesichtspunkte zu, daß nicht anders die Aufrichtung einer polnischen Armee noch während des Krieges möglich sei. Ohne dies Lempicki zu sagen, bewog mich dazu besonders die Rücksicht auf das Verhältnis des Mannschaftsverbrauchs unseres Heeres zu den noch verfügbaren Kräften und die Erwägung, daß England alles daran setzen werde, den Krieg in die Länge zu ziehen. Nicht anders, so führte ich aus, als durch Teilnahme am Kriege lasse sich meines Erachtens der lebhaft geäußerte Wunsch begründen, Polen ein großes Kolonialgebiet östlich vom Bug (in den Gouvernements Grodno, Minsk, etwa auch Wilna!) zuzuweisen. Auf die Frage nach der Zuverlässigkeit einer polnischen Armee versicherte Lempicki: 1. daß heute eine russophile Partei in Polen nicht mehr bestehe; man habe zuverlässige Nachrichten aus Rußland, die bewirkt hätten, daß niemand mehr etwas für Polen von der russischen Regierung erwarte; in ihr herrsche jetzt die schlimmste Reaktion; 2. die polnische Bauernschaft, die der Intelligenz und dem Adel allerdings mißtrauisch gegenüberstehe, sei wesentlich von der Priesterschaft geleitet. Die Bischöfe wären zwar von der russischen Regierung ernannt und ihr gefügig; aber die ganz niedere [127] Geistlichkeit fühle durchaus nationalpolnisch. Auch der Papst werde seinen Einfluß in der erwünschten Richtung geltend machen. In Stockholm lebe die Schwester des Jesuitengenerals Grafen Ledochowski; sie sei eine glühende Patriotin, mit der Lempicki während seines Aufenthalts in Schweden nahe politische Beziehungen unterhalten habe. Er selbst wurde in der Schweiz, von der Schwester eingeführt, durch den Jesuitengeneral freundlichst empfangen."4

Auf derselben Linie bewegten sich auch die Bemühungen der aktivistisch gerichteten polnischen Politiker in Warschau. Durch Serings und anderer Vertrauensmänner Vermittlung wurden sie in Verbindung mit Beseler gebracht, dem sie ihre Programme entwickelten. Während sie der deutschen Verwaltung gegenüber so auftraten, als wenn sie schon große Teile der polnischen Bevölkerung hinter sich hätten, und dementsprechend ihre Forderungen aufstellten, verstanden sie es nicht, die Massen für ihre Ziele einzuspannen. Die polnischen aktivistischen Politiker blieben nach dem Urteil nüchterner Beobachter ein Regimentsstab ohne Soldaten. Trotzdem sind die Berliner und Warschauer leitenden deutschen Kreise in Verbindung mit ihnen geblieben; erst durch ihre Beziehungen verschafften sie den polnischen Männern ein gewisses Relief.
Herabsetzung der
deutschen Bevölkerung
durch polnische
aktivistische Publizisten
Die Erfolge, die die publizistisch sich betätigenden polnischen Aktivisten in der Beeinflussung ihrer eigenen Landsleute nicht erreichen konnten, suchten sie in der Herabsetzung der deutschen Bevölkerung Polens zu erzielen. Hätte man ihre Behauptungen unwidersprochen gelassen, so hätte sich in Deutschland die Meinung von der rein polnischen Industrie in Kongreßpolen befestigt. Einer der Mitarbeiter der Polnischen Blätter, Fiedler, konnte sich in der Verunglimpfung der Lodzer Deutschen und ihrer Vorfahren nicht genug tun. Er schreckte sogar vor Fälschungen nicht zurück. So behauptete er, daß die Lodzer Deutschen Nachkommen deutscher Deserteure wären und berief sich auf einen Erlaß der preußischen Regierung, den er in der Vossischen Zeitung vom 21. Juni 1816 gefunden haben wollte.5 Dabei vergaß er, daß die deutsche Einwanderung in Lodz erst im Jahre 1821 begann. Reymonts Tendenzroman Lodz, das gelobte Land wurde ins Deutsche übertragen und von einem angesehenen Münchner Verlage mit der Reklamenotiz hinausgesandt, daß das Buch wahrheitsgetreue Schilderungen der Zustände in Lodz, "der diebischsten Stadt Europas", enthalte. Es lag im Zuge der offiziellen deutschen Politik, alles die deutschen Stammesbrüder Belastende gutgläubig zu übernehmen, und es bedurfte zäher Arbeit, um das Interesse für den deutschen Volkssplitter in Polen zu heben und die von polnischen Schriftstellern und Zeitungen gegebenen verzerrten Bilder wieder in gerade Linien zu bringen.

Alle denkenden Deutschen waren sich darüber klar, daß die Rangstufe ihrer Stellung im künftigen staatlichen Gefüge vom Grad des Unterrichtetseins reichsdeutscher politischer Kreise über Art, Umfang und Bedeutung des Deutschtums in Polen abhing. Mit bitterem Lächeln hatten sie wahr- [128] genommen, wie dem Volk der Dichter und Denker, das sich rasch für die unbedeutendsten fremdländischen Dinge erwärmte, dessen Gelehrte noch während des Krieges der Allgemeinheit die Kenntnis der Geschichte der chinesischen Musik vermittelten, das Wissen und das Verständnis für das Auslanddeutschtum fehlte. Das vor den Toren Deutschlands befindliche große bodenständige Deutschtum in Polen war so gut wie unbekannt. Im Zusammenhang mit dem Erstarken der völkischen Kraft entstand bei den Deutschen in Polen der Wunsch, im alten Mutterlande bekannt und gehört zu werden. So begann die Deutsche Post geschichtliche Rückblicke zu veröffentlichen. Sie fand damit den Weg zu den völkisch empfindenden Kreisen Deutschlands und gewann in der alten Heimat eine Anzahl treuer Freunde der deutschen Sache in Polen.

Polen Unabhängigkeitserklärung am 5. November 1916 war ein schwerer Schlag für das Hoffen der Deutschen, die sich das polnische Gebiet im engsten Anschluß an Deutschland dachten. Sie waren sich darüber klar, daß sie in dem sich selbst überlassenen Polen schweren nationalen Kämpfen entgegen gingen. Sie wären unfähig gewesen, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen, wenn sie nicht den Versicherungen der in Berlin tätigen deutschschreibenden polnischen Schriftstellern, daß der künftige polnische Staat gegen nationale Minderheiten duldsam sein werde, Zweifel entgegengesetzt hätten. Sie erinnerten sich des Lodzer Bürgerkomitees und seiner Bemühungen, die geschichtlichen Rechte des Lodzer Deutschtums wie etwas mit Kreide Geschriebenes auszulöschen. Kurz vor dem Staatsakt des 5. November hatten polnische und polnisch-jüdische Stadtverordnete in einer Stadtverordnetenversammlung die Ausschaltung der deutschen Sprache aus der Stadtverwaltung verlangt.

Der Verfasser eines noch vor der Schlacht bei Lodz geschriebenen Aufsatzes über die Lage und die Zukunft des Deutschtums in Polen sprach sich schon Ende 1914 dahin aus: "Was die Deutschen (in Polen) anbelangt, so ist es klar, daß sie die Einverleibung der halbgermanisierten Gouvernements Petrikau und Kalisch mit dem Lodzer und Czenstochau-Sosnowicer Industriegebiet in Deutschland nicht ungern sehen würden. Aber sie gönnen den Polen ihre Freiheit und würden sich auch in einem selbständigen Polen den Verhältnissen anzupassen verstehen, wenn ihnen nur die Erhaltung ihrer deutschen Sprache, Kultur und wirtschaftlichen Interessen verbürgt werden würde."6

Der bekannte polnische Publizist Wilhelm Feldmann zitierte in seiner Anfang 1915 erschienenen deutschen Broschüre Deutschland, Polen und die russische Gefahr die vorstehenden Ausführungen, polemisierte von seinem Standpunkt gegen die Bezeichnung der Gouvernements Petrikau und Kalisch als "halbgermanisierte" und meinte hinsichtlich der deutschen Wünsche: "Letztere Bedingung (Erhaltung der deutschen Sprache und Kultur) ist ja selbstverständlich und ganz berechtigt." Und hinsichtlich der Deutschen in Lodz bemerkte er: "Ihre (der Stadt) Einwohner sollen alle ihre nationalen Rechte verbürgt haben."7 Die Wirklichkeit erwies sich aber ganz anders.

[129] Der Staatsakt vom 5. November überraschte, trotz langer Vorbereitungen, durch seine Unfertigkeit. Es waren nicht nur beträchtliche Unklarheiten hinsichtlich des deutsch-österreichischen Verhältnisses und der Weise seiner Auswirkungen nachgeblieben, die das polnische Problem in der Folge noch komplizierter gestalteten als es vorher war, auch der Minderheitenschutz war ganz unberücksichtigt geblieben. In einer vorsichtigen Stellungnahme von deutscher Seite hieß es:

      "Die Deutschen im Polenland haben sich die Zukunft anders gedacht. Sie haben nicht das nationale Empfinden ihrer Nachbarn, denen keine Schranke zu hoch und kein Ziel zu entfernt ist. Nun wissen sie nicht, ob auch ihr geringes Sehnen unerfüllt bleiben soll. Es gilt, Mut und Gesinnung zu stärken. Erinnern wir uns, daß trotz verschiedenster Hemmungen Lodz dank deutscher Tatkraft stolz emporwuchs, und suchen wir die deutsche Tradition zu bewahren. Die Niedergeschlagenheit der an der Zukunft Verzweifelnden darf nicht weiter um sich greifen. Lassen wir das Grollen wie das Zagen und erinnern wir uns daran, daß die Pflicht gegen uns selbst es verlangt, nichts verlorenzugeben. Das hieße auf unser Können und unsere Kraft Verzicht leisten. Sammeln wir uns zur Bekundung echten Bürgersinnes. Wir haben nur die Schale gewechselt, der Kern blieb der alte!"8

Ebenso wie nach dem Ausbruch des Krieges fühlten sich die Deutschen gefährdet und verlassen. Und das Gefühl des Preisgegebenseins war diesmal um so bitterer, als es die amtliche Vertretung des starken Heimatlandes war, die, ungewollt, durch ihr Schweigen über den Minderheitenschutz im neuen polnischen Staat den Fortbestand des Deutschtums gefährdet erscheinen ließ. Man wußte nicht, daß die deutsche Verwaltung durch die vom Reichskanzler als verantwortlichen Leiter der deutschen Politik gezogenen Richtlinien gebunden war und daß sich die inneren Gründe und Zusammenhänge dieser Politik vorläufig noch der öffentlichen Beurteilung und der gerechten Würdigung entzogen. Würde man damals, wie es von manchem geschehen ist, die Zukunft nach der in völkisch empfindenden Kreisen vorhandenen Stimmung beurteilt haben, so hätte man sagen müssen, es sei um die junge deutsche Bewegung geschehen. Man mußte rasch handeln, um nicht Groll und Mißmut um sich greifen und die Früchte fast zweijähriger völkischer Arbeit vernichten zu lassen. Vor allem mußte den Deutschen ein fester Standpunkt in der raschen und verwirrenden Folge der den neuen Staat behandelnden Kundgebungen gegeben und ihnen das Bewußtsein ihres Vorpostentums gestärkt werden. Dann mußte auch nach starken Beschützern Ausschau gehalten werden.

Die große deutsche
Versammlung in Lodz
am 10. Dezember 1916
und ihre Forderungen
Am 10. Dezember 1916 rief die Deutsche Post die Deutschen in Stadt und Land zu einer großen öffentlichen Versammlung nach Lodz zusammen. Nach verschiedenen Ansprachen über die Zukunft der Deutschen in Polen bekannte sich die Versammlung zu folgender Entschließung:

      "Weit über 2000 deutsche Männer und Frauen aus Lodz und Umgegend haben sich heute im großen Saale des Männergesangvereins zu Lodz versammelt. Einstimmig verleihen sie ihrer Sorge um die Zukunft der 700 000 Deutschen und ihres Volkstums in dem wiedererstehenden [130] Königreich hierdurch Ausdruck. Obwohl die Deutschen im Lande sich die Lösung der polnischen Frage anders gedacht haben, sind sie bereit, sich auf den Boden der geschichtlichen Tatsache der Wiedererrichtung des Königsreichs Polen zu stellen. Zugleich bekunden sie die bestimmte Erwartung, daß die deutsche Reichsregierung die wirtschaftlichen und kulturellen Lebensinteressen der deutschen bodenständigen Bevölkerung Polens schützen und sichern wird. Durch die schwersten Zeiten des verflossenen Jahrhunderts haben die Deutschen seit den Tagen ihrer Ansiedlung ihr deutsches Volkstum treu bewahrt. Die Deutschen sind allenthalben immer treue Staatsbürger gewesen. Ohne ihr Deutschtum aufgeben zu wollen, werden sie ihre staatlichen Tugenden auch in dem neuen Königreich Polen bewahren. Sie dürfen dann aber auch erwarten, daß der polnische Staat ihrer Volksart Rechnung trägt und sie wegen ihres Volkstums und ihrer Treue zu ihm nicht hintansetzt. Sie bitten daher die deutsche Reichsregierung, bei der endgültigen Neuordnung des polnischen Staates ihre Volkskinder in Polen nicht zu vergessen. Das Deutsche Reich wird im Hinblick auf seine Beihilfe bei dem Bestreben der Polen nach Selbständigkeit und Anschluß an die westeuropäische Kultur auf den für die Erhaltung des Deutschtums in Polen erforderlichen Sicherheiten bestehen dürfen, ohne damit an irgendeine Beeinträchtigung des polnischen Wesens und der polnischen Art zu denken. Diese Sicherheiten müssen sich erstrecken auf 1. Gewährleistung des gleichen Bürgerrechtes, 2. Schutz der konfessionellen Freiheit, 3. Vertretung der Interessen der deutschen Minderheit im Staate, in der Stadt und auf dem Lande, 4. Schutz der deutschen Arbeit, des uneingeschränkten Vereins-, Koalitions- und Versammlungsrechtes und vor allem 5. auf das Recht an der Erhaltung, Entwicklung und Verwaltung der niederen, mittleren und höheren deutschen Schulen im Lande. Ferner ist 6. die Selbstverwaltung der wohltätigen Anstalten zu gewährleisten. Endlich müßte 7. die Umwandlung der Konsistorial- in die Synodal-Verfassung der evangelischen Kirche, die Verlegung der obersten Kirchenbehörde von Warschau nach Lodz und die Ausbildung der evangelischen Geistlichen auf reichsdeutschen Universitäten angeordnet werden. Nur wenn die Deutschen alle einig und opferwillig für ihr Volkstum einstehen, nur wenn die deutsche Reichsregierung die genannten Sicherheiten schafft und überwacht, nur wenn das Mutterland seine mächtigen Arme schützend über seine Kinder in der Fremde hält, wird das Deutschtum in Polen Bestand haben."

Mit großer Begeisterung wurde die Absendung von Telegrammen an den Deutschen Kaiser um Schutz und Teilnahme für die Deutschen in Polen, an den Reichskanzler um Schaffung von Sicherheiten zugunsten des Deutschtums in Polen bei der Neuregelung der staatlichen Verhältnisse, an Generalfeldmarschall v. Hindenburg und an Generalfeldmarschall Mackensen, den Eroberer von Lodz, um Geltendmachen ihres Einflusses zur Erhaltung des Deutschtums in Polen beschlossen. Der Kaiser hat in seiner Antwort versichert, daß er warmen Anteil an dem Wohlergehen der Deutschen in Polen nehme. Hindenburg drahtete, daß er das Deutschtum in Polen nicht vergessen werde, und Mackensen versicherte es seiner Sympathie.

Bethmann Hollweg ließ das Telegramm unbeantwortet. Er hätte, [131] wenn er aufrichtig sein wollte, den Deutschen in Polen auch wenig Tröstliches eröffnen können. Denn gerade zu jener Zeit mußte die Hindenburgsche Städteordnung neuen Bestimmungen über die Wahl von Stadtverordneten und Magistratsmitgliedern und die Durchführung der städtischen Selbstverwaltung weichen, die nahezu einer Entrechtung der Deutschen gleichkamen.
Die deutsche Verwaltung
in Warschau als
polnische Behörde
Den Schlüssel zu den vorgeschriebenen neuen Wegen der deutschen Verwaltung in Warschau bot die zum geflügelten Worte gewordene Äußerung eines höheren Beamten der Zivilverwaltung in Warschau, daß man sich die deutsche Verwaltung eben nicht als deutsche sondern als polnische Behörde vorzustellen habe.

Die Städte waren während des Bestehens der Hindenburgschen Städteordnung nicht schlecht gefahren. Das ihren Verwaltungen entgegengebrachte Vertrauen hatte sich gerechtfertigt. Jeder, dem der Städte Wohl am Herzen lag, wünschte die Dauer des bisherigen Zustandes. Doch Tatsachen sind stärker als Wünsche. Neue Ereignisse traten ein und mit ihnen die Verordnungen, die die Rechte der Deutschen schmälerten. Die neuen Stadtverwaltungen sollten aus Wahlen nach Kurien hervorgehen. Das durch Heeresdienst, Verschleppungen und Abwanderung seiner Männer geschwächte und durch die politischen Ereignisse der letzten Zeit uneins und unsicher gewordene Deutschtum in den Städten des Lodzer Bezirks konnte nicht mehr die Massen aufbieten, die für einen erfolgreichen Ausgang der Wahlen erforderlich gewesen wären. Einsichtige Männer beider deutschen Richtungen - der der wirtschaftlich einflußreicheren passiven und der der Richtung des Deutschen Vereins angehörenden aktiven Partei - haben, angesichts der Gefahr, bei der Wahl von den fremden Masse überrannt zu werden, das was sie trennte auf die Seite gestellt und eine Einigung erzielt. Ihr Ruf an die deutschen Wähler war nicht wirkungslos verhallt. Nur solche deutsche Grüpplein, die es aufgegeben hatten, an ihr eigenes Können zu glauben, waren der Wahlanmeldung ferngeblieben. Trotzdem haben die Deutschen in Lodz mit ihrer regen Wahlarbeit nur 8 Sitze von 60 errungen. Daß dem kleinen Häuflien kein leichtes Dasein beschieden war, läßt sich denken und erwiesen bereits die anfänglichen Verhandlungen mit den Polen über die Zusammensetzung des Präsidiums. Polen und polnisch gesinnte Juden forderten eine in schroffster Form vor sich gehende Polonisierung der Lodzer Stadtverwaltung. In den kleineren Städten war es ähnlich.

Die Deutschen und
der polnische Staatsrat
In dem ersten polnischen, von der deutschen Verwaltung ernannten Staatsrat blieben die einheimischen Deutschen ohne Vertretung. Als es sich bei den Wahlen zum zweiten Staatsrat, der je zur Hälfte aus gewählten und ernannten Mitgliedern bestand, zeigte, daß die zerstreut wohnenden Deutschen abermals ohne Vertretung bleiben sollten, wandte sich die Hauptleitung des Deutschen Vereins im Namen ihrer damaligen 15 000 Mitglieder aus dem deutschen Ansiedlertum an den polnischen Regentschaftsrat und ersuchte ihn, wenigstens einen Vertreter der deutschen Kolonisten zu ernennen. Dieser Wunsch ist erfüllt worden.

Die deutschen
Schulverbände
In der Entschließung der großen deutschen Versammlung in Lodz am 10. Dezember 1916 wurde u. a. "das Recht an der Erhaltung, Entwicklung und Verwaltung der niederen, mitt- [132] leren und höheren deutschen Schulen im Lande" gefordert. Eine Denkschrift des Deutschen Vereins an die deutsche Verwaltung vom Februar 1917 befaßte sich mit der Lösung der Schulfrage und nahm zu einigen unzweckmäßigen Plänen Stellung. Die Wünsche der Deutschen wurden auch in einer Audienz vorgetragen, die Generalgouverneur v. Beseler den Führern des Deutschen Vereins gewährte. Nebenher gingen Besprechungen mit den zuständigen Herren der deutschen Verwaltung in Lodz, Warschau und Berlin. Nach verschiedenen Beratungen der interessierten Kreise klärten sich im Sommer 1917 die Verhältnisse. Die Gründung von deutsch-evangelischen und deutsch-katholischen Schulgemeinden auf der Grundlage der Selbstverwaltung konnte überall im Lande erfolgen. Die bis dahin gegründeten 400 deutsch-evangelischen Schulgemeinden schlossen sich am 23. Juli 1917 in Lodz zu einem deutsch-evangelischen Landesschulverband zusammen. Die Forderung der Deutschen, daß bindende Abmachungen der deutschen Verwaltung mit der polnischen Regierung das Recht der Selbstverwaltung der deutschen Schulen gewährleisten und Doppelbesteuerungen der für die deutschen Schulen Zahlenden vermieden werden sollen, wurden erfüllt und ihnen entsprechende Staatszuschüsse aus den Steuern des Landes zugebilligt. Das von der deutschen Verwaltung entworfene und vom damaligen provisorischen polnischen Staatsrat anerkannte Gesetz über die Berücksichtigung der Schulbedürfnisse der Minderheiten in Polen sollte die Weiterentwicklung des deutschen Volksschulwesens in Polen sichern. Daraufhin erfolgte am 1. Oktober 1917 die Übergabe des gesamten Schulwesens in Polen an die polnische Verwaltung. An die Spitze des deutsch-evangelischen Landesschulverbandes wurde Flierl berufen. Dem engeren Vorstand, der die Geschäfte zu leiten hatte, gehörten an: Dr. Krusche (Pabianice), Brettschneider (Zgierz), Koch (Aleksandrow), Pastor Dietrich, Eichler, Arbeitersekretär Neumann, Hauptlehrer Jahnke und Gymnasiallehrer Günther. Der weitere Vorstand setzte sich aus Vertretern aller deutschen Siedlungsgebiete und aller Berufe zusammen. Ihm war ein pädagogischer Beirat beigegeben, zu dessen Leitung im Jahre 1918 der siebenbürgische Schulmann Korodi gewonnen wurde. - Entsprechend der geringen Zahl der deutschen Katholiken betrug die Zahl der deutsch-katholischen Schulgemeinden, die dem später gegründeten deutsch-katholischen Landesschulverbande angeschlossen wurde, nur 12. - Das Lodzer deutsch-evangelische Lehrerseminar ging in den Besitz des deutsch-evangelischen Landesschulverbandes über. Den deutschen Katholiken wurden gewisse Rechte zugestanden, so das der Ausbildung von deutsch-katholischen Lehrern. Das Verhältnis beider Schulverbände war ein durchaus freundschaftliches.

Die Metall- und
Warenbeschlagnahmen,
das trübste Kapitel
der deutschen Okkupation
Zu den trübsten Kapiteln der deutschen Okkupation gehört ohne Zweifel die Beschlagnahme von Rohmaterialien, Waren und Metallen. Für die Kriegsnotwendigkeiten zeigten alle Fabrikbesitzer Verständnis. Viele deutsche Politiker, Volkswirtschaftler, Tagesschriftsteller und sonstige Männer der Öffentlichkeit haben sich bei ihrem Weilen in Lodz und den anderen Industriestädten von dem über die Zweckmäßigkeit hinaus brutalen Eingriffen der die Kriegswirtschaftsstellen bevölkernden reichsdeutschen Herren überzeugen können und gleichzeitig feststellen müssen, [133] in wieviel Tausenden von Gemütern der Gedanke von deutscher Gewaltpolitik sich hineingefressen hatte.

      "Die deutsche Okkupationsverwaltung war genötigt, auch die Kräfte der Lodzer Industrie in den Dienst des Krieges zu stellen. Vielleicht wäre es klüger gewesen, ihr an Ort und Stelle Arbeit zu geben. Daß man sich hierzu nicht entschließen konnte, hat Anlaß zu dem Vorwurf gegeben, man sei in kleinlichem Konkurrenzneid darauf aus gewesen, den Wettbewerb von Lodz mit der Lausitz, dem Vogtland usw. zu unterbinden... Nun wurden in weitem Umfang die vorhandenen Arbeitskräfte, nicht selten mit sanftem oder auch unsanftem Druck, zur Abwanderung nach Deutschland angeworben; die Maschinen, Treibriemen, Sparmetalle und ungeheure Vorräte an Rohstoffen und Halbfabrikaten wurden beschlagnahmt und den Kriegsverwertungsgesellschaften zugeführt. Das hat viel böses Blut gemacht. Man hätte wenigsten bei der Bezahlung der beschlagnahmten Werte nicht so geizig sein sollen. Die Geschädigten, ganz gleich, ob Pole, ob Jude oder Deutscher, beeinflußten die öffentliche Stimmung nicht gerade zu unseren Gunsten. Selbst Leute, die bis dahin mit an der Spitze des Deutschtums gestanden hatten, revidierten jetzt ihre Gesinnung."9

Auch Friedrich Naumann konnte sich im Jahre 1917 an Ort und Stelle überzeugen, welche geistigen und wirtschaftlichen Verheerungen die mit unnötiger Härte durchgeführte Metallbeschlagnahme anrichtete:

      "Die Maschinen von Lodz leiden unter den Kupferrequisitionen der deutschen Militärrohstoffverwaltung. In Lodz wird fast allgemein geglaubt, daß es der Zweck dieser Kupferwegnahme ist, die industrielle Lebenskraft von Lodz zu zerbrechen. Dieser Glaube ist sachlich falsch, aber er ist erklärlich. Ich habe verschiedene Industrieanlagen besichtigt, aus denen kupferne Wannen, Kessel, Röhren, Schlangen, Einsatzstücke, Teilapparate demontiert wurden. Dabei fehlte mir freilich die Vergleichsmöglichkeit, da ich nicht feststellen konnte, bis zu welchem Grade die Fabriken in Deutschland ähnlichen Prozeduren unterworfen sind. Es versteht sich von selbst, daß der Kriegsbedarf gedeckt werden muß, und daß im Zweifelsfalle ein okkupiertes Gebiet zeitiger Kupfer aus den Betrieben abzugeben hat als die für den Krieg arbeitende Heimat. Aber trotz aller dieser Vorbehalte bin ich mit einem Gefühl tiefer Ergriffenheit aus diesen Fabriksälen herausgegangen, denn selbst wenn das, was hier geschieht, notwendig ist, selbst dann ist es grausam. Jeder Mensch, der auch nur etwas Sinn für Maschinen hat, blickt auf ihre Reihen hier wie auf verwundete Tiere... Man hat hier den Eindruck eines volkswirtschaftlich nicht geregelten und darum nicht zweckmäßigen Verfahrens. Wir verderben auf diese Weise viel mehr als wir gewinnen, und zwar nicht nur psychologisch, sondern auch materiell, denn das lebendige, produktive Lodz kann bei Erhaltung seiner Aktivität für die deutsche oder mitteleuropäische Wirtschaft von allerhöchster Bedeutung werden. Die deutsche Wirtschaftspolitik soll ihre Augen aufmachen für das, was jetzt in Lodz getan wird."10

Alle Bemühungen der wirtschaftlichen Kreise des Lodzer Deutschtums und ihrer Freunde, der Willkürwirtschaft der Kriegs- [134] gesellschaften Einhalt zu gebieten, blieben vergeblich. Der gute Ruf, den sich die anderen Zweige der deutschen Verwaltung durch ihre reiche schöpferische Tätigkeit erwarben, ging unter in dem Haß, den die Tätigkeit der Kriegswirtschaftseinrichtungen auslöste.11

Als im Sommer 1917 die deutsche Verwaltung in Polen aus den Verkettungen der Bethmann Hollwegschen Politik befreit wurde, konnte sie sich unbeengter den Minderheitsfragen zuwenden. Sie brauchte nicht mehr zu befürchten, daß sie sich durch regere Beziehungen zu der deutschstämmigen Bevölkerung kompromittieren würde. Was früher unmöglich schien, ein offizieller Besuch des Generalgouverneurs v. Beseler bei den Lodzer Deutschen, konnte am 28. September 1917 erfolgen. Nachdem er die Lodzer höheren Schulen besichtigt hatte, nahm Beseler an einer Vortragsveranstaltung des Deutschen Vereins teil. Nach einer Ansprache des Vorsitzenden, in der dieser die Freude der Lodzer Deutschen erwähnte, den sieggekrönten deutschen Feldherrn in ihrer Mitte begrüßen zu können, von den wechselvollen Schicksalen des Lodzer Deutschtums sprach und für die Sicherung der deutschen Volksschulwesens und die einleitenden Schritte zur Neuregelung der kirchlichen Verfassung dankte, nahm der Generalgouverneur das Wort und führte aus:

      "Ich danke Herrn Eichler für die freundlichen Worte der Begrüßung, die er an mich gerichtet hat, ganz besonders aber dafür, daß er mein Bestreben betonte, solange ich durch die Gnade meines Kaisers an der Spitze der Verwaltung dieses Landes stehe, für die Zukunft dasjenige, was im polnischen Lande das Deutschtum stärken und entwickeln kann, auf festen Boden gestellt zu wissen, auf einen Rechtsboden, den spätere Willkür nicht erschüttern soll. Unsere Verwaltung hat hier einmal die Aufgabe, dafür zu sorgen, daß unsere Brüder an der Front nicht angstvoll rückwärts zu sehen brauchen, daß nicht etwas geschieht, was ihre Sicherheit gefährden könnte. Sodann haben sie den Anspruch, daß ihnen alles das zugeführt wird, was zur Erhaltung und Stärkung ihrer Kampfkraft nötig ist. Dazu muß auch das Land, das wir von unerträglichem Druck befreit haben, zu seinem Teile beitragen, da unsere Kämpfer es auch beschützen. Wir haben des weiteren auch dafür zu arbeiten, daß dieses Land in Zukunft eine Sicherung für unser Vaterland bleibt. Deshalb waren wir bestrebt, dem Lande eine staatliche Form zu geben, die es später zum Freunde und, wie wir wünschen, zum Bundesgenossen unseres Landes machen soll. Wir wissen aber auch, daß hierzulande eine große Zahl von Landsleuten wohnt, die [135] teils noch dem Deutschen Reiche angehören, teils wenigstens deutsche Art und Sprache hochhalten und, indem sie sich durchaus dem staatlichen Leben dieses Landes einzufügen gewillt sind, doch nicht aufhören, sich als Deutsche zu fühlen. Ihr Verein hat es sich zur Aufgabe gesetzt, alle die Kräfte zu sammeln und zu festigen, die in Zukunft die Aussicht gewähren, daß das Deutschtum hier, das mit tausend Fäden an das alte Vaterland verknüpft ist, sich selbst treu bleibt. Meine Verwaltung wird mit wärmster Anteilnahme und mit allen Kräften diese Bestrebungen unterstützen. Aber auch hier wie überall, wo Menschen zusammenwohnen, gilt es, die Wünsche den gegebenen Verhältnissen anzupassen. Wir müssen kleine Opfer bringen, um Großes nicht zu gefährden. In diesem Sinne haben wir die Gesetzgebung einzurichten versucht und Sie haben diesem Bestreben Ihre Anerkennung gezollt. Ich möchte an alle Personen, die hier deutsch fühlen und denken, die Mahnung richten, sich nicht nur auf behördliche Fürsorge, auf Bevormundung und Schutz von oben zu verlassen, sondern vor allen Dingen die eigenen Kräfte einzusetzen und zu sammeln, denn das Beste schafft der Mensch nur aus sich selbst. Das ist ja auch das hohe Ziel Ihrer Vereinigung. Mein Bestreben wird es sein, dem Deutschtum hier die Stelle zu geben und zu wahren, die ihm zukommt. In diesem Sinne rufe ich Ihrem Verein ein herzliches Glück auf zu und wünsche ihm fröhliches Gedeihen. Möge er sich entwickeln und kräftigen, damit das Deutschtum der Welt zeigen kann, was ein begabtes, großes und gutes Volk zu leisten imstande ist. Mögen Sie in Zukunft die hohe Anerkennung und auch die Zuneigung und Liebe des Volkes gewinnen, in dessen Mitte Sie arbeiten und wirken."

Die bedeutsame Ansprache löste stürmischen Beifall aus. Die große Versammlung wurde von dem Gefühl beherrscht, daß das Deutschtum in Lodz für seine Bestrebungen zur Pflege der höchsten völkischen Güter einen neuen Impuls erhalten habe.

Zu den Amtsstellen, die nach dem Abzug der Russen in Warschau von der deutschen Verwaltung zu besetzen waren, gehörten auch das Evangelisch-Augsburgische Konsistorium, dessen Mitglieder einschließlich des Generalsuperintendenten Bursche die Stadt vor den anrückenden deutschen Truppen verlassen hatten. Schon vorher hatten einzelne Pfarrer die ihnen anvertrauten Gemeinden im Stich gelassen und sich hinter der russischen Kampflinie in Sicherheit gebracht. Zu den vielen Obliegenheiten, die sich die neue deutsche Verwaltung im Interesse der Bevölkerung aufbürdete, gehörte auch die Fortführung der Verwaltung der evangelischen Kirche und die seelsorgerische Pflege der vielen verwaisten Gemeinden. Es sind die besten Traditionen des deutschen Staatskirchentums, die bei der "Okkupation des Konsistoriums" in Warschau zur Geltung kamen. Eine gerechte und wohlwollende Aufsicht über die Selbstverwaltung der einzelnen Gemeinden, eine gewissenhafte und besonnene Ausführung des Kirchenregiments, fördernde Anregungen aus dem reichen bewegten Westen nach dem bisher so abgeschlossenen Osten, persönliche Hilfeleistungen zur Linderung der Kriegsschäden der Pastoren, Lehrer und ihrer Familien, Wiederaufbau von Zerstörtem, Sicherungen für die Zukunft, das etwa war das Programm, mit dem im Oktober 1915 die kirchliche Verwaltungsarbeit begann. "Wir wollen", so pflegte der damalige Konsistorialpräsident [136] Landrat v. Thaer zu sagen, "wenn wir einmal aus dem Lande herausgehen, den Ruf hinterlassen, wie in allen Stücken so auch in diesem mustergültige Verwaltungsarbeit geleistet zu haben."12

Die Notwendigkeit einer
neuen Kirchenordnung für die
evangelisch-augsburgische Kirche
Der unverkennbare Aufschwung, den das evangelische Kirchenwesen unter der neuen Leitung nahm, und die erwarteten politischen Entwicklungen in Polen hatten schon im Jahre 1916 bei einheimischen Mitgliedern des Konsistoriums den Wunsch nach Durchführung einer neuen Kirchenordnung, vor der Übergabe aller Verwaltungszweige an die polnischen Behörden, laut werden lassen. Anfang 1917 richteten neunzehn einheimische Pfarrer eine Eingabe an das Konsistorium, worin sie die Ausarbeitung eines der heutigen Zeit entsprechenden Kirchengesetzes forderten. Aber auch die Gemeinden traten für eine baldige Neuordnung der kirchlichen Verhältnisse ein. Schon die große deutsche Versammlung in Lodz am 10. Dezember 1916 hatte die Umwandlung der Kirchenverfassung, die Verlegung des Konsistoriums nach Lodz und das Studium der künftigen Pastoren auf reichsdeutschen Universitäten gefordert. In den Erörterungen über das Für und Wider und die Grenzen der neuen Verfassung blieben die Konfliktstoffe nicht unberücksichtigt. Trotzdem wurden damals noch auf beiden Seiten die Richtlinien der Versöhnlichkeit innegehalten, wie es nachstehende Ausführungen beweisen:

      "Die evangelische Kirche unseres Landes soll eine neue Verfassung bekommen, d. h sie soll ein neues Haus unter Mitverwendung alten Materials erhalten. Da gilt es scharf aufzupassen, damit nicht unbrauchbares und morschgewordenes Baugut und Zersetzungsstoffe mitverwendet werden, die die Dauerhaftigkeit und den Wert des neuen Gebäudes gefährden. Es heißt, gut auf alles das zu achten, was in den letzten Jahrzehnten fromme und unfromme Kritik hervorrief. Denn wir wollen im neuen Bau uns nicht durch gegenseitige Beargwöhnung aufreiben, sondern versuchen, in friedlichem Zusammenwirken im Sinne des Stifters der christlichen Kirche tätig zu sein. Sollen die Fehler der Vergangenheit vermieden werden, so muß in offener Aussprache ihr Ursprung festgestellt und jede Möglichkeit zur Einschlagung falscher Richtungen beseitigt werden."

Über die Zukunft der evangelisch-lutherischen Kirche unseres Landes kann nicht gesprochen werden, ohne daß ihrer Stellung zu den völkischen Fragen gedacht wird. Auch der mildeste Beurteiler der Vergangenheit und Gegenwart der evangelischen Kirche in Polen wird, sofern er ein ehrliches Urteil bieten will, zu dem Schluß kommen, daß die falsche Losung, die evangelisch-lutherische Kirche in Polen wirkte als Missionskirche, wenn sie bei der polonisierenden Richtung beharre, fallen gelassen werden muß, sollen die benamten Vertreter der Kirche nicht noch mehr Schaden an ihrer Seele nehmen. Schon E. H. Busch vertritt, irregeleitet von seinen Gewährsleuten, in seinen Beiträgen die Meinung, daß in Polen nicht nur ziemlich viel polonisierte Deutsche, sondern auch geborene Polen, die der evangelischen Kirche angehören, wohnen, und er glaubt, daß, wenn "in den Gegenden, wo durch evangelischen Unterricht und Gottesdienst in polnischer Sprache... für [137] die Glaubensgenossen gesorgt wird, sie zu einem Sauerteige werden, der die Masse durchdringt." Und 1911, nachdem nahezu 50 Jahre hindurch im Sinne der von Busch erwähnten Wünsche der evangelischen Kirche gehandelt worden ist, schreibt Generalsuperintendent Bursche in seinem Synodalbericht: "Unsere Kirche hätte einen weit größeren Einfluß hierzulande und wäre ein Salz und ein Licht für dasselbe, wenn sie das Evangelium auch in polnischer Sprache brächte." Da ist es gut zu wissen, was die Statistik auf die Frage nach der Zahl der evangelischen Polen antwortet. Bei der Volkszählung von 1897 gaben von 414 773 Lutheranern in Polen 31 487 sich als polnischsprechende an. Diese Zahl entspricht nicht einmal der Menge der polonisierten Deutschen. Sie ist auch ein überzeugender Beweis, daß von der lutherischen Reformationskirche Polens so gut wie nichts übrig geblieben ist und widerlegt alle gegenteiligen und ungeschichtlichen Behauptungen. Sie ist ein Beitrag zur Tatsachenkenntnis, daß der polonisierte Deutsche nicht nur sein Volkstum, sondern auch sehr leicht seinen Glauben aufzugeben bereit ist. Dr. v. Kurnatowski kommt in einem Aufsatz der Baltischen Monatsblätter (März 1905), der sich mit der Geschichte der Reformation in Polen befaßt, zu dem nüchternen Schluß:

      "Höchstens zehn bis fünfzehn durch katholische Mischehen in ihrer Existenz gefährdete polnische Adelsfamilien und zwölf- bis fünfzehntausend litauische Bauern sind alles, was von der einst so mächtige Wellen schlagenden Reformation in Polen übrig geblieben ist. Das Übrige, was sich heute »polnisch-evangelisch« nennt, sind polonisierte ausländische Elemente, vor allem deutscher Herkunft, die sich nach der bekannten deutschen Art der neuen Heimat schnell assimilierten und in der zweiten Generation schon nationalpolnisch fühlten."

      "Daß auch die polonisierten Evangelischen zu ihrem Recht auf kirchliche Bedienung und Pflege kommen sollen, bedarf keiner Begründung. Nur darf die Sorge um das Seelenheit dieser kleinen, nicht einmal zehnprozentigen Minderheit nicht soweit gehen, daß man die deutsch-evangelische Diasporakirche in Polen zur polnischen Missionskirche macht. Aber es liegt im beiderseitigen Interesse, daß man in Zukunft noch weiter geht, und überall dort, wo größere anderssprachige Minderheiten sind, die Gemeinden trennt. Nur so werden sich unwürdige Szenen, wie sie sich vor einigen Jahren in der Kirche zu Warschau bei Wahlhandlungen abspielten, verhüten lassen. Vor zwei Jahren haben wir noch die Hoffnung gehabt, daß ein größerer Teil der hiesigen Pastoren sich zum Deutschtum zurückfinden wird. Aber nur einige Pastoren haben den Weg zum Deutschtum gesucht und gefunden. Die politischen Geschehnisse in unserem Lande entwickelten sich anders, als wir damals hofften. So kam es, daß 80% der genannten Pastorenschaft sich heute bewußter denn je zum Polentum bekennt. Es ist nicht unsere Art, anderen ihr völkisches Empfinden vorzuschreiben, aber die Frage ist erlaubt, ob das starkbetonte Fußen im fremden Volkstum die Pastoren geeigneter macht, Leiter und Berater deutsch-evangelischer Gemeindekörper zu sein. Wir hörten, daß in diesem Reformationsjubeljahr die Rettung der evangelischen Kirche in Polen in die Wege geleitet werden soll. Wir können uns die Rettung der Kirche nur im Zusammenhang mit der Festigung des deutschen Volkstums denken; alle anderen Wege führen zu ihrer Zertrümmerung. Luther sagte: »Für meine [138] Deutschen bin ich geboren, ihnen will ich dienen.« Wie anders stünde es um die evangelische Kirche in Polen, wenn unsere Pastoren, die sich lutherisch nennen, dasselbe Empfinden besäßen und nicht nach Einfluß bei der polnischen Gesellschaft strebten. Es bedarf keiner langen Erläuterungen, daß es nicht länger so bleiben darf. Die jungen Theologiestudenten aus deutschen Häusern dürfen nicht wieder ihre Ehre darin suchen, sich auf - wie wir hoffen: in Zukunft reichsdeutschen - Universitäten zu extrempolnischen Studentenvereinen zusammenzufinden, um sich von Universitätslehrern und -hörern als Deutsch verstehende Polen anstaunen zu lassen. Aber auch die Berufung reichsdeutscher Pastoren muß den hiesigen Gemeinden freigegeben werden."13

Im Februar 1917 weilte in Polen Geh. Kirchenrat Prof. Rendtorff, der Vorsitzende des Gustav-Adolf-Vereins, der sich um die Rettung der evangelisch-lutherischen Kirche Polens während des Krieges große Verdienste erworben hat. In Besprechungen, die er in Warschau mit den leitenden Kreisen und in Lodz mit den Pastoren führte, wurde die Notwendigkeit einer neuen Kirchenverfassung erörtert. Da man wußte, daß Prof. Rendtorff wie selten ein Kirchenmann über die Bedürfnisse der Diasporakirchen unterrichtet war, erging an ihn die Bitte, eine neue Kirchenordnung auszuarbeiten. In einem Vortrag, den er damals auf Ersuchen des Deutschen Vereins in Lodz hielt, führte er bereits die Richtlinien der neuen Kirchenverfassung aus. Gemeinsam mit dem Kirchenrechtslehrer Prof. Meyer in Leipzig stellte er den Entwurf fertig. Zu seiner Durchberatung berief der Präsident des Evangelisch-Augsburgischen Konsistoriums in Warschau, Graf Posadowsky, einen zur Hälfte aus Geistlichen und Laien bestehenden Arbeitsausschuß, der am 3. August 1917 in Warschau tagte und eingehend die einzelnen Punkte der neuen Kirchenordnung besprach. Die straffe Fassung des Entwurfs, die alle Weitschweifigkeiten und Überflüssigkeiten vermied, wurde von allen anerkannt.

Der Kirchenstreit von 1917
Bis dahin und auch noch später ist von keiner Seite die Ansicht laut geworden, daß die neue Kirchenordnung zu früh käme. Im Gegenteil, bereits im Januar 1917 hatten die 19 einheimischen Pastoren in ihrer Eingabe an das Konsistorium den Wunsch nach ihrer baldigen Einführung geäußert. Auch von der Lodzer Pastorenkonferenz, die zur Besprechung der Kirchenordnung öfter einberufen wurde und zu den einzelnen Fragen de Entwurfs Stellung nahm, sind Äußerungen nach dieser Richtung nicht erfolgt. Und als nach einem Vortrag des Konsistorialpräsidenten Generalgouverneur v. Beseler die Einberufung einer allgemeinen, aus sämtlichen Pastoren und der doppelten Zahl von Laienvertretern zusammengesetzten Synode für den 18. Oktober 1917 in Lodz verfügte, waren sämtliche Mitglieder der Lodzer Pastorenkonferenz mit dem Lauf der Dinge sehr zufrieden.

Diese Vorgänge, und vor allem das Verhalten der Pastoren bis zur Einleitung der Wahlen, ließen einen ruhigen und sachlichen Verlauf der Synode erwarten, so daß man mit Recht überrascht sein durfte, als der Gedanke von Verfrühung und Übereilung der Entwurfberatung gerade [139] seitens der Pastoren in die Verhandlungen der versammelten Synode geworfen wurde. Die polnischgesinnten Pastoren und mit ihnen ein kleiner Teil der Laien verließen nach einer theatralisch wirkenden Protestkundgebung den Verhandlungssaal, nachdem schon vorher einzelne von ihnen durch aufreizende Reden aufgefallen waren. Die Nichtteilnahme der Pastoren an den sachlichen Beratungen war mit ihrem Verhalten bei den Wahlen und den Vorbereitungen zur Synode nicht in Einklang zu bringen.

Was der Synode zum Schaden gereichen sollte, der Aufbruch der Minderheit, gedieh ihr zum Segen. Ungehindert von politischen Auseinandersetzungen und menschlichen Leidenschaften konnte am nächsten Tage die deutschgesinnte Mehrheit in sachliche Erörterungen eintreten und das dem Wohl der Kirche dienende Werk zu Ende führen.

Man erinnerte sich in dieser Zeit, daß auch die früheren Generalsynoden der evangelischen Kirche Polens meistens stürmisch verliefen. Die Synode von 1917 hat ein Seitenstück in der 1782 in Wengrow abgehaltenen Generalsynode. In 12 Sitzungen, vom 8. bis 17. September, stritt man über Kleinigkeiten und erschöpfte seinen Geist in juristischen Spitzfindigkeiten. Auf sachliche Fragen konnte oft erst eingegangen werden, nachdem 33 Mitglieder die Synode verlassen hatten.

Nachdem ein Wechsel in der Leitung des Konsistoriums eingetreten und an Stelle des Grafen Posadowsky Geheimrat Loycke getreten war und auch der inzwischen aus Rußland zurückgekehrte Generalsuperintendent Bursche sich für einen Fortgang der Verfassungsarbeit eingesetzt hatte, konnte, nach Monaten des Streites, mit der Durcharbeitung der erweiterten Verfassungsvorschläge begonnen werden.

      "Generaloberst v. Beseler nahm lebhaften Anteil an den Verhandlungen über das Kirchengesetz. Er sprach es wiederholt aus, daß von dem Zustandekommen des Gesetzes die Übergabe der Kultusangelegenheiten an die polnische Regierung abhängig sei. An dieser Übergabe lag den Polen sehr viel, vor allem, um möglichst bald die Judensachen in die Hände zu bekommen, deren damalige Entwicklung ihnen recht unbequem war. Die Verhandlungen nahmen infolgedessen einen befriedigenden Fortgang. Seitdem man den Fehler der Lodzer Synode vom Oktober 1917 ausgebessert hatte und neben den Entwurf einer Kirchenordnung auch den eines Staatsgesetzes über die Kirche stellte, in dem deren Verhältnis zum Staat geregelt wurde, schien sich alles gut anzulassen. Auch der Generalsuperintendent legte sich für den neuen Entwurf nach dem Kompromiß mit Eichler, dem Führer des Deutschen Vereins, entschieden ins Zeug. Es war abzusehen, daß im Herbst 1918 die Verkündigung des Gesetzes erfolgen und die Einberufung der ersten Synode zur Übernahme der Kirchengewalt stattfinden könne."14

In den Vergleichsverhandlungen verpflichtete Generalsuperintendent Bursche sich, für die wesentlichste Forderung seiner sachlichen Gegner, die Zweidrittel-Laienmehrheit in den Synoden, auch gegenüber seinen einheimischen Amtsbrüdern einzutreten, deren Mehrzahl bisher dagegen Stellung genommen hatte. Der deutsche Teil der Kommissionsmitglieder [140] war bereit, die Entschließung über die Übertragung des Konsistoriums nach Lodz und die Verhandlungssprache im Konsistorium der ersten, auf Grund der neuen Wahlordnung einzuberufenden Synode zu überlassen und Bursches, seinem kirchlichen Ehrgeiz entspringenden Wunsch, dem Generalsuperintendent den Bischofstitel zu geben und ihm den Vorsitz im Konsistorium wie auch in der Synode zu übertragen, zu willfahren, nachdem er sich dafür ausgesprochen hatte, in die neue Kirchenverfassung den Zusatz hineinzubringen, daß der Bischof (Generalsuperintendent) sein Amt niederlegt, wenn die Synode durch Mehrheitsbeschluß ihm ihr Mißtrauen kundgibt.

Bemühungen der Deutschen
um die nationale Kurie
im Landtagsgesetz
Der neue polnische Staatsrat hatte Gelegenheit, sich verfassunggebend zu betätigen. Unter den ihm im Sommer 1918 von den polnischen Ministerien zugegangenen Vorlagen befand sich auch eine Landtagswahlordnung, die in der Form, wie sie der Entwurf aufwies, die über das ganze Land zerstreute deutschstämmige Bevölkerung von jeder parlamentarischen Vertretung ausschloß. Generalgouverneur v. Beseler erhob Einspruch gegen den Entwurf und sprach in einem Schreiben die Erwartung aus, daß es im Einvernehmen mit der polnischen Regierung und dem Staatsrat möglich sein werde, in den kommenden Beratungen die Entwürfe so umzugestalten, daß auch der deutschen Minderheit eine Vertretung gewährleistet sei.

Unabhängig von dem ihr nicht bekannten Schritt des Generalgouverneurs hatte die Hauptleitung des Deutschen Vereins am 12. Juni 1918 in einer Denkschrift an den polnischen Staatsrat zu der Landtagsordnung Stellung genommen. Nach einem geschichtlichen Rückblick auf die Verdienste der deutschen Bevölkerung Polens um die kulturelle und wirtschaftliche Hebung des Landes wurde darin ausgeführt:

      "Angesichts des sich entwickelnden staatlichen Lebens in Polen und des Beginnes der schöpferischen Tätigkeit des Staatsrates erachtet es der Vorstand der kulturellen Vereinigung aller Deutschen in Polen, des Deutschen Vereins, Hauptsitz in Lodz, als seine Pflicht, namens seiner 21 000 Mitglieder und im Sinne der gesamten Deutschen in Polen an den Staatsrat die Bitte zu richten, den deutschen Staatsbürgern, die so viel zur kulturellen und wirtschaftlichen Hebung des Landes beigetragen haben, die Möglichkeit zu geben, eigene Vertreter in den künftigen polnischen Landtag zu schicken. Da die Deutschen zerstreut über fast alle Gemeinden wohnen und nirgends die Mehrheit bilden, so würden sie ohne Sitz und Stimme im Landtag bleiben müssen, wenn ihnen nicht geholfen wird durch Schaffung einer nationalen Kurie bzw. Einführung des Katasters, so daß jeder, der sich zur deutschen Muttersprache bekennt, mit seinen Volksgenossen das Recht hat, die den Deutschen im Verhältnis zur allgemeinen Bevölkerungszahl zustehende Zahl von Abgeordneten aus der eigenen Mitte zu wählen. Nicht separatistische Gelüste sind es, die den Deutschen den Wunsch nach einer Wahlordnung in der vorgeschlagenen Weise eingeben, sondern das Verlangen, als Bürger teilzunehmen am Aufbau des Staates, und außerdem der Wunsch, sich bei der Regelung der staatlichen Verhältnisse durch eigene Vertrauensmänner vertreten zu wissen. Die polnischen Staatsbürger deutscher Zunge hoffen, daß der neuzeitliche Grundsatz der Selbst- [141] bestimmung der Völker, der jetzt bei allen staatlichen Neubildungen durchgeführt wird, durch Berücksichtigung der Wünsche der deutschstämmigen Bevölkerung auch bei dem Landtagsgesetz sinngemäßen Ausdruck erhält."

Das polnische Ministerium des Innern war bereit, den Entwurf zu erweitern. Vorbesprechungen fanden bereits statt, als sich der Staatsrat im Herbst 1918 auflöste.

Rückwanderer-
fürsorge
Nachdem die Bestimmungen des Brester Friedens in Kraft getreten waren, begannen die nach Rußland verschleppten Deutschen zurückzukehren, erst einzeln und später in großen Scharen. Der deutschen Verwaltung und den deutschen Organisationen in Polen erwuchsen neue Pflichten. Über ihre Erfüllung sprach sich anläßlich der Tagung der Hauptverwaltung des Deutschen Vereins am 2. Oktober 1918 der Vorsitzende des Vereins in seinem Bericht aus:

      "Die Vereinsarbeit im letzten Halbjahr stand unter dem Zeichen der Rückwandererfürsorge; sie nahm zeitweise alle unsere Kräfte in Anspruch, galt es doch, beratend, aufklärend und helfend überall dort einzuspringen, wo Verzagtheit und Ratlosigkeit unter den Rückwanderern um sich griffen, die in großen Massen zurückkamen und die Verhältnisse in der Heimat so ganz anders fanden, als sie sich vorstellten. Noch vor einem Jahre dachten wir mit großer Sorge an die Zukunft der im ersten Kriegsjahre von den Russen verschleppten einheimischen Deutschen, und die Fragen: wie wird's sein, wenn sie einst wiederkommen und wie werden sich die zum Teil recht verwickelten Pacht- und Nutzungsverhältnisse entwirren lassen? bewegten das Gemüt aller derjenigen, die über die Sorge um die Erhaltung des eigenen Lebens der ins Elend geratenen Stammesgenossen nicht vergaßen. Der Deutsche Verein, als berufener Sachwalter aller Deutschen in Polen, unternahm Schritte zur Sicherung des deutschen Besitztums. Glaubten doch vielfach die polnischen Pächter der durch die Verschleppung herrenlos gewordenen Grundstücke durch ihre jahrelange Inbesitznahme sich das Recht auf die Höfe zu ersitzen. Gleichzeitig dachte man an die Fürsorgetätigkeit für die zu erwartenden Rückwanderer. Freilich mußte man sich damals sagen, daß im Hinblick auf den Umfang der Anforderungen auch die großzügigste Privatfürsorge nicht den zehnten Teil des Verlangten wird aufbringen können. Nicht Zehntausende - zehn Millionen wären erforderlich gewesen, um die Heimkehrenden die erste Zeit über Wasser halten zu können und ihnen bei der Wiedereinrichtung zu helfen. In den Frühjahrsmonaten kamen die ersten Partien unserer Rückwanderer an, die zunächst in die Rückwandererlager geleitet wurden. Der Vereinsvorsitzende besuchte sie im Rückwandererlager Modlin und die Heimgekehrten in den benachbarten Kolonien. Es zeigte sich, daß die meisten von ihnen es als selbstverständlich betrachteten, in der Heimat zu bleiben und sich durch ihrer Hände Fleiß wieder emporzuarbeiten. Aber als sie und die nach ihnen Heimgekehrten der Trostlosigkeit ihrer fast aussichtslosen Lage in den vernichteten Ansiedlungen unterliegen wollten, da mußte frisch zugegriffen und die Entmutigten ermuntert werden. Die Reisesekretäre des Deutschen Vereins bereisten die Rückwandereransiedlungen, um Rat und Trost zu spenden, Wünsche zu hören und das Gefühl des Verlassenseins nicht aufkommen zu lassen. Im Amtsblatt des Kreises Sokolow wird das Rückwandererelend mit knappen Worten geschildert: [142] »Jetzt sind die Deutschen in Not und Armut nach den Leiden einer dreijährigen Gefangenschaft zurückgekehrt. Ihre Bauernstellen finden sie zwar wieder, aber in welchem Zustande? Kriegsschäden, Diebeshände, Wettereinfluß haben umfangreiche Zerstörungen der Gebäude bewirkt. Die Felder sind in vielen Fällen gering oder gar nicht bestellt. Die Stuben sind leer, die Fenster zerschlagen oder gestohlen, die Türen verschwunden, oft ist weder Bett noch Tisch noch Stuhl, weder Topf noch Löffel noch Herd vorhanden. Schrank und Truhen und Geräte fehlen.« Die deutsche Verwaltung tat ihr Möglichstes, um zu helfen, aber bei der Größe der Not erwies sich alle Hilfstätigkeit wie ein Tropfen auf einem heißen Stein. Dabei gab es ein ganzes Knäuel von Fragen hinsichtlich der Nutzungs- und Eigentumsansprüche an Land, Vieh und Einrichtungsgegenständen. Es wurde den Beteiligten immer mehr klar, daß ohne eine großgedachte und einheitliche geregelte Fürsorgetätigkeit das Rückwandererelend sich ins Riesengroße ausdehnen müßte. - Da erwuchs der Hauptleitung des Deutschen Vereins die Pflicht, aus ihrer Kenntnis der Sachlage heraus höheren Ortes wegen Abhilfe vorstellig zu werden. Der Vereinsvorsitzende bat um eine Audienz bei Generalgouverneur v. Beseler, in der er die verschiedenen Klagen und Wünsche aus Rückwandererkreisen wiederholte. Auf Veranlassung des Generalgouverneurs wurde das persönlich Vorgetragene in eine Denkschrift zusammengefaßt, die in die Bitte ausklang, die Wiedereinwurzelung der deutschen Rückwanderer zu ermöglichen und ihnen gegenüber nicht nur Wohlwollen sondern auch Nachsicht zu üben, da sie seit fast vier Jahren aus der geraden Linie ihrer geistigen und wirtschaftlichen Entwicklung hinausgeschleudert worden seien. - In der bald darauf in Warschau stattgefundenen Beratung der leitenden Herren der Militär- und Zivilverwaltungen hat die Rückwandererfürsorge frische Impulse erhalten. Der Generalgouverneur legte den ihm Nachgeordneten Hilfsbereitschaft für die Heimgekehrten ans Herz. Er selbst besuchte wiederholt deutsche Rückwandereransiedlungen, um sich vom Fortgang des Wiederaufbaues der zerstörten Ansiedlungen zu überzeugen. Er hörte die Wünsche der Leute an und sagte ihnen tröstende und aufmunternde Worte. Alle Verwaltungsmaßnahmen in Sachen der Fürsorge, die Überlassung militärischer Kolonnen für den Wiederaufbau und die Ackerbestellung, die Hergabe von Vieh und Pferden und zuletzt noch die Erweiterung der Arbeit der »Fürsorgestelle für deutschen Grundbesitz« bezeugen das überaus warme Interesse des Generalgouverneurs an dem Wohlergehen der hartgeprüften Ansiedler. Ein dauerndes Denkmal in den Herzen aller Deutschen in Polen hat er sich durch seine letzte Willenkundgebung anläßlich der Feier des dreijährigen Bestehens des Generalgouvernements Warschau gestellt; er führte aus: »Tausende und Abertausende Volksverwandte von uns, deutschstämmige Vertriebene kehren zurück, die in der brutalsten Weise von Haus und Hof verjagt worden waren. Ein großer Prozentsatz findet weiter nichts als eine elende Brandstätte und einen verwüsteten und verunkrauteten Acker vor, dort, wo einst ein schön gepflegtes Bauerngut stand. Daß es unsere Pflicht [ist], unser Augenmerk auch auf diese Dinge zu lenken, versteht sich von selbst, und wir werden dabei auch die polnischen Rückwanderer nicht vergessen.«
      Weniger hoffnungsvoll war die Lage der Rückwanderer [143] im österreichischen Okkupationsgebiet. Die Bemühungen von Lodz aus für die deutschen Stammesgenossen im Lublinschen und Cholmschen erzielten nicht den gewünschten Erfolg. Die Rückwanderer fanden ihre Wirtschaften von Polen besetzt, die keine Anstalten machten, zu weichen. Auch die Amtsstellen zeigten sich gegenüber den Bitten und Klagen der Rückwanderer teilnahmslos. Bitten einzelne oder Gruppen um Unterstützung zur Wiedererlangung ihrer Wirtschaften, so werden sie vielfach angefahren: »Wer hat euch hergerufen? Ihr hättet in Rußland bleiben können!« Die polnischen Bauern betrachten sich heute schon als Dauerbesitzer der deutschen Wirtschaften; sie werden durch das Verhalten der amtlichen Stellen in dieser Annahme bestärkt. Die durch die dreijährige Leidenszeit und den mehr als kühlen Empfang eingeschüchterten Deutschen stehen zag- und ratlos da. Der »Fürsorgeverein für deutsche Rückwanderer« richtete in Cholm eine Zweigstelle der Rückwandererfürsorge für das besetzte Ostgebiet ein, die den Heimkehrenden beratend zur Seite stand. Das k. u. k. Kreiskommando in Cholm befahl, die Zweigstelle zu schließen, da angeblich nicht nachgewiesen werden konnte, daß die Rückwandererfürsorge notwendig sei. Ein ukrainischer Regierungskommissar, der in dem umstrittenen Cholmgebiet Fühlung zu der deutschen Bevölkerung suchte, wobei er, als er die Rückwanderernot sah, Lebensmitteltransporte aus Wolhynien in Aussicht stellte, wurde verhaftet und ausgewiesen. Eine Abordnung der deutschen Rückwanderer unter Führung des Pastors Loppe in Cholm wandte sich mit Klagen und Bitten an den nach Cholm gekommenen Militär-Generalgouverneur von Lublin Liposcak. Er stellte Hilfe in Aussicht und ersuchte um schriftliche Formulierung der Forderungen. Das ist ein einer Denkschrift geschehen. Leider hat es die österreichische Verwaltung bei dem guten Willen gelassen."

Verpflanzung des
landwirtschaftlichen
Genossenschaftswesens
nach Polen
Es war gut, daß die Deutschen Spar- und Darlehns-(Raiffeisen)-Kassen, mit deren Gründung bereits im Sommer 1917 begonnen worden war, eine ruhige Entwicklung genommen hatten, als die Rückwandererzüge eintrafen. Der neue "Verband der Deutschen Genossenschaften in Polen" und die von ihm ins Leben gerufene "Deutsche Genossenschaftsbank" konnten überall tatkräftig eingreifen und zahlreichen Rückwandererkassen beträchtliche Darlehen gewähren. Nach dem anfänglichen Mißtrauen stellte sich überall Interesse ein. Der Segen der neuen Einrichtung machte sich fühlbar. Die in den Rechnerkursen ausgebildeten Geschäftsführer der einzelnen Kassen sorgten für Aufklärung. Bis Ende 1918 waren über 200 Genossenschaften entstanden. Die Deutsche Genossenschaftsbank, die ebenso wie der Deutsche Genossenschaftsverband sich die praktischen Erfahrungen des "Verbandes deutscher Genossenschaften in der Provinz Posen" nutzbar machen konnte, erhöhte bereits im Oktober 1918 ihr Aktienkapital von 1 Million auf 2 Millionen Mark.

Anfang Oktober 1918 konnten in Lodz eine Reihe deutscher Tagungen stattfinden, zu denen Vertreter aus dem ganzen Lande gekommen waren. Um die 5. Hauptversammlung des Deutschen Vereins gruppierten sich die Hauptversammlungen des Deutsch-Evangelischen Landeschulverbandes, der landwirtschaftlichen Bezugs- und Absatzgesellschaft und der Deutschen Genossenschaftsbank. Der Deutsche Verein [144] sandte ein Begrüßungstelegramm an den Polnischen Regentschaftsrat: "Die in Lodz tagenden Vertreter der Verwaltungskörperschaften aller Ortsgruppen des 25 000 Mitglieder zählenden Deutschen Vereins bitten, ihren ehrerbietigen Gruß und den Ausdruck loyaler Gefühle für den polnischen Staat entgegenzunehmen. Indem sie ihre nationale Eigenart pflegen, sind sie sich bewußt, durch schöpferische Arbeit auf kulturellem und wirtschaftlichem Gebiet am besten dem Lande zu dienen, als dessen treue Bürger sie sich fühlen." Vom Regentschaftsrat lief folgende Antwort ein: "Auf Veranlassung des Durchlauchigsten Regentschaftsrates übermittelt das Zivilkabinett dem Deutschen Verein den Dank für die ausgedrückten Gefühle loyaler Anhänglichkeit zum Lande und zum polnischen Staate. Polens Bürger aller Nationalitäten finden immer in dem seiner Toleranzüberlieferungen getreuen Polen die Verteidigung und Berücksichtigung ihrer Rechte. Generalsekretär Prälat Chelmicki." Generalgouverneur v. Beseler erhielt auf drahtlichem Wege den Dank für seine Bemühungen zur Sicherung der Deutschen in Polen und Rettung der Rückwanderer. Gleichzeitig wurde er zum Ehrenmitglied des Deutschen Vereins ernannt. - Aus den Berichten der Mitarbeiter ging hervor, daß die Ortsgruppengründungen in den Rückwandereransiedlungen südöstlich von Warschau, die sich vor dem Kriege der deutschen Rede entwöhnten, einprägsame Erlebnisse waren. Alle Männer und Frauen betrachteten es als Ehrensache, sich dem Verein anzuschließen; sie ermunterten sich gegenseitig in polnischer Sprache zum Eintritt. Die Erfahrungen der russischen Verbannung hatten ihnen ihr Deutschtum wieder eingehämmert und sie wünschten nichts sehnlicher, als daß ihnen und ihren Kindern durch die deutsche Schule der Gebrauch der Sprache ihrer Voreltern wieder geläufig werde. Für sie war die Ankunft nicht nur die Rückkehr in die Heimat, sondern auch die Heimkehr zu dem angestammten Volkstum.

In der Hauptversammlung des Deutsch-evangelischen Landesschulverbandes konnte über das Gedeihen des weitverzweigten Unternehmens berichtet werden. Über 450 Schulgemeinden auf dem Lande hatten sich dem Verband angeschlossen. Der Voranschlag ihres Haushaltsplanes schloß mit 1 075 000 Mark in Einnahmen und Ausgaben ab. Ihre wirtschaftliche Grundlage war sicher genug, um eine Besoldungsreform der Lehrer, für die über 100 000 Mark angefordert wurden, durchführen zu können. Auch die Regelung der Ruhegehälterfrage konnte in Angriff genommen und zur Einführung einer Pensionskasse 200 000 Mark bestimmt werden. Das besondere Augenmerk der Verwaltung des Schulverbandes richtete sich auf die Einrichtung von Schulen in den Rückwandererkolonien.

Die "Deutsche Woche" in Lodz
Im Rahmen der deutschen Tagungen, bekannt als Deutsche Woche, fanden noch weitere Veranstaltungen statt. Chefredakteur Gollnick hielt in der Aula des deutschen Gymnasiums einen Vortrag über das "Auslandsdeutschtum nach dem Kriege". Im Mittelpunkt eines Familienabends des Deutschen Vereins stand ein Vortrag des Pfarrers Luthardt über die "geistigen Triebkräfte der deutschen Arbeit in Polen". Während der Generalversammlung der Deutschen Genossenschaftsbank sprach Dr. Leo Wegener aus Posen über Erfahrungen im Genossenschaftswesen in [145] der Provinz Posen. Im deutschen Theater fand eine Festvorstellung statt. Den Tagungen folgten Rechnerkurse für die Geschäftsführer der Spar- und Darlehnskassen.

Erklärung der deutschen Regierung
hinsichtlich der Sicherung
der deutschen kulturellen
Schöpfungen in Polen
Die Teilnehmer an den deutschen Tagungen, die gekommen waren, um sich über den Fortgang der deutschen Unternehmen zu unterrichten und über ihre fernere Entwicklung zu beraten, nahmen den Eindruck mit, daß das Deutschtum in Polen einer gesicherten Zukunft entgegengehe. Kurz vorher hatte der deutsche Staatssekretär des Auswärtigen, v. Hintze, im Hauptausschusse des Deutschen Reichstags erklärt, daß die deutsche Regierung im Einvernehmen mit der polnischen Regierung dafür eintreten wolle, daß alle Schöpfungen, die während der Okkupationszeit entstanden waren, dauernden Bestand haben sollten. Damit war die Sorge vieler, daß alle blühenden deutschen Unternehmungen nach dem Weggang der deutschen Verwaltung unterdrückt werden würden, behoben.

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1Der Verfasser lehnt sich in den nachstehenden Ausführungen vielfach an seinen Beitrag zur Schrift des Gouvernementspfarrers Lic. P. Althaus: Um Glauben und Vaterland. Neues Lodzer Kriegsbüchlein. Göttingen 1917. ...zurück...

2Prof. Dr. Dietrich Schäfer: Die Schuld an der Wiederherstellung Polens. München 1919, Seite 6. ...zurück...

3Prof. Dr. Dietrich Schäfer: Die Schuld an der Wiederherstellung Polens. München 1919, Seite 6. ...zurück...

4Prof. Dr. Dietrich Schäfer: Die Schuld an der Wiederherstellung Polens. München 1919, Seite 8. ...zurück...

5Ingenieur L. K. Fiedler: Die Deutschen in Polen. Denkschrift. Berlin 1917, S. 4. ...zurück...

6Polonius: Das Deutschtum im Ausland. Berlin 1914, Heft 22, S. 177. ...zurück...

7W. Feldmann: Deutschland, Polen und die russische Gefahr. Berlin 1915, S. 77. ...zurück...

8Adolf Eichler in der Deutschen Post vom 12. November 1916. ...zurück...

9Bruno Geißler: "Bilder vom Deutschtum in Polen." Eiserne Blätter, Heft 18, 1919, S. 323. ...zurück...

10Friedrich Naumann: Was wird aus Polen? Berlin 1917, S. 20. ...zurück...

11Nach allen Richtungen hin verästelt war der Erfolg der erzeugenden Wirksamkeit der deutschen Verwaltung, ob es sich um das Gerichtswesen, die reine Verwaltungstätigkeit oder um die wissenschaftliche Erforschung der Boden- oder sonstigen Verhältnisse des Lebens handelte. Durch Einrichtung von Kursen für mittlere und höhere Beamte wurden polnische Volksangehörige zur Fortführung der Geschäfte herangebildet. Dank haben sich die Deutschen damit nicht erworben. Wenn man rein zufällig nur ein paar Blätter von den Zeitungsbergen zu lesen bekommt, die seit dem Umsturz mit Würdigungen der deutschen Verwaltung geschrieben wurden, so ist man entsetzt über die Tiefe des ungebändigten Hasses, der einem daraus entgegengrinst. Es ist in Polen zur Gewohnheit geworden, jeden, der auch nur eine schwache gute Seite an der früheren Verwaltung entdeckt, zum Volksverräter zu stempeln. ...zurück...

12Bruno Geißler: "Zu unserem Abschied von Polen." Monatshefte des Gustav-Adolf-Vereins. Leipzig 1917, 1. Heft, S. 12. ...zurück...

13Adolf Eichler in der Lodzer Deutschen Post, März 1917. ...zurück...

14Bruno Geißler: "Zu unserem Abschied von Polen." Monatshefte des Gustav-Adolf-Vereins. Leipzig 1919, Heft 1, S. 15. ...zurück...

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Das Deutschtum in Kongreßpolen
Adolf Eichler