[113]
Der Wiederaufbau
Die
Lodzer Deutschen
in der Verwundetenfürsorge |
Während der dreiwöchigen Kämpfe vor Lodz im
November und Dezember 1914 waren weite Kreise des Lodzer Deutschtums
zur Verwundetenpflege herangezogen. Der Führer der
Mittelpartei in der russischen Reichsduma,
Gutschkow, kam als Beauftragter des Russischen Roten Kreuzes nach Lodz
und suchte Fühlung zu einflußreichen Lodzer Deutschen, denen
er in deutscher Sprache seine Mißbilligung der von der Nowoje
Wremja in Petersburg neuerdings aufgenommenen Hetze gegen die
Deutschen in Polen aussprach, wobei er sich anheischig machte, auf Grund
der selbstgewonnenen Kenntnis der örtlichen Verhältnisse
für eine Berichtigung einzutreten. Sein Appell an den Opfersinn der
Lodzer Deutschen blieb nicht vergeblich. Der früher organisierte
Verwundetendienst hätte angesichts der Zehntausende von
Verwundeten, die von den Schlachtfeldern bei Lodz in die Stadt gebracht
wurden, versagt, wenn ihm nicht aus der einheimischen Bevölkerung,
und nicht zuletzt aus den Reihen der Lodzer Deutschen, ungezählte
Scharen freiwilliger Helferinnen und Helfer zugeströmt wären.
Bei der Ausstattung von Lazaretten und der Nahrungsmittelbeschaffung
waren es wieder die Deutschen, die fast ausschließlich
größte Opfer brachten. Das deutsche Gymnasium beherbergte
die größte Zahl von Verwundeten. Warmherzige Lodzer
deutsche Frauen und Mädchen nahmen sich auch der vergessenen, in
Gefangenschaft geratenen deutschen verwundeten Soldaten an, obgleich
uniformierte und nichtuniformierte Mithelfer und Mithelferinnen in der
Verwundetenfürsorge scheel sahen und es an hämischen
Bemerkungen und Drohungen nicht fehlen ließen. So wie in Lodz war es
auch in den Nachbarstädten mit starkem deutschen Einschlag, die im
Kriegsoperationsgebiet lagen.
Voreilige
Schlußfolgerungen
der reichsdeutschen
Kriegsberichterstatter
über das Deutschtum |
Reichsdeutsche Zeitungsberichterstatter, die bald
nach dem Einzug der deutschen Truppen nach Lodz kamen, haben, unter
Verkennung der im Laufe des kriegerischen Geschehens gewordenen
Verhältnisse und ohne Rücksicht darauf, daß es der
dritte deutsche Einmarsch während des Krieges war, den
Lodzer Deutschen den Vorwurf gemacht, daß sie es unterlassen
hätten, die deutschen Stammesbrüder als Befreier zu
empfangen.1 Man wird es nach dem im vorigen
Abschnitt Geschilderten verständlich finden, daß auch
diejenigen, die sich aufrichtig über die deutschen Erfolge freuten, es
vermieden, ihrer Gesinnung in Worten oder in ihrer Haltung Ausdruck zu
geben. Noch lag das Schwere und Zermürbende der
dreiwöchigen Schlachten in nächster Nähe der Stadt auf
ihren Bewohnern. Wußte man doch auch, und gelegentliche
Äußerungen der Beteiligten [114] stellten es außer Zweifel, daß
jedes Wort und jeder Schritt der deutschen Einwohner der Stadt von
scharfhörigen und helläugigen Aufpassern beobachtet wurden.
Und wer gab die Sicherheit, daß die Kampflage nicht einen neuen
Rückzug der deutschen Armee nötig machen würde?
Waren dann die Lodzer Deutschen, die ihre deutschfreundliche Gesinnung
bekundet hatten, nicht ebenso der russischen Vernichtungswut ausgesetzt,
wie ihre Volksgenossen auf dem platten Lande?
Nur langsam kehrte das Vertrauen zu der Dauer des bestehenden Zustandes
ein. Während der Kampftage, als deutsche Geschosse und
Fliegerbomben in die Stadt kamen und der großfürstliche
Oberbefehlshaber der russischen Verteidigungsarmee die Weisung gab, die
Stadt unter allen Umständen und ohne Rücksicht auf die ihr
und ihren Bewohnern durch deutsche Beschießung drohenden
Schäden zu halten, hatte die Sorge um Erhaltung des eigenen Lebens
und Besitztums, die Verwundeten-Unterbringung und Pflege und der durch
das Aussetzen der Zufuhr entstandene Mangel an Lebensmitteln alle
anderen Interessen in den Hintergrund gedrückt. Nun suchte das aus
seiner Bahn geschleuderte bürgerliche Leben wieder in den
Gleichschritt des Alltags zu kommen. Da durften und mußten die
Lodzer Deutschen wieder die Frage stellen und zu beantworten suchen:
Wohin gehören und was sind wir?
Aus den reichsdeutschen Zeitungen, die nun nach halbjährigem
Ausbleiben wieder nach Lodz kamen, gewann man erst ein richtiges Bild von
der Weltlage, von Deutschlands Opfern und Aussichten. Und als aus den
Erzählungen der feldgrauen Gäste und der nachgelieferten
Zeitschriften Deutschlands Erwachen zu heldenhafter Größe in
den ersten Augusttagen bekannt wurde, da quoll auch in den Herzen der
Lodzer Deutschen das deutsche Gefühl auf.
Die
Ausschaltung der
Deutschen aus dem
öffentlichen Leben
durch die polnischen
Bürgerkomitees |
Nach dem Ausgleich der inneren Spannung lenkte
sich die Aufmerksamkeit aller, die dem Deutschtum in Polen den ihm nach
seiner geschichtlichen Entwicklung und seiner geistigen und wirtschaftlichen
Bedeutung zukommenden Platz sichern wollten, auf die Verhältnisse
in der Nähe. Schmerzlich war es für viele, immer aufs neue
feststellen zu müssen, daß die Deutschen aus dem
öffentlichen Leben aus Lodz und den benachbarten
Industriestädten ausgeschaltet waren. Die Bürgerkomitees, die
die Verwaltung der Städte in Händen hatten, bestanden fast
nur noch aus Polen oder polonisierten Deutschen und Juden. Die deutsche
Sprache war in den Amtszimmern nicht mehr zu hören. Jeder zur
Ergänzungswahl für den Hauptausschuß oder die
Unterabteilungen des Bürgerkomitees Vorgeschlagene mit
deutschklingendem Namen wurde, ohne daß er es wußte,
daraufhin geprüft, wie weit der Polonisierungsprozeß bei ihm
schon vorgeschritten sei. Zur Entscheidung von Rechtsfragen waren
Milizgerichte eingerichtet, denen die Entgegennahme deutscher
Schriftsätze und auch deutsche Verhandlung untersagt waren,
während die früheren russischen Richter, je nach Neigung und
Entgegenkommen, den Gebrauch des Deutschen in den Verhandlungen
zugelassen hatten. Das Bestreben der leitenden Herren ging offensichtlich
dahin, den Städten des Lodzer Industriegebiets ein polnisches Gesicht
zu geben.
Ansätze der
deutschen Aktivisten
zum Handeln |
Eine Anzahl Männer, solche, die schon in den
früheren Abschnitten [115] der Entwicklung des Deutschtums eine
Rolle gespielt hatten, und andere, die ebenfalls von heißer Liebe zu
ihrem Volke gedrängt wurden, fanden sich zu
Besprechungen zusammen, um zunächst unter sich
darüber einig zu werden, ob es angesichts der noch überall laut
werdenden Furcht vor der Wiederkehr der Russen angezeigt sei, als
Vertreter der deutschen Volksgesamtheit hervorzutreten und den ihr von
Rechtswegen zukommenden Einfluß in der Leitung der Verwaltung zu
heischen, oder ob es ratsamer sei, zunächst noch zu warten, bis die
noch in der Entwicklung begriffenen Dinge festere Form angenommen
haben. Die Meinungen gingen auseinander und es blieb vorläufig bei
unproduktivem Ansichtenaustausch, bis sich diejenigen, die für
deutsches Handeln waren, zu dem Entschluß aufschwangen, zur Tat
überzugehen. Mußten sie doch fürchten, daß es bei
einem Hinziehen der Entscheidung, angesichts des zielbewußten
Vorgehens der Polen, leicht zu einem "Zu spät" kommen
könnte.
Im Stabe des neuen Militärgouverneurs von Lodz befand sich auch
der Herausgeber der Grenzboten, Georg Cleinow, dem die Schaffung
einer Presseverwaltung für das okkupierte Gebiet übertragen
wurde. An Stelle der unterdrückten Lodzer Zeitung rief er die
Deutsche Lodzer Zeitung ins Leben. Mit ihr trat, nach der
Unterdrückung der Lodzer Rundschau, wieder eine
bewußtdeutsche Zeitung auf den Plan. Sie öffnete ihre Spalten
den Beschwerden der einheimischen Deutschen und brachte Aufrufe von
Heinrich Zirkler und Adolf Eichler, die die schlummernden Deutschen zur
Tat ermunterten.
Gelegenheit zum Handeln bot sich, als sich eine Vereinigung deutscher
Männer bildete, zwecks Einrichtung von deutschen
Analphabeten- und Fortbildungskursen für Erwachsene. Solche
Lehrgänge bestanden bereits für polnische Arbeiter und
Arbeiterinnen. Als das Bürgerkomitee um Zuweisung von Mitteln
für die deutschen Kurse ersucht wurde, suchte es die Entscheidung
hinzuziehen und redete sich damit aus, daß keine Mittel mehr
vorhanden wären. Ähnliche unliebsame Erfahrungen machte
man bei den Bemühungen um die Erhaltung der deutschen
Volksschulen. Noch war zwar, dank dem Eifer einiger deutschen Lehrer,
eine Anzahl deutscher Schulen im Betrieb, aber es lag doch das Bestreben vor,
eine neue Polonisierung der Schulen zu versuchen und den Schulen, die ihren
deutschen Charakter bewahren wollten, die Unterstützung zu
entziehen. Zirkler, der alte Kämpe um die Erhaltung des deutschen
Schulwesens, trat mit einer Statistik hervor, die die Absichten der
Schulabteilung des Bürgerkomitees enthüllte.
Dieser Anlaß und einige andre Vorkommnisse führten die
Teilnehmer der Besprechungen zu der inzwischen eingerichteten
deutschen Zivilverwaltung in Lodz, an deren Spitze als
Polizeipräsident Geh. Oberregierungsrat v. Oppen
stand. Bis dahin hatten die Ergebnisse der deutschen Beratungen den
Stempel des Unverantwortlichen getragen. So lange man es nicht mit einer
einigen deutschen Gesellschaft zu tun hatte, wollte man nicht vor deutsche
Behörden treten. So oft auch der Vorschlag gemacht worden war, sich
um Abhilfe an die Zivilverwaltung zu
wenden, - immer war der Einwand zu hören, daß man
noch nicht das Recht habe, sich ohne Auftrag einer größeren
Gemeinschaft deutscher Wünsche wegen an die Verwaltung zu
wenden. Die Versuche, den Kreis der Beratenden zu [116] erweitern, endeten damit, daß die
vielen Fragen, die bei früheren Zusammenkünften besprochen
und halb entschieden worden waren, noch einmal erörtert werden
mußten. Ein das Bewußtsein vieler ausfüllender
Fehlschluß hinderte jedes Handeln: Man nahm an, daß die
deutschen Behörden sich ungebeten um die einheimischen Deutschen
bemühen und ohne ihr Zutun ihnen die Geltung verschaffen
würden, auf die sie im Hinblick auf ihr geschichtliches Recht
Anspruch hatten. Die Schulfragen und späterhin die Vertretung der
Deutschen in der in Aussicht genommenen neuen Stadtverwaltung wurden
im Juni 1915 in einem erweiterten Kreise von Vertretern aller deutschen
Gesellschaftsschichten besprochen und Obmänner gewählt, die
als Beauftragte der deutschen Gesellschaft verschiedene Wünsche dem
Polizeipräsidenten vortragen sollten. Es waren dies
Dr. Bräutigam, Zirkler und Eichler, die in ihrer Besprechung
bei Geheimrat v. Oppen das größte Verständnis
fanden und das Versprechen erhielten, daß die deutschen Interessen
wahrgenommen werden sollten. Freilich flocht der Präsident in seine
Ausführungen die Bemerkungen ein, daß die Lodzer Deutschen
reichlich spät mit ihren Ansprüchen kämen, Vertreter
der polnischen und jüdischen Bevölkerung fände er in
offiziellen Missionen täglich bei sich.
Deutscher Einfluß
in den neuen
Städteverwaltungen |
Ende Juni 1915 kam die Verordnung des
Oberbefehlshabers Ost heraus, die den Bürgerkomitees der polnischen
Städte links der Weichsel, die sich in ihrem Machtgefühl zu
Verwaltungen kleiner Republiken auswuchsen, das verdiente schmerzlose
Ende bereitete. Von deutscher Seite hatte man, unter Berufung auf die
früheren Zusicherungen der russischen Zentralbehörden in
Petersburg, wonach bei der Einführung der städtischen
Selbstverwaltung die steuertragenden deutschen Gesellschaftsschichten
nicht zu kurz kommen sollten, eine Drittelung der städtischen
Verwaltung, entsprechend ihrer nationalen Zusammensetzung, gefordert und
auch zugebilligt erhalten. Ähnlich vollzog sich die Umbildung der
städtischen Behörden auch in den anderen Städten des
Lodzer Bezirks. Nach der Verordnung waren die Magistratsmitglieder und
Stadtverordneten in ihre Ämter durch Ernennung zu berufen. Die
deutschen Aktivisten traten selber dafür ein, daß auch Vertreter
der passivistischen Richtung berufen werden sollten. Ähnlich geschah
es auch bei den anderen nationalen Gliederungen. Da ein
größerer Teil der jüdischen Kommunalpolitiker,
entsprechend der damals noch bei den polnischen Juden vorhandenen und
durch die deutschen Siege gefestigten deutschfreundlichen Gesinnung in die
deutsche Fraktion eintrat, so bekamen die Stadtparlamente in Lodz und
seinen Nachbarstädten deutsche Mehrheiten. In Lodz gehörten
der Stadtverwaltung außer den bereits genannten drei deutschen
Aktivisten noch an: Ludwig, Triebe, Schwarzschulz, Daube, Ramisch,
Schmidt, Vogel, Scheibler, Steinert, Sanne, Mühle und Zemann, die
sowohl in den Sitzungen wie auch in den Deputationen wertvolle produktive
Arbeit leisteten. Zum ersten Bürgermeister wurde der in der
deutschen Zivilverwaltung beschäftigte Oberbürgermeister von
Gnesen, Schoppen, zum zweiten Bürgermeister Manufakturrat
Leonhardt ernannt.
Nach der Verordnung waren für alle Zweige der städtischen
Selbstverwaltung beide Sprachen, Deutsch und Polnisch, gleichberechtigt.
Infolge stärkerer Inanspruchnahme sachkundiger Beamten der
deutschen [117] Zivilverwaltung
für alle Spezialgebiete der städtischen Wirtschaft kam das
Deutsche zu einer gewissen, unbeabsichtigten Vorherrschaft. Mit Staunen
sah man, wie in kurzer Zeit in das verfahrene Stadtwesen Zug kam und die
während der Herrschaft des Bürgerkomitees sich schon
allenthalben breitmachende Korruption der Ehrlichkeit und redlicher
Pflichterfüllung wich. Nie vorher und nie nachher sind in und um
Lodz in den städtischen Gemeinwesen mit geringen Mitteln so viel
schöpferische Leistungen vollbracht worden.
Orts- und Wohnungshygiene mußten frisch in Angriff genommen, die
mangelnde oder verwahrloste Wasserversorgung eingerichtet, die
Beseitigung der Abwässer durchgeführt, die
Nahrungsmittelhygiene in allen ihren Teilen erzwungen werden. Dazu kam
die Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten,
für die bakteriologische Institute, Seuchenhospitäler,
Absonderungshäuser für Ansteckungsverdächtige und
Desinfektionseinrichtungen zu beschaffen waren. Außerdem kamen
hinzu das allgemeine Schulwesen, für das die bekannten
Hindenburgschen Schulverordnungen erlassen wurden, die
Kleinkinderfürsorge, Kranken- und Siechenpflege und die
Fürsorge für das Leichenwesen. Das gänzlich im argen
liegende Finanzwesen mußte von Grund auf neu geregelt,
Steuerquellen gefunden und reichsdeutsche Bankgruppen zu Anleihen
willfährig gemacht werden. Arbeitslosenunterstützungen
verschlangen Unsummen, da die Industrie infolge des fehlenden
Rohmaterials und der späteren Beschlagnahmen während des
ganzen Krieges stillag. Auch die Beträge, die von den Städten
für Rechnung des russischen Staates an die Reservistenfrauen gezahlt
wurden, liefen in die Millionen. Zu sichtbaren nationalen Reibungen ist es
während der 1½jährigen Tätigkeiten der
ernannten Mitglieder des Magistrats und der Stadtverordnetenversammlung
nicht gekommen. Die vorbildliche Arbeit, die von deutschen Beamten im
Verein mit einheimischen Deutschen, Polen und Juden getan wurde, schien
von allen Beteiligten anerkannt zu werden. Nur assimilatorische Juden
brachten ab und zu in ihrem polnisch-nationalen Übereifer
Konfliktstoff in die Verhandlungen.
Die deutschen Aktivisten konnten sich, als sie mit ihrer praktischen Arbeit
begannen, bereits auf breitere deutsche Massen stützen. In
Kongreßpolen sind auch die deutschen Städter noch kirchlich
interessiert. Der Besuch der evangelischen Gottesdienste hatte aber
während der Periode des Polterns der einheimischen Kanzelredner
gegen deutsche Gottlosigkeit nachgelassen. Um so stärker wurden
nach dem Einzug der deutschen Truppen die
Militärgottesdienste besucht. Divisionspfarrer Willigmann
aus Königsberg brachte in seine Predigten eine starke nationale Note,
ohne daß ihre religiöse Seite dadurch litt. Zuerst war es nur ein
Häuflein Lodzer Deutscher, das sich zu den
Militärgottesdiensten einfand. Allmählich wurden es aber
Hunderte und Tausende, die sich in der etwa 5000 Menschen fassenden
evangelischen St. Johanniskirche in Lodz zusammenfanden und
ergriffen den aufrüttelnden Worten des begabten Redners lauschten
und durch ihren ständigen Besuch dieser Gottesdienste ein Bekenntnis
zum Deutschtum ablegten. Anfangs drohten noch minderwertige
Volksgenossen,die sich auf die Seite der Passivisten geschlagen hatten, mit
schwarzen Listen der Besucher der Willigmannschen Predigten in Lodz und
den Nachbarstädten zwecks Namhaftmachung der noch in weiten
Kreisen erwarteten Wieder- [118] kehr der Russen. Allmählich
mußte die Tatsache ruhiger hingenommen werden. Die von den
Militärgottesdiensten ausgehende
religiös-nationale Bewegung wurde, als Willigmann im August 1915
mit den vorrückenden Truppen nach Warschau ging, weiter gepflegt
und vertieft durch den Gouvernementspfarrer Lic. Althaus, der bis zum
Ende der deutschen Verwaltung in Lodz weilte und der deutschen Arbeit in
Polen durch seine Predigt-, Vortrags- und literarische Tätigkeit
wertvolle Dienste leistete. Die deutsche Bewegung in Pabianice und
Umgegend wurde durch das verdienstvolle Wirken des
Gouvernementspfarrers Paarmann in Sieradz gefördert.
Das
eigene Organ
der deutschen Aktivisten,
die "Deutsche Post" |
Während der Vorbereitungen zu der
Überführung des Lodzer Deutschtums in eine Periode
schöpferischer Tätigkeit hatten die führenden
Männer das Fehlen eines eigenen Organs bitter empfunden. Wenn sie
zu den sie bewegenden Fragen der Zeit Stellung nehmen wollten, waren sie
auf die Deutsche Lodzer Zeitung angewiesen, die als amtliches Blatt
galt. Die Neue Lodzer Zeitung, die sich damals um die Gunst der
deutschen Aktivisten bemühte, konnte ihrer sie schwer belastenden
Vergangenheit und ihrer Unzuverlässigkeit wegen nicht herangezogen
werden. Um ihre Aufsätze als unbeeinflußte
Meinungsäußerung kenntlich zu machen, zeichneten die
Verfasser sie mit vollem Namen. Dennoch blieben unbeabsichtigte und
beabsichtigte Mißverständnisse nicht aus. Deshalb wurde von
den Aktivisten eine eigene Wochenschrift, die Deutsche Post,
gegründet, zu deren Herausgeber Eichler berufen wurde. In der
Einleitung zur ersten Nummer wurde über die Notwendigkeit des
Blattes folgendes ausgeführt:
"Deutsche Arbeitskraft, deutsche
Intelligenz und deutsches Kapital haben den hiesigen Industriebezirk
geschaffen. Wir müßten denken, daß Deutsche
überall, in allen Körperschaften, die sich mit öffentlichen
Fragen befassen, die ihrer Bedeutung entsprechende Vertretung haben. Ach!
die Wirklichkeit ist anders. Wir wissen es und hören es jeden Tag aufs
neue, daß der Respekt vor den einheimischen Deutschen in unserem
Lande gesunken ist. Man sagt uns hiesigen Deutschen nach, wir seien
»unters Rad« gekommen; wir kämen, um mit Schopenhauer
zu sprechen, »mit hundert Absichten und tausend
Rücksichten belastet unseres Weges daherlaviert«. Es soll hier
nicht erklärt werden, wie alles gekommen ist. Wir denken an
Gegenwart und Zukunft. Wir wollen dafür eintreten, daß die
Deutschen zu der Geltung kommen, die sie gerechterweise verdienen... unser
Ziel ist: eine sich eins und kräftig fühlende deutsche
Gesellschaft, ein Wiederaufleben der deutschen Vereine mit aller ihrer
kulturfördernden Arbeit, eine jedem deutschen Kinde
zugängliche deutsche Schule, auf der unsere Zukunft beruht, und eine
deutsche Volkskirche. Wir wollen nicht nur an Schaffung materieller
Güter denken, sondern daran arbeiten, daß ein arbeitsfreudiger
deutscher Idealismus bei uns Wurzeln
schlägt."
Die Deutsche Post, in deren Schiftleitung man bald nach ihrer
Gründung Friedrich Frierl berief, wurde der Mittelpunkt aller
deutschen Arbeit in Lodz. Jede ihrer Ausgaben bekundete nicht nur die
Berechtigung, sondern auch den Zweck ihres Daseins. In ihr spiegelte sich
das gesamte Lodzer deutsche Leben wider. Sie diente während ihres
fast 3½jährigen Bestehens bis Mitte November 1918 allen
deutschen Unternehmungen als Schrittmacherin. Was alle Deutschen in
Stadt und Land ersehnten und [119] forderten, was alle drückte und
plagte, wurde in ihren Spalten besprochen und der Grund für eine
bessere Zukunft gelegt.
Wichtig für das Ansehen und die richtige Bewertung des Deutschtums
in Polen war die Zurückweisung der Vorwürfe, die Lodzer
Deutschen wären samt und sonders "Rubelpatrioten" und
schielten alle nach Rußland hinüber, wie reichsdeutsche
Zeitungsberichterstatter oder Broschürenschreiber auf Grund eiliger
Besuche oder des durch Hörensagen Erfahrenen immer wieder
behaupteten. Eine nicht minder unrichtige Schilderung der Wirklichkeit
ließen sich die deutschschreibenden polnischen Schriftsteller
zuschulden kommen, die sich bemühten, der deutschen
Öffentlichkeit die Meinung beizubringen, Lodz sei eine rein
polnische Stadt mit polnischer Industrie. - Die Deutsche
Post hat dazu beigetragen, daß das alte Mutterland sich wieder
seiner vergessenen Kinder erinnerte und etwas von ihrem Dasein erfuhr. Zu
den wichtigsten Fragen, die die Deutsche Post, anregend oder
kritisch, behandelte, gehörten Kirche und Schule. Das Problem der
Durchdringung der evangelischen Kirche mit völkischem Geiste ist
von ihren Mitarbeitern wiederholt besprochen worden. Aufsätze
über Schulfragen, sowohl solche, die den Bestand und die Entwicklung
der deutschen Volksschule, wie auch andere, die die drohende
Entdeutschung der von den Deutschen gegründeten Mittelschulen
behandelten, dienten der Förderung des Schulwesens. Die
Notwendigkeit der Wiedereröffnung des deutschen Gymnasiums, das
noch bis in den Hochsommer 1915 von den zurückgebliebenen
russischen Verwundeten belegt war und gegen dessen Freigabe für
Schulzwecke sich die russophilen Passivisten wandten, und die
Gründung einer im deutschen Geiste geleiteten höheren
Töchterschule wurden zuerst in ihren Spalten
erörtert. - Aufrufe, Erwägungen und
Ausführungen aller Vorschläge gingen in folgerichtiger
Entwicklung vor sich. Urheber und Ausführer der jeweils besprochen
Absichten waren fast immer dieselben Personen, die sich mit den Namen der
Mitarbeiter des Blattes deckten.
Noch im Herbst 1915 gelang es den Bemühungen des Direktors des
deutschen Gymnasiums, v. Eltz, alle äußeren und inneren
Schwierigkeiten zu beseitigen und, nach mehr als einjähriger Pause,
mit dem Schulbetrieb zu beginnen. Seiner Arbeit war es auch zu danken,
daß das Interesse für die höhere Mädchenschule
sich zur Gründungsfreudigkeit auswuchs, so daß das neue
Luisenlyzeum im nächsten Schuljahr mit reichsdeutschen
Lehrkräften eröffnet werden konnte. Die deutsche
Zivil- und Militärverwaltung hat das Schulwerk tatkräftig
gefördert. Ohne die durch den Polizeipräsidenten
v. Oppen vermittelten Beihilfen und die Abgabe
kriegsbeschädigter und im Etappendienst stehender Oberlehrer
wäre die Verwirklichung der Schulpläne, die über 1000
deutschen Schülern und Schülerinnen die erwünschte
Unterrichtsgelegenheit bot, nicht zu ermöglichen gewesen.
Werktätiges Christentum hatte sich schon bald nach
Kriegsausbruch der notleidenden Kranken der
deutsch-evangelischen Gemeinden in Lodz angenommen. Von
Sonntagsschulhelfern und Helferinnen des deutschgesinnten Pastors Dietrich
wurde ohne Satzung und Wahlen eine freie Vereinigung geschaffen, die sich
mit dem Sammeln, Kochen und Austragen von Krankenspeisen und
später mit der gesamten
Kranken-, [120]
Krüppel- und Siechenfürsorge befaßte. Mit geringen
Mitteln wurde von der im stillen wirkenden Organisation Großes
geleistet, die ihren Sammelpunkt in dem bereits fertigen und zu
Predigtgelegenheiten benutzten Konfirmandensaal der Matthäuskirche,
dem dritten, noch im Bau begriffenen großen evangelischen Gotteshaus
in Lodz, hatte. Zeitweise mußten über tausend Kranke betreut
werden, von denen ohne ihre Hilfe sicher ein Teil verhungert wäre.
Ihr Tätigkeitsbereich erweiterte sich vor der ersten Kriegsweihnacht
durch Beschaffung von Kleidungsstücken und Schuhen für die
Ärmsten. Als der Sommer nahte, konnte man, dank einer durch
Präsident v. Oppen erreichten Beihilfe die Aussendung von
über 1000 entkräfteten deutschen Volksschulkindern in
Ferienkolonien durchführen. Später wurde in Verbindung mit
Landpfarrern und Lehrern die Aufnahme von unterernährten
deutschen Stadtkindern in den deutschen Kolonien ermöglicht.
Ergänzt wurde dieses Werk durch die aus Oberschlesien nach Lodz
gekommenen Miechowitzer Schwestern, die hier ein Kriegswaisenhaus und
später ein Magdalenenheim einrichteten. Reichsdeutsche Damen
fanden sich zur Säuglingsfürsorge zusammen.
Deutsches kulturelles und
wirtschaftliches Schaffen:
"Deutsche Selbsthilfe",
"Deutsche Abende",
"Deutscher Verein" |
Im Herbst 1915 nahmen die bereits genannten
deutschen Aktivisten Stellung zu der Frage des
Lebensmittelwuchers. Noch im November konnte der
Einkaufs- und Verbraucherverein "Deutsche Selbsthilfe" gegründet
werden, der sich innerhalb kurzer Zeit zu dem größten
Konsumverein der Stadt ausweitete und nach dreijährigem Bestehen
bereits über 3500 Mitglieder mit einem Jahresumsatz von über
2 Millionen Mark aufwies. Das Lodzer Beispiel hatte anspornend gewirkt. In
Pabianice, Zgierz, Konstantinow, Alexandrow und Ozorkow entstanden
Konsumvereine unter derselben Bezeichnung, die sich alle gut entwickelten
und ihren Mitgliedern, d. h. also dem deutschen
Mittel- und Arbeiterstand, mittelbare und unmittelbare Vorteile
verschafften. Aus ihrem Reingewinn wurde satzungsgemäß
immer ein Teil deutschen kulturellen Zwecken zugängig gemacht.
Nach dem Muster der "Deutschen Selbsthilfe" in Lodz entstand auch eine
"Jüdische Selbsthilfe".
Fast gleichzeitig entstanden die "Deutschen Abende". Sie
vereinigten einmal in der Woche die feldgrauen Gäste mit den
einheimischen Deutschen und boten durch die in ihrem Rahmen
veranstalteten Ansprachen und musikalischen und gesanglichen
Vorträge Anregungen und wertvollen Genuß. Oftmals waren die
einige tausend Menschen fassenden Gesellschaftsräume des Hauses
des Lodzer Männergesangvereins überfüllt.
Der Höhepunkt deutschen kulturellen Schaffens in Polen
während der Kriegszeit wurde durch die Gründung des
"Deutschen Vereins" erzielt. Beabsichtigt war die Gründung
eines "Bundes der Deutschen in Polen". In dem Aufruf der Deutschen
Post, der zur Schaffung der deutschen Vereinigung aufforderte,
heißt es:
"Während der letzten Zeit
der Russenherrschaft haben die deutschen Bewohner Polens oftmals
spüren müssen, daß sie trotz ihres Entgegenkommens den
Russen und Polen gegenüber beargwöhnt und wie Feinde
betrachtet wurden. Diese Stimmung ist auch jetzt, da das Land unter
deutscher Verwaltung steht, nicht verflogen. Das ist für Tausende
unserer deutschen Landsleute ein trüber Ausblick in die Zukunft. Und
in manchem, der seine Isoliertheit fühlt, wächst der [121] Wunsch, sich mit Schicksalsgenossen zu
verbinden, aus denen Gleichgesinnte und allmählich
Mitkämpfer werden für das von den Vätern und durch
eigene Arbeit verdiente Recht auf das Dasein in diesem Lande. Schon vor
Monaten, als noch vieles ungewiß war, traten beherzte Männer
auf, um die durch Kriegsschrecken und Russenwut auseinandergerissene
deutsche Gesellschaft in Lodz neu zu vereinen. Die meisten der
früheren deutschen Vereine schliefen damals noch den Winterschlaf
des Krieges, die Furcht vor einer Wiederkehr der Russen veranlaßte
noch viele, eine abwartende Stellung einzunehmen. Dennoch wurde
gearbeitet. Wir erhielten nun von verschiedenen Seiten Anregung, die
Gründung eines deutschen Bundes zu befürworten, der, ein
großer Verein für sich und zugleich ein Kartell der deutschen
Vereine und Gesellschaften, eine Sammelstelle und ein Ausgangspunkt
für die in nächster Zeit zu leistende völkische und
kulturelle Arbeit sein soll. Wir fordern gern zu dieser Gründung auf.
Denn nötig wird uns dieser Bund werden, dem als Zielpunkte
vorschweben müßten: die Stärkung und Förderung
aller schwachen und bedrohten deutschen Gemeinschaften in Polen, die
Erweckung der Arbeiter und Landwirte für deutschvölkische
Interessen, die Verbreitung von Bildung und die Vertretung
deutscher, wirtschaftlicher und, wo es nottut, politischer
Interessen."
Der Gründung des Bundes wurden erhebliche Hemmnisse bereitet.
Und zwar war es die deutsche Verwaltung in Warschau, die, im
Zeichen der ihr von Berlin aus vorgeschriebenen Polenpolitik,
Befürchtungen hegte, ob die Gründungserlaubnis nicht als
polenfeindlicher Akt und Versuch einer Germanisationspolitik gedeutet
werden könnte. Schon glaubte man in Lodz, den
Gründungsplan einsargen zu müssen, als
Polizeipräsident v. Oppen sich entschloß, von der ihm
zustehenden Gründungserlaubnis für unpolitische
Verbände innerhalb seines Verwaltungsbezirks, der sich auf die drei
Kreise Lodz, Brzeziny und Lask erstreckte, Gebrauch zu machen und den
Bund unter dem nüchternen Namen "Deutscher Verein für
Lodz und Umgegend" zu gestatten, wobei es dem Verein und seinen
Mitgliedern zur Pflicht gemacht wurde, die künftige politische
Gestaltung Polens nicht zu behandeln. Die Gründung fand am 5.
März 1916 in einer gutbesuchten öffentlichen Versammlung
statt. Nach einer wirkungsvollen, die Verhältnisse scharf
beleuchtenden Ansprache Flierls wurde die Gründung beschlossen
und die umfangreichen und auf eine vielverzweigte Organisation
berechneten Satzungen angenommen. Die Vereinsaufgaben bestanden
satzungsgemäß in "Weckung und Belebung deutschnationaler
Gesinnung, die Pflege des Bewußtseins der
Zusammengehörigkeit mit den Stammesbrüdern in
Deutschland und die Wahrung deutschen Volkstums und
landsmannschaftlichen Gemeinsinns". Die Deutsche Post sollte als
Vereinsorgan übernommen, Flugschriften veröffentlicht,
Wanderredner hinausgesandt und ein Pressebureau zur Versorgung der
reichsdeutschen Zeitungen mit Aufsätzen über das Deutschtum
in Polen eingerichtet werden. Zum Vorsitzenden wurde Eichler, zu seinem
Stellvertreter Zirkler und zu Mitgliedern des engeren Vorstandes Flierl,
v. Ludwig, Gustav Hessen und der Arbeitersekretär Hugo
Neumann gewählt.
Der "Deutsche Verein" hat sich in der ersten Zeit seines Bestehens nicht des
Wohlwollens der deutschen Zentralbehörden in Warschau zu
er- [122] freuen gehabt.
Seine wiederholten Gesuche um räumliche Erweiterung seines
Tätigkeitsbereiches blieben ergebnislos. Dem Präsidenten
v. Oppen ist sein Eintreten für den Verein verübelt
worden. Als durch polnische Berichterstatter Nachrichten über
vermeintliche Germanisationsbestrebungen der deutschen Verwaltung in
Polen in französische Zeitungen kamen und unter den Beispielen auch
der "Deutsche Verein" genannt wurde, rückte man in Warschau noch
weiter von ihm ab. Erst nach einem Jahre erhielt man die Erlaubnis, sich
über das ganze Generalgouvernement Warschau auszudehnen und in
Zukunft "Deutscher Verein, Hauptsitz in Lodz" nennen zu
dürfen.
Der Hauptleitung des Vereins konnte es nur angenehm sein, ihre Arbeit ohne
amtliche Bevormundung leisten und damit die Gründe der deutschen
Passivisten, die jede selbständige deutsche Arbeit gern als bestellte
Sache der deutschen Verwaltung hinstellten, entkräften zu
können. In kurzer Zeit wurde das innerhalb der Grenzen des
Polizeipräsidiums Lodz und später das im
Generalgouvernement liegende deutsche Ansiedlungsgebiet mit einem Netz
von Ortsgruppen überzogen. Überall wurde dieselbe Erfahrung
gemacht: nach anfänglichem Zaudern und Zögern haben auch
die Tat- und Wunschlosen sich überzeugt, daß die deutsche
Organisationstätigkeit nicht "zu früh" erfolgte. Der Verein galt
in Polen als Freund und Führer der deutschen Volksgesamtheit.
Anfang 1919 hatte er in 230 Ortsgruppen über 30 000
Mitglieder.
In Lodz, wo bis dahin nur polnische und jüdische
Volksbüchereien und Lesehallen bestanden, richtete der Verein
die erste deutsche Volksbücherei und Lesehalle ein. Der
Bestand seiner zumeist aus geschenkten Büchern
zusammengewachsenen Bücherei war Ende 1918 auf 5000
Bände gestiegen. Zahlreiche Ortsgruppen in kleineren Städten
und auch auf dem Lande richteten sich eigene Büchereien, ja
manchmal auch Lesehallen, ein. Überall wurde auf guten Lesestoff
geachtet. Die Entleiher der Bücher hatten bis dahin zumeist nur die
von den Kolporteuren vertriebene Schundliteratur in die Hände
bekommen. In der eigenen Verlagsabteilung sind die
Jahrbücher des Vereins für 1917 und 1918 in
größeren Auflagen und für die Jahre 1918 und 1919 auch
ein Volkskalender in Auflagen von 30 000 sowie andere Schriften und
Bücher erschienen. Die Büchervertriebsstelle vermittelte den
Kauf von Volks- und Schulbüchereien.
Erfreuliches Wachstum zeigte auch die Jugendabteilung des
Vereins, zu deren ehrenamtlichen Leiter ein in der Jugendpflege erfahrener
Fachmann, Fritz Weigt, berufen wurde, der in Lodz das deutsche
Eisenbahnerheim leitete. Sie begann ihre Tätigkeit mit
Fortbildungskursen für die Jugend, die über 800 Teilnehmer
und Teilnehmerinnen hatten. In den behaglich eingerichteten zwei
Jugendheimen in Lodz, öfters auch in größeren
Sälen, fanden Vortrags- und sonstige Veranstaltungen und
Familienabende statt. Wanderungen, Gesang- und Musikchöre und die
Turnabteilung boten über 900 Mitgliedern Gelegenheit zur
Betätigung. Für die tiefer Veranlagten wurden religiöse
Ausspracheabende eingerichtet. Um in Lodz Mitarbeiter heranzubilden,
wurde ein Lehrgang für Jugendpflege eingerichtet und ein Lehrgang
für Leiter schon bestehender oder [123] noch ins Leben zu rufender
auswärtiger Jugendabteilungen beabsichtigt. Zu ihrem ersten
Jahresfest, am 26. August 1917, weilte der auf einer Reise durch das
Ostgebiet in Lodz Aufenthalt nehmende Oberhofprediger D. Dryander in der
Mitte der Feiernden und überbrachte ihnen die Grüße des
Heimatlandes. Beim Auseinandergehen fanden sich die Tausende von
Teilnehmern in Gruppen zusammen, die durch die Straßen der Stadt
unter Gesang von deutschen Volksliedern zogen. Lodz sah zum ersten Male
ein solches Schauspiel. Für die älteren Schüler der
deutschen Mittelschulen konnte ein Pfadfinderkorps eingerichtet werden,
das sich frisch und froh entwickelte.
Stadt- und Landdeutschen wurde durch die Rechtsauskunftsstelle
des Vereins gedient. In dem Wirrwarr von behördlichen
Verfügungen, mit denen während der deutschen
Okkupationszeit das bürgerliche und wirtschaftliche Leben in Polen
eingeengt wurde, kannte sich kaum noch jemand aus. Da war es für
alle Deutschen etwas Tröstliches, zu wissen, daß ihr Verein in
Lodz sich ihrer annehme und in allen Notlagen für sie eintrete.
Dauernd wurde die Geschäftsstelle von Vertretern aller deutschen
Ansiedlungsgruppen aufgesucht, die in Tausenden von Fällen die
Beurlaubung von kriegsgefangenen Familienangehörigen,
Herabsetzung von zu hoch bemessenen Lieferungsmengen, Erlaß oder
Milderung von Strafen usw. anstrebten. Bedürftigen wurde mit
der Stellenvermittlung gedient. Zahlreichen Notleidenden
in Stadt und Land konnte durch eine vom "Hilfsausschuß für
die evangelischen Notleidenden im Gouvernement Warschau" (Sitz
Schildberg in Posen) dem Verein zur Verteilung überwiesene Gabe
geholfen werden. Die Absicht der Königsbacher Ansiedler,
nach Fertigstellung von Notbauten an Stelle der von den Russen
niedergebrannten Wohn- und Wirtschaftsgebäude mit dem
Wiederaufbau ihres Bet- und Schulhauses zu beginnen, wurde vom Verein
unterstützt. Die rasche Verwirklichung des Planes war im wesentlichen
dem "Deutschen Verein" und seinen Freuden zu verdanken, so daß
bereits am 8. Dez. 1917, drei Jahre nach dem Schreckenstage, ein schmuckes
Kirchlein und ein geräumiges Schulhaus den Königsbachern
zur Verfügung standen.
Dem Verlangen der deutschen Landwirte, ihnen zu einem ähnlichen
Unternehmen zu verhelfen, wie es die Städter in der "Deutschen
Selbsthilfe" hatten, konnte im Herbst 1916 durch Gründung der
"Landwirtschaftlichen
Bezugs- und Absatzgesellschaft des Deutschen Vereins" entsprochen
werden. Sie vermittelte den Kauf von Düngemitteln und
landwirtschaftlichen Maschinen und
Geräten. - Die Höherentwicklung des
vernachlässigten deutschen Landmannes wurde durch
Abhaltung von Vorträgen über Ackerbau, Wiesenkultur,
Viehzucht und genossenschaftliche Unternehmungen, Berufung eines
Wanderlehrers, Einrichtung von Winterkursen für junge Landwirte
in den Jahren 1917 und 1918 und Herausgabe einer landwirtschaftlichen
Beilage zur Deutschen Post erreicht.
Als dringende Hilferufe aus der Provinz kamen, auch dort
deutsche Mittelschulen ins Leben zu rufen, da die deutschen
Schüler und Schülerinnen der polnischen Gymnasien und
Progymnasien in der Regel ihrem Volkstum verlorengingen, bereiteten
örtliche Aus- [124] schüsse des "Deutschen Vereins" die
Gründung von deutschen Progymnasien in Pabianice, Zgierz,
Sompolno, Wloclawek, Wiontschemin an der Weichsel und Rypin vor. Bis
zum Umsturz konnten die Gründungen in Pabianice, Zgierz und
Sompolno durchgeführt werden. Bei der Aufstellung des Lehrplanes
dieser Schulen wurde der Anschluß an die höheren Klassen des
deutschen Gymnasiums und des Luisen-Lyceums in Lodz für
Schüler und Schülerinnen, die nach höherer Bildung
strebten, berücksichtigt. Vorher schon, im Jahre 1916, war die
Wiedereröffnung des deutschen Lehrerseminars in Lodz
ermöglicht worden, nachdem der "Verein für das Deutschtum
im Auslande" sich bereit erklärt hatte, eine größere
Beihilfe zu gewähren. - Im Jahre 1918 konnte der "Deutsche
Verein" erstmalig acht deutschen Studierenden Studienbeihilfen
geben. Sie verpflichteten sich, nach beendetem Studium in die Heimat
zurückzukehren und neben ihren beruflichen Interessen auch
nationale Aufgaben zu pflegen.
Das Zusammengehörigkeitsgefühl der
Stadt- und Landdeutschen wurde durch Abhaltung von Familienabenden
und Volksfesten gefördert. In Lodz konnte noch im Sommer
1918 ein großes deutsches Volksfest veranstaltet werden, zu dem
über 10 000 Menschen aus der Stadt und ihrer Umgegend
gekommen waren. - Aus kleinen Anfängen und allen ihm von
behördlichen Stellen und passivistischen,
russisch- und polnisch-orientierten Deutschen in den Weg gelegten
Schwierigkeiten zum Trotz, war der "Deutsche Verein" zu einer starken
Einflußquelle für das völkische und wirtschaftliche Leben
der Deutschen in Polen geworden. Durch Verbindung mit dem "Verein
für das Deutschtum im Auslande", dem "Gustav
Adolf-Verein", dem "Caritas-Verbande für das katholische
Deutschtum", der "Vereinigung für deutsche Siedlung und
Wanderung", dem "Fürsorgeverein für deutsche
Rückwanderer" und dem "Verband der deutschen Genossenschaften
in der Provinz Posen", deren Vertreter zu gelegentlichen Besprechungen mit
den Vorstandsmitgliedern des "Deutschen Vereins" nach Lodz gekommen
waren, wurden die Fäden der Kulturgemeinschaft mit den das gleiche
Ziel verfolgenden Vereinigungen des Stammlandes fester geknüpft.
Noch größer als unter den evangelischen Deutschen war die
Furcht vor dem Strafgericht der Russen bei den deutschen Katholiken. Erst
im September 1917 rafften sie sich, beraten durch den katholischen
Gouvernementspfarrer Brettle, zur Tat auf und gründeten den
Verein deutschsprechender Katholiken, der sich auf
kirchlich-nationaler Grundlage betätigte.
Neben den Arbeiten zur Sammlung und kulturellen Durchdringung der
deutschen Volksgemeinden gewannen die Fragen: Was wird aus Polen?
Welches ist das Schicksal der Deutschen im künftigen Polen?
immer größere Bedeutung. Aus den früheren
Erwägungen heraus, daß dem siegreichen Deutschland
Kongreß-Polen als eine reife Frucht in den Schoß fallen
würde, wuchs das reichverästelte polnische Problem seiner
Reife entgegen, als Warschau und ganz Ostpolen von den
Mittelmächten erobert wurden und es zur Errichtung des deutschen
Generalgouvernements und des K. und K.
Militärgeneralgouvernements Lublin kam. Mit Aufmerksamkeit
wurden die gelegent- [125] lichen Mitteilungen über den
zwischen den Regierenden der Mittelmächte vor sich gehenden
Meinungsaustausch hinsichtlich der künftigen Form Polens verfolgt.
Im Herbst 1915 bereiste Professor Dr. Sering im Auftrage der
deutschen Regierung Polen und nahm auch Fühlung zu
führenden Lodzer Deutschen. Er hörte ihre Ansichten
über die Berücksichtigung der Interessen des
bodenständigen Deutschtums auf politischem, kulturellem und
wirtschaftlichem Gebiete bei der endgültigen Regelung der polnischen
Frage. Für die meisten Deutschen und einen Teil der Polen schien eine
Angliederung eines autonomen Polen an das Deutsche Reich das Gegebene
zu sein. Über das Wie zu bestimmen, glaubte man den
Staatsmännern überlassen zu müssen, dagegen wollte
man sich bei der Feststellung der Minderheitsrechte beratenden
Einfluß sichern und der Industrie des Lodzer Bezirks, die auf den
russischen Bedarf eingestellt war und mit der der wirtschaftliche Halt des
städtischen Deutschtums stand und fiel, den russischen Absatzmarkt
zurückgewinnen. Mit Sorge wurde auf die weitere Entwicklung der
Dinge gesehen. Als es schien, als ob bei der Neuordnung der
Verhältnisse die Daseinsberechtigung der Deutschen außer
Betracht bleiben und die mehrhundertjährigen Erfahrungen in den
Beziehungen der Polen zu den Deutschen mit Absicht außer acht
gelassen werden sollten, fühlten sie die moralische Verpflichtung, sich
im Dezember 1915 in einer Denkschrift an Bethmann Hollweg über
diese Fragen auszusprechen. Die Denkschrift hat, als sie später
bekannt wurde, die Wut der polnischen Aktivisten entfesselt, weil sie durch
sie ihre Arbeit durchkreuzt fühlten. Dieselben Besorgnisse
führten eine Abordnung der Lodzer Deutschen im Februar 1916 zu Generalgouverneur v. Beseler, dem die Vergangenheit und die
Zukunftserwartungen des Deutschtums in Polen nahe gebracht wurden. Er
sah sich außerstande, Versprechungen zu machen, weil die
Verhältnisse noch im Fluß waren und die Frage, was aus Polen
und seinen Bewohnern werden würde, noch kein Mensch beantworten
konnte. Das eine glaubte er versichern zu können, daß Polen nie
mehr an Rußland zurückfallen würde.
Professor Dr. Dietrich Schäfer führte in seiner Schrift Die
Schuld an der Wiederherstellung Polens aus, daß der deutsche
Reichskanzler von verhängnisvoller Verblendung befallen war, als er
es für richtig hielt, die Anfänge des polnischen Imperialismus,
der sich in erster Linie gegen das deutsche Volk kehren mußte, zu
pflegen.
"Bethmann Hollweg
täuschte sich vollständig, wenn er im Anschluß an solche
Anerkennung der polnischen Ansprüche glaubte, daß die
beginnende neue Entwicklung die alten Gegensätze zwischen
Deutschen und Polen aus der Welt schaffen und eine neue Zukunft
herbeiführen werde, in der Polen die Eigenart seines nationalen Lebens
pflegen und entwickeln könne. Er hätte wissen müssen,
daß die vornehmste, die unverbrüchlichste Eigenart polnischen
nationalen Lebens der Gedanke der Wiederherstellung des polnischen
Reiches war und ist, und zwar in einem Umfange, der nicht Halt machen
würde an den Grenzen des Gebietes, das zufällig unter
russische Herrschaft geraten war, daß also Eigenart polnischen Lebens
völlig unvereinbar war mit den Daseinsbedingungen des
preußischen Staates und des Deutschen Reiches."2
[126] Am 5. April 1916
sprach Bethmann Hollweg sich im Reichstag öffentlich über
Polen aus. Er sagte:
"Unsere und
Österreich-Ungarns Absicht ist es nicht gewesen, die polnische Frage
aufzurollen; das Schicksal der Schlachten hat sie aufgerollt. Nun steht sie da
und harrt der Lösung. Deutschland und
Österreich-Ungarn müssen und werden sie lösen. Den
status quo ante kennt nach so ungeheuren Geschehnissen die
Geschichte nicht. Das Polen, das der russische Tschinownik noch hastig
Bestechungsgelder erpressend, das der russische Kosak brennend und
raubend verlassen hat, ist nicht mehr. Selbst Mitglieder der Duma haben
offen anerkannt, daß sie sich die Rückkehr des Tschinownik an
den Platz, wo inzwischen ein Deutscher, ein Österreicher, ein Pole
ehrlich für das Land gearbeitet haben, nicht vorstellen können.
Herr Asquith spricht in seinen Friedensbedingungen vom Prinzip der
Nationalität. Wenn er das tut und wenn er sich in die Lage des
unbesiegten und unbesiegbaren Gegners versetzt, kann er dann annehmen,
daß Deutschland freiwillig die von ihm und seinem Bundesgenossen
befreiten Völker zwischen der Baltischen See und den wolhynischen
Sümpfen wieder dem Regiment des reaktionären
Rußlands ausliefern wird, mögen sie Polen, Litauer, Balten oder
Letten sein?"3
Bemühungen
polnischer Aktivisten
um die Wiederherstellung
Polens und die Stellung
der Deutschen dazu |
Inzwischen hatten sich polnische aktivistische
Politiker bemüht, Berliner politische Kreise für ihre
Pläne zu gewinnen. Wilhelm Feldmann gab in ihrem Auftrage in
Berlin die Polnischen Blätter und politische Broschüren
heraus. Lempicki, der frühere Dumaabgeordnete, besuchte Sering und
verstand, ihn für seine Absichten zu erwärmen. In seinem
Bericht über eine Besprechung mit Feldmann und Lempicki
führt Sering aus:
"Lempicki wünschte die
Aufrichtung des Königsreichs Polen noch während des Krieges
und legte das Hauptgewicht auf den moralischen Effekt, den dieser Vorgang
in der ganzen Kulturwelt ausüben werde, weil dadurch der
Weltdemokratie eines der großen gegen die Mittelmächte
gerichteten Schlagworte genommen werde. Ich dagegen stimmte unter dem
Gesichtspunkte zu, daß nicht anders die Aufrichtung einer polnischen
Armee noch während des Krieges möglich sei. Ohne dies
Lempicki zu sagen, bewog mich dazu besonders die Rücksicht auf das
Verhältnis des Mannschaftsverbrauchs unseres Heeres zu den noch
verfügbaren Kräften und die Erwägung, daß
England alles daran setzen werde, den Krieg in die Länge zu ziehen.
Nicht anders, so führte ich aus, als durch Teilnahme am Kriege lasse
sich meines Erachtens der lebhaft geäußerte Wunsch
begründen, Polen ein großes Kolonialgebiet östlich vom
Bug (in den Gouvernements Grodno, Minsk, etwa auch Wilna!) zuzuweisen.
Auf die Frage nach der Zuverlässigkeit einer polnischen Armee
versicherte Lempicki: 1. daß heute eine russophile Partei in Polen nicht
mehr bestehe; man habe zuverlässige Nachrichten aus Rußland,
die bewirkt hätten, daß niemand mehr etwas für Polen
von der russischen Regierung erwarte; in ihr herrsche jetzt die schlimmste
Reaktion; 2. die polnische Bauernschaft, die der Intelligenz und dem Adel
allerdings mißtrauisch gegenüberstehe, sei wesentlich von der
Priesterschaft geleitet. Die Bischöfe wären zwar von der
russischen Regierung ernannt und ihr gefügig; aber die ganz niedere
[127] Geistlichkeit
fühle durchaus nationalpolnisch. Auch der Papst werde seinen
Einfluß in der erwünschten Richtung geltend machen. In
Stockholm lebe die Schwester des Jesuitengenerals Grafen Ledochowski; sie
sei eine glühende Patriotin, mit der Lempicki während seines
Aufenthalts in Schweden nahe politische Beziehungen unterhalten habe. Er
selbst wurde in der Schweiz, von der Schwester eingeführt, durch den
Jesuitengeneral freundlichst empfangen."4
Auf derselben Linie bewegten sich auch die Bemühungen der
aktivistisch gerichteten polnischen Politiker in Warschau. Durch Serings und
anderer Vertrauensmänner Vermittlung wurden sie in Verbindung
mit Beseler gebracht, dem sie ihre Programme entwickelten. Während
sie der deutschen Verwaltung gegenüber so auftraten, als wenn sie
schon große Teile der polnischen Bevölkerung hinter sich
hätten, und dementsprechend ihre Forderungen aufstellten,
verstanden sie es nicht, die Massen für ihre Ziele einzuspannen. Die
polnischen aktivistischen Politiker blieben nach dem Urteil nüchterner
Beobachter ein Regimentsstab ohne Soldaten. Trotzdem sind die Berliner
und Warschauer leitenden deutschen Kreise in Verbindung mit ihnen
geblieben; erst durch ihre Beziehungen verschafften sie den polnischen
Männern ein gewisses Relief.
Herabsetzung der
deutschen Bevölkerung
durch polnische
aktivistische Publizisten |
Die Erfolge, die die publizistisch sich betätigenden polnischen
Aktivisten in der Beeinflussung ihrer eigenen Landsleute nicht erreichen
konnten, suchten sie in der Herabsetzung der deutschen
Bevölkerung Polens zu erzielen. Hätte man ihre
Behauptungen unwidersprochen gelassen, so hätte sich in Deutschland
die Meinung von der rein polnischen Industrie in Kongreßpolen
befestigt. Einer der Mitarbeiter der Polnischen Blätter,
Fiedler, konnte sich in der Verunglimpfung der Lodzer Deutschen und ihrer
Vorfahren nicht genug tun. Er schreckte sogar vor Fälschungen nicht
zurück. So behauptete er, daß die Lodzer Deutschen
Nachkommen deutscher Deserteure wären und berief sich auf einen
Erlaß der preußischen Regierung, den er in der Vossischen
Zeitung vom 21. Juni 1816 gefunden haben wollte.5 Dabei vergaß er, daß
die deutsche Einwanderung in Lodz erst im Jahre 1821 begann. Reymonts
Tendenzroman Lodz, das gelobte Land wurde ins Deutsche
übertragen und von einem angesehenen Münchner Verlage mit
der Reklamenotiz hinausgesandt, daß das Buch wahrheitsgetreue
Schilderungen der Zustände in Lodz, "der diebischsten Stadt
Europas", enthalte. Es lag im Zuge der offiziellen deutschen Politik, alles die
deutschen Stammesbrüder Belastende gutgläubig zu
übernehmen, und es bedurfte zäher Arbeit, um das Interesse
für den deutschen Volkssplitter in Polen zu heben und die von
polnischen Schriftstellern und Zeitungen gegebenen verzerrten Bilder wieder
in gerade Linien zu bringen.
Alle denkenden Deutschen waren sich darüber klar, daß die
Rangstufe ihrer Stellung im künftigen staatlichen Gefüge vom
Grad des Unterrichtetseins reichsdeutscher politischer Kreise über
Art, Umfang und Bedeutung des Deutschtums in Polen abhing. Mit bitterem
Lächeln hatten sie wahr- [128] genommen, wie dem Volk der Dichter und
Denker, das sich rasch für die unbedeutendsten
fremdländischen Dinge erwärmte, dessen Gelehrte noch
während des Krieges der Allgemeinheit die Kenntnis der Geschichte
der chinesischen Musik vermittelten, das Wissen und das Verständnis
für das Auslanddeutschtum fehlte. Das vor den Toren Deutschlands
befindliche große bodenständige Deutschtum in Polen war so gut
wie unbekannt. Im Zusammenhang mit dem Erstarken der völkischen
Kraft entstand bei den Deutschen in Polen der Wunsch, im alten
Mutterlande bekannt und gehört zu werden. So begann die
Deutsche Post geschichtliche Rückblicke zu
veröffentlichen. Sie fand damit den Weg zu den völkisch
empfindenden Kreisen Deutschlands und gewann in der alten Heimat eine
Anzahl treuer Freunde der deutschen Sache in Polen.
Polen Unabhängigkeitserklärung am 5. November 1916 war ein
schwerer Schlag für das Hoffen der Deutschen, die sich das polnische
Gebiet im engsten Anschluß an Deutschland dachten. Sie waren sich
darüber klar, daß sie in dem sich selbst überlassenen
Polen schweren nationalen Kämpfen entgegen gingen. Sie
wären unfähig gewesen, Lehren aus der Vergangenheit zu
ziehen, wenn sie nicht den Versicherungen der in Berlin tätigen
deutschschreibenden polnischen Schriftstellern, daß der
künftige polnische Staat gegen nationale Minderheiten duldsam sein
werde, Zweifel entgegengesetzt hätten. Sie erinnerten sich des Lodzer
Bürgerkomitees und seiner Bemühungen, die geschichtlichen
Rechte des Lodzer Deutschtums wie etwas mit Kreide Geschriebenes
auszulöschen. Kurz vor dem Staatsakt des 5. November hatten
polnische und polnisch-jüdische Stadtverordnete in einer
Stadtverordnetenversammlung die Ausschaltung der deutschen Sprache aus
der Stadtverwaltung verlangt.
Der Verfasser eines noch vor der Schlacht bei Lodz geschriebenen Aufsatzes
über die Lage und die Zukunft des Deutschtums in Polen sprach sich
schon Ende 1914 dahin aus: "Was die Deutschen (in Polen) anbelangt, so ist es
klar, daß sie die Einverleibung der halbgermanisierten Gouvernements
Petrikau und Kalisch mit dem Lodzer und
Czenstochau-Sosnowicer Industriegebiet in Deutschland nicht ungern sehen
würden. Aber sie gönnen den Polen ihre Freiheit und
würden sich auch in einem selbständigen Polen den
Verhältnissen anzupassen verstehen, wenn ihnen nur die Erhaltung
ihrer deutschen Sprache, Kultur und wirtschaftlichen Interessen
verbürgt werden würde."6
Der bekannte polnische Publizist Wilhelm Feldmann zitierte in seiner Anfang
1915 erschienenen deutschen Broschüre Deutschland, Polen und
die russische Gefahr die vorstehenden Ausführungen, polemisierte
von seinem Standpunkt gegen die Bezeichnung der Gouvernements Petrikau
und Kalisch als "halbgermanisierte" und meinte hinsichtlich der deutschen
Wünsche: "Letztere Bedingung (Erhaltung der deutschen Sprache
und Kultur) ist ja selbstverständlich und ganz berechtigt." Und
hinsichtlich der Deutschen in Lodz bemerkte er: "Ihre (der Stadt)
Einwohner sollen alle ihre nationalen Rechte verbürgt haben."7 Die Wirklichkeit erwies sich aber
ganz anders.
[129] Der Staatsakt vom
5. November überraschte, trotz langer Vorbereitungen, durch seine
Unfertigkeit. Es waren nicht nur beträchtliche Unklarheiten
hinsichtlich des deutsch-österreichischen Verhältnisses und der
Weise seiner Auswirkungen nachgeblieben, die das polnische Problem in der
Folge noch komplizierter gestalteten als es vorher war, auch der
Minderheitenschutz war ganz unberücksichtigt geblieben. In einer
vorsichtigen Stellungnahme von deutscher Seite hieß es:
"Die Deutschen im Polenland
haben sich die Zukunft anders gedacht. Sie haben nicht das nationale
Empfinden ihrer Nachbarn, denen keine Schranke zu hoch und kein Ziel zu
entfernt ist. Nun wissen sie nicht, ob auch ihr geringes Sehnen
unerfüllt bleiben soll. Es gilt, Mut und Gesinnung zu stärken.
Erinnern wir uns, daß trotz verschiedenster Hemmungen Lodz dank
deutscher Tatkraft stolz emporwuchs, und suchen wir die deutsche Tradition
zu bewahren. Die Niedergeschlagenheit der an der Zukunft Verzweifelnden
darf nicht weiter um sich greifen. Lassen wir das Grollen wie das Zagen und
erinnern wir uns daran, daß die Pflicht gegen uns selbst es verlangt,
nichts verlorenzugeben. Das hieße auf unser Können und unsere
Kraft Verzicht leisten. Sammeln wir uns zur Bekundung echten
Bürgersinnes. Wir haben nur die Schale gewechselt, der Kern blieb
der alte!"8
Ebenso wie nach dem Ausbruch des Krieges fühlten sich die
Deutschen gefährdet und verlassen. Und das Gefühl des
Preisgegebenseins war diesmal um so bitterer, als es die amtliche Vertretung
des starken Heimatlandes war, die, ungewollt, durch ihr Schweigen
über den Minderheitenschutz im neuen polnischen Staat den
Fortbestand des Deutschtums gefährdet erscheinen ließ. Man
wußte nicht, daß die deutsche Verwaltung durch die vom
Reichskanzler als verantwortlichen Leiter der deutschen Politik gezogenen
Richtlinien gebunden war und daß sich die inneren Gründe und
Zusammenhänge dieser Politik vorläufig noch der
öffentlichen Beurteilung und der gerechten Würdigung
entzogen. Würde man damals, wie es von manchem geschehen ist, die
Zukunft nach der in völkisch empfindenden Kreisen vorhandenen
Stimmung beurteilt haben, so hätte man sagen müssen, es sei
um die junge deutsche Bewegung geschehen. Man mußte rasch
handeln, um nicht Groll und Mißmut um sich greifen und die
Früchte fast zweijähriger völkischer Arbeit vernichten zu
lassen. Vor allem mußte den Deutschen ein fester Standpunkt in der
raschen und verwirrenden Folge der den neuen Staat behandelnden
Kundgebungen gegeben und ihnen das Bewußtsein ihres
Vorpostentums gestärkt werden. Dann mußte auch nach starken
Beschützern Ausschau gehalten werden.
Die
große deutsche
Versammlung in Lodz
am 10. Dezember 1916
und ihre Forderungen |
Am 10. Dezember 1916 rief die Deutsche Post
die Deutschen in Stadt und Land zu einer großen
öffentlichen Versammlung nach Lodz zusammen. Nach
verschiedenen Ansprachen über die Zukunft der Deutschen in Polen
bekannte sich die Versammlung zu folgender Entschließung:
"Weit über 2000 deutsche
Männer und Frauen aus Lodz und Umgegend haben sich heute im
großen Saale des Männergesangvereins zu Lodz versammelt.
Einstimmig verleihen sie ihrer Sorge um die Zukunft der 700 000
Deutschen und ihres Volkstums in dem wiedererstehenden [130] Königreich hierdurch Ausdruck.
Obwohl die Deutschen im Lande sich die Lösung der polnischen Frage
anders gedacht haben, sind sie bereit, sich auf den Boden der geschichtlichen
Tatsache der Wiedererrichtung des Königsreichs Polen zu stellen.
Zugleich bekunden sie die bestimmte Erwartung, daß die deutsche
Reichsregierung die wirtschaftlichen und kulturellen Lebensinteressen der
deutschen bodenständigen Bevölkerung Polens schützen
und sichern wird. Durch die schwersten Zeiten des verflossenen
Jahrhunderts haben die Deutschen seit den Tagen ihrer Ansiedlung ihr
deutsches Volkstum treu bewahrt. Die Deutschen sind allenthalben immer
treue Staatsbürger gewesen. Ohne ihr Deutschtum aufgeben zu
wollen, werden sie ihre staatlichen Tugenden auch in dem neuen
Königreich Polen bewahren. Sie dürfen dann aber auch
erwarten, daß der polnische Staat ihrer Volksart Rechnung
trägt und sie wegen ihres Volkstums und ihrer Treue zu ihm nicht
hintansetzt. Sie bitten daher die deutsche Reichsregierung, bei der
endgültigen Neuordnung des polnischen Staates ihre Volkskinder in
Polen nicht zu vergessen. Das Deutsche Reich wird im Hinblick auf seine
Beihilfe bei dem Bestreben der Polen nach Selbständigkeit und
Anschluß an die westeuropäische Kultur auf den für die
Erhaltung des Deutschtums in Polen erforderlichen Sicherheiten bestehen
dürfen, ohne damit an irgendeine Beeinträchtigung des
polnischen Wesens und der polnischen Art zu denken. Diese Sicherheiten
müssen sich erstrecken auf 1. Gewährleistung des
gleichen Bürgerrechtes, 2. Schutz der konfessionellen
Freiheit, 3. Vertretung der Interessen der deutschen Minderheit im
Staate, in der Stadt und auf dem Lande, 4. Schutz der deutschen
Arbeit, des uneingeschränkten Vereins-, Koalitions- und
Versammlungsrechtes und vor allem 5. auf das Recht an der
Erhaltung, Entwicklung und Verwaltung der niederen, mittleren und
höheren deutschen Schulen im Lande. Ferner ist 6. die
Selbstverwaltung der wohltätigen Anstalten zu gewährleisten.
Endlich müßte 7. die Umwandlung der
Konsistorial- in die Synodal-Verfassung der evangelischen Kirche, die
Verlegung der obersten Kirchenbehörde von Warschau nach Lodz
und die Ausbildung der evangelischen Geistlichen auf reichsdeutschen
Universitäten angeordnet werden. Nur wenn die Deutschen alle einig
und opferwillig für ihr Volkstum einstehen, nur wenn die deutsche
Reichsregierung die genannten Sicherheiten schafft und überwacht,
nur wenn das Mutterland seine mächtigen Arme schützend
über seine Kinder in der Fremde hält, wird das Deutschtum in
Polen Bestand haben."
Mit großer Begeisterung wurde die Absendung von Telegrammen an
den Deutschen Kaiser um Schutz und Teilnahme für die Deutschen in
Polen, an den Reichskanzler um Schaffung von Sicherheiten zugunsten des
Deutschtums in Polen bei der Neuregelung der staatlichen
Verhältnisse, an Generalfeldmarschall
v. Hindenburg und an Generalfeldmarschall Mackensen, den Eroberer von Lodz, um
Geltendmachen ihres Einflusses zur Erhaltung des Deutschtums in Polen
beschlossen. Der Kaiser hat in seiner Antwort versichert, daß er
warmen Anteil an dem Wohlergehen der Deutschen in Polen nehme.
Hindenburg drahtete, daß er das Deutschtum in Polen nicht vergessen
werde, und Mackensen versicherte es seiner Sympathie.
Bethmann Hollweg ließ das Telegramm unbeantwortet. Er hätte,
[131] wenn er aufrichtig
sein wollte, den Deutschen in Polen auch wenig Tröstliches
eröffnen können. Denn gerade zu jener Zeit mußte die
Hindenburgsche Städteordnung neuen Bestimmungen über
die Wahl von Stadtverordneten und Magistratsmitgliedern und die
Durchführung der städtischen Selbstverwaltung weichen, die
nahezu einer Entrechtung der Deutschen gleichkamen.
Die
deutsche Verwaltung
in Warschau als
polnische Behörde |
Den Schlüssel zu den vorgeschriebenen neuen Wegen der deutschen
Verwaltung in Warschau bot die zum geflügelten Worte gewordene
Äußerung eines höheren Beamten der Zivilverwaltung in
Warschau, daß man sich die deutsche Verwaltung eben nicht als
deutsche sondern als polnische Behörde vorzustellen habe.
Die Städte waren während des Bestehens der Hindenburgschen
Städteordnung nicht schlecht gefahren. Das ihren Verwaltungen
entgegengebrachte Vertrauen hatte sich gerechtfertigt. Jeder, dem der
Städte Wohl am Herzen lag, wünschte die Dauer des bisherigen
Zustandes. Doch Tatsachen sind stärker als Wünsche. Neue
Ereignisse traten ein und mit ihnen die Verordnungen, die die Rechte der
Deutschen schmälerten. Die neuen Stadtverwaltungen sollten aus
Wahlen nach Kurien hervorgehen. Das durch Heeresdienst,
Verschleppungen und Abwanderung seiner Männer
geschwächte und durch die politischen Ereignisse der letzten Zeit
uneins und unsicher gewordene Deutschtum in den Städten des
Lodzer Bezirks konnte nicht mehr die Massen aufbieten, die für einen
erfolgreichen Ausgang der Wahlen erforderlich gewesen wären.
Einsichtige Männer beider deutschen
Richtungen - der der wirtschaftlich einflußreicheren passiven
und der der Richtung des Deutschen Vereins angehörenden aktiven
Partei - haben, angesichts der Gefahr, bei der Wahl von den fremden
Masse überrannt zu werden, das was sie trennte auf die Seite gestellt
und eine Einigung erzielt. Ihr Ruf an die deutschen Wähler war nicht
wirkungslos verhallt. Nur solche deutsche Grüpplein, die es
aufgegeben hatten, an ihr eigenes Können zu glauben, waren der
Wahlanmeldung ferngeblieben. Trotzdem haben die Deutschen in Lodz mit
ihrer regen Wahlarbeit nur 8 Sitze von 60 errungen. Daß dem kleinen
Häuflien kein leichtes Dasein beschieden war, läßt sich
denken und erwiesen bereits die anfänglichen Verhandlungen mit den
Polen über die Zusammensetzung des Präsidiums. Polen und
polnisch gesinnte Juden forderten eine in schroffster Form vor sich gehende
Polonisierung der Lodzer Stadtverwaltung. In den kleineren Städten
war es ähnlich.
Die
Deutschen und
der polnische Staatsrat |
In dem ersten polnischen, von der deutschen
Verwaltung ernannten Staatsrat blieben die einheimischen
Deutschen ohne Vertretung. Als es sich bei den Wahlen zum zweiten
Staatsrat, der je zur Hälfte aus gewählten und ernannten
Mitgliedern bestand, zeigte, daß die zerstreut wohnenden Deutschen
abermals ohne Vertretung bleiben sollten, wandte sich die Hauptleitung des
Deutschen Vereins im Namen ihrer damaligen 15 000 Mitglieder aus
dem deutschen Ansiedlertum an den polnischen Regentschaftsrat und
ersuchte ihn, wenigstens einen Vertreter der deutschen Kolonisten
zu ernennen. Dieser Wunsch ist erfüllt worden.
Die
deutschen
Schulverbände |
In der Entschließung der großen
deutschen Versammlung in Lodz am 10. Dezember 1916 wurde u. a.
"das Recht an der Erhaltung, Entwicklung und Verwaltung der
niederen, mitt- [132] leren und
höheren deutschen Schulen im Lande" gefordert. Eine
Denkschrift des Deutschen Vereins an die deutsche Verwaltung vom Februar
1917 befaßte sich mit der Lösung der Schulfrage und nahm zu
einigen unzweckmäßigen Plänen Stellung. Die
Wünsche der Deutschen wurden auch in einer Audienz vorgetragen,
die Generalgouverneur v. Beseler den Führern des Deutschen
Vereins gewährte. Nebenher gingen Besprechungen mit den
zuständigen Herren der deutschen Verwaltung in Lodz, Warschau
und Berlin. Nach verschiedenen Beratungen der interessierten Kreise
klärten sich im Sommer 1917 die Verhältnisse. Die
Gründung von deutsch-evangelischen und deutsch-katholischen
Schulgemeinden auf der Grundlage der Selbstverwaltung konnte
überall im Lande erfolgen. Die bis dahin gegründeten 400
deutsch-evangelischen Schulgemeinden schlossen sich am 23. Juli 1917 in
Lodz zu einem deutsch-evangelischen Landesschulverband
zusammen. Die Forderung der Deutschen, daß bindende
Abmachungen der deutschen Verwaltung mit der polnischen Regierung das
Recht der Selbstverwaltung der deutschen Schulen gewährleisten und
Doppelbesteuerungen der für die deutschen Schulen Zahlenden
vermieden werden sollen, wurden erfüllt und ihnen entsprechende
Staatszuschüsse aus den Steuern des Landes zugebilligt. Das von der
deutschen Verwaltung entworfene und vom damaligen provisorischen
polnischen Staatsrat anerkannte Gesetz über die
Berücksichtigung der Schulbedürfnisse der Minderheiten in
Polen sollte die Weiterentwicklung des deutschen Volksschulwesens in Polen
sichern. Daraufhin erfolgte am 1. Oktober 1917 die Übergabe des
gesamten Schulwesens in Polen an die polnische Verwaltung. An die Spitze
des deutsch-evangelischen Landesschulverbandes wurde Flierl berufen. Dem
engeren Vorstand, der die Geschäfte zu leiten hatte, gehörten
an: Dr. Krusche (Pabianice), Brettschneider (Zgierz), Koch
(Aleksandrow), Pastor Dietrich, Eichler, Arbeitersekretär Neumann,
Hauptlehrer Jahnke und Gymnasiallehrer Günther. Der weitere
Vorstand setzte sich aus Vertretern aller deutschen Siedlungsgebiete und aller
Berufe zusammen. Ihm war ein pädagogischer Beirat beigegeben, zu
dessen Leitung im Jahre 1918 der siebenbürgische Schulmann Korodi
gewonnen wurde. - Entsprechend der geringen Zahl der deutschen
Katholiken betrug die Zahl der deutsch-katholischen
Schulgemeinden, die dem später gegründeten
deutsch-katholischen Landesschulverbande angeschlossen wurde, nur
12. - Das Lodzer deutsch-evangelische Lehrerseminar ging in den
Besitz des deutsch-evangelischen Landesschulverbandes über. Den
deutschen Katholiken wurden gewisse Rechte zugestanden, so das der
Ausbildung von deutsch-katholischen Lehrern. Das Verhältnis beider
Schulverbände war ein durchaus freundschaftliches.
Die
Metall- und
Warenbeschlagnahmen,
das trübste Kapitel
der deutschen Okkupation |
Zu den trübsten Kapiteln der deutschen
Okkupation gehört ohne Zweifel die Beschlagnahme von
Rohmaterialien, Waren und Metallen. Für die
Kriegsnotwendigkeiten zeigten alle Fabrikbesitzer Verständnis. Viele
deutsche Politiker, Volkswirtschaftler, Tagesschriftsteller und sonstige
Männer der Öffentlichkeit haben sich bei ihrem Weilen in Lodz
und den anderen Industriestädten von dem über die
Zweckmäßigkeit hinaus brutalen Eingriffen der die
Kriegswirtschaftsstellen bevölkernden reichsdeutschen Herren
überzeugen können und gleichzeitig feststellen müssen,
[133] in wieviel
Tausenden von Gemütern der Gedanke von deutscher Gewaltpolitik
sich hineingefressen hatte.
"Die deutsche
Okkupationsverwaltung war genötigt, auch die Kräfte der
Lodzer Industrie in den Dienst des Krieges zu stellen. Vielleicht wäre
es klüger gewesen, ihr an Ort und Stelle Arbeit zu geben. Daß
man sich hierzu nicht entschließen konnte, hat Anlaß zu dem
Vorwurf gegeben, man sei in kleinlichem Konkurrenzneid darauf aus
gewesen, den Wettbewerb von Lodz mit der Lausitz, dem
Vogtland usw. zu unterbinden... Nun wurden in weitem Umfang die
vorhandenen Arbeitskräfte, nicht selten mit sanftem oder
auch unsanftem Druck, zur Abwanderung nach Deutschland angeworben;
die Maschinen, Treibriemen, Sparmetalle und ungeheure Vorräte an
Rohstoffen und Halbfabrikaten wurden beschlagnahmt und den
Kriegsverwertungsgesellschaften zugeführt. Das hat viel böses
Blut gemacht. Man hätte wenigsten bei der Bezahlung der
beschlagnahmten Werte nicht so geizig sein sollen. Die Geschädigten,
ganz gleich, ob Pole, ob Jude oder Deutscher, beeinflußten die
öffentliche Stimmung nicht gerade zu unseren Gunsten. Selbst Leute,
die bis dahin mit an der Spitze des Deutschtums gestanden hatten,
revidierten jetzt ihre Gesinnung."9
Auch Friedrich Naumann konnte sich im Jahre 1917 an Ort und Stelle
überzeugen, welche geistigen und wirtschaftlichen Verheerungen die
mit unnötiger Härte durchgeführte
Metallbeschlagnahme anrichtete:
"Die Maschinen von Lodz
leiden unter den Kupferrequisitionen der deutschen
Militärrohstoffverwaltung. In Lodz wird fast allgemein geglaubt,
daß es der Zweck dieser Kupferwegnahme ist, die industrielle
Lebenskraft von Lodz zu zerbrechen. Dieser Glaube ist sachlich falsch, aber
er ist erklärlich. Ich habe verschiedene Industrieanlagen besichtigt,
aus denen kupferne Wannen, Kessel, Röhren, Schlangen,
Einsatzstücke, Teilapparate demontiert wurden. Dabei fehlte mir
freilich die Vergleichsmöglichkeit, da ich nicht feststellen konnte, bis
zu welchem Grade die Fabriken in Deutschland ähnlichen Prozeduren
unterworfen sind. Es versteht sich von selbst, daß der Kriegsbedarf
gedeckt werden muß, und daß im Zweifelsfalle ein okkupiertes
Gebiet zeitiger Kupfer aus den Betrieben abzugeben hat als die für
den Krieg arbeitende Heimat. Aber trotz aller dieser Vorbehalte bin ich mit
einem Gefühl tiefer Ergriffenheit aus diesen Fabriksälen
herausgegangen, denn selbst wenn das, was hier geschieht, notwendig ist,
selbst dann ist es grausam. Jeder Mensch, der auch nur etwas Sinn für
Maschinen hat, blickt auf ihre Reihen hier wie auf verwundete Tiere... Man hat
hier den Eindruck eines volkswirtschaftlich nicht geregelten und darum
nicht zweckmäßigen Verfahrens. Wir verderben auf diese Weise
viel mehr als wir gewinnen, und zwar nicht nur psychologisch, sondern auch
materiell, denn das lebendige, produktive Lodz kann bei Erhaltung seiner
Aktivität für die deutsche oder mitteleuropäische
Wirtschaft von allerhöchster Bedeutung werden. Die deutsche
Wirtschaftspolitik soll ihre Augen aufmachen für das, was jetzt in
Lodz getan wird."10
Alle Bemühungen der wirtschaftlichen Kreise des Lodzer
Deutschtums und ihrer Freunde, der Willkürwirtschaft der
Kriegs- [134] gesellschaften
Einhalt zu gebieten, blieben vergeblich. Der gute Ruf, den sich die anderen
Zweige der deutschen Verwaltung durch ihre reiche schöpferische
Tätigkeit erwarben, ging unter in dem Haß, den die
Tätigkeit der Kriegswirtschaftseinrichtungen auslöste.11
Als im Sommer 1917 die deutsche Verwaltung in Polen aus den Verkettungen
der Bethmann Hollwegschen Politik befreit wurde, konnte sie sich
unbeengter den Minderheitsfragen zuwenden. Sie brauchte nicht mehr zu
befürchten, daß sie sich durch regere Beziehungen zu der
deutschstämmigen Bevölkerung kompromittieren würde.
Was früher unmöglich schien, ein offizieller Besuch des
Generalgouverneurs v. Beseler bei den Lodzer Deutschen, konnte
am 28. September 1917 erfolgen. Nachdem er die Lodzer höheren
Schulen besichtigt hatte, nahm Beseler an einer Vortragsveranstaltung des
Deutschen Vereins teil. Nach einer Ansprache des Vorsitzenden, in der dieser
die Freude der Lodzer Deutschen erwähnte, den sieggekrönten
deutschen Feldherrn in ihrer Mitte begrüßen zu
können, von den wechselvollen Schicksalen des Lodzer Deutschtums
sprach und für die Sicherung der deutschen Volksschulwesens und die
einleitenden Schritte zur Neuregelung der kirchlichen Verfassung dankte,
nahm der Generalgouverneur das Wort und führte aus:
"Ich danke Herrn Eichler
für die freundlichen Worte der Begrüßung, die er an mich
gerichtet hat, ganz besonders aber dafür, daß er mein Bestreben
betonte, solange ich durch die Gnade meines Kaisers an der Spitze der
Verwaltung dieses Landes stehe, für die Zukunft dasjenige, was im
polnischen Lande das Deutschtum stärken und entwickeln kann, auf
festen Boden gestellt zu wissen, auf einen Rechtsboden, den spätere
Willkür nicht erschüttern soll. Unsere Verwaltung hat hier
einmal die Aufgabe, dafür zu sorgen, daß unsere Brüder
an der Front nicht angstvoll rückwärts zu sehen brauchen,
daß nicht etwas geschieht, was ihre Sicherheit gefährden
könnte. Sodann haben sie den Anspruch, daß ihnen alles das
zugeführt wird, was zur Erhaltung und Stärkung ihrer
Kampfkraft nötig ist. Dazu muß auch das Land, das wir von
unerträglichem Druck befreit haben, zu seinem Teile beitragen, da
unsere Kämpfer es auch beschützen. Wir haben des weiteren
auch dafür zu arbeiten, daß dieses Land in Zukunft eine
Sicherung für unser Vaterland bleibt. Deshalb waren wir bestrebt,
dem Lande eine staatliche Form zu geben, die es später zum Freunde
und, wie wir wünschen, zum Bundesgenossen unseres Landes machen
soll. Wir wissen aber auch, daß hierzulande eine große Zahl von
Landsleuten wohnt, die [135] teils noch dem Deutschen Reiche
angehören, teils wenigstens deutsche Art und Sprache hochhalten und,
indem sie sich durchaus dem staatlichen Leben dieses Landes
einzufügen gewillt sind, doch nicht aufhören, sich als Deutsche
zu fühlen. Ihr Verein hat es sich zur Aufgabe gesetzt, alle die
Kräfte zu sammeln und zu festigen, die in Zukunft die Aussicht
gewähren, daß das Deutschtum hier, das mit tausend
Fäden an das alte Vaterland verknüpft ist, sich selbst treu
bleibt. Meine Verwaltung wird mit wärmster Anteilnahme und mit
allen Kräften diese Bestrebungen unterstützen. Aber auch hier
wie überall, wo Menschen zusammenwohnen, gilt es, die
Wünsche den gegebenen Verhältnissen anzupassen. Wir
müssen kleine Opfer bringen, um Großes nicht zu
gefährden. In diesem Sinne haben wir die Gesetzgebung einzurichten
versucht und Sie haben diesem Bestreben Ihre Anerkennung gezollt. Ich
möchte an alle Personen, die hier deutsch fühlen und denken,
die Mahnung richten, sich nicht nur auf behördliche Fürsorge,
auf Bevormundung und Schutz von oben zu verlassen, sondern vor allen
Dingen die eigenen Kräfte einzusetzen und zu sammeln, denn das
Beste schafft der Mensch nur aus sich selbst. Das ist ja auch das hohe Ziel
Ihrer Vereinigung. Mein Bestreben wird es sein, dem Deutschtum hier die
Stelle zu geben und zu wahren, die ihm zukommt. In diesem Sinne rufe ich
Ihrem Verein ein herzliches Glück auf zu und wünsche ihm
fröhliches Gedeihen. Möge er sich entwickeln und
kräftigen, damit das Deutschtum der Welt zeigen kann, was ein
begabtes, großes und gutes Volk zu leisten imstande ist. Mögen
Sie in Zukunft die hohe Anerkennung und auch die Zuneigung und Liebe
des Volkes gewinnen, in dessen Mitte Sie arbeiten und
wirken."
Die bedeutsame Ansprache löste stürmischen Beifall aus. Die
große Versammlung wurde von dem Gefühl beherrscht,
daß das Deutschtum in Lodz für seine Bestrebungen zur Pflege
der höchsten völkischen Güter einen neuen Impuls
erhalten habe.
Zu den Amtsstellen, die nach dem Abzug der Russen in Warschau von der
deutschen Verwaltung zu besetzen waren, gehörten auch das
Evangelisch-Augsburgische Konsistorium, dessen Mitglieder
einschließlich des Generalsuperintendenten Bursche die Stadt vor den
anrückenden deutschen Truppen verlassen hatten. Schon vorher
hatten einzelne Pfarrer die ihnen anvertrauten Gemeinden im Stich gelassen
und sich hinter der russischen Kampflinie in Sicherheit gebracht. Zu den
vielen Obliegenheiten, die sich die neue deutsche Verwaltung im Interesse
der Bevölkerung aufbürdete, gehörte auch die
Fortführung der Verwaltung der evangelischen Kirche und die
seelsorgerische Pflege der vielen verwaisten Gemeinden. Es sind die besten
Traditionen des deutschen Staatskirchentums, die bei der "Okkupation des
Konsistoriums" in Warschau zur Geltung kamen. Eine gerechte und
wohlwollende Aufsicht über die Selbstverwaltung der einzelnen
Gemeinden, eine gewissenhafte und besonnene Ausführung des
Kirchenregiments, fördernde Anregungen aus dem reichen bewegten
Westen nach dem bisher so abgeschlossenen Osten, persönliche
Hilfeleistungen zur Linderung der Kriegsschäden der Pastoren,
Lehrer und ihrer Familien, Wiederaufbau von Zerstörtem,
Sicherungen für die Zukunft, das etwa war das Programm, mit dem
im Oktober 1915 die kirchliche Verwaltungsarbeit begann. "Wir wollen", so
pflegte der damalige Konsistorialpräsident [136] Landrat v. Thaer zu sagen, "wenn
wir einmal aus dem Lande herausgehen, den Ruf hinterlassen, wie in allen
Stücken so auch in diesem mustergültige Verwaltungsarbeit
geleistet zu haben."12
Die
Notwendigkeit einer
neuen Kirchenordnung für die
evangelisch-augsburgische Kirche |
Der unverkennbare Aufschwung, den das
evangelische Kirchenwesen unter der neuen Leitung nahm, und die
erwarteten politischen Entwicklungen in Polen hatten schon im Jahre 1916
bei einheimischen Mitgliedern des Konsistoriums den Wunsch nach
Durchführung einer neuen Kirchenordnung, vor der
Übergabe aller Verwaltungszweige an die polnischen Behörden,
laut werden lassen. Anfang 1917 richteten neunzehn einheimische Pfarrer
eine Eingabe an das Konsistorium, worin sie die Ausarbeitung eines der
heutigen Zeit entsprechenden Kirchengesetzes forderten. Aber auch die
Gemeinden traten für eine baldige Neuordnung der kirchlichen
Verhältnisse ein. Schon die große deutsche Versammlung in
Lodz am 10. Dezember 1916 hatte die Umwandlung der Kirchenverfassung,
die Verlegung des Konsistoriums nach Lodz und das Studium der
künftigen Pastoren auf reichsdeutschen Universitäten
gefordert. In den Erörterungen über das Für und Wider
und die Grenzen der neuen Verfassung blieben die Konfliktstoffe nicht
unberücksichtigt. Trotzdem wurden damals noch auf beiden Seiten
die Richtlinien der Versöhnlichkeit innegehalten, wie es nachstehende
Ausführungen beweisen:
"Die evangelische Kirche unseres
Landes soll eine neue Verfassung bekommen, d. h sie soll ein neues
Haus unter Mitverwendung alten Materials erhalten. Da gilt es scharf
aufzupassen, damit nicht unbrauchbares und morschgewordenes Baugut
und Zersetzungsstoffe mitverwendet werden, die die Dauerhaftigkeit und
den Wert des neuen Gebäudes gefährden. Es heißt, gut
auf alles das zu achten, was in den letzten Jahrzehnten fromme und
unfromme Kritik hervorrief. Denn wir wollen im neuen Bau uns nicht durch
gegenseitige Beargwöhnung aufreiben, sondern versuchen, in
friedlichem Zusammenwirken im Sinne des Stifters der christlichen Kirche
tätig zu sein. Sollen die Fehler der Vergangenheit vermieden werden,
so muß in offener Aussprache ihr Ursprung festgestellt und jede
Möglichkeit zur Einschlagung falscher Richtungen beseitigt
werden."
Über die Zukunft der evangelisch-lutherischen Kirche unseres Landes
kann nicht gesprochen werden, ohne daß ihrer Stellung zu den
völkischen Fragen gedacht wird. Auch der mildeste Beurteiler der
Vergangenheit und Gegenwart der evangelischen Kirche in Polen wird,
sofern er ein ehrliches Urteil bieten will, zu dem Schluß kommen,
daß die falsche Losung, die evangelisch-lutherische Kirche in Polen
wirkte als Missionskirche, wenn sie bei der polonisierenden
Richtung beharre, fallen gelassen werden muß, sollen die benamten
Vertreter der Kirche nicht noch mehr Schaden an ihrer Seele nehmen. Schon
E. H. Busch vertritt, irregeleitet von seinen
Gewährsleuten, in seinen Beiträgen die Meinung,
daß in Polen nicht nur ziemlich viel polonisierte Deutsche, sondern auch
geborene Polen, die der evangelischen Kirche angehören, wohnen,
und er glaubt, daß, wenn "in den Gegenden, wo durch
evangelischen Unterricht und Gottesdienst in polnischer Sprache... für
[137] die
Glaubensgenossen gesorgt wird, sie zu einem Sauerteige werden, der die
Masse durchdringt." Und 1911, nachdem nahezu 50 Jahre hindurch
im Sinne der von Busch erwähnten Wünsche der evangelischen
Kirche gehandelt worden ist, schreibt Generalsuperintendent Bursche in
seinem Synodalbericht: "Unsere Kirche hätte einen weit
größeren Einfluß hierzulande und wäre ein Salz
und ein Licht für dasselbe, wenn sie das Evangelium auch in
polnischer Sprache brächte." Da ist es gut zu wissen, was die
Statistik auf die Frage nach der Zahl der evangelischen Polen antwortet. Bei
der Volkszählung von 1897 gaben von 414 773 Lutheranern in
Polen 31 487 sich als polnischsprechende an. Diese Zahl entspricht
nicht einmal der Menge der polonisierten Deutschen. Sie ist auch ein
überzeugender Beweis, daß von der lutherischen
Reformationskirche Polens so gut wie nichts übrig geblieben ist und
widerlegt alle gegenteiligen und ungeschichtlichen Behauptungen. Sie ist ein
Beitrag zur Tatsachenkenntnis, daß der polonisierte Deutsche nicht
nur sein Volkstum, sondern auch sehr leicht seinen Glauben aufzugeben
bereit ist. Dr. v. Kurnatowski kommt in einem Aufsatz der
Baltischen Monatsblätter (März 1905), der sich mit der
Geschichte der Reformation in Polen befaßt, zu dem nüchternen
Schluß:
"Höchstens zehn bis
fünfzehn durch katholische Mischehen in ihrer Existenz
gefährdete polnische Adelsfamilien und
zwölf- bis fünfzehntausend litauische Bauern sind alles, was von
der einst so mächtige Wellen schlagenden Reformation in Polen
übrig geblieben ist. Das Übrige, was sich heute
»polnisch-evangelisch« nennt, sind polonisierte
ausländische Elemente, vor allem deutscher Herkunft, die sich nach
der bekannten deutschen Art der neuen Heimat schnell assimilierten und in
der zweiten Generation schon nationalpolnisch fühlten."
"Daß auch die polonisierten Evangelischen zu ihrem Recht auf
kirchliche Bedienung und Pflege kommen sollen, bedarf keiner
Begründung. Nur darf die Sorge um das Seelenheit dieser kleinen,
nicht einmal zehnprozentigen Minderheit nicht soweit gehen, daß man
die deutsch-evangelische Diasporakirche in Polen zur
polnischen Missionskirche macht. Aber es liegt im beiderseitigen
Interesse, daß man in Zukunft noch weiter geht, und überall
dort, wo größere anderssprachige Minderheiten sind, die
Gemeinden trennt. Nur so werden sich unwürdige Szenen, wie sie sich
vor einigen Jahren in der Kirche zu Warschau bei Wahlhandlungen
abspielten, verhüten lassen. Vor zwei Jahren haben wir noch die
Hoffnung gehabt, daß ein größerer Teil der hiesigen
Pastoren sich zum Deutschtum zurückfinden wird. Aber nur einige
Pastoren haben den Weg zum Deutschtum gesucht und gefunden. Die
politischen Geschehnisse in unserem Lande entwickelten sich anders, als wir
damals hofften. So kam es, daß 80% der genannten Pastorenschaft sich
heute bewußter denn je zum Polentum bekennt. Es ist nicht unsere
Art, anderen ihr völkisches Empfinden vorzuschreiben, aber die Frage
ist erlaubt, ob das starkbetonte Fußen im fremden Volkstum die
Pastoren geeigneter macht, Leiter und Berater
deutsch-evangelischer Gemeindekörper zu sein. Wir
hörten, daß in diesem Reformationsjubeljahr die Rettung der
evangelischen Kirche in Polen in die Wege geleitet werden soll. Wir
können uns die Rettung der Kirche nur im Zusammenhang mit der
Festigung des deutschen Volkstums denken; alle anderen Wege führen
zu ihrer Zertrümmerung. Luther sagte: »Für meine
[138] Deutschen bin ich
geboren, ihnen will ich dienen.« Wie anders stünde es um die
evangelische Kirche in Polen, wenn unsere Pastoren, die sich lutherisch
nennen, dasselbe Empfinden besäßen und nicht nach
Einfluß bei der polnischen Gesellschaft strebten. Es bedarf keiner
langen Erläuterungen, daß es nicht länger so bleiben darf.
Die jungen Theologiestudenten aus deutschen Häusern dürfen
nicht wieder ihre Ehre darin suchen, sich auf - wie wir hoffen: in
Zukunft reichsdeutschen - Universitäten zu extrempolnischen
Studentenvereinen zusammenzufinden, um sich von
Universitätslehrern und -hörern als Deutsch verstehende
Polen anstaunen zu lassen. Aber auch die Berufung reichsdeutscher Pastoren
muß den hiesigen Gemeinden freigegeben werden."13
Im Februar 1917 weilte in Polen Geh. Kirchenrat Prof. Rendtorff, der
Vorsitzende des Gustav-Adolf-Vereins, der sich um die Rettung der
evangelisch-lutherischen Kirche Polens während des Krieges
große Verdienste erworben hat. In Besprechungen, die er in Warschau
mit den leitenden Kreisen und in Lodz mit den Pastoren führte, wurde
die Notwendigkeit einer neuen Kirchenverfassung erörtert. Da man
wußte, daß Prof. Rendtorff wie selten ein Kirchenmann
über die Bedürfnisse der Diasporakirchen unterrichtet war,
erging an ihn die Bitte, eine neue Kirchenordnung auszuarbeiten. In einem
Vortrag, den er damals auf Ersuchen des Deutschen Vereins in Lodz hielt,
führte er bereits die Richtlinien der neuen Kirchenverfassung aus.
Gemeinsam mit dem Kirchenrechtslehrer Prof. Meyer in Leipzig
stellte er den Entwurf fertig. Zu seiner Durchberatung berief der
Präsident des Evangelisch-Augsburgischen Konsistoriums in
Warschau, Graf Posadowsky, einen zur Hälfte aus Geistlichen und
Laien bestehenden Arbeitsausschuß, der am 3. August 1917 in
Warschau tagte und eingehend die einzelnen Punkte der neuen
Kirchenordnung besprach. Die straffe Fassung des Entwurfs, die alle
Weitschweifigkeiten und Überflüssigkeiten vermied, wurde von
allen anerkannt.
Der
Kirchenstreit von 1917 |
Bis dahin und auch noch später ist von keiner
Seite die Ansicht laut geworden, daß die neue Kirchenordnung zu
früh käme. Im Gegenteil, bereits im Januar 1917 hatten die 19
einheimischen Pastoren in ihrer Eingabe an das Konsistorium den Wunsch
nach ihrer baldigen Einführung geäußert. Auch von der
Lodzer Pastorenkonferenz, die zur Besprechung der Kirchenordnung
öfter einberufen wurde und zu den einzelnen Fragen de Entwurfs
Stellung nahm, sind Äußerungen nach dieser Richtung nicht
erfolgt. Und als nach einem Vortrag des Konsistorialpräsidenten
Generalgouverneur v. Beseler die Einberufung einer allgemeinen, aus
sämtlichen Pastoren und der doppelten Zahl von Laienvertretern
zusammengesetzten Synode für den 18. Oktober 1917 in Lodz
verfügte, waren sämtliche Mitglieder der Lodzer
Pastorenkonferenz mit dem Lauf der Dinge sehr zufrieden.
Diese Vorgänge, und vor allem das Verhalten der Pastoren bis zur
Einleitung der Wahlen, ließen einen ruhigen und sachlichen Verlauf
der Synode erwarten, so daß man mit Recht überrascht sein
durfte, als der Gedanke von Verfrühung und Übereilung der
Entwurfberatung gerade [139] seitens der Pastoren in die Verhandlungen
der versammelten Synode geworfen wurde. Die polnischgesinnten Pastoren
und mit ihnen ein kleiner Teil der Laien verließen nach einer
theatralisch wirkenden Protestkundgebung den Verhandlungssaal, nachdem
schon vorher einzelne von ihnen durch aufreizende Reden aufgefallen waren.
Die Nichtteilnahme der Pastoren an den sachlichen Beratungen war mit
ihrem Verhalten bei den Wahlen und den Vorbereitungen zur Synode nicht
in Einklang zu bringen.
Was der Synode zum Schaden gereichen sollte, der Aufbruch der
Minderheit, gedieh ihr zum Segen. Ungehindert von politischen
Auseinandersetzungen und menschlichen Leidenschaften konnte am
nächsten Tage die deutschgesinnte Mehrheit in sachliche
Erörterungen eintreten und das dem Wohl der Kirche dienende Werk
zu Ende führen.
Man erinnerte sich in dieser Zeit, daß auch die früheren
Generalsynoden der evangelischen Kirche Polens meistens stürmisch
verliefen. Die Synode von 1917 hat ein Seitenstück in der 1782 in
Wengrow abgehaltenen Generalsynode. In 12 Sitzungen, vom 8. bis 17.
September, stritt man über Kleinigkeiten und erschöpfte seinen
Geist in juristischen Spitzfindigkeiten. Auf sachliche Fragen konnte oft erst
eingegangen werden, nachdem 33 Mitglieder die Synode verlassen
hatten.
Nachdem ein Wechsel in der Leitung des Konsistoriums eingetreten und an
Stelle des Grafen Posadowsky Geheimrat Loycke getreten war und auch der
inzwischen aus Rußland zurückgekehrte Generalsuperintendent
Bursche sich für einen Fortgang der Verfassungsarbeit eingesetzt
hatte, konnte, nach Monaten des Streites, mit der Durcharbeitung der
erweiterten Verfassungsvorschläge begonnen werden.
"Generaloberst v. Beseler nahm
lebhaften Anteil an den Verhandlungen über das Kirchengesetz. Er
sprach es wiederholt aus, daß von dem Zustandekommen des Gesetzes
die Übergabe der Kultusangelegenheiten an die polnische Regierung
abhängig sei. An dieser Übergabe lag den Polen sehr viel, vor
allem, um möglichst bald die Judensachen in die Hände zu
bekommen, deren damalige Entwicklung ihnen recht unbequem war. Die
Verhandlungen nahmen infolgedessen einen befriedigenden Fortgang.
Seitdem man den Fehler der Lodzer Synode vom Oktober 1917
ausgebessert hatte und neben den Entwurf einer Kirchenordnung auch den
eines Staatsgesetzes über die Kirche stellte, in dem deren
Verhältnis zum Staat geregelt wurde, schien sich alles gut anzulassen.
Auch der Generalsuperintendent legte sich für den neuen Entwurf
nach dem Kompromiß mit Eichler, dem Führer des Deutschen
Vereins, entschieden ins Zeug. Es war abzusehen, daß im Herbst 1918
die Verkündigung des Gesetzes erfolgen und die Einberufung der
ersten Synode zur Übernahme der Kirchengewalt stattfinden
könne."14
In den Vergleichsverhandlungen verpflichtete Generalsuperintendent
Bursche sich, für die wesentlichste Forderung seiner sachlichen
Gegner, die Zweidrittel-Laienmehrheit in den Synoden, auch
gegenüber seinen einheimischen Amtsbrüdern einzutreten,
deren Mehrzahl bisher dagegen Stellung genommen hatte. Der deutsche Teil
der Kommissionsmitglieder [140] war bereit, die Entschließung
über die Übertragung des Konsistoriums nach Lodz und die
Verhandlungssprache im Konsistorium der ersten, auf Grund der neuen
Wahlordnung einzuberufenden Synode zu überlassen und Bursches,
seinem kirchlichen Ehrgeiz entspringenden Wunsch, dem
Generalsuperintendent den Bischofstitel zu geben und ihm den Vorsitz im
Konsistorium wie auch in der Synode zu übertragen, zu willfahren,
nachdem er sich dafür ausgesprochen hatte, in die neue
Kirchenverfassung den Zusatz hineinzubringen, daß der Bischof
(Generalsuperintendent) sein Amt niederlegt, wenn die Synode durch
Mehrheitsbeschluß ihm ihr Mißtrauen kundgibt.
Bemühungen der
Deutschen
um die nationale Kurie
im Landtagsgesetz |
Der neue polnische Staatsrat hatte Gelegenheit, sich
verfassunggebend zu betätigen. Unter den ihm im Sommer 1918 von
den polnischen Ministerien zugegangenen Vorlagen befand sich auch eine
Landtagswahlordnung, die in der Form, wie sie der Entwurf
aufwies, die über das ganze Land zerstreute
deutschstämmige Bevölkerung von jeder parlamentarischen
Vertretung ausschloß. Generalgouverneur v. Beseler erhob
Einspruch gegen den Entwurf und sprach in einem Schreiben die Erwartung
aus, daß es im Einvernehmen mit der polnischen Regierung und dem
Staatsrat möglich sein werde, in den kommenden Beratungen die
Entwürfe so umzugestalten, daß auch der deutschen Minderheit
eine Vertretung gewährleistet sei.
Unabhängig von dem ihr nicht bekannten Schritt des
Generalgouverneurs hatte die Hauptleitung des Deutschen Vereins am 12.
Juni 1918 in einer Denkschrift an den polnischen Staatsrat zu der Landtagsordnung
Stellung genommen. Nach einem geschichtlichen Rückblick auf die
Verdienste der deutschen Bevölkerung Polens um die kulturelle und
wirtschaftliche Hebung des Landes wurde darin ausgeführt:
"Angesichts des sich
entwickelnden staatlichen Lebens in Polen und des Beginnes der
schöpferischen Tätigkeit des Staatsrates erachtet es der
Vorstand der kulturellen Vereinigung aller Deutschen in Polen, des
Deutschen Vereins, Hauptsitz in Lodz, als seine Pflicht, namens seiner
21 000 Mitglieder und im Sinne der gesamten Deutschen in Polen an
den Staatsrat die Bitte zu richten, den deutschen Staatsbürgern, die so
viel zur kulturellen und wirtschaftlichen Hebung des Landes beigetragen
haben, die Möglichkeit zu geben, eigene Vertreter in den
künftigen polnischen Landtag zu schicken. Da die Deutschen zerstreut
über fast alle Gemeinden wohnen und nirgends die Mehrheit bilden,
so würden sie ohne Sitz und Stimme im Landtag bleiben
müssen, wenn ihnen nicht geholfen wird durch Schaffung einer
nationalen Kurie bzw. Einführung des Katasters, so
daß jeder, der sich zur deutschen Muttersprache bekennt, mit seinen
Volksgenossen das Recht hat, die den Deutschen im Verhältnis zur
allgemeinen Bevölkerungszahl zustehende Zahl von Abgeordneten aus
der eigenen Mitte zu wählen. Nicht separatistische Gelüste sind
es, die den Deutschen den Wunsch nach einer Wahlordnung in der
vorgeschlagenen Weise eingeben, sondern das Verlangen, als Bürger
teilzunehmen am Aufbau des Staates, und außerdem der Wunsch, sich
bei der Regelung der staatlichen Verhältnisse durch eigene
Vertrauensmänner vertreten zu wissen. Die polnischen
Staatsbürger deutscher Zunge hoffen, daß der neuzeitliche
Grundsatz der Selbst- [141] bestimmung der Völker, der jetzt
bei allen staatlichen Neubildungen durchgeführt wird, durch
Berücksichtigung der Wünsche der deutschstämmigen
Bevölkerung auch bei dem Landtagsgesetz sinngemäßen
Ausdruck erhält."
Das polnische Ministerium des Innern war bereit, den Entwurf zu erweitern.
Vorbesprechungen fanden bereits statt, als sich der Staatsrat im Herbst 1918
auflöste.
Nachdem die Bestimmungen des Brester Friedens in
Kraft getreten waren, begannen die nach Rußland verschleppten
Deutschen zurückzukehren, erst einzeln und später in
großen Scharen. Der deutschen Verwaltung und den deutschen
Organisationen in Polen erwuchsen neue Pflichten. Über ihre
Erfüllung sprach sich anläßlich der Tagung der
Hauptverwaltung des Deutschen Vereins am 2. Oktober 1918 der
Vorsitzende des Vereins in seinem Bericht aus:
"Die Vereinsarbeit im letzten
Halbjahr stand unter dem Zeichen der
Rückwandererfürsorge; sie nahm zeitweise alle unsere
Kräfte in Anspruch, galt es doch, beratend, aufklärend und
helfend überall dort einzuspringen, wo Verzagtheit und Ratlosigkeit
unter den Rückwanderern um sich griffen, die in großen Massen
zurückkamen und die Verhältnisse in der Heimat so ganz
anders fanden, als sie sich vorstellten. Noch vor einem Jahre dachten wir mit
großer Sorge an die Zukunft der im ersten Kriegsjahre von den Russen
verschleppten einheimischen Deutschen, und die Fragen: wie wird's sein,
wenn sie einst wiederkommen und wie werden sich die zum Teil recht
verwickelten Pacht- und Nutzungsverhältnisse entwirren lassen?
bewegten das Gemüt aller derjenigen, die über die Sorge um die
Erhaltung des eigenen Lebens der ins Elend geratenen Stammesgenossen
nicht vergaßen. Der Deutsche Verein, als berufener Sachwalter aller
Deutschen in Polen, unternahm Schritte zur Sicherung des deutschen
Besitztums. Glaubten doch vielfach die polnischen Pächter der durch
die Verschleppung herrenlos gewordenen Grundstücke durch ihre
jahrelange Inbesitznahme sich das Recht auf die Höfe zu ersitzen.
Gleichzeitig dachte man an die Fürsorgetätigkeit für die
zu erwartenden Rückwanderer. Freilich mußte man sich damals
sagen, daß im Hinblick auf den Umfang der Anforderungen auch die
großzügigste Privatfürsorge nicht den zehnten Teil des
Verlangten wird aufbringen können. Nicht
Zehntausende - zehn Millionen wären erforderlich gewesen,
um die Heimkehrenden die erste Zeit über Wasser halten zu
können und ihnen bei der Wiedereinrichtung zu helfen. In den
Frühjahrsmonaten kamen die ersten Partien unserer
Rückwanderer an, die zunächst in die
Rückwandererlager geleitet wurden. Der Vereinsvorsitzende besuchte
sie im Rückwandererlager Modlin und die Heimgekehrten in den
benachbarten Kolonien. Es zeigte sich, daß die meisten von ihnen es als
selbstverständlich betrachteten, in der Heimat zu bleiben und sich
durch ihrer Hände Fleiß wieder emporzuarbeiten. Aber als sie
und die nach ihnen Heimgekehrten der Trostlosigkeit ihrer fast
aussichtslosen Lage in den vernichteten Ansiedlungen unterliegen wollten, da
mußte frisch zugegriffen und die Entmutigten ermuntert werden. Die
Reisesekretäre des Deutschen Vereins bereisten die
Rückwandereransiedlungen, um Rat und Trost zu spenden,
Wünsche zu hören und das Gefühl des Verlassenseins
nicht aufkommen zu lassen. Im Amtsblatt des Kreises Sokolow wird das
Rückwandererelend mit knappen Worten geschildert: [142] »Jetzt sind
die Deutschen in Not und Armut nach den Leiden einer dreijährigen
Gefangenschaft zurückgekehrt. Ihre Bauernstellen finden sie zwar
wieder, aber in welchem Zustande? Kriegsschäden,
Diebeshände, Wettereinfluß haben umfangreiche
Zerstörungen der Gebäude bewirkt. Die Felder sind in vielen
Fällen gering oder gar nicht bestellt. Die Stuben sind leer, die Fenster
zerschlagen oder gestohlen, die Türen verschwunden, oft ist weder
Bett noch Tisch noch Stuhl, weder Topf noch Löffel noch Herd
vorhanden. Schrank und Truhen und Geräte fehlen.« Die
deutsche Verwaltung tat ihr Möglichstes, um zu helfen, aber bei der
Größe der Not erwies sich alle Hilfstätigkeit wie ein
Tropfen auf einem heißen Stein. Dabei gab es ein ganzes Knäuel
von Fragen hinsichtlich der Nutzungs- und Eigentumsansprüche an
Land, Vieh und Einrichtungsgegenständen. Es wurde den Beteiligten
immer mehr klar, daß ohne eine großgedachte und einheitliche
geregelte Fürsorgetätigkeit das Rückwandererelend sich
ins Riesengroße ausdehnen müßte. - Da erwuchs
der Hauptleitung des Deutschen Vereins die Pflicht, aus ihrer Kenntnis der
Sachlage heraus höheren Ortes wegen Abhilfe vorstellig zu werden.
Der Vereinsvorsitzende bat um eine Audienz bei Generalgouverneur
v. Beseler, in der er die verschiedenen Klagen und Wünsche
aus Rückwandererkreisen wiederholte. Auf Veranlassung des
Generalgouverneurs wurde das persönlich Vorgetragene in eine
Denkschrift zusammengefaßt, die in die Bitte ausklang, die
Wiedereinwurzelung der deutschen Rückwanderer zu
ermöglichen und ihnen gegenüber nicht nur Wohlwollen
sondern auch Nachsicht zu üben, da sie seit fast vier Jahren aus der
geraden Linie ihrer geistigen und wirtschaftlichen Entwicklung
hinausgeschleudert worden seien. - In der bald darauf in Warschau
stattgefundenen Beratung der leitenden Herren der
Militär- und Zivilverwaltungen hat die
Rückwandererfürsorge frische Impulse erhalten. Der
Generalgouverneur legte den ihm Nachgeordneten Hilfsbereitschaft
für die Heimgekehrten ans Herz. Er selbst besuchte wiederholt
deutsche Rückwandereransiedlungen, um sich vom Fortgang des
Wiederaufbaues der zerstörten Ansiedlungen zu überzeugen.
Er hörte die Wünsche der Leute an und sagte ihnen
tröstende und aufmunternde Worte. Alle
Verwaltungsmaßnahmen in Sachen der Fürsorge, die
Überlassung militärischer Kolonnen für den
Wiederaufbau und die Ackerbestellung, die Hergabe von Vieh und Pferden
und zuletzt noch die Erweiterung der Arbeit der »Fürsorgestelle
für deutschen Grundbesitz« bezeugen das überaus warme
Interesse des Generalgouverneurs an dem Wohlergehen der
hartgeprüften Ansiedler. Ein dauerndes Denkmal in den Herzen aller
Deutschen in Polen hat er sich durch seine letzte Willenkundgebung
anläßlich der Feier des dreijährigen Bestehens des
Generalgouvernements Warschau gestellt; er führte aus:
»Tausende und Abertausende Volksverwandte von uns,
deutschstämmige Vertriebene kehren zurück, die in der
brutalsten Weise von Haus und Hof verjagt worden waren. Ein großer
Prozentsatz findet weiter nichts als eine elende Brandstätte und einen
verwüsteten und verunkrauteten Acker vor, dort, wo einst ein
schön gepflegtes Bauerngut stand. Daß es unsere Pflicht [ist],
unser Augenmerk auch auf diese Dinge zu lenken, versteht sich von selbst,
und wir werden dabei auch die polnischen Rückwanderer nicht
vergessen.«
Weniger hoffnungsvoll war die Lage der
Rückwanderer [143] im
österreichischen Okkupationsgebiet. Die Bemühungen von
Lodz aus für die deutschen Stammesgenossen im Lublinschen und
Cholmschen erzielten nicht den gewünschten Erfolg. Die
Rückwanderer fanden ihre Wirtschaften von Polen besetzt, die keine
Anstalten machten, zu weichen. Auch die Amtsstellen zeigten sich
gegenüber den Bitten und Klagen der Rückwanderer
teilnahmslos. Bitten einzelne oder Gruppen um Unterstützung zur
Wiedererlangung ihrer Wirtschaften, so werden sie vielfach angefahren:
»Wer hat euch hergerufen? Ihr hättet in Rußland
bleiben können!« Die polnischen Bauern betrachten sich heute
schon als Dauerbesitzer der deutschen Wirtschaften; sie werden durch das
Verhalten der amtlichen Stellen in dieser Annahme bestärkt. Die
durch die dreijährige Leidenszeit und den mehr als kühlen
Empfang eingeschüchterten Deutschen stehen
zag- und ratlos da. Der »Fürsorgeverein für deutsche
Rückwanderer« richtete in Cholm eine Zweigstelle der
Rückwandererfürsorge für das besetzte Ostgebiet ein, die
den Heimkehrenden beratend zur Seite stand. Das k. u. k.
Kreiskommando in Cholm befahl, die Zweigstelle zu schließen, da
angeblich nicht nachgewiesen werden konnte, daß die
Rückwandererfürsorge notwendig sei. Ein ukrainischer
Regierungskommissar, der in dem umstrittenen Cholmgebiet Fühlung
zu der deutschen Bevölkerung suchte, wobei er, als er die
Rückwanderernot sah, Lebensmitteltransporte aus Wolhynien in
Aussicht stellte, wurde verhaftet und ausgewiesen. Eine Abordnung der
deutschen Rückwanderer unter Führung des Pastors Loppe in
Cholm wandte sich mit Klagen und Bitten an den nach Cholm gekommenen
Militär-Generalgouverneur von Lublin Liposcak. Er stellte Hilfe in
Aussicht und ersuchte um schriftliche Formulierung der Forderungen. Das
ist ein einer Denkschrift geschehen. Leider hat es die österreichische
Verwaltung bei dem guten Willen gelassen."
Verpflanzung des
landwirtschaftlichen
Genossenschaftswesens
nach Polen |
Es war gut, daß die Deutschen Spar- und
Darlehns-(Raiffeisen)-Kassen, mit deren Gründung
bereits im Sommer 1917 begonnen worden war, eine ruhige Entwicklung
genommen hatten, als die Rückwandererzüge eintrafen. Der
neue "Verband der Deutschen Genossenschaften in Polen" und die von ihm
ins Leben gerufene "Deutsche Genossenschaftsbank" konnten überall
tatkräftig eingreifen und zahlreichen Rückwandererkassen
beträchtliche Darlehen gewähren. Nach dem anfänglichen
Mißtrauen stellte sich überall Interesse ein. Der Segen der neuen
Einrichtung machte sich fühlbar. Die in den Rechnerkursen
ausgebildeten Geschäftsführer der einzelnen Kassen sorgten
für Aufklärung. Bis Ende 1918 waren über 200
Genossenschaften entstanden. Die Deutsche Genossenschaftsbank, die ebenso
wie der Deutsche Genossenschaftsverband sich die praktischen Erfahrungen
des "Verbandes deutscher Genossenschaften in der Provinz Posen" nutzbar
machen konnte, erhöhte bereits im Oktober 1918 ihr Aktienkapital
von 1 Million auf 2 Millionen Mark.
Anfang Oktober 1918 konnten in Lodz eine Reihe deutscher
Tagungen stattfinden, zu denen Vertreter aus dem ganzen Lande
gekommen waren. Um die 5. Hauptversammlung des Deutschen Vereins
gruppierten sich die Hauptversammlungen des
Deutsch-Evangelischen Landeschulverbandes, der landwirtschaftlichen
Bezugs- und Absatzgesellschaft und der Deutschen Genossenschaftsbank.
Der Deutsche Verein [144] sandte ein
Begrüßungstelegramm an den Polnischen
Regentschaftsrat: "Die in Lodz tagenden Vertreter der
Verwaltungskörperschaften aller Ortsgruppen des 25 000
Mitglieder zählenden Deutschen Vereins bitten, ihren ehrerbietigen
Gruß und den Ausdruck loyaler Gefühle für den
polnischen Staat entgegenzunehmen. Indem sie ihre nationale Eigenart
pflegen, sind sie sich bewußt, durch schöpferische Arbeit auf
kulturellem und wirtschaftlichem Gebiet am besten dem Lande zu dienen, als
dessen treue Bürger sie sich fühlen." Vom Regentschaftsrat lief
folgende Antwort ein: "Auf Veranlassung des Durchlauchigsten
Regentschaftsrates übermittelt das Zivilkabinett dem Deutschen
Verein den Dank für die ausgedrückten Gefühle loyaler
Anhänglichkeit zum Lande und zum polnischen Staate. Polens
Bürger aller Nationalitäten finden immer in dem
seiner Toleranzüberlieferungen getreuen Polen die
Verteidigung und Berücksichtigung ihrer Rechte.
Generalsekretär Prälat Chelmicki." Generalgouverneur
v. Beseler erhielt auf drahtlichem Wege den Dank für seine
Bemühungen zur Sicherung der Deutschen in Polen und Rettung der
Rückwanderer. Gleichzeitig wurde er zum Ehrenmitglied des
Deutschen Vereins ernannt. - Aus den Berichten der Mitarbeiter ging
hervor, daß die Ortsgruppengründungen in den
Rückwandereransiedlungen südöstlich von Warschau,
die sich vor dem Kriege der deutschen Rede entwöhnten,
einprägsame Erlebnisse waren. Alle Männer und Frauen
betrachteten es als Ehrensache, sich dem Verein anzuschließen; sie
ermunterten sich gegenseitig in polnischer Sprache zum Eintritt. Die
Erfahrungen der russischen Verbannung hatten ihnen ihr Deutschtum
wieder eingehämmert und sie wünschten nichts sehnlicher, als
daß ihnen und ihren Kindern durch die deutsche Schule der Gebrauch
der Sprache ihrer Voreltern wieder geläufig werde. Für sie war
die Ankunft nicht nur die Rückkehr in die Heimat, sondern auch die
Heimkehr zu dem angestammten Volkstum.
In der Hauptversammlung des Deutsch-evangelischen
Landesschulverbandes konnte über das Gedeihen des
weitverzweigten Unternehmens berichtet werden. Über 450
Schulgemeinden auf dem Lande hatten sich dem Verband angeschlossen. Der
Voranschlag ihres Haushaltsplanes schloß mit 1 075 000
Mark in Einnahmen und Ausgaben ab. Ihre wirtschaftliche Grundlage war
sicher genug, um eine Besoldungsreform der Lehrer, für die
über 100 000 Mark angefordert wurden, durchführen zu
können. Auch die Regelung der Ruhegehälterfrage konnte in
Angriff genommen und zur Einführung einer Pensionskasse
200 000 Mark bestimmt werden. Das besondere Augenmerk der
Verwaltung des Schulverbandes richtete sich auf die Einrichtung von
Schulen in den Rückwandererkolonien.
Die
"Deutsche Woche" in Lodz |
Im Rahmen der deutschen Tagungen, bekannt als
Deutsche Woche, fanden noch weitere Veranstaltungen statt.
Chefredakteur Gollnick hielt in der Aula des deutschen Gymnasiums einen
Vortrag über das "Auslandsdeutschtum nach dem Kriege". Im
Mittelpunkt eines Familienabends des Deutschen Vereins stand ein Vortrag
des Pfarrers Luthardt über die "geistigen Triebkräfte der
deutschen Arbeit in Polen". Während der Generalversammlung der
Deutschen Genossenschaftsbank sprach Dr. Leo Wegener aus Posen
über Erfahrungen im Genossenschaftswesen in [145] der Provinz Posen.
Im deutschen Theater fand eine Festvorstellung statt. Den Tagungen folgten
Rechnerkurse für die Geschäftsführer der
Spar- und Darlehnskassen.
Erklärung der deutschen
Regierung
hinsichtlich der Sicherung
der deutschen kulturellen
Schöpfungen in Polen |
Die Teilnehmer an den deutschen Tagungen, die
gekommen waren, um sich über den Fortgang der deutschen
Unternehmen zu unterrichten und über ihre fernere Entwicklung zu
beraten, nahmen den Eindruck mit, daß das Deutschtum in Polen
einer gesicherten Zukunft entgegengehe. Kurz vorher hatte der
deutsche Staatssekretär des Auswärtigen,
v. Hintze, im Hauptausschusse des Deutschen Reichstags
erklärt, daß die deutsche Regierung im Einvernehmen mit der
polnischen Regierung dafür eintreten wolle, daß alle
Schöpfungen, die während der Okkupationszeit entstanden
waren, dauernden Bestand haben sollten. Damit war die Sorge vieler,
daß alle blühenden deutschen Unternehmungen nach dem
Weggang der deutschen Verwaltung unterdrückt werden
würden, behoben.
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