Im Kriege
Schon während des Balkankrieges [Scriptorium merkt an: 1912-1913] schien ein Waffengang
Rußlands mit Deutschland nahegerückt zu sein. Auf einem
Unterhaltungsabend einer der deutschen Vereinigungen in Lodz hatten
ältere russische Offiziere, die nach altem Herkommen dazu eingeladen
waren, sich im vertraulichen Kreise darüber geäußert,
daß es doch noch, wenn [103] nicht jetzt, dann später zu einem
Der
bevorstehende Waffengang |
Kampfe der beiden befreundeten Mächte kommen werde; im
russischen Heere sei das Verlangen groß, sich mit seinem Lehrmeister,
dem deutschen Militär, zu messen. Auch sonst waren den Denkenden
manche Tatsachen bekanntgeworden, die nur als Sturmzeichen aufzufassen
waren. So hatte die alte Feindin der Deutschen in Rußland, die
Petersburger Nowoje Wremja, ohne äußeren
Anlaß die alten Verleumdungen des Grafen Bobrinski wieder
aufgewärmt und in einem ihrer üblichen Hetzartikel behauptet,
daß die Lodzer Deutschen sich bereits auf den kommenden Krieg
rüsteten, sich in ihren Vereinen militärisch organisierten, mit
dem deutschen Generalstab in Verbindung ständen und von ihm den
Auftrag hätten, der kämpfenden russischen Armee in den
Rücken zu fallen und seine Sabotagepläne auszuführen.
Viel erörtert wurden auch die geheimen Abmachungen
anläßlich der letzten russischen Vorkriegsanleihe, nach welchen
Frankreich es seinem Bundesgenossen zur Pflicht machte, das strategische
Bahnnetz im Westen weiter auszubauen und ein gutes Verhältnis zu
den eigenen Polen herzustellen, damit im künftigen Kriege die
russischen Polen ihre galizischen und posenschen Volksgenossen zugunsten
der französisch-russischen Pläne beeinflußten.
Industriesorgen
und Hochkonjunktur |
Aber der bewölkte politische Himmel wurde
dem Gesichtskreis der in der Industrie verwurzelten deutschen
Städter entrückt, als in den Monaten vor dem Kriege die
Textilindustrie in Polen große Aufträge für das
Reich erhielt und alle rasch erfolgten Betriebsvergrößerungen
nicht genügten, um die Bestellungen ausführen zu
können. Noch im Vorjahr hatten die Fabrikbesitzer in Lodz und
seinen Nachbarstädten kritische Zeiten durchlebt. Die Arbeiter waren
mit hohen Lohnforderungen gekommen, deren Bewilligung im Hinblick auf
den Wettbewerb der Moskauer Fabriken unmöglich war. Moskau
hatte nicht nur billigere Arbeitskräfte, sondern lag auch dem
Ursprungsgebiet der russischen Baumwolle nahe und entnahm die von der
Industrie beanspruchten großen Wassermengen den Flüssen,
während Lodz sein Wasser sich durch riesige und kostspielige
Pumpwerke beschaffen mußte und bedeutend höhere
Frachtauslagen bei der Heranführung von Rohmaterialien hatte.
Während des längeren Ausstandes hatten die Moskauer
Fabriken vielfach ihren Lodzer geschäftlichen Gegnern die Abnehmer
im Innern des Reiches abgejagt. Nachdem eine Einigung mit den Lodzer
Arbeitern erzielt worden war, stellte sich im Reiche eine der vielen
"Pleiteepidemien" ein, die als Krebsschäden an der Lodzer Industrie
zehrten und bei dem beanspruchten langen Warenkredit in der Provinz alle
Jahresbilanzen der Lodzer Unternehmungen schwankend machten. Es gab
Fabrikbesitzer, die sonst nicht zu den Schwarzsehern gehörten,
diesmal aber, angesichts der dauernden Fehlschläge, zu denen noch
das Abspenstigmachen bewährter technischer Mitarbeiter durch die
Moskauer Unternehmer kam, die Flügel hängen ließen
und den Ruin der alten Lodzer Industrie schon greifbar nahe sahen.
Nun schien für das Lodzer Unternehmertum abermals goldene Zeiten
angebrochen zu sein. Die russische Intendantur vervollständigte ihre
Vorräte, zahlreiche Lieferanten holten sich große
Aufträge, die sie, mit Rücksicht auf die vorgeschriebenen
kurzen Lieferfristen, an die betriebsfähigen Fabriken weitergaben,
wobei auch erhöhte Preise gern gezahlt [104] wurden, wenn nur die Ausführung
in möglichst kurzer Zeit erfolgen konnte.
Ruckweise griff jetzt das große Geschehen in die Entwicklung der
Lodzer Industrie und in das Leben der deutschen Volksgemeinschaft in
Polen ein. Anfangs schien es noch allen unglaublich, daß den
äußeren kriegerischen Gebärden, die die diplomatischen
Noten und die Zeitungsaufsätze begleiteten, blutige Kämpfe
folgen könnten. Als dennoch der Krieg erklärt wurde, da hoffte
man immer noch auf ein nicht zu bestimmendes Etwas, das den auf
Todesringen gerüsteten Schwertträgern in den Arm fallen
würde. Wenige Tage nach dem Kriegsausbruch wurde die Nachricht
vom Tode Kaiser Franz Josefs verbreitet und daran die Erwartung
geknüpft, daß in der Struktur der Donaumonarchie sich
große Änderungen vollziehen würden, die eine
Verständigung unter den in den Krieg gezogenen Völkern
ermöglichen könnten.
Zurückziehen des
russischen Militärs
und Vorfühlen der
deutschen Streitkräfte |
Das allmähliche Zurückziehen der russischen Streitkräfte
und das zögernde Vorfühlen deutscher dünner Linien im
westlichen Polen schienen denjenigen rechtzugeben, die immer noch mit
einer Verständigung rechneten, weil das Verhalten beider Armeen die
Schlußfolgerung erlaubte, daß sie einer ernsten
Waffenentscheidung auswichen. Von dem grausigen Ringen in
Ostpreußen kamen erst nach Monaten Nachrichten, die die ganze
Wahrheit enthüllten. Deutsche Bürger in Lodz
äußerten sich zu einem russischen Polizeibeamten, daß es
den Eindruck erwecke, als ob Verhandlungen zwischen den Hohenzollern
und den Romanows schwebten, die einen unblutigen Ausgang der
Verwicklungen herbeiführen sollten. "Dann erschlagen wir
Nikolaus II. und führen den Krieg ohne ihn weiter!" erwiderte
der altrussische Haudegen, dem schon vor Kriegsbeginn Weisungen
über den Abbau der langjährigen guten Beziehungen zwischen
der russischen Beamtenschaft und dem deutschen Bürgertum
zugegangen waren, die nun, in der ersten Kriegszeit, in verschärfter
Form wiederholt wurden.
Deutsche
Einschläge
im russischen
Kriegswesen |
Nach langer Zeit zum erstenmal wieder sah man in
den ersten Kriegstagen an den Straßenecken der Industriestädte
dreisprachige offizielle Bekanntmachungen.
Militär- und Zivilbehörden bedienten sich neben der russischen
auch der polnischen und deutschen Sprache. Der oberflächliche
Beobachter konnte glauben, daß sich in dem Verhalten des offiziellen
Rußlands zu den Deutschen in Polen nichts geändert habe.
Außer polnischen und jüdischen belebten auch deutsche
Reservisten die Straßen der Städte und die Bahnhöfe.
Man fand nichts Anstößiges daran, daß die Mannschaften
einer russischen Batterie, die sich aus deutschen Lodzer Arbeitern
zusammensetzte, bei ihrem Durchzug durch Lodz nach dem
ostpreußischen Kriegsschauplatz sich mit Vorübergehenden laut
in deutscher Sprache unterhielten.
Es war öffentliches Geheimnis, daß die russische Oberste
Heeresleitung bei einem Kriege mit Deutschland die westlichen Teile Polens
dem Feinde preisgeben würde. Zwei Tage vor der
Kriegserklärung begann bereits die russische Beamtenschaft die zum
"Operationsgebiet" erklärten Landesteile zu verlassen. Allgemein
glaubte man, daß Lodz bereits Anfang August deutsche Besatzung
haben würde. Nicht nur in deutschen, auch in polnischen Kreisen
äußerte man sich vorbehaltlos über eine bevorstehende
Angliederung Polens an Deutschland; der beschleunigte Abzug [105] der Zivilbehörden und des russischen
Militärs schien diese Annahmen zu bestätigen. Erst als Ende
August die inzwischen bis über Lodz hinaus vorgedrungenen
dünnen deutschen Linien vor den in Bewegung gesetzten großen
russischen Reitermassen zurückwichen und der Erlaß des Großfürsten Nikolai Nikolajewitsch bekannt
wurde, wonach Polens Träume nach Wiederherstellung eines eigenen
Reiches und Vereinigung der drei Teilgebiete in Erfüllung gehen
sollte, begann eine andere Auffassung der Verhältnisse, die befestigte
"russische Orientierung", Platz zu greifen. Nährstoff erhielt sie aus
den Greuelnachrichten, die über die Kalischer Ereignisse in das Land
getragen wurden, und den bei den Polen stets vorhanden gewesenen
Deutschenhaß entflammten.
Zurückgebliebene russische Späher hatten über das
Verhalten der bodenständigen deutschen Bevölkerung
während des deutschen Vormarsches fleißig Buch
geführt. Zu ihnen kamen Scharen von freiwilligen Angebern, die jedes
den deutschen Truppen bei ihrem Durchmarsch gegönnte freundliche
Wort, jede Auskunft und jede gastliche Aufnahme zu todeswürdigen
Verbrechen hinzustellen bemüht waren. Da bereits in den ersten
Augusttagen Tausende von Reichsdeutschen aus Lodz und Umgebung nach
Sibirien ausgewiesen wurden, so mußten die einheimischen Deutschen
die ganze Last der verletzenden Anschuldigungen tragen. Man griff auf alte
Märchen von vorbereiteten deutschen Fahnen und Backen von
Festkuchen zum Empfang der deutschen Soldaten zurück. In Lodz
wurden zahlreiche angesehene deutsche Bürger verhaftet. In
Pabianice bei Lodz belegte der deutschnamige russische Reitergeneral
Hillenschmidt die deutsche und jüdische Bürgerschaft der Stadt
mit einer hohen Strafzahlung wegen der "überaus gastfreundlichen
Aufnahme des Feindes" und ließ bevorzugte Mitglieder der deutschen
und jüdischen Gesellschaft festnehmen. Den Führern der
freiwilligen Feuerwehr, die an Stelle der geflüchteten Polizei den
Ordnungsdienst versah, machte er Vorwürfe, daß sie dem
deutschen Armeekorps den Eintritt in die Stadt nicht verwehrt habe. "Mit
euren Äxten hättet ihr sie angreifen müssen!" erwiderte er
auf die entschuldigenden Ausführungen des
Feuerwehrkommandanten. Die deutschen Bewohner der anderen
Nachbarstadt Zgierz wurden auf Grund der Angaben polnischer Nachbarn
des Einverständnisses mit dem Feinde beschuldigt und acht
führende Persönlichkeiten monatelang von Gefängnis zu
Gefängnis geschleppt und endlich nach Sibirien verbannt.
Der
Augenblick
der Vernichtung
des Deutschtums
in Polen |
Aber nicht nur in den Städten war die
deutsche Bevölkerung jeder Willkür preisgegeben, auch die
deutschen Ansiedler, die schon seit jeher als Vortrupp des deutschen Heeres
galten, waren den denkbar größten Unannehmlichkeiten
ausgesetzt. Zu den ersten Kriegsopfern gehörten die in der
Nähe der Festung Nowogeorgiewsk (Modlin) wohnenden Kolonisten.
Am 13. August kam der Befehl, daß sie ihre Heimstätten
verlassen müßten. Polnische Festungsarbeiter setzten sich in den
kostenlosen Besitz des Ererbten und Erworbenen. Die alten
Spionagemärchen tauchten wieder auf. Mit zynischer Offenheit
äußerten sich die Verleumder, daß nun der
Augenblick der Abrechnung und der Vernichtung des Deutschtums in
Polen gekommen sei.
Polonisierte evangelische Pfarrer und russophile Deutsche halfen der [106] polnischen Presse und den Leitern der
polnischen öffentlichen Meinung in ihrem Verleumdungsfeldzuge.
Von den Kanzeln evangelischer Gottesdiensthäuser zog man in
deutscher Sprache gegen "deutsche Unkultur" und "deutsche Gottlosigkeit"
los und pries die Gerechtigkeit der von den russischen Waffen vertretenen
Sache. Damals erweiterte sich der ohnehin schon vorhandene Gegensatz
zwischen dem Empfinden der deutsch-evangelischen Gemeinden und dem
ihrer Führer. Mancher Pfarrer, der von hartbedrängten
Gemeindemitgliedern um Zeugenschaft für die politische
Unbescholtenheit ihrer infolge polnischer Angebereien verhafteten
Angehörigen gebeten wurde und aus Furcht sein Zeugnis versagte, hat
den Rest der noch vorhanden gewesenen Achtung eingebüßt.
Nach dem Frontwechsel stellten sich auch die Reisenden ein, die in deutschen
Kurorten oder auf der Reise vom Kriege überrascht wurden und als
"Russen" in der ersten Zeit der Spionenjägerei in Deutschland
manche Unbill zu erdulden hatten. Verbittert sannen sie ihrem eigenen
kleinen Schicksal nach. Deutschlands große Tage waren an ihnen
spurlos vorübergegangen. Und fast gleichzeitig mit ihnen kamen die
Ententenachrichten
über deutsche Greueltaten in Belgien und
ausführliche Berichte über die Ereignisse in Kalisch. Von
Leuten, die mit dabei gewesen zu sein oder sichere Kunde zu haben
behaupteten, wurde immer wieder versichert, daß nicht einheimische
Freischärler, sondern die Nervosität der deutschen Truppen
und ihrer Führer schuld an der Vernichtung der Stadt sei. Deutsche
Patrouillen hätten sich gegenseitig beschossen, und es sei daraus
böswilligerweise ein Angriff der einheimischen Bevölkerung auf
das Militär gemacht worden. Die Plötzlichkeit der sich in
gehäufter Menge einstellenden Mitteilungen, die das deutsche Leben
und Streben in der Heimat und an den Fronten in ungünstiger
Beleuchtung und mit düsterster Umrahmung zeigten, brachte es mit
sich, daß auch solche Deutsche in Polen, die noch zu Beginn des
Völkerringens stolz auf ihre Kulturgemeinschaft mit dem Stammlande
waren, nur schwer die Grenzen zwischen Wirklichkeit, Umdichtung und
Erfindung ermitteln konnten. Die polnische Bevölkerung, durch die
Verheißungen der russischen Heeresleitung und die ihnen in der Presse
der Entente zuteil gewordenen Besprechungen aus dem ohnehin nur
lockeren seelischen Gleichgewicht gerissen, befand sich im Fiebertaumel. Die
Kalischer Geschehnisse gaben Anlaß, die Bedeutung des schon in
früheren Zeiten mit einem hämischen Unterton in das polnische
Sprachgut aufgenommenen deutschen Wortes "Kulturträger" in ihr
Gegenteil umzukehren. Der Hinweis auf deutsche Manneszucht war ein
Wagnis, das seine Urheber der gesellschaftlichen Verfemung preisgab. Die
beiden deutschgeschriebenen Zeitungen in Lodz aber beschränkten
sich darauf, in üppiger Fülle die Lügennachrichten der
von London und Paris gespeisten Petersburger Telegraphenagentur zu
bringen. Ab und zu wurde ein von niedrigen Ausfällen gegen
Deutschlands leitende Männer strotzender Aufsatz des in englischem
Solde stehenden "deutschen" St. Petersburger Herold oder die
Übertragung giftgeschwollener Ausführungen polnischer
Blätter abgedruckt.
Nach dem ersten deutschen Rückzug im August hatten die russischen
Behörden sich wieder eingestellt und begonnen, ihren Obliegenheiten
nachzukommen. Als schon nach wenigen Wochen die wechselnde Frontlage
[107] ihren abermaligen
beschleunigten Abzug forderte, erschienen in den Städten die
Bürgermilizen in neuem Bestande. Die früheren unangenehmen
Erfahrungen veranlaßten viele Deutsche, es sich zum Grundsatz zu
machen, in Zukunft in keiner Weise mehr in der Öffentlichkeit
hervorzutreten. Um nicht aufs neue Unannehmlichkeiten ausgesetzt zu sein,
zogen es zahlreiche deutsche Fabrikbesitzer und Bürger vor, hinter
der russischen Front zu bleiben und noch vor dem Abzug der Russen nach
Warschau und weiter nach Innerrußland zu reisen. Nach
dreiwöchigem Weilen verließen Ende Oktober 1914 die
deutschen Truppen Lodz, als Hindenburg
seine vor den Toren Warschaus
fechtenden Truppen den bekannten "strategischen Rückzug" antreten
ließ. Wieder wurden die als Vorhut anrückenden Kosaken in
Lodz und in den Nachbarstädten feierlich empfangen, auch von
solchen schwachen Deutschen, denen die Betonung ihrer russischen
Staatstreue doppelt notwendig erschien. Wiederum setzte sich eine
Angeberarmee als freiwillige Mithelfer der russischen Feldpolizei in
Bewegung, und abermals wurden zahlreiche Deutsche des Hochverrats
bezichtigt.
Die
Deutschen in Polen
als vermeintliche Urheber
der Fehlschläge
der russischen Armee |
Seitdem sind die gegen die Deutschen in Polen
erhobenen Anschuldigungen nicht mehr verstummt. Die
Mißerfolge der russischen Waffen während des Feldzuges in
Polen wurden dem angeblichen Spionagedienste der deutschen Bewohner des
Landes zugeschrieben. Viele Deutsche aus Stadt und Land sind infolge
solcher unsinnigen Behauptungen gehängt oder standrechtlich
erschossen worden. Deutsch oder Evangelisch war gleichbedeutend mit
rechtlos sein. In ihrer blinden Wut hätte die aufgehetzte russische
Soldateska am liebsten alle Deutschen ausgerottet.
Die
Kriegsleiden
der deutschen Ansiedler |
Als die Russen am 6. Dezember 1914 Lodz zum dritten Male verließen,
schleppten sie eine Anzahl Deutscher aus allen Ständen mit. Deutsche
Kolonien in der Nähe von Lodz wurden von den Russen
angezündet. Die alte schwäbische Ansiedlung
Königsbach bei Lodz wurde am 8. Dezember niedergebrannt.
In einer anschaulichen Schilderung ihrer Zerstörung wird von dem
Schreckenstag folgendes Bild entworfen:
"So flammte eine Wirtschaft
nach der anderen auf. Auch an dem alten Schul- und Bethaus gingen die
Mordbrenner nicht vorüber; es wurde mit den übrigen
Häusern der Ansiedlung eingeäschert. Nur
Geringfügigkeiten durften die Familien aus ihren Wohnungen retten.
Ihnen wurde bedeutet, daß sie sich unverzüglich nach der nahen
Eisenbahnstation Koluschki begeben sollten. Von dem grauenvollen
Nachtbilde erstarrt, konnten die Königsbacher es immer noch nicht
fassen, daß der größte Teil ihres Dorfes unrettbar verloren
sei. Während einzelne Familien sich, den Weisungen des
Militärs entsprechend, auf den Weg nach Koluschki machten, verblieb
der größte Teil der Abgebrannten bei den letzten Häusern
des Unterdorfes, um den Abzug der Russen abzuwarten und von ihrer
gewesenen Habe das etwa noch Erhaltene zu retten. Bei den letzten
Durchzügen der russischen Kolonne waren fast sämtliche
Pferde zu Vorspanndiensten genommen worden. So kam es, daß die
Frauen und Kinder, die ihre brennenden Häuser verlassen
mußten, nicht einmal Fahrgelegenheit für die
zusammengerafften Kleidungsstücke und Betten fanden. Noch vor
Tagesanbruch hatten deutsche Vortruppen vom Oberdorf Besitz ergriffen.
Vorsichtig fühlten sie vor. Vom Grünberger Walde aus, wo die
[108] Russen neue
Stellungen bezogen hatten, wurden sie von einem Kugelregen
überschüttet. Das russische Feuer blieb von deutscher Seite
nicht unbeantwortet. So gerieten die flüchtenden Königsbacher
ins Kreuzfeuer. Alles suchte sich zu retten; in der Sorge um das nackte
Leben verzichtete man gerne auf die bis dahin geretteten Habseligkeiten."1
Je weiter die Russen zurückgedrängt
wurden, je schlimmer es mit ihnen wurde, um so barbarischer verfuhren sie
mit der deutschen Einwohnerschaft des Landes. Ein im russischen Heer
stehender Kolonistensohn aus einem deutschen Weichseldorf wurde Anfang
1915 beurlaubt. Er kommt ins heimatliche Dorf und findet die Einwohner
beim eiligen Aufbruch, sie sollen "evakuiert" werden. Über die
erhaltenen Eindrücke berichtet er in einem Briefe aus dem
Kriegsgefangenenlager:
"Ich bekam Urlaub auf sechs
Monate nach Hause, da war meine Freude groß und mein Wunsch
erfüllt, daß ich doch wieder los kam. Als ich nun nach Hause
kam, da war nichts zu lachen, die lieben Eltern und alle Kolonisten sollten
ins Innere des Reiches fort, und wir mußten zusehen, wie alles
geplündert wurde, was Jahre hindurch mit Mühe und
Fleiß erspart wurde, und es wurde aus einem blühenden Dorfe
bald eine Wildnis, und das Gotteshaus und unsere deutsche Schule wurden
geschändet, im Betsaal wurde gespielt und getanzt und die Glocken
wurden geläutet. Wir kamen bis auf den Bahnhof Warschau, da war
es überfüllt mit Kolonisten, wochenlang mußten sie liegen,
hunderte Kinder kamen um, bis es auf die Bahn ging, Winter war es und da
bekamen sie ungeheizte Wagen. Meine lieben Eltern waren schwer krank
und konnten unmöglich fahren, da war nichts übrig, als zu
riskieren in Warschau zu bleiben. So haben wir uns verhalten bis doch
endlich die Stunde kam und mit Gottes Hilfe unsere deutschen Brüder
kamen und uns befreiten, da konnten die Eltern wieder zurück aufs
Land, wo alles von den Russen zerstört und vernichtet war."2
Daß es den Russen nicht mehr um eine Aussiedlung, sondern um
vollständige Ausrottung der Deutschen ging, erhellt ein Bericht der
russischen Reichsduma aus dem Jahre 1915. Es kam dort zur Sprache,
daß von den ausgetriebenen Deutschen, die im Winter 1914/15 in
ungeheizten Waggons verschickt wurden, die Hälfte der Kinder und
etwa 15% der Erwachsenen unterwegs starben.
Einzelschilderungen ließen sich wiederholen. Furchtbares haben ganze
Dörfer und Gemeinden erdulden müssen, die sich
vollständig auflösten. Ungemessene Werte sind verloren
gegangen. Einzelne Gemeinden beziffern ihre materiellen Verluste auf
Millionen von Mark. Über die Schicksale der
deutsch-evangelischen Gemeinde Zyrardow in der Nähe von
Warschau berichtete der früher dort tätig gewesene Pfarrer
Wosch:
"Die Gemeinde bestand aus etwa
6000 Seelen. Der größere Teil wohnte in Zyrardow und setzte
sich zusammen aus Angestellten einer von Deutschen gegründeten
Fabrik, welche etwa 8000 Arbeiter beschäftigte, der Zyrardower
Leinenmanufaktur von Hielle und Dittrich, dem damals größten
Unternehmen dieser Art in Rußland, das im ganzen Reiche seine
Zweigstellen [109] besaß und
dessen Erzeugnisse weltberühmt waren; es war auch bekannt durch
die seinen deutschen Inhabern zu verdankenden mustergültigen
Wohlfahrtseinrichtungen. Vor ihrem Abzuge im Sommer 1915 »evakuierten«
die Russen die Fabrik und sprengten ihre Gebäude. Es waren dies
Arbeiter, Meister und Fabrikbeamte. Der kleinere Teil bestand aus
Kleinbürgern, Handwerkern und Kolonisten. Heute sind im ganzen
250 Seelen geblieben, fast ausschließlich Reservistenfrauen mit ihren
Kindern, denen das Bleiben in letzter Stunde gestattet wurde. Die Leiden der
Gemeinde begannen gleich mit Beginn des Krieges. Es war dies die
Ausweisung der deutschen Untertanen, welche hier mit besonderer Strenge
durchgeführt wurde. Sie wurden als Gefangene behandelt und nach
Orenburg und Ufa verschickt. Dem Pastor gelang es, einige von ihnen zu
befreien und ihnen die Rückkehr nach Deutschland zu
ermöglichen, was ihn wohl in den Ruf einer besonderen
Deutschfreundlichkeit brachte und zum Grund seiner späteren
Ausweisung wurde. Die Aussiedlung der Gemeinde begann nach dem
Rückzug der Deutschen von Warschau im Oktober 1914. Die Evangelischen
waren rechtlos und der Willkür des Militärs preisgegeben.
Nach den Niederlagen bei Lodz und Lowitsch kam in Rußland die
Überzeugung auf, daß an denselben die starke [deutsche] Kolonisation in
Polen schuld sei. Nun wurden alle Deutschen verdächtigt und
ausgesiedelt. Erst die Haus- und Landbesitzer, dann die Arbeiter, endlich
Frauen, Greise und Kinder. In wenigen Stunden mußten sie ihre Habe
verkaufen, nur das Notwendigste konnte mitgenommen werden. Fast 3
Wochen hielten sich die Ausgewiesenen in Warschau auf, auf
Fußböden, Treppen, Fluren schlafend, während der
Pastor Anstrengungen machte, den Aussiedlungsbefehl zu mildern. Als alles
vergeblich war, wurden die Ausgewiesenen weiter nach Rußland
jenseits der Wolga geschickt, die Wahl des Ortes wurde ihnen freigestellt.
Schon in Warschau traten infolge von Hunger, Aufregung und
Zusammenpferchung Krankheiten und Todesfälle auf, die sich
später mehrten. Der Transport geschah in Leiterwagen, denen das
Anhalten innerhalb der Stationen nicht gestattet war. Nach Ankunft lagen
die meisten tagelang vor den Bahnhöfen, sie wurden vielfach von den
Ortsbehörden nicht in die Städte hineingelassen und weiter
geschickt. Aus allen Briefen drangen die traurigen Klagen von Leiden und
Sterbefällen. Selbst bemittelte Familien gerieten in die bitterste
Not."3
Viele von den Ausgewiesenen, die von polnischen Nachbarn der Spionage
beschuldigt waren, sind ohne Untersuchung und Urteil gehängt oder
erschossen worden. Andere, die in die Hände weniger gewissenloser
Unterbefehlshaber gerieten, hat man monatelang durch die
Gefängnisse geschleift, um sie endlich, da ihnen keine Schuld
nachgewiesen werden konnte, nach Sibirien zu verbannen. Wieder andere
sind spurlos verschwunden. Kein Alter und kein Stand schützte vor
dem blinden Zugreifen der Soldaten. In Lady bei Ilow wurde ein alter Greis
an Stelle seines sich versteckt haltenden Hauswirts von Kosaken
festgenommen und so fest gebunden, daß sich das Fleisch von seinem
Handgelenk löste.
Anfangs beabsichtigte man nur die Aussiedlung der Ver- [110] dächtigten. Später
sollten alle Ansiedler, die innerhalb einer Strecke von 14
Kilometern beiderseits der Eisenbahnlinien wohnten, weggeführt
werden. Dann kam der Befehl, daß alle Kolonisten deutscher
Abstammung sich in die entfernteren Teile Rußlands zu begeben
hätten, wobei die Wahl des Aufenthaltsortes ihnen freigegeben war.
Zuletzt taten die mit der Ausführung der Ausweisungsbefehle
Beauftragten noch ein übriges, indem sie nicht nur alle
Deutschstämmigen, sondern auch alle evangelischen, so
z. B. die evangelischen Litauer aus dem Gouvernement Suwalki,
zwangsweise aussiedelten, weil sie im Verdacht standen, "deutschen
Geist zu atmen."
Bei den letzten Ausweisungsbefehlen im Sommer 1915 in den Gouvernements
Lublin und Cholm mußten alle Evangelischen innerhalb 24 Stunden
ihre Heimat verlassen.
"Der erste Befehl hatte gelautet:
alle Männer von 18 - 70 Jahren haben sich nach
Rußland zu begeben. In einigen Kreisen wurden jedoch Männer
bis zu 80 Jahren und darüber fortgeschickt. Nach mehreren Wochen
wurden auch die allein zurückgebliebenen Frauen ausgewiesen. Sie
durften zu ihren Männern fahren! Allein wer vermochte ihnen zu
sagen, wo diese sich befanden! In den übrigen Gouvernements war es
ganz ähnlich zugegangen. Man denke sich nun das Suchen der Frauen
mit ihren Kindern nach den Männern und die Angst der
Männer um Frau und Kinder. Zweifellos suchen heute noch Tausende
von Gliedern solcher zerrissenen Familien nacheinander und finden einander
nicht. Die Szenen bei der Ausweisung der Frauen, wie sie uns geschildert
wurden, spotten in ihrer Kriegsbrutalität jeder Beschreibung. Es
wurde vor nichts haltgemacht, und keine Rücksichten galten. Frauen
in gesegneten Umständen, die ihrer schwersten Stunde entgegensahen,
gebaren auf elenden, vollbesetzten Fuhren und gaben ihren Geist auf. Auf
den Bahnhöfen konnte man des öfteren mehrere Kinderleichen
sehen, die einfach aus den Waggons hinausgeworfen worden waren! Man
denke sich diesen Zug von Tausenden und aber Tausenden unserer
Glaubensgenossen: gesunde und kranke Männer und Frauen, Greise
und Kinder, meist ohne oder mit etwas schnell zusammengeraffter
Habe - manchmal wurde ihnen auch diese noch bis auf die letzte
Wegzehrung im letzten Augenblick geraubt - zu Fuß von
Truppen vor sich hingejagt! Die unterwegs Zusammenbrechenden und
Sterbenden mußten allein gelassen werden, weil niemand
zurückbleiben durfte und die Gestorbenen konnten nur schnell am
Wege oberflächlich in die Erde verscharrt werden. Man
vergegenwärtige sich selbst das bessere Los derer, die den zuletzt in
Gewaltmärschen voraneilenden Heeren in Sümpfen und
Wäldern entkommen konnten! - Daheim sind hier und da
vereinzelte Familienglieder zurückgeblieben; hier eine Tochter allein,
Eltern und Geschwister sind verschleppt; dort hat sich ein Mann versteckt,
inzwischen sind Frau und Kinder fortgejagt worden. An manchen Orten sind
die Leute so plötzlich und gewaltsam verjagt worden, daß sie
nicht einmal alle Kinder sammeln konnten, und Kinder allein
zurückblieben. Es ist vorgekommen, daß feindliche Nachbarn
das Gehöft der vertriebenen Deutschen verbrannten und Kinder in
den Flammen umkamen. Oder ein anderes Bild. Ein Gutsbesitzer am Njemen
erhielt den Wink, daß er fortgeschleppt werden würde. Er packte
seine Familie und die notwendige Habe auf einen [111] Wagen und ist auf demselben mehrere
Monate umhergeirrt, bis in der Nähe eines Städtchens im
Gouvernement Kowno seinen Leiden durch das deutsche Militär ein
Ende gemacht wurde, und er krank und lebensmüde nach Hause
zurückkehren durfte, wo ihm gleich darauf ein 10jähriges
Töchterchen und wenige Wochen später seine Frau starb."4
Eine
neue Ostlandwanderung |
Die genaue Zahl der deutschen Ansiedler im
Cholmer Land betrug über 40 000. Nach der Karte von
Wiercienski hatten einzelne Wojtsgemeinden 40 Prozent deutsche
Einwohner. Ihre Ansiedlung war dem deutschen Wanderdrang zu danken,
der in früheren Jahrzehnten die deutschen Waldbauern in Polen von
einer Rodung zur anderen, immer weiter östlich trieb. Auch in den
Gouvernements Lublin und Cholm erschlossen sie die meilenweiten
Urwaldgebiete der Kultur. Einige Jahrzehnte vor dem Kriege parzellierten
deutsche, polnische und jüdische Gutsbesitzer ihre im Cholmer Gebiet
gelegenen Güter und boten Landstellen aus. Wie immer bei solchen
Gelegenheiten stellten deutsche Ansiedler sich zahlreich an und kauften sich
an. So entstand auch dort ein deutsches Dorf nach dem anderen, und es
bildeten sich zusammenhängende deutsche Siedlungsgebiete. Die
Wojtschaft Turka bei Cholm hat über 30 Prozent und die Wojtschaft
Cycow sogar 40 Prozent deutsche Einwohner. Im Sommer 1915, als die
deutschen Truppen sich dem Bug näherten, kam vom russischen
Oberkommando der Befehl, sämtliche deutschstämmige
Bewohner des Cholmer Gebietes auszusiedeln. Nur wenige Tage, manchmal
auch nur Stunden, blieben ihnen zur Ordnung ihrer Angelegenheiten. In
langen Zügen mußten sie ihre Ostwanderung antreten. Am Bug
gab es längeren Aufenthalt, da inzwischen auch die russische Armee
ihren überhasteten Rückzug angetreten und sämtliche
Pferde aus meilenweiter Umgebung zu Vorspanndiensten für ihre
Kolonnen in Anspruch genommen hatte. Am Fluß entstanden
Flüchtlingslager; aus Tüchern und Planen wurden Zelte
gemacht. In das Lagerleben kam neue Bewegung, als die ruthenische und
polnische Bevölkerung des Kriegsgebietes, beunruhigt durch die
umlaufenden Gerüchte über die Grausamkeit der deutschen
Heeresangehörigen, sich dem großen Flüchtlingszuge
anschloß. Indem die neuen Ankömmlinge sich
vordrängten und sich zuerst auf den von Kosaken herangeholten
Wagen nach Innerrußland retten wollten, gerieten die Deutschen an
das Ende des langen Zuges. Vielen von ihnen gelang es, Seitenwege
einzuschlagen, andere, die auf der Heerstraße weiterzogen, konnten
mit gutem Grund als Ermattete zurückbleiben. Zornerfüllt
sahen die Führer der russischen Nachhut, wie Hunderte von deutschen
Kolonisten der Verbannung entrannen. Mehr als einmal hörten die am
Wege Gebliebenen russische Offiziere davon sprechen, daß es schade
sei, daß der beschleunigte Rückzug die
Unschädlichmachung der Kolonisten nicht mehr gestatte.
In der Nähe der Stadt Kobryn wurden einige Hundert
deutschstämmiger Familien, im ganzen etwa 3000 Seelen, nach
neunwöchigem Umherirren von den deutschen Truppen ereilt und in
Sicherheit gebracht. Divisionspfarrer Ungnad berichtet über sein
Zusammentreffen mit einem [112] Haufen solcher Flüchtlinge in den
Rokitnosümpfen:
"Auf einer Wiese neben der
Dorfstraße war ein großes Flüchtlingslager. Als ich
hindurchging klangen deutsche Laute an mein Ohr, und siehe da, die
Flüchtlinge waren Deutsche und sogar Glaubensgenossen,
evangelisch-lutherische Diaspora-Flüchtlinge aus der Gegend von
Cholm. Aus wir die Russen aus Cholm vertrieben, hatten sie die deutschen
Einwohner mit fortgeschleppt. Zwei Monate schon hatten sie fern der
Heimat, in Wäldern zubringen müssen. Dieses Elend! Nur das
Notwendigste, manchmal auch nicht einmal dies, hatten sie auf der Flucht
mitnehmen können. Die letzte Kuh, das letzte Schaf waren ihnen
genommen, dazu zwei Monate unterwegs, nachts in Wäldern oder auf
Sumpfwiesen. Der Tod hatte eine reiche Ernte, vor allem unter Alten und
Kindern, gehalten und ging als emsiger Schnitter noch täglich durch
die Reihen. Fast in jedem Zelt lagen Kranke oder Sterbende; Cholera und
Ruhr waren die unheimlichen Gäste im Lager geworden! Ein
entsetzliches Elend, und doch kaum laute Klagen! Prachtvolle Menschen,
diese deutschen Glaubensgenossen! Sie selbst, auch ihre Eltern, oft schon die
Großeltern waren in Russisch-Polen geboren; hundert,
hundertfünfzig Jahre waren seit der Einwanderung vergangen; man
hatte nicht vermocht, ihnen Volkstum und Glauben zu nehmen! Deutsch war
die Sprache, oft sogar mit der besonderen Färbung des Heimatdialekts
geblieben, deutsche Art und Sitte. Ihr höchstes
Gut - ihr evangelisch-lutherischer Glaube! Vater und Mutter
unterrichteten in ihm ihre Kinder. Hausandachten wurden auf der Flucht
fleißig gehalten. Einige Lehrer, die mitgeflohen waren, hielten die
Gottesdienste."5
Erst nach monatelangen Märschen und Reisen zu Wagen und auf der
Bahn sind die aus ihrer Heimat Vertriebenen in den
Wolga- und anderen Steppen des östlichen und asiatischen
Rußlands eingetroffen. Unausdenkbare Leidenswege standen den im
allgemeinen Flüchtlingszuge eingeschlossenen deutschen Ansiedlern
aus dem Cholmer Gebiet bevor, ehe sie in die ihnen angewiesenen
Aufenthaltsstätten kamen. Am schlimmsten erging es vielen Familien
aus Ruda bei Cholm, die nach Kustanai im Orenburger Gouvernement
verbannt waren. Am Bestimmungsorte wurden ihnen die Gefängnisse
als Aufenthaltsorte angewiesen. Entbehrungen und Anstrengungen machten
sie widerstandsunfähig gegen Krankheiten. Als im Gefängnis
Typhus ausbrach und zahlreiche Todesfälle zu verzeichnen waren,
wurden die Gesunden in die benachbarten Dörfer entlassen. Aber
auch dorthin wurden die Krankheitskeime verschleppt, so daß ganze
Familien ausstarben.
Man schätzt die Zahl der von den Russen verschleppten Deutschen auf
über 140 000. Fast der vierte Teil aller deutschen Einwohner
Polens war weggeführt. Das Ziel jahrelanger Hetze, die
Vernichtung des deutschen Ansiedlertums war, wenigstens in den Gebieten
östlich der Weichsel, erreicht!
|