Die deutschen
Industrieschöpfungen
Die
leitenden Männer
im "neuen Polen"
nach dem Wiener Kongreß
für Industriegründungen |
Auf Betreiben der am Wiener Kongreß teilnehmenden polnischen
Diplomaten wurde für das geteilte Polen wenigstens ein zollpolitischer
Zusammenhang hergestellt und zwischen Polen und Rußland eine
Zollgrenze errichtet. Polens leitende Männer, denen
Alexander I. viel Freiheit in Entschlüssen und
Ausführungen gewährte, bemühten sich, dort wieder zu
beginnen, wo ihre Vorgänger in den 90er Jahren des
18. Jahrhunderts aufgehört hatten. Im Gegensatz zu der
preußischen Verwaltung legten sie das Schwergewicht auf die
Errichtung von Industriestädten. Es ist nicht ohne Reiz, dem
emsigen und vielverzweigten Schaffen des damaligen Kanzlers
Drucki-Lubecki und seiner Gehilfen nachzugehen. Er hatte sich in den
Gedanken, Polen zum Industriestaat zu machen, so verstrickt, daß er
bereit war, einen Teil von Polens Selbständigkeit preiszugeben und in
Petersburg die Aufhebung der Zollgrenze zwischen Polen und Rußland
zu beantragen, um der von ihm gepflegten Industrie den Wettbewerb gegen
die Moskauer Erzeugnisse leichter zu machen. Verständige
Förderung fand die Aufgabe der Warschauer Männer durch
Alexander I., der ihre Leitsätze billigte und sich damit
einverstanden erklärte, daß den Einwanderern weitgehende
Vergünstigungen gewährt wurden. Technische Kräfte,
und wenn möglich auch fremdes Kapital, sollten herangezogen,
für die Anlagen von Fabriken weitgehendste Kredite gewährt,
das Straßenwesen verbessert und die Zollverhältnisse erleichtert
werden. Neben den Bemühungen der Regierungskreise um
Heranziehung deutscher Tuchmacher ging die
Gründungstätigkeit verschiedener Großgrundbesitzer
und Städteverwaltungen, die Tuchmacherstädte anlegten oder
die Industrieeinwanderer in schon bestehende Städte ansiedelten.
Ozorkow,
die erste deutsche
Tuchmacherstadt |
Als erste deutsche Stadtansiedlung des 19.
Jahrhunderts kann Ozorkow gelten. Die Bürger der kleinen
deutschen Städte im Großherzogtum Polen erlitten bei den
vielen französischen Truppendurchmärschen manche Unbill
und verarmten ganz. Den ohne Erwerbsmöglichkeiten gebliebenen
Handwerkern kam deshalb der Ruf aus Polen sehr erwünscht.
Starzenski, [79] der polnische
Grundherr, tat alles, um den zuerst gewonnenen deutschen Handwerkern
das Fortkommen zu erleichtern. Auf sein Betreiben wurde die Ansiedlung
schon 1816 zur Stadt erhoben. In den nächsten Jahren war sie
Durchgangsort für die aus Posen und Schlesien gekommenen
Tuchmacher und Baumwollweber. Zgierz, Konstantinow und zuletzt auch
Lodz sind die Ziele der Nachgekommenen. Ozorkow aber kann in gewissem
Sinne als Mutterkolonie der Tuchmacheransiedlungen des Lodzer
Industriebezirks gelten.
Den glänzendsten Aufschwung erlebte Ozorkow in den
nächsten Jahrzehnten. Der aus Aachen eingewanderte Heinrich
Schlösser legt eine Baumwollspinnerei und Weberei an, die sich rasch
erweitert. Karl Scheibler wird nach Schlössers Tode der technische
Leiter des großgewordenen Unternehmens. Scheiblers erfolgreiches
Wirken lenkt die Aufmerksamkeit des Lodzer Stadtpräsidenten
Träger auf den fähigen Mann. Er veranlaßt ihn, sich in
Lodz selbständig zu machen. Ozorkow darf als Ursprungsstätte
der weltbedeutenden deutschen Baumwollindustrie in Polen angesprochen
werden. - Ein anderer deutscher Fabrikant, Christian Wilhelm
Werner, legt noch vor der Schlösserschen Gründung eine
Schönfärberei in Ozorkow an. Auch sein Unternehmen dehnt
sich in kurzer Zeit aus; seine Erzeugnisse werden zu gesuchten Artikeln. Alte
Ozorkower erzählen noch von dem Leben und Treiben in den
bahnlosen Zeiten, als lange Wagenzüge der russischen "Tjelegen"
nach Ozorkow kamen und wochenlang auf Ausfertigung der Waren warten
mußten. Das Geschäft bewegte sich damals in sicheren Bahnen;
geliefert wurden die Waren nur gegen vorherige oder sofortige
Barzahlung.
Später haben die Lodzer geschäftseifrigeren Fabrikanten
Ozorkow überholt. Schlössers Erben haben die Leitung des
Geschäfts anderen Händen anvertraut und Werners
Nachkommen gaben die Warenerzeugung ganz auf. Die Abkömmlinge
der tonangebenden deutschen Familien sind ins Polentum
hinübergeglitten. Stark war auch der Zuzug jüdischer
Gewerbetreibender, die mit den von ihnen anhängigen
Glaubensgenossen die Hälfte der Einwohnerschaft ausmachen. Der
deutsche Einfluß ist sehr zurückgedrängt worden.
Weitere
Privatgründungen:
Zgierz, Pabianice,
Alexandrow, Konstantinow,
Tomaschow, Zdunska-Wola,
Gostynin, Zyrardow |
In dem alten polnischen Städtchen
Zgierz ist die Tuchindustrie fast gleichzeitig mit der Niederlassung
der ersten Tuchmacher im benachbarten Ozorkow heimisch geworden. Um
1821 war die deutsche Einwohnerschaft schon so stark, daß eine
evangelische Gemeinde gegründet werden konnte. Die Zgierzer
Tuchindustrie gewann bald an Bedeutung; ihre Erzeugnisse waren sehr
gesucht im russischen Reiche. Einzelne Betriebe ruhen noch heute in den
Händen von Nachkommen der ersten deutschen Industriepioniere.
Andere sind in ihrem Umfang zurückgegangen. Daneben ist eine
starke jüdische Industrie entstanden, die der deutschen den ersten
Platz mit Erfolg streitig macht.
Auch Pabianice ist eine ältere polnische Stadt, die erst zur
Zeit der preußischen Verwaltung zu Ansehen kam. In den großen
Wäldern um Pabianice wurden eine Anzahl deutscher Kolonien
angelegt. Um 1803 wurde die Zahl der Evangelischen in Pabianice und
Umgegend auf über 1000 geschätzt und die Gründung
einer selbständigen Gemeinde in Aussicht [80] genommen. In den 20er Jahren des
19. Jahrhunderts ließen sich deutsche Fabrikunternehmer
nieder. Unter ihnen war der aus Reichenau stammende Gottlieb Krusche.
Über Turek, wo es ihm nicht gefiel, war er nach Pabianice gekommen.
Sein Sinn stand nach Lodz, dem gelobten Lande. Aber der Oberkommissar
für Industrieangelegenheiten in Warschau hatte ihm den Vorschlag
gemacht, sich in Pabianice niederzulassen. In einem Briefe aus dem Jahre
1826 spricht er sich über die Anfänge seines Unternehmens und
die ihm zugestandenen Begünstigungen wie folgt aus:
"Da nun die
Gantze Lage der Natur nebst guten Wasser noch weit besser ist, wie in Lodz,
so schloß ich mit dem Herrn Comisarius nach einem 14dägigen
Aufenthalt in Warschau einen Contrakt ab, von welchen ich das Wichtigste
anführen will, als nämlich 1) Habe ich erhalten einen platz, 100
Schritte breit, und 450 Schritte Lang mit gutem Grund, auf welchen ich zwei
Häuser bauen will, nebst 300 Stämme Holtz aus dem Walde
ohne Entgelt, die Ziegeln werde ich mir auf dem Bauplatz vermutlich selbst
brennen, weil ich einen schönen Leimen Grund habe. 2) Habe ich
erhalten 3 Große Gärten, welche 15 Scheffel Land betragen.
3) Bekomme ich zu einen Hausse 500 Gulden Vorschuß auf 2 Jahre ohne
Interesse, und wenn ich es nötig habe so kann ich es in 10 Terminen
wieder zurück zahlen, also jedes Jahr 50 Gulden. 4) Ist mir auf jeden
Stuhl, welche ich binnen 2 Jahre aufstellen kan, 3 Centner Wolle gegen
2/5 Zoll
versprochen, frey herein zu bringen, in welchen ich vorjetzt 9 Stühle
in und auswärts stehen habe. 5) Übrigens ist mir zugesichert
worden, 15 Centner von meiner verfertigten Ware gegen 2/5 Zoll herein zu
holen. - Und wenn dieses alles zu stande kommen kan, so werde ich
diesen Sommer mir mit Gottes Hülfe ein Hauß erbauen, welches
in die Länge 34 Ellen, und breit 18 Ell. nebst einen Erker von 12 El.
ins Gevierte werden solln, u. wenn mir mit Gottes Hülfe dieser letzte
Satz glücklich von statten geht, so kan mich mein Bau keinen
polnischen Groschen kosten, welches aber nicht einen jeden theil werden
kan, es hat mich auch großen Kampf, schwere Reisen und
schöne Rubeln gekostet. Nun, lieber Schade, beurtheile unpartheiisch,
welche Lage vor mich die beste ist, die in Reichenau oder die in Pabianice, in
Reichenau mußte ich mit meiner Familie den gänzlichen
Untergange entgegen sehen, hier ist vor mich, u. die ich bey mir habe, wenn
sie es nicht Mißbrauchen wollen, - auch der, der noch zu Hause
ist, wenn er es annehmen will - so weit gesorgt, daß sie alle gut
leben können, wenn sie auch das ihrege tun, aber der Herr, der Alles
zu lenken weis, hat mir ihn helfen besiegen, dort war ich im gäntzlichen
Drucke und Verachtung, hier bey der gantzen Stadt, wie auch bei der
Kalischen Regierung in Guter Aufnahme, eines Schmertzt mich zwar,
daß ich mich in Reichenau noch von so vielen Lieblosen
Splitter-Richtern muß beurteilen lassen, so viel Neid und
Mißgunst, als ich dort hatte, desto mehr eröffnet sich hier mit
jeder Woche neuer Anwachs in meinen Fabricate, ich habe um weiter nichts
mehr zu bitten: als das mit Gott Leben und Gesundheit schenken wolle, den
was mir jetzt zu teil geworden ist, davor kann ich Gott nicht genug danken,
in Reichenau mußte ich mich lassen von vielen untergraben, hier werde
ich von vielen geschätzt. - Was nun Uebriges die Sache Pohlen
betrifft, so darf keiner, wenn er Rechtlich zu Werke geht, verderben, wie
woh das Vieler ihr theil seyn wird, sie sind aber selbst Schuldner, wer sich
hier [81] ins Fabrikat
schicken lernt, und es gut betreibt, der hat keinen schlechten Verdienst. Es
fehlt nur jetzt noch an guten und fleissigen Arbeitern, um welche ich in
diesem Schreiben bitten wollte, das solche, welche Wünschen, ein
Besseres Vorwärtskommen zu erlangen, sich nach Pohlen begeben
möchten, aber solche, welche denken, Sie dürfen nur den Sack
aufhalten, das es ihnen Brod und Geld vom Himmel hinein Regnen sollte, der
bleibe lieber wo er ist."
Das von Gottlieb Krusche so bescheiden
begonnene Werk hat sich im Laufe der Zeit zu einem der bekanntesten
Riesenunternehmen erweitert, das vor dem Kriege 5000 Arbeiter
beschäftigte. Auch andere größere Fabriken in Pabianice,
so die von Rudolf Kindler, Robert Saenger und die große chemische
Fabrik verdanken ihre Entwicklung zu weltbekannten Firmen dem
deutschen Fleiß ihrer Gründer.
Rafael v. Bratuszewski, der Besitzer größerer bei Lodz gelegener
Güter, hatte um die Jahrhundertwende durch deutsche Ansiedler in
seinen weiten Wäldern "Räumungen" schaffen lassen, so
daß blühende Dörfer entstanden. Dem Zuge der Zeit
folgend, lud er deutsche Weber ein, sich in dem von ihm gegründeten
Ort Alexandrow niederzulassen. Er förderte sie im Sinne der
Industriepolitik der Regierung und verhalf ihnen zu Barvorschüssen.
Auf seinen Antrag erhielt Alexandrow 1823 Stadtrechte. Die
Industrieniederlassung ist bis zuletzt Weberstädtchen geblieben. In
den Jahren vor dem Kriege führten einige deutsche Unternehmer die
Strumpffabrikation ein. Alexandrow ging gleich zu Beginn der
Novemberoffensive 1914 in den Besitz der deutschen Truppen über.
Von der im Nachbarstädtchen Konstantinow befindlichen russischen
Artillerie wurde es während der dreiwöchigen Kämpfe
unter Feuer genommen.
Der Grundherr von Konstantinow, Nikolaus v. Okolowicz, bewog 1816 eine
Anzahl der in Ozorkow ansässig gewordenen deutschen Tuchmacher
nach der neuen Ansiedlung Konstantinow zu kommen. In
den nächsten Jahren folgten ihnen Tuchmacher aus Schlesien. Mit
ihnen kam Gottfried Wende, der während seines langen Lebens zu
größerer Bedeutung für das Konstantinower Deutschtum
gelangte. Später wanderten zahlreiche Baumwollweber aus
Deutschböhmen ein. Durch die neue Einwanderung verlor die
Tuchmacherei an Boden, so daß die 1818 gegründete
Tuchmacherinnung eingehen mußte. Die einheimischen Weber
arbeiteten für Lodzer Fabrikbesitzer; die große Zeit der Lodzer
Industrie ging fast spurlos an Konstantinow vorüber. Erst in den
letzten Jahrzehnten sind einige größere Betriebe von
auswärtigen Unternehmern eingerichtet worden. Während der
Kampftage im November 1914 ist das von den Russen verteidigte
Konstantinow stark beschossen worden, so daß seine Straßen zu
Trümmerhaufen wurden.
Auch Graf Anton Ostrowski, der Besitzer des Städtchens Ujasd und
der in der Nachbarschaft gelegenen Güter, gedachte eine
Tuchmacherstadt zu gründen. Er reiste nach dem schlesischen
Tuchmacherort Grünberg, aus dem bereits viele Familien nach Polen
ausgewandert waren, und betraute einen Einheimischen, den Unternehmer
Mannigel, mit der Ausführung der Übersiedlung. So entstand
1821 das deutsche Tomaschow, das zur Zeit seiner Gründung
aus dem gräflichen Wohnhaus, einem Hochofen, und mehreren
Häusern bestand. Im Gegensatz zu Lodz ist Tomaschow [82] bis zuletzt Tuchmacherstadt geblieben.
Freilich haben die fleißigen und allzu vertrauensseligen deutschen
Tuchmacher wiederholt große Verluste infolge der Unredlichkeit ihrer
Großabnehmer in Rußland erlitten. Aber nicht nur die
geschäftlichen Verluste, auch die "deutsche
Gemütlichkeit" hat bei der Entwicklung der deutschen Betriebe zur
Großindustrie hemmend gewirkt. Jüdische Fabrikbesitzer
brachten es in kurzer Zeit von kleinen Anfängen zu großen
Tuchfabriken. Günstige Wasserverhältnisse
ermöglichten in und bei Tomaschow die Anlage von großen
Appretur- und Färbereibetrieben für die in Lodz und
Umgegend hergestellten Waren. Dieser Industriezweig war vor dem Kriege
noch in deutscher Hand. Zur Zeit des langen Stellungskrieges lief die
deutsch-österreichische Front an der unweit gelegenen Pilica entlang.
Tomaschow und seine deutschen Einwohner haben Schweres durchmachen
müssen.
Auch Zdunska Wola verdankt sein Entstehen der Absicht eines
polnischen Grundherrn, auf seinem Besitztum eine deutsche Industriestadt
zu gründen. Graf Zlotnicki und der von ihm berufene deutsche
Ingenieur Bergemann legten die Stadt an. Eigenhändig umzog der
Besitzer mit dem Pfluge die Linien der künftigen Stadt. In den Jahren
1817 und 1818 strömten deutsche Weber aus Posen, Schlesien und
Böhmen in die deutsche Siedlung. Nicht als selbständige
Erzeuger, sondern nur als Lohnweber für Lodzer deutsche und
jüdische Unternehmer betätigten sich Jahrzehnte hindurch die
Zdunska Wolaer Deutschen. Erst in späteren Jahren rafften sich
einige von ihnen - vor allem Karl Strauß - zu
selbständigem Handeln auf und gründeten eigene Fabriken.
Einen Glanzpunkt in der Geschichte der Stadt bietet der Besuch des Kaisers
Alexander I. im Jahre 1825. Graf Zlotnicki empfing ihn in einem
Prunkzelte. Der Kaiser ließ sich die Erzeugnisse der einheimischen
Weber zeigen und unterhielt sich leutselig mit ihnen. Vom Gesehenen und
Gehörten war er so befriedigt, daß er der jungen Ansiedlung
10 000 Rubel für gemeinnützige Zwecke schenkte und
von sich aus alle den deutschen Einwanderern gewährten
Vergünstigungen, darunter auch die Gründung einer
Schützengilde, bestätigte. Während des wiederholten
Frontwechsels der kämpfenden Parteien zu Beginn des Krieges ist
Zdunska Wola weniger in Mitleidenschaft gezogen worden. Erst am 21.
November 1914, als die Russen zurückwichen, haben die Einwohner
unter den Nachwirkungen der Straßenkämpfe stark zu leiden
gehabt. - Die allzugroße wirtschaftliche Abhängigkeit der
deutschen Weber von ihren meist jüdischen Arbeitgebern hat sich
auch bei anderen Gelegenheiten hemmend
erwiesen. - Ohne besonderen Zwang, nur aus Gleichgültigkeit
für das von ihren Eltern Überkommene, haben sich zahlreiche
alte Familien ganz oder halb polonisiert.
In allen Industriestädten des Lodzer Bezirks gab es einen
Augenblick - den "psychologischen Moment" - wo ihre
deutschen Schöpfer versagten, wo die deutschen Einwohner dem
starken Anprall des nationalen Willens der anderssprachigen Miteinwohner
nicht standhielten. Die Deutschen - im einzelnen so tüchtig und
die anderen Stadtbewohner moralisch und intellektuell
überragend - unterlagen in ihrer ungeschlossenen Gesamtheit
dem fremden Wollen.
Außer im Lodzer Bezirk entstanden deutsche
Tuchmacheransiedlungen [83] noch in Gostynin an der Weichsel
und in anderen Städten und Ansiedlungen Polens. Sie sind dort aber
nie so gut vorwärtsgekommen, wie die Industriestätten bei
Lodz. Als die Handarbeit dem Maschinenbetrieb weichen mußte, ging
die Tuchmacherei jener Ortschaften ganz ein. Die deutschen Tuchmacher
suchten in Tomaschow und Bialystok Stellung in den Tuchfabriken.
Ähnlich erging es den deutschen Tuchmachern, die in
Kalisch (bei Repphan) und im benachbarten Opatowek
(bei Fiedler) beschäftigt waren. Als die alten Fabriken den
mechanischen Betrieb einführten, wurden polnische Arbeiter
angelernt, während die ausgebildeten und erfahrenen deutschen
Tuchmacher nach innerrussischen Tuchmacheransiedlungen
auswanderten.
Wollte man alle Industriestätten Polens verzeichnen, die von
Deutschen angelegt wurden, so müßte man ein Adreßbuch
der polnischen Industrie herausgeben. An der
Warschau-Wiener Bahn entlang reiht sich eine Industrieansiedlung an die
andere. Vor den Toren Warschaus befinden sich die, eine Stadt für
sich bildenden Fabriken der Firma Hielle und Dittrich in
Zyrardow, die nicht nur mit ihren Erzeugnissen, sondern auch mit
ihren Wohlfahrtseinrichtungen vorbildlich wirkten. Am Endpunkt der Bahn
auf polnischem Boden, in und um Sosnowice, sind die großen
Zweigunternehmungen sächsischer Kammgarnspinnereien (Dietel,
Schön) und Baumwollspinnereien (Birkner in Zawiercie und
Schmelzer in Myschkow). Ihnen schließen sich die gigantischen Werke
der Eisen- und Bergindustrie an. Es ist schwer, nur die wichtigsten der
zwischen Warschau und Sosnowice und auch in anderen Teilen Polens
gelegenen Fabriken zu nennen, deren Gründung, Leitung oder
Erweiterung deutscher Tatfreudigkeit zu verdanken ist.
Während rings um Lodz eine deutsche
Tuchmacheransiedlung nach der anderen entstand, blieb Lodz selbst, das
alte, wahrscheinlich schon im 14. Jahrhundert gegründete
Städtchen, ohne deutsche Einwanderer. Im Vergleich zu seinen
Nachbarstädten Zgierz und Pabianice war es zurück und vom
Geist der neuen Zeit verschont geblieben. Es war derart
vernachlässigt, daß die preußische Verwaltung zu Petrikau
im Jahre 1794 ernstlich den Gedanken erwog, es zum Wohle seiner
Einwohner in ein Dorf zurückzuverwandeln. - Am 18.
September 1820 kam ein Erlaß des Stadthalters Zajonczek heraus, der
die Ansiedlung der ins Land gerufenen Handwerker regelte, die ihnen
einzuräumenden Gerechtsame aufzählte und die Städte
nannte, in die in Zukunft der Auswanderungsstrom zu leiten sei; unter ihnen
befand sich auch Lodz. Auf höheren Befehl wurde schon im
nächsten Jahr eine Stadtregulierung vorgenommen und die
Neustadt - zunächst auf dem Papier - mit über
200 Bauplätzen und dem Neuen Ring eingerichtet.
Der eigentliche Aufschwung der neuen Fabrikstadt
beginnt aber erst mit dem 30. März 1821. An diesem Tage wurde der
"Zgierzer Vertrag" geschlossen. Regierungsbeamte vereinbarten
mit den Vertretern der deutschen Tuchmacher die
Niederlassungsbedingungen für Zgierz, Lodz, Dombie, Przedecz und
Gostynin. Seitdem galt auch Lodz als günstiger Ansiedlungsort
für deutsche Einwanderer. Rasch entwickelte es sich zum [84] Mittelpunkt der deutschen Ansiedlung;
nicht nur aus der alten Heimat, den Städten Posens, Schlesiens,
Sachsens und Böhmens, sondern auch aus den schon früher
besiedelten Nachbarstädten ließen sich Tuchmacher und andere
deutsche Handwerker in Lodz nieder.
Lodz:
Die Anfänge
der Lodzer Industrie |
Am Ende des Jahres 1823 bestanden schon eine Anzahl
Webereien und auch eine Färberei. Im nächsten Jahr kamen
zahlreiche sächsische und böhmische Baumwollweber, die die
Weberkolonie und Spinnerkolonie anlegten. Die Warschauer
Behörden nahmen regen Anteil am Wachstum der Stadt. Fürst
Drucki Lubecki, der polnische Kanzler, wollte Polen zum Industriestaat
machen. Er sandte den Vorsitzenden der neuen Industrieabteilung Tykel
nach Preußen und Böhmen, um sich mit den dortigen
Industrieverhältnissen bekanntzumachen und noch mehr Fabrikanten
und Handwerker als Ansiedler zu gewinnen. Seinen Anregungen folgend,
kamen einige kapitalkräftigere sächsische Fabrikanten nach
Lodz.
Lodz:
Umleitung in
den Großbetrieb |
So u. a. aus Zittau Louis Geyer, der sich anfänglich in
Konstantinow ankaufen wollte, dann aber vorzog, nach Lodz zu kommen. Er
legte eine größere Baumwollspinnerei an und wurde in der
Folgezeit der erste Lodzer Fabrikant, der vom Hand- zum mechanischen
Betrieb überging und durch den Bezug des ersten Dampfkessels aus
England die Umwälzung der Lodzer Industrie zum Großbetrieb
in die Wege leitete.
Um 1825 machten sich viele schlesische Tuchmacher auf den Weg nach Lodz.
Die junge deutsche Industriestadt entwickelte sich dank dem starken Zuzug
rasch und kräftig. Schon 1826 konnte die evangelische Trinitatiskirche
an bevorzugter Stelle des neuangelegten Marktplatzes erbaut werden. Ihr
gegenüber, an der anderen Seite der Mündung der
Hauptstraße in den Marktplatz, erstand 1827 das Rathaus. Die
Einwohnerzahl war in acht Jahren von 799 (1821) auf 4273 (1829)
gewachsen.
Die Revolution von 1830 hatte der deutschen Stadt und ihrer Industrie keine
nennenswerte Schädigung zugefügt. Bald hatte sich der Ruf der
Lodzer Waren überallhin verbreitet; die fertigen Erzeugnisse fanden
gutzahlende Abnehmer. Fabrikwesen und Handel blühten, so
daß Lodz 1840 bereits eine Einwohnerzahl von 20 150 hatte.
Damit rückte es in den Rang der zweitgrößten Stadt des
Landes ein und wurde zur Gouvernementsstadt erhoben. Der schnelle
Aufschwung der Lodzer Industrie war dem Schutzzollsystem der Regierung
zu danken. Als nach 1840 das Schmuggelunwesen um sich griff und der
Schleichhandel blühte, traten harte Rückschläge ein, so
daß 1849 die Zahl der Einwohner auf 15 560
zurückgegangen war.
Heimische Sitten und Gebräuche wurden von den Lodzer Deutschen
gepflegt. Auch das deutsche Innungswesen hatte einen starken Ableger nach
Lodz verpflanzt. Die erste und auch heute noch bedeutende Innung war die
der Webermeister, die 1825 von achtzig Meistern gegründet worden
war. Am 15. Oktober 1825 zogen sie "mit musikalischem Schall und
wehender Fahne" in die erste Herberge. Bereits 1839 hatte sie einen Bestand
von 760 Meistern, 451 Gesellen und 250 Lehrlingen. Sie konnte damals ihr
neues Meisterhaus beziehen. Der erste Pastor der Trinitatisgemeinde,
Friedrich Metzner, widmete ihr aus diesem Anlaß einen
"Weihegesang", in dem sich folgende Verse finden: "Denkt, Brüder,
der Vergangenheit, [85] gedenkt des Ew'gen Walten, Er hat in
sturmbewegter Zeit die Treuen fest erhalten. Die Gegenwart macht offenbar:
Er will die Seinen nimmerdar verlassen noch
versäumen! - Gedenkt der Zeit, wo Waldesnacht, wo
Öde nur gegrauet, hier, wo der deutsche Fleiß jetzt wacht und
seine Stätten bauet. Wohl Höh'res schafft das Heimatland, doch
regt nur fort die fleiß'ge Hand, kühn könnt ihr bald ihm
gleichen. - Gemeingeist wohne in dem Haus, das feierlich wir
weihen, nie zieh' des Friedens Engel aus, laßt sammeln uns, nie
streuen! Kein Glaubenshaß, kein stolzer Wahn mög' auf der
neubetret'nen Bahn die Bruderherzen
trennen. - Die Kränze, die das Haus umwehn, o, laßt sie
ernst Euch sagen: wir müssen bald wie sie vergehn, nach kurzen
Prüfungstagen! Doch, darum mutig aufgeschaut: wer nicht fromm
für die Nachwelt baut, fühlt keine Menschenwürde."
Andere Handwerke folgten erst später mit ähnlichen
Gründungen. Die Innungen unterhielten freundschaftlichen Verkehr
mit den Zünften in der alten Heimat. In den Archiven mancher von
ihnen, deren Führung inzwischen in polnische Hände
übergegangen ist, werden noch Bruderschaftsbriefe der Innungen
preußischer Städte aufbewahrt.
Noch vor Gründung der Webmeisterinnung hatten sich zu Ostern
1824 eine Anzahl Handwerksmeister zu einem Bürgerschutzverein
zusammengeschlossen, der am dritten Pfingsttage desselben Jahres
"reihweise unter dem Klange zweier blasender Instrumente, den
Gebrüdern Obst aus Grünberg gehörend", auszog.
Theaterfreudige junge Leute fanden sich zu Liebhaberaufführungen
zusammen. Das Lodzer Leben unterschied sich kaum von dem Treiben in
deutschen Provinzstädten aus der Zeit vor 1848.
Dem deutschen Antlitz der Stadt trug auch die Regierung in Warschau
Rechnung. Zur Führung der städtischen Verwaltung sandte sie
Beamte deutscher Abstammung, die in gutem Einvernehmen mit der
Bevölkerung lebten. Einem von ihnen, dem Stadtpräsidenten
Träger, gelang es 1853 den Rheinländer Karl
Scheibler zur Ansiedlung in Lodz zu bewegen. Das Scheibler
gemachte Angebot war so günstig, daß er nicht absagen konnte.
Mit der Übersiedlung des nachmaligen "Baumwollkönigs"
bricht abermals eine neue Zeit für Lodz an. Ihn zeichneten bedeutende
Fähigkeiten und geschäftlicher Weitblick vor vielen anderen
aus. Seine technischen Erfahrungen hatte er sich in England und Belgien
erworben. Er war von Hause aus vermögend; als er sich in Lodz
niederließ, verfügte er über 180 000 Rubel. Aus
eigener Kraft konnte er die erste mechanische Weberei in Polen mit hundert
Webstühlen und achtzehntausend Spindeln einrichten. Seine rastlose
Arbeit brachte das Unternehmen rasch vorwärts; bei seinem Tode
(1881) hatte es schon eine riesenhafte Ausdehnung. Vor dem
gegenwärtigen Kriege wurden in den Scheiblerschen Fabriken
über 7500 Arbeiter beschäftigt. Seinem Unternehmungsgeist
hat die Stadt und die Lodzer Industrie manche Einrichtungen zu verdanken,
die ihren Aufschwung zur heutigen Industriestadt erst ermöglichten.
Seit seiner Ankunft in Lodz bis zu seinem Tode ist im Lodzer Industriebezirk
nichts unternommen worden, das nicht auf Scheibler als Urheber oder
Mitwirker zurückging.
[86] Das Aufbäumen der deutschen
Webmeister gegen die Mechanisierung der Arbeit, das zu Unruhen und
Zerstörung der Scheiblerschen Weberei führte, konnte die
Entwicklung der Industrie zum Dampfbetrieb nicht aufhalten. Das alte
gemütliche Lodz starb allmählich dahin, das neue mit seinem
"Zeit-ist-Geld"-Grundsatz trat in die Erscheinung. Der Erfolg der
Scheiblerschen Unternehmungen ließ auch andere Unternehmer nicht
ruhen. Tüchtigkeit und glückliche Zufälle brachten
manchen Weber hoch und machten ihn zum Besitzer von
Millionenvermögen. Die Industrie dehnte sich aus, so daß die
einheimischen deutschen Arbeiter den Bedarf der Fabriken nicht mehr
decken konnten. Mit dem Zuzug polnischer Bauern, die als Arbeiter
Beschäftigung in den Fabriken fanden, sehen wir die Anfänge
einer Polonisierung der Stadt.
Auch das Lodzer Schulwesen war deutsch. Bis 1861 waren in Lodz nur zwei
Schulen; eine in der Altstadt, die 1819 noch vor der deutschen
Einwanderung entstand, und eine zweite, die 1831 in dem Industrievorort
Wolka gegründet wurde. Von der letzteren ist uns bekannt, daß
sie deutsche Lehrkräfte hatte und von deutschen Kindern besucht
wurde. Erst in den Jahren 1861 - 1866 entstanden drei neue
evangelische und zwei katholische Schulen. Seitdem ging die
Gründung neuer Volksschulen in kurzen Zwischenräumen vor
sich. Dem Wachstum der Bevölkerung entsprach aber die Zahl der
Schulen nie. - Die erste Lodzer Mittelschule wurde 1843 als
vierklassige deutsch-russische Realschule gegründet; sie wurde 1851
in eine russisch-deutsche Kreisschule umgewandelt. Im Jahre 1866 machte
sie einem siebenklassigen deutschen Realgymnasium Platz. Letzteres hatte
die Aufgabe, Schüler für das Lodzer Polytechnikum
vorzubereiten, dessen Gründung beabsichtigt war. Aufgabe des
Polytechnikums sollte sein, die für den Betrieb der Fabriken
nötigen höheren technischen Beamten heranzuziehen. Im Jahre
1868 besuchte der russische Unterrichtsminister Graf Tolstoi Lodz. Das
deutsche Realgymnasium und der von dem Statthalter Graf v. Berg
geförderte Plan, ein deutsches Polytechnikum in Lodz erstehen zu
lassen, waren ihm allzu deutsche Unternehmungen. Er gab den Auftrag, die
Umwandlung des deutschen Realgymnasiums in eine "höhere
Gewerbeschule" mit russischer Unterrichtssprache vorzubereiten. Die
reichen Kollektionen für den Unterricht in Physik, Mechanik und
Naturwissenschaft, die bereits für das Polytechnikum eingetroffen
waren, wurden dem neuen Forstinstitut in
Nowo-Alexandria überwiesen. Damit wurden große Hoffnungen
auf Schaffung eines einheimischen deutschen Technikerstandes zu Grabe
getragen.
Einer Anregung des Militärchefs Baron v. Broemsen verdankt die
erste deutsche Zeitung, die Lodzer Zeitung, ihr Dasein.
Während der Dauer des Kriegszustandes (z. Z. der Revolution
von 1863, unter der Lodz nicht sehr litt, obwohl in der Nähe
Kämpfe stattgefunden haben), wollte er ein Blatt zur
Veröffentlichung der amtlichen Bekanntmachungen in polnischer und
deutscher Sprache haben. Deshalb machte er dem Lithographen Petersilge
den Vorschlag, ein Wochenblatt herauszugeben. Die Lodzer Zeitung,
die zunächst als Amtsblatt gedacht war, erschien seit 1863; zuerst
zweimal wöchentlich als Anzeigenblatt, später mit einer
textlichen Erweiterung, seit 1865 dreimal wöchentlich und seit 1881
täglich und nur [87] in deutscher Sprache. Wie schwach bis vor
wenigen Jahrzehnten die polnische Intelligenz in Lodz vertreten war, erhellt
der Umstand, daß eine polnische Zeitung erst 1881 durch den Verleger
der deutschen Lodzer Zeitung ins Leben gerufen werden konnte.
Lodz:
Wohlwollendes Verhältnis
der russischen Regierung
zu den Lodzer Deutschen |
Im November 1865 konnte die Eröffnung der
Lodzer Fabrikbahn, die die Stadt mit dem russischen Eisenbahnnetz
verband, gefeiert werden. Scheibler hatte im Verein mit jüdischen
Bankhäusern in Warschau eine Gesellschaft gegründet, die die
Bahn baute. Von Lodz aus ging eine Bürgerdeputation nach
Warschau, die den Statthalter zur Teilnahme an der Einweihung einlud. In
der Kreisschule war eine Gewerbeausstellung eingerichtet, die erste in Lodz,
die eine Übersicht über die Lodzer Erzeugnisse bot. Scheibler
hielt eine deutsche Ansprache, in der er ausführte:
"Gestatten Eure Exzellenz im
Namen der Bewohner der Stadt Lodz für das uns so vielfach erwiesene
Wohlwollen den innigsten Dank ergebenst auszusprechen. Lodz in seiner
Eigenschaft als Fabrikstadt hat sich trotz vielfacher Krisen durch die von
unserer hohen Regierung dem Handel und Industrie gewährte
Protektion im Verlauf von vierzig Jahren aus einzelnen wenigen
Häusern zu einer Stadt von 40 000 Einwohnern
emporgeschwungen. Wie sich aber alles mit der Zeit anders gestaltet, so ging
es auch mit uns. Der Holzreichtum der Gegend, auf welchem die Stadt und
unsere Fabriken zum großen Teil gegründet wurden, ist
erschöpft. Das uns so nötige Brennmaterial mußte in den
letzten Jahren aus weiter Ferne zur Achse zu stets erhöhten Preisen
herangeschafft werden und somit trat, um auch ferner der Konkurrenz des
Auslandes begegnen zu können, das Bedürfnis einer Eisenbahn
desto fühlbarer heran. Dieser Kalamität ist durch Eure
Exzellenz hohe Verwendung in kürzester Zeit abgeholfen worden. Der
Schienenstrang, dessen Vollendung wir heute feiern, wird uns nebst den
übrigen Rohmaterialien und Lebensmitteln auch die so nötigen
Kohlen billiger zuführen. Eine andere Eisenbahn, nicht weniger
wichtig für das Gedeihen unseres Handels und der Industrie, nach
dem Innern des Reichs und den uns fern gelegenen Absatzmärkten ist
in der Ausführung begriffen. Telegraphenverbindungen sind in letzter
Zeit nach allen Richtungen hergestellt worden. Der Eröffnung einer
Polytechnischen Schule, einer Diskontobank und Einführung der
Gasbeleuchtung sehen wir in nächster Zeit entgegen. Alle diese
für das fernere Emporblühen der Stadt und der Umgegend so
höchst wichtigen Faktoren verdanken wir zunächst Euer
Exzellenz väterlichen Fürsprache bei Seiner Majestät
unserem allergnädigsten Kaiser und König und sie sind,
eingedenk der schwierigen Verhältnisse, unter welchen dieselben ins
Leben gerufen wurden, mit um so größerem Dank von uns
aufgenommen worden."
Graf v. Berg antwortete:
"Die Stadt Lodz bildet eine
interessante Erscheinung im polnischen Lande. Sie verdankt ihren
Wohlstand der deutschen Industrie, dem Unternehmungsgeist der
Deutschen und dem deutschen Fleiße. Nächst
Warschau ist Lodz die volkreichste Stadt des Königreichs Polen. Sie
zählt über 40 000 Einwohner, darunter zwei Drittel
Deutsche. Lodz ist die Metropole von über 100 000 deutscher
industrieller Bewohner, welche sich in zahlreichen Städten
angesiedelt haben. Ich glaube diesen Bewohnern einen guten Rat zu
geben, wenn ich sie zur treuen [88] Nachahmung der Tugenden ihrer
Väter und zum beständigen Festhalten am deutschen
Charakter aufmuntere, der sie unterscheiden soll und der stets
wohltätig auf ihre Lage rückwirken wird. Einer jeden
Nationalität im Königreich Polen das zu geben, was ihr
gehört, ist der Wille unseres allergnädigsten Monarchen. In
seiner väterlichen Sorgfalt um die deutschen Bewohner hat Seine
Majestät uns anempfohlen, hier in Lodz deutsche Schulen mit
deutschem Unterrichte zu eröffnen. Erkennet meine Herren, die
tiefe Bedeutung dieser weisen Bestimmung! Stärket eure industrielle
Tätigkeit zum Besten des Staats, in welchem ihr eine zweite Heimat
gefunden habt!"
Deutscher Tatkraft war es zu danken, daß sich im damaligen Lodz eine
geschäftliche Gründung an die andere reihte. Im Jahre 1869
wurde die neue Gasanstalt in Betrieb gesetzt. Von außerordentlicher
Bedeutung war die Gründung der "Lodzer Handelsbank", die 1872
ihre Tätigkeit aufnahm. Bis dahin waren die Lodzer Unternehmungen
auf Warschauer und ausländische Bankverbindungen angewiesen
gewesen. Die 1828 vom Fürsten Drucki Lubecki gegründete
"Polnische Bank" bekam die Aufgabe, den neuen Industriezweigen in Polen
durch Gewährung langfristiger Kredite Handreichung zu tun. Bis
1879, als sie diesen Zweig ihrer Tätigkeit einstellte, hatte sie
langfristige Darlehen im Gesamtbetrage von 7 500 000 Rubel
gegeben; auf die Textilindustrie entfielen aber nur 850 000 Rubel.
Nutzen von der Kreditpolitik der russisch-polnischen Regierung und der
Tätigkeit der "Polnischen Bank" hatten fast ausschließlich
kapitalschwache Unternehmungen in der Provinz. Gegenüber den
Bemühungen polnischer Schriftsteller, die Verdienste der Lodzer
Deutschen um die Industrie in Polen zu schmälern und sie lediglich als
Verwalter des Kapitals der früheren polnischen Regierung
hinzustellen, wie es der deutschschreibende polnische Zivilingenieur
L. K. Fiedler (u. a. in den Heften 34 und 36 der
Polnischen Blätter, 1916) tut, muß darauf hingewiesen
werden, daß die Lodzer Industrie nicht nur ihre Anfänge,
sondern auch ihr Hinübergleiten in den Großbetrieb eigener
Umsicht und Tüchtigkeit verdankt. Die Lodzer Abteilung der
"Polnischen Bank" arbeitete in sehr bescheidenem Rahmen. Deshalb fand
der Plan zweier Warschauer Bankiers, in Lodz ein großes
Bankunternehmen zu gründen, die Billigung der einheimischen
Großindustriellen. Die Gründer der "Lodzer Handelsbank", die
mit einem Gründungskapital von 2 Mill. Rubel ins geschäftliche
Leben trat, waren die Firmen Scheibler, Grohmann, Schlösser,
Zachert, Hille und Dittrich u. a. Die späteren Umsätze
der Bank überstiegen die kühnsten Erwartungen; im Jahre
1910 erzielte sie einen Umsatz von 2019 Mill. Rubel.
Dem Wohnhäuserbau in Lodz wurde 1873 durch Gründung
einer Hypothekenbank, des "Lodzer Kredit-Vereins", ein frischer Impuls
gegeben. Ihre Gründer waren dieselben unermüdlichen
Pioniere: Scheibler, Grohmann, Peters u. a. Wesentliche Verdienste
an der Gründung hatte der frühere Stadtpräsident
Rosicki. Ihm wurde die Leitung des neuen Unternehmens überlassen.
Durch ihn bekam die Einrichtung gleich am Anfang polnischen
Charakter.
Auch die Freiwillige Feuerwehr wurde 1875 von Deutschen ins Leben
[89] gerufen. Allen
Anfeindungen Warschauer Zeitungsschreiber zum Trotz, hat sie sich ihre
deutsche Überlieferung bewahren können. Ebenso entsprang
der "Christliche Wohltätigkeits-Verein" dem Willen der deutschen
Bürgerschaft. Da es keine städtische Armenpflege gab, so hat
sich die Fürsorgearbeit des Christlichen
Wohltätigkeits-Vereins zu einem großen Netz von Anstalten und
Unternehmungen erweitert.
Lodz:
Kampf zwischen
Moskau und Lodz |
In den siebziger und achtziger Jahren entsprach das
rasche Wachstum des "polnischen Manchester" und seiner Industrie
amerikanischen Verhältnissen. Lodzer Warensorten wurden in ganz
Rußland begehrt; sie traten in erfolgreichen Wettbewerb zu den
Erzeugnissen des Moskauer Industriebezirks. Die Moskauer Fabrikanten
waren beunruhigt; sie riefen den russischen Nationalismus zu Hilfe, der
gegen die "fremdländische" Industrie im Grenzgebiet losziehen
mußte. Da konnte auch die Regierung sich nicht mehr dem
Drängen der Moskauer nach Maßnahmen gegen das "fremde
Kapital" entziehen; sie veranlaßte Gelehrte und Kommissionen,
Erhebungen über den Einfluß des "ausländischen
Kapitals" auf die russische Industrie anzustellen. Ein Parteigänger der
Moskauer Fabrikanten, Scharapow, hielt 1885 in Moskau und im
Industriebezirk von Iwanowo Wosnjessensk Vorträge über die
Frage: "Warum Lodz und Sosnowice Moskau besiegen!" Er sprach von der
"parasitischen" Natur der Lodzer Industrie und der Notwendigkeit, eine
Zollgrenze zwischen Polen und Rußland zu schaffen, damit der
russische Markt nicht mit den Lodzer Artikeln überschwemmt
werde. Der Regierung wurden germanisatorische Absichten unterstellt, weil
sie angeblich die deutsche Industrie in Polen zuungunsten der echtrussischen
im Moskauer Bezirk begünstige. Rosa Luxemburg bezeichnete
treffend Scharapows Tun mit den Worten: "Scharapow hat die ganze
Kampagne des Moskauer Kattuns gegen den Lodzer Barchent zu einem
historischen Zweikampf der slawischen Rasse mit der germanischen
aufgebauscht."
Scharapows Agitation hatte die Wirkung, daß sich eine Abordnung der
Moskauer Fabrikanten nach Petersburg begab und bei der Regierung wegen
Wiedereinrichtung der Zollgrenze zwischen Polen und Rußland
vorstellig wurde. In ganz Rußland interessierte man sich für den
Fall und nahm für die Moskauer Partei. Unter dem Zwang der
öffentlichen Meinung sah sich die Regierung genötigt, eine
Kommission zur Ermittlung der Produktionsbedingungen der Lodzer
Industrie nach Polen zu senden. In der Kommission wurden
Vor- und Nachteile der örtlichen Bedingungen beider
Industriemittelpunkte erörtert, mit dem Ergebnis, daß sie
sich am Ende gegen die Schaffung einer Zollgrenze aussprach. Doch die
Moskauer wollten den Kampf gegen Lodz noch nicht verlorengeben. Bei der
Eröffnung der Messe in Nishni Nowgorod 1887 traten sie an den
Finanzminister, legten noch einmal ihre Gründe dar und ersuchten
um Erhöhung des Zolles für die nach Polen eingeführte
Rohbaumwolle. In der Folge blieben die Bemühungen der Moskauer
Industrieherren nicht ohne Ergebnis. Das neue Fremdengesetz von 1887
beschnitt die Rechte der deutschen Einwanderer und leitete die
deutschfeindliche Politik der russischen Regierung ein. Das deutsche
Vereinsleben in Lodz erlitt allerlei Hemmungen und den reichsdeutschen,
der Landessprachen nicht mächtigen Fabrikmeistern [90] wurde die Tätigkeit erschwert, so
daß ein Teil von ihnen, in der Befürchtung, ausgewiesen zu
werden, zur griechisch-katholischen Kirche übertrat. Reichsdeutsche
durften nicht mehr außerhalb der Städte Besitzer
unbeweglichen Eigentums werden. Die Maßnahmen der Regierung
gegen die "inneren Deutschen" entsprachen ihrer damaligen
deutschfeindlichen Richtung in der großen Politik.
Aber auch die Lodzer Deutschen waren nicht untätig geblieben. Sie
reichten eine Denkschrift ein, in welcher bewiesen wurde, daß sie sich
in ungünstigeren Verhältnissen als die Moskauer
Fabrikbesitzer befanden. Nun berief die Regierung eine neue Kommission,
die sich zuungunsten der Lodzer Industrie aussprach. So ging es noch einige
Male im Wechsel der politischen Stimmungen hin und her. Geheimrat
Brandt, der sich im Auftrage des Finanzministeriums mit der Ermittlung des
Einflusses des ausländischen Kapitals auf die wirtschaftliche
Entwicklung des russischen Reiches befaßte und das Ergebnis seiner
Arbeiten in einem dreibändigen Werke niederlegte, wurde zum
Fürsprecher der Lodzer Industrie. Er faßte sein Urteil in die
Worte zusammen: "Wenn die russische Textilindustrie eine so hohe
Entwicklung gewonnen hat, wenn sie in der Herstellung billiger
Manufakturwaren für den Massenkonsum hinter keinem
europäischen Staat zurücksteht, so dankt sie das in
hervorragendem Maße der Konkurrenz der polnischen
Industriegebiete, wobei die letzteren sich nicht in Klagen über Klagen
ergehen, sondern ihre Produktion zu verbilligen suchen durch technische
Verbesserungen und durch Verzicht auf große Reingewinne."
Lodz:
Regierungsbeamte
über die Vorzüge des
Lodzer Arbeitgebers |
Bis dahin hatten die Lodzer Deutschen mit ihren
Erzeugnissen einen stillen Siegeslauf durch ganz Rußland
unternommen. Nun standen sie auf einmal im Mittelpunkt des
öffentlichen Interesses. Zeitungsartikel und Broschüren
beschäftigten sich mit ihnen; je nach dem Standpunkt des Verfassers
war das Urteil über sie ein günstiges oder ungünstiges.
Alle, die die wirklichen Verhältnisse kennen lernten, fanden
anerkennende Worte für die Lodzer Deutschen. So
äußerten sich zwei Mitglieder der ersten Regierungskommission
Iljin und Longowoj (Berichte der Mitglieder der Kommission zur
Untersuchung der Fabrikindustrie im Königreich Polen,
Petersburg 1888): "Der Lodzer Fabrikant ist nicht nur Inhaber der Fabrik,
sondern eine Person, die praktisch bis zu den geringsten Kleinigkeiten mit
ihrem Geschäft vertraut ist. Er wohnt in Fabriknähe,
beaufsichtigt den gesamten Herstellungsgang und ist überall
eingeweiht, sogar dann, wenn bei großer Ausdehnung der
Unternehmung ein Fabrikdirektor vorhanden ist. Er verfolgt genau die
Ergebnisse seines Produktionszweiges im Auslande, bestellt, sobald er von
neueren, besser und ausgiebiger arbeitenden Maschinen erfährt, ohne
Bedenken solche, wenn auch seine bisherigen Maschinen noch in gutem
Zustande sind. Die Mehrzahl der Lodzer Fabrikanten verdankt ihre
gegenwärtige Lage der persönlichen Betätigung. Nicht
wenige von ihnen haben ihre Laufbahn vom einfachen Arbeiter begonnen,
als solche in fremden Fabriken gearbeitet, mit Eifer bei der Arbeit und unter
Einschränkung der persönlichen Bedürfnisse bis aufs
äußerste, haben sie sich bei andauernder Verfolgung des einmal
gesetzten Zieles zur Stellung eines Fabrikanten emporgeschwungen. Das
Interessanteste dabei ist, daß sie heute (1886) noch, trotz der
großen, von ihnen erworbenen Kapitalien, [91] bei ihren alten Gewohnheiten verbleiben und
sich der Fabrikarbeit während derselben zwölf Stunden im
Tage widmen, indem sie als erste die Fabrik betreten und sie als letzte wieder
verlassen. Dem Äußeren nach ist es manchmal schwer, sie von
gewöhnlichen Arbeitern zu unterscheiden."
Lodz:
Lodz im Urteil
der russischen und
polnischen Presse |
Ein anderer Gelehrter, Bjelow, der ebenfalls die
Lodzer Fabrikanten aus eigener Anschauung kennen lernte, schrieb in seiner
Broschüre Lodz und Sosnowice. Lodz und Moskau (St.
Petersburg, 1892):
"Vor allem ist der Lodzer Fabrikant Spezialist seines
Faches, das er vorzüglich kennt. Alle größeren
Fabrikanten, mit Ausnahme von Scheibler und wenig anderen, haben sich
aus dem Arbeiterstande emporgearbeitet... Jetzt sind sie alle
Millionäre, die ihre Millionen im Verlaufe von
25 - 30 Jahren zusammenbrachten... Alle gingen durch eine
schwere Schule. Sie begannen von der Pike auf und ereiferten sich in
dreizehnstündiger Tagesarbeit. Sie alle stehen jetzt an der Spitze ihrer
Geschäfte, in der gleichen Schule ununterbrochener Arbeit und bilden
sich in ihren Kindern würdige Nachfolger heran. Um sechs Uhr
früh sind sie schon in ihrer Fabrik und um acht Uhr in ihrem Kontor.
Die Fabrik, das Kontor, die Familie, - das ist ihre Welt, hinter deren
Grenzen für sie nichts mehr existiert. Einmal im Jahre reisen sie ins
Ausland. Das ist ihre Erholung. Aber auch hier immer dieselbe Sorge um die
Fabrik. Sie sehen hier genau alles neue an, erfassen richtig daraus das, was
ihnen nützen kann und kehren mit neuen technischen Verbesserungen
ausgerüstet zurück. Der Lodzer Fabrikant kennt sein
Geschäft von A bis Z, folgt fortwährend dem
Geschäftsgang, ohne Unterbrechung; deshalb führt er es mit
sicherer Hand, ohne Schwankungen. Deshalb wuchsen auch die Lodzer
Fabriken so schnell und mit solchem Erfolg heran. Lodz: das lebendige
Beispiel der in Rußland nicht immer verstandenen Tatsache, daß
gesundes Wachstum der Produktion mehr von der Arbeit und vom
Können, als vom Kapital abhängt."
Bitter ruft Bjelow
bei dem Vergleich des Moskauer mit dem Lodzer Fabrikanten aus:
"Die
breite russische Natur bedarf vieles, an das der Lodzer Spezialist gar nicht
denkt, das aber trotzdem eine Konzentration unmöglich macht."
Und an einer anderen Stelle schildert er noch weiter die Tugenden der Lodzer
Deutschen und hält sie seinen Landsleuten, die fürchteten, von
den Lodzer Fabrikanten überrannt zu werden, als Spiegel vor:
"Die
deutschen Unternehmer in Polen lernen ihre Angestellten selbst an und
schätzen sie nachher: in Rußland lernt man sie nicht an und
schätzt sie auch nicht. Bei den Deutschen ist das Dienstjubiläum
eines Angestellten ein Feiertag der ganzen Fabrik, in Rußland wird oft
ein verdienstvoller Angestellter aus Laune entlassen. Bei den Deutschen
bekommt das einmal festgelegte Geschäft seine bestimmte Leitschnur;
in Rußland hat jeder neue Leiter neue Einfälle, die oft der
früheren Entwicklung des Werkes widersprechen. Bei den Deutschen
hat jedes Werk sein ausgeprägtes Äußeres; in
Rußland hat es dies meist gar nicht. Die Deutschen sind in
unmittelbaren Fabrikausgaben sehr freigiebig und in kostspieligen
zurückhaltend; bei den Russen ist es umgekehrt. Mit Ausgaben
für Verwaltungseinrichtungen, für Direktorwohnungen wird in
Rußland nicht gekargt, während die Dampfkessel unbezahlt
geblieben sind und aus allen Fugen dampfen. Die Deutschen fahren einmal im
Jahre nach Deutschland, eigentlich nur, um sich Neues anzueignen. Die
Russen [92] können nicht
einmal das verwerten, was ihnen auf die Fabrik gebracht wird."
Die Äußerungen der russischen Gelehrten stehen in
wohltuendem Gegensatz zu den Veröffentlichungen polnischer
Schriftsteller, die zu gleicher Zeit oder in den nächsten anderthalb
Jahrzehnten Sitten- und Zustandsschilderungen aus Lodz bieten wollen.
Außer zahlreichen Zeitungs- und Zeitschriften-Aufsätzen, in
denen die Verfasser sich bemühten, keinen guten Faden an den
Lodzer Deutschen zu lassen, sind die Bücher Lodz, das gelobte
Land von Reymont, Baumwolle von Kosiakiewicz und
Lodz von dem berüchtigten Stefan Gorski zu nennen.
Erst allmählich legten sich die Staubwolken, die die leidenschaftlichen
Erörterungen über die Lodzer Industrie aufgewirbelt hatten.
Recht ruhig ist es aber seitdem nie geworden. An
lügnerischen Behauptungen hat es die nationalistische russische Presse
nicht fehlen lassen. Einige Jahre vor dem Kriege begann sie den Warschauer
Zeitungen Sekundantendienste zu leisten und den Lodzer Deutschen
hochverräterische Neigungen zu unterstellen. Aus vielen Beispielen
einer den Lodzer Deutschen zur Gefahr gewordenen hetzerischen
Tätigkeit sei ein im Sommer 1913 in der Nowoje Wremja
erschienener Aufsatz auszugsweise mitgeteilt. Die Zeitung beginnt ihre
Verleumdungen mit den Sätzen:
"Wenn wir die Eroberung
unseres Weichsel- und Südwestgebietes durch die deutsche Industrie
genauer ins Auge fassen, so ist der Gedanke an die Möglichkeit einer
Sabotage im Kriegsfalle um so weniger abzuweisen, als die Verbindung
dieser deutschen Fabriken auf russischem Boden mit ihren deutschen
Mutterhäusern ununterbrochen fortbesteht und sie daher nur als
Vorposten für den Drang nach Osten anzusehen sind. Diese
Verbindung der russischen Deutschen mit ihrer alten Heimat war besonders
deutlich zur Zeit der Revolution (1905 - 07), wo eine Reihe von
deutschen Fabriken in Lodz und Sosnowice ihre Verwaltungen nach Berlin
verlegten. Was eigentlich in diesen deutschen Fabriken geschieht, wo vom
ersten Direktor bis zum letzten Arbeiter nur Deutsche angestellt sind und
nur deutsche Maschinen und deutsche Materialien gebraucht werden,
entzieht sich natürlich unserer Kenntnis. Einige Tatsachen deuten
jedoch darauf hin, daß außer den kommerziellen Interessen
ihnen auch militärische Dinge sehr am Herzen liegen. Schon im Jahre
1892 hat der General Kossitsch darauf hingewiesen, daß die deutsche
Invasion ganz systematisch vor sich gehe und von der deutschen Regierung
unterstützt werde. Diese Worte werden jetzt durch eine Reihe von
neuen Tatsachen nur zu sehr bestätigt. Vor allen Dingen erscheint uns
das Bestreben der deutschen Übersiedler, sich
zusammenzuschließen, höchst gefährlich. Gibt es doch in
der »Hauptstadt von Neudeutschland«, Lodz, nicht weniger
als vierzig Vereine (18 Gesang-, 4 Sport-, 8 Feuerwehr- und viele
Schützenvereine). Viele von ihnen sind zudem ganz militärisch
organisiert. Diese deutschen Kolonistenvereine erfreuen sich zwar fürs
erste noch der größten Sympathien der Regierung, im Falle eines
Krieges dürfte aber Rußland gerade von ihnen große
Überraschungen erleben... Wir könnten noch viele derartige
Beweise mitteilen, die auf die deutsche Industrie einen Schatten werfen. Doch
die angeführten dürften genügend den Beweis geliefert
haben, daß die in Frankreich beliebten Methoden der deutschen
Spionage auch bei uns in [93] Rußland angewandt werden. Die
Aufgabe der deutschen Spionage dürfte aber zweifelsohne über
den engen Rahmen der Erkundigung hinausgehen und den Boden vorbereiten
für eine verräterische Sabotage, deren Resultate sich schwer
voraussagen lassen. Noch ist es nicht zu spät, um die wahre Aufgabe
der deutschen Industrie in Rußland zu erkennen. Es wäre daher
endlich einmal an der Zeit, diese Frage vom Standpunkt der
Landesverteidigung anzusehen und auf kurze Zeit wenigstens das
industrielle Interesse beiseite zu lassen."
Noch während des Krieges hat die Nowoje Wremja,
Rußlands größte Zeitung, ihren Sonderkrieg gegen die
Lodzer Deutschen fortgesetzt.
Lodz:
Verschärfung des
deutsch-polnischen
Gegensatzes |
Nach den einengenden Bestimmungen der
russischen Regierung, die dem mächtigen Aufschwung des deutschen
Gedankens in Lodz Einhalt geboten, griffen Kleinmut und Vorsicht um sich.
Mußte man doch immer wieder mit der Wiederholung der
Bemühungen der Moskauer Fabrikanten, ihren Kattuninteressen ein
nationalistisches Mäntelchen umzuhängen, rechnen. Und der
Versuch, die russische Regierung zur Errichtung einer Zollgrenze zwischen
Polen und Rußland zu gewinnen, ist nach wenigen Jahren wiederholt
worden. Da wurden in Lodz die Industriefragen allen anderen Interessen
vorgezogen. Die Behandlung öffentlicher Fragen überließ
man den in den letzten Jahrzehnten massenhaft eingewanderten Vertretern
der polnischen und jüdisch-polnischen Intelligenz, die als
Rechtsanwälte, Ärzte, Ingenieure, Techniker und Angestellte in
dem so oft verlästerten "deutschen Lodz" ihr auskömmliches
Fortkommen fanden. Die Lodzer Deutschen vermieden alles, was nach
Bekundung deutschen Gemeinsinns aussah, nachdem sie die Erfahrung
gemacht hatten, daß jedes harmlose Tun von der Warschauer Presse
beargwöhnt und als Ausfluß "pangermanistischer Neigungen"
hingestellt wurde. Man hatte in Lodz gesehen, welchen Widerhall die
Denunziationen in den russischen Blättern gefunden hatten. So
unterließ man, den Fortschrittssinn zu pflegen und sah davon ab, jede
Art von Verbesserungstätigkeit, die in den eigenen Betrieben so
schöne Erfolge zeitigte, auf städtische Verhältnisse zu
übertragen. Man wußte, daß die städtische
Wirtschaft im argen lag und regte bescheiden hier und da Reformen an,
doch gab man sich auch zufrieden, als es beim Alten blieb. Von der
künftigen städtischen Selbstverwaltung wurde der Beginn
neuzeitlicher Einrichtungen erwartet. So kam es, daß die deutsche
Kultur in Lodz erstarrte und nur noch in ruhender Form vorhanden
war.
Am Anfang der 80er Jahre begannen in Lodz sich die Früchte
nationaler Verhetzung zu zeigen; zunächst hatten sie noch einen
konfessionellen Untergrund. Aber auch die sozialen Gegensätze trugen
dazu bei, daß die Spannung zwischen den evangelischen Arbeitgebern
und den frischeingewanderten polnischen Massen sich verschärfte. So
entstand auf dem Lodzer Boden eine gefährliche Mischung von
Klassen-, Rassen- und Religionshaß. Zu Ostern 1886 erwartete man
nach einer alten Prophezeiung den Weltuntergang, zum mindesten aber
weltbewegende Ereignisse. In Lodz entzündete sich die Phantasie der
polnischen Arbeiter an den Vorstellungen einer Bartholomäusnacht.
Je näher das Osterfest heranrückte, um so heftiger wurden die
Drohungen gegen die Deutschen. Die erst vor kurzem fertiggebaute
evangelische St. Johanniskirche sollte zusammen mit den [94] zur Andacht gekommenen Gläubigen
in die Luft gesprengt werden und zu gleicher Zeit in den Straßen der
Stadt ein Blutbad beginnen. Auch auf dem Lande erhitzten sich die
Gemüter der polnischen Bauern an der Ausmalung der Ausrottung
aller Deutschen und der Inbesitznahme des Eigentums der deutschen
Nachbarn.
Nach den Berichten der Mitarbeiter der Warschauer Zeitungen hatte Lodz
in den 80er und 90er Jahren noch ein deutsches Gesicht. Die Versuche, in
Lodz polnische Zeitungen zu gründen, waren bis dahin noch immer
fehlgeschlagen. Von den 76 134 ständigen Einwohnern, die die
Stadt am 1. Januar 1895 hatte (die übrigen über 200 000
Einwohner waren "unbeständige", d. h. auf auswärtigen
Pässen sich aufhaltende), waren 32 958 Deutsche und nur
25 969 Polen. Auf den Hauptstraßen und in den
Geschäften hörte man nur selten ein polnisches Wort. Wenn die
polnischen Zeitungen darüber klagten, daß mit den in Lodz
eingewanderten polnischen Arbeitern und Angestellten ein
Germanisierungsprozeß vor sich gegangen sei und sogar eine Pariser
Zeitschrift sich mit der Eindeutschung polnischer Familien in Lodz, infolge
des "preußischen Dranges nach Osten", befaßte, so hatten die
Schreiber der betreffenden Aufsätze insofern recht, als die Arbeiter in
den Fabriken in ihrem Verkehr mit den Meistern genötigt waren,
deutsche Sprachbrocken zu übernehmen, weil der polnischen Sprache
Bezeichnungen für die meisten technischen Gegenstände und
Vorgänge fehlten. Es hatten im Laufe der Jahrzehnte auch manche
nach Lodz gekommenen Polen in deutsche Familien eingeheiratet und sich
ihrer Umgebung angepaßt.
In Lodz zeigte es sich, daß die polnische Gesellschaft sich von dem
Gedanken, zu polonisieren, voll beherrschen läßt. Die Mitte der
90er Jahre entstandenen neuen polnischen Zeitungen ließen keine
Gelegenheit vorübergehen, ihren deutschgegnerischen Gefühlen
Ausdruck zu geben. Die von Deutschen gegründete und von Deutschen
geleitete Gasanstalt schrieb ihre monatlichen Gasrechnungen in deutscher
Sprache aus. Man griff die Leitung der Anstalt so lange an, bis sie
umschwenkte. Spielten russische Militärkapellen in
Konzertgärten deutsche Weisen, so ereiferten sich die Zeitungen, weil
man "auf slawischen Instrumenten hakatistische Hymnen" spiele. Wollte
man in der Aufzählung solcher kleiner Züge fortfahren, so
ließen sich hunderte von Beispielen von Unduldsamkeit der erst vor
kurzem eingewanderten Gäste gegen die einheimischen Deutschen
anführen. Durch die ausdauernde Arbeit wurde erreicht, daß
die Lodzer Deutschen sich noch eingeschüchterter und unfreier gaben.
Quoll es dennoch in dem einen oder anderen bitter auf, wenn er sich unsanft
auf die Zehen getreten fühlte und versuchte er, sich gegen den ihm
auferlegten Zwang zu wehren, so erhob sich ein mächtiges Brausen im
polnischen Blätterwalde, so daß dem also Gekennzeichneten die Lust
verging, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
Erst die Revolution von 1905 führte zum Wiedererwachen der
Deutschen in Lodz. Sie zeigten, daß es auch in dem verleumdeten Lodz
noch ideale Regungen gab. Eine politische Partei wurde gegründet
und durch die Fährnisse, die ihr und ihren Führern von den
linksstehenden radikalen Gruppen bereitet wurde, hindurchgeleitet. Die
"Konstitutionell-liberale Partei Deutschsprechender" ließ sich in ein
Wahlkompromiß mit den polnischen Nationaldemokraten ein und
verhalf dem Kandidaten der letzteren [95] zum Siege. Zum Dank dafür lehnte es
der Lodzer Abgeordnete ab, sich der in der Reichsduma zu
Hochverrätern gestempelten Lodzer Deutschen
anzunehmen. - Deutsche Arbeiter und Meister schlossen sich zu einem
"Verein deutschsprechender Arbeiter und Meister" zusammen. Er sowohl
wie auch die Partei zeigten durch ihre Namengebung, wie sehr sie auf die
Unduldsamkeit der anderssprachigen Nachbarn Rücksicht nahmen,
indem sie sich nur als "Deutschsprechende" bekannten. Mehr in die
Tiefe und Breite als der genannte Arbeiterverein wirkte die deutsche
"Christliche Gewerkschaft". Die Kreise des deutschen Mittelstandes
schlossen sich im "Deutschen Gewerbeverein"
zusammen. - Nach einer unvollkommenen Zwischenbildung schritten
die Lodzer Deutschen zur Gründung des Deutschen Gymnasiums, das
immer ein Ruhmeskapitel in der Geschichte des Lodzer Deutschtums sein
wird. Schöpfer dieser Bildungen waren die Fabrikbesitzer Ernst
Leonhardt, Ludwig Schweikert, Franz Schimmel u. a.
Lodz:
Der Lodzer Schulkampf |
In früheren Jahrzehnten hatten Deutschen,
Polen und Juden getrennte Schulkassenverwaltung. Da in Lodz
zumeist die Deutschen die Steuerleistenden waren, so trachteten die
polnischen Kreise nach einem Zusammenschluß der Kassen zum
Unterhalt der Volksschulen. Während der von Moskau aus
unternommenen Angriffe gegen die Lodzer Industriedeutschen gelang es
ihnen nicht nur ihre Absicht durchzusetzen, sondern auch bei der russischen
Schulbehörde zu erreichen, daß an den Lodzer Volksschulen
immer mehr polnische Lehrer angestellt wurden. Mit der Vermehrung der
polnischen Lehrer verschob sich auch das Verhältnis der
neuaufgenommenen Schüler zuungunsten der deutschen. So kam es,
daß 1907, als sich deutsche Männer, an ihrer Spitze der
Schulmann Heinrich Zirkler, mit der Neuordnung des deutschen
Volksschulwesens befaßten, festgestellt wurde, daß in den letzten
25 Jahren sich die Zahl der deutschen Schulkinder um die Hälfte
verringert hatte, während die Bevölkerungszahl um das
Doppelte zugenommen hatte. Noch rechnete man mit Verständnis und
Einsicht auf der anderen Seite. Deutscherseits war man bereit, den Polen
72 v. H. der Eingänge der gemeinsamen Kasse
zuzubilligen und sich selber mit 28 v. H. zu begnügen,
obgleich die Steuern zu 70 v. H. von den Deutschen getragen
wurden. Als aber an die Deutschen das Ansinnen gestellt wurde, die
Vereinbarung nur als Provisorium gelten zu lassen, da die Ersetzung der
deutschen Sprache in den Schulen nur eine Frage der Zeit sei und der durch
Mithilfe der Deutschen zum Dumaabgeordneten gewählte polnische
Politiker fragte: "Wie lange noch wollt ihr deutsch
bleiben?" - brachen die Deutschen die Verhandlungen ab und
sicherten sich den Beistand der russischen Schulbehörde, was ihnen
bei dem damaligen Kurs der russischen Regierung nicht schwer wurde. Die
Schulkassentrennung und mit ihr der Bestand der deutschen Volksschule in
Lodz war erreicht; - die Polen haben die erlittene Schlappe nie
verwinden können. Noch lange nachher befaßten sich die
Lodzer, Warschauer und Petersburger Zeitungen mit dem Fall und gossen
ihr volles Füllhorn von Haß und Hohn über die Lodzer
Deutschen. Der Kurjer Warszawski, die angesehenste und
größte Warschauer Zeitung schrieb: "Die deutsche Aktion
nimmt bei uns tatsächlich oft phantastische Formen an. In Lodz wird
sie geradezu bedrohlich für den Fortgang der polnischen Sache und
nimmt die denkbar okkupationsmäßigste Gestalt an." Eine
geheime "Ge- [96] sellschaft zur
Nationalisierung der Schulen" sandte an die deutschen Lehrer und
Lehrerinnen Drohbriefe, in denen folgende Sätze vorkamen: "Ihr
Lehrer deutscher Nationalität, ihr seid hundertmal schlimmer als die
Russen. In Eurer russifikatorischen Tätigkeit wurdet ihr nicht einmal
von der vaterländischen Idee geleitet. Als gemietete Henker habt Ihr
mit unseren durch Blutschweiß erworbenen Groschen die Seele
unserer Kinder getötet und in Eurer Zerstörungsarbeit die
Russen übertroffen." Am Schlusse des anmutigen Schriftstücks
hieß es: "Früher oder später müßt ihr
weichen! Zwinget uns nicht zur Anwendung von Maßregeln, vor denen
wir nicht zurückschrecken werden!" - Die Lodzer Zeitung
Rozwoj veröffentlichte in nicht mißverständlicher
Absicht zu einer Zeit, als in Lodz politische Morde an der Tagesordnung
waren, Namen und Wohnungsangaben der Mitglieder der deutschen
Schulkommission. General Kasnakow, der aus Petersburg gesandte
Bezwinger der Lodzer Revolution, bestrafte das Blatt.
Lodz:
Kultur- und politische
Arbeiten der
Lodzer Deutschen |
Von Zirkler und seiner Gefolgschaft, denselben
wackeren Männern, die die Selbstverwaltung der deutschen
Volksschule in Lodz durchsetzten, ging die Gründung des "Deutschen
Schul- und Bildungs-Vereins" aus, der sich in den ersten Jahren seines
Bestehens um Förderung des deutschen
Schul- und Bildungswesens bemühte. Dieser Gründung folgte
die "Vereinigung deutschsingender Gesangvereine im Königreich
Polen", der "Deutsche Theaterverein" und eine große Anzahl
deutscher Gesang- und Turnvereine. Gegner der Lodzer Deutschen
berichteten über Warschau nach Petersburg, daß sie sich
militärisch organisierten. Ein Warschauer Zeitungsmann, Stefan
Gorski, machte es sich zur Aufgabe, den Deutschen in Stadt und Land
hochverräterische Pläne nachzuweisen. Er rühmte sich,
dem Grafen Bobrinski Material zu seinem maßlosen Angriff gegen die
Lodzer Deutschen geliefert zu haben. Nach der Darstellung Petersburger
Blätter führte der panslawistische Graf auf der Tribüne
der Reichsduma am 1. April 1909 aus, daß die Deutschen, obwohl sie
nur den vierten Teil der Bevölkerung bildeten, der ganzen Stadt ihren
Geist aufgeprägt hätten. Die deutschen
Schützen- und Jagdvereine seien Vorposten der deutschen Armee.
Auch die deutschen Turnvereine in Lodz seien militärisch
organisiert.
Die Männer, die in den Revolutionsjahren die Führung des
Lodzer Deutschtums übernommen hatten und das deutsche Erbgut
verwalteten, bemühten sich auch weiterhin um den Fortbestand des
Deutschtums. Als die russische Regierung die Einführung der
städtischen Selbstverwaltung in Polen in Aussicht nahm, bewiesen sie
in einer Denkschrift die geschichtlichen Rechte der Lodzer Deutschen, die
bei den künftigen städtischen Wahlen nicht von der Masse
erdrückt werden durften. Lodz hatte 1911 510 000 Einwohner,
davon waren 121 000 Deutsche. Nach offiziellen Angaben gab es 111
polnische Betriebe (darunter manche in den Händen polonisierter
Deutscher) mit einer Jahresproduktion von 19 Millionen Rubeln, 585
jüdische Betriebe mit einer Produktion von 95 Millionen Rubeln, 332
deutsche Betriebe mit einer Produktion von 150 Millionen Rubeln und 15
verschiedenartige Betriebe (Aktiengesellschaften, deren Aktionäre
verschiedenen Nationalitäten angehörten) mit einer Produktion
von 31 Millionen Rubeln. Die Großbetriebe waren also immer noch in
deutscher Hand. Die größere Hälfte der
Gesamtproduktion von 600 Millionen Mark [97] entfiel auf deutsche Betriebe. Eine nach
Petersburg entsandte Abordnung trug die Wünsche der Lodzer
Deutschen den Ministerien vor. Sie fand williges Gehör.
Seit langer Zeit lastete auf den Lodzer Deutschen der Vorwurf, nichts
unternommen zu haben, um zu einer besseren Presse zu kommen. Die beiden
bestehenden Zeitungen huldigten offen opportunistischen
Grundsätzen. Erst die 1911 gegründete Lodzer
Rundschau unternahm es, bewußt deutsche
Zeitungsgrundsätze zu pflegen. Sie sprach es in ihren
Einführungszeilen aus, daß sie nicht nur ein in deutscher
Sprache erscheinendes Nachrichtenblatt, "sondern auch ihrem Geiste nach
deutsch und der bewußte Anwalt der mannigfachen Interessen der
Mitbürger deutscher Zunge sein wolle". Wie sehr die neue Zeitung
nötig war, erhellt die Tatsache, daß sie nach dem ersten Jahr
ihres Bestehens, trotz allgemeiner geschäftlicher Stockung, über
einen Bestand von 4000 Abonnenten verfügte. Der von der Lodzer
Rundschau gepflegte Geist war den russischen Machthaber zu deutsch;
das Weitererscheinen der Zeitung wurde im Frühjahr 1913
untersagt.
Als im Herbst 1912 die Reichsdumawahlen vor der Tür standen, hat
die Lodzer Rundschau es unternommen, für ein Brechen mit
der bisherigen Gepflogenheit der Lodzer Deutschen, dem polnischen
nationaldemokratischen Kandidaten schlechtbelohnte Schrittmacherdienste
zu leisten, einzutreten. Ihrem Freundeskreise gelang es, die Aufstellung eines
eigenen Kandidaten der Lodzer Deutschen zu ermöglichen. In zwei
von den vier Wahlbezirken errangen die Deutschen den Sieg. In den beiden
anderen fiel der Erfolg den Juden zu; die Polen waren leer ausgegangen. Da
die Wahlmänner der Arbeiterkurie für den jüdischen
Kandidaten stimmten, sandte Lodz einen jüdischen Abgeordneten
nach Petersburg. Für die Lodzer Deutschen waren die Wahlen eine
Kraftprobe. Sie sahen, wie stark sie waren und daß sie, ohne
überheblich zu werden, auf einen vollen Erfolg bei den
nächsten Wahlen hoffen durften.
Der Niedergang des
[evangelischen]
Deutschtums
in Warschau |
In Warschau waren dem
mächtigen Aufschwung des Deutschtums Zeiten des Niederganges
gefolgt. In ihren Bemühungen um ihr äußeres
Fortkommen vergaßen die Warschauer Deutschen nur zu bald die
Pflege der geistigen Werte. Auch diejenigen, die noch gut deutsch empfanden
und für ihre Person die Anpassung an das fremde Volkstum
ablehnten, sahen ruhig zu, wie ihre Kinder im Verkehr mit polnischen
Mitschülern die nationale Prägung des Elternhauses zu
verwischen trachteten. Allmählich wurde Polnischsein
gleichbedeutend mit Feinwerden. Alle die den Aufstieg in die höheren
gesellschaftlichen Schichten mitmachen wollten, waren beflissen, ihre
Abstammung zu verleugnen. Und als in späterer Zeit der polnische
Nationalismus sich in Warschau zu seiner schärfsten Form entwickelte
und unduldsam gegen alles Deutsche wurde, da suchten viele ihrem Namen
eine polnische Form oder durch Akzente einen französischen oder
englischen Anstrich zugeben. Noch heute ist man überrascht, wie viele
Warschauer Bürgerfamilien mit deutschem Namen bestrebt sind, ihre
Abstammung auf fremde, nichtdeutsche Einwanderung
zurückzuführen.
[98] Auch in kirchlichen
Kreisen galt Deutsch als Sprache der Handwerker und Kolonisten.
Ihretwegen mußten die deutschen Gottesdienste beibehalten, ja sogar zu
Hauptgottesdiensten erklärt werden. Daß es lange Zeit so blieb,
kann dem deutschen Empfinden der Generalsuperintendenten Ludwig und
Everth zugeschrieben werden.
Noch zu Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte die
Gemeinde eine große deutsche Mehrheit. Superintendent
Schöneich, der an der Polonisierung der evangelischen Kirche
arbeitete, erwähnt in seinem Synodalvortrag über "Die Sprache
der Kirche" (1905), daß es 1860 in Warschau noch 177 deutsche und
nur 60 polnische Konfirmanden gab, während 1905 nur noch 100
deutsche aber schon 235 polnische Konfirmanden gezählt
wurden. - Im Februar 1898 berichtete ein Warschauer Korrespondent
der St. Petersburger Zeitung, daß er "Hunderte von
Evangelischen kenne, die wohl polnisch verstehen und im Umgange polnisch
sprechen, deren Haus-, Mutter- und Herzenssprache dennoch die deutsche
ist." Gegen die Behauptung, daß alle Gebildeten zu Anhängern
des Polentums wurden, richtet sich seine Feststellung: "Ich kenne tausende
von Familien in Polen, die deutsch geblieben sind, ohne daß man ihnen
Bildung abzusprechen braucht."
Ein anderer Bericht gibt Gründe für die rasche
Entnationalisierung der nach Polen gekommenen Deutschen an: "Die starke,
das ursprüngliche nationale Wesen der fremden Einwanderer
absorbierende Anziehungs- und Assimilationskraft der Polen ist weit
entfernt, mit der fortschreitenden Zeit etwa abzunehmen; im Gegenteil, bis
auf den heutigen Tag verfallen die Fremden je länger je mehr diesem
scheinbar rätselhaften Zauberbanne, den Land und Leute auf sie
ausüben; denn schon die Nachkommen der Ausländer, die erst
um die Mitte des Jahrhunderts sich als Bürger in diesem Lande
niederließen, verstehen oft die Sprache ihrer Väter nicht mehr
und fühlen sich als Inländer vom Scheitel bis zur Sohle." Der
Assimilierung Rechnung tragend und sie mittelbar fördernd,
unternahmen es Anfang 1899 drei Pastoren, eine kirchliche Zeitschrift in
polnischer Sprache herauszugeben. In der Bezugseinladung wird ganz offen
darüber gesprochen, wie auffallend schnell die
deutsch-evangelischen Familien in Polen und besonders in Warschau ihre
angestammte Sprache und Eigenart abstreifen. Die Herausgeber des
Zwiastun ewangieliczny ("Evangelischer Bote") äußern
sich wie folgt: "Wir sind evangelische Christen polnischer Zunge und unsere
Herzen sind durchglüht von heißer Liebe zu unserem Glauben
sowohl als auch zu unserer Nationalität." Der Berichterstatter der
St. Petersburger Zeitung meinte dazu etwas boshaft: "Die erste
Nummer wurde Ende Januar (1899) ausgegeben, und dann wird der
Evangelische Bote regelmäßig monatlich erscheinen in
der polnischen Muttersprache (mowa ojczysna) seines Herausgebers,
des Herrn Pastor Bursche in Warschau und seiner Mitarbeiter, der Pastoren
Schultz in der Kolonie Neuhof und Schöneich in Lublin."
Der Überschwang des nationalen Gefühls bei den Teilnehmern
der Synode und den deutschnamigen Polen der Warschauer lutherischen
Gemeinde gibt dem Herausgeber des
Evang.-luth. Kirchenblattes, Pastor Angerstein in Lodz, Gelegenheit,
mit mildem Spott die Auswüchse [99] zu geißeln. So schreibt er im Jahrgang
1905 (Nr. 4): "In Warschau haben die »polnischen
Evangelischen« eine Feier anläßlich des vor 400 Jahren
geborenen Nikolaus Rej veranstaltet. Rej war der Gründer der
nationalen polnischen Literatur, vor ihm schrieben alle Gelehrten nur
lateinisch. Auch hat er sich durch den Einfluß Reformierter aus Genf
für die Schweizer Reformation begeistern lassen und schrieb gegen
Rom. Daß seiner die Reformierten gedenken, ist richtig, aber daß
man auch in der lutherischen Kirche sein Gedächtnis kirchlich feiert,
ist ein neuer Beweis, wie die polnisch-evangelische Idee das konfessionelle
Bewußtsein trübt." Und dieselbe nüchterne Kritik findet
sich in der nächsten Nummer, in der es heißt: "Zu der
Bemerkung über Nikolaus Rej ist hinzuzufügen, daß man
projektiert hat, zu seinem Andenken in der lutherischen Kirche in Warschau
eine Gedenktafel anzubringen. Einem Reformierten in der lutherischen
Kirche eine Gedenktafel! Alles aus Patriotismus!" - Daß das
Kirchenkollegium dann, wenn der "Patriotismus" es verlangt, hinsichtlich
seines konfessionellen Standpunktes sehr wandlungsfähig ist, bewies
es später, als es mit unechten Tönen sein Luthertum pries.
Im Oktober 1907 wurde [in] der St. Petersburger Zeitung (zu beachten
ist, daß sich dieses angesehenste deutsche Blatt Rußlands immer
leidenschaftslos gab) aus Warschau über Mißstände in
den Schulen der evangelisch-lutherischen Gemeinde geschrieben.
Zunächst wird die systematische Ausschaltung alles Deutschen
besprochen und einige Beispiele dafür angeführt, wie wenig die
Pastoren, die die Schulgottesdienste abzuhalten haben, die Zweisprachigkeit
der Gemeinde respektieren. Dann fährt der Verfasser fort: "Die
Elementarschulen der Gemeinde sind schon teilweise polonisiert, deutsche
Waisenkinder verlernen in einigen Monaten ihre deutsche Muttersprache. In
der Kinderbewahranstalt vermissen die Kinder die deutsche Sprache, und
zwar deshalb, weil die Vorsteherin der deutschen Sprache sich nicht zu
bedienen wünscht. Den Kirchendienern ist der Gebrauch der
deutschen Sprache untersagt. Selbst bei den Tafelaufschriften in den
Kirchenhallen ist die deutsche Sprache vermieden. Von dem großen
Kanzleischilde, welches seinerzeit mit der Aufschrift in drei Sprachen
versehen war, hat man die deutsche Sprache entfernt. Sogar in den
Mädchenschulen an der Kirche mußte die deutsche Inschrift der
polnischen Platz machen."
In der Entgegnung auf den Artikel eines Warschauer Deutschen ("Die
verzweifelte Lage der Deutschen in Warschau", Oktober 1907 in der St. Petersburger
Zeitung) - worin der Schreiber die
allmähliche Polonisierung der Gemeindeanstalten schildert und
u. a. erwähnt, wie der Vormund der Gemeindeschulen, Pastor
Loth, die Rechte der Deutschen mindere - schrieb
Generalsuperintendent Bursche, daß bei dem kurz vorher erfolgten
Schulbeginn von 70 neuaufgenommenen Kindern nur 15, und dabei zum Teil
noch mangelhaft deutsch sprachen, und rechtfertigte mit dieser Tatsache die
Ausschaltung der deutschen Schulgottesdienste. Die Zahlen bedürfen
einer Nachprüfung. Nach der Denkschrift des Kollegiums über
die Schulsprachenfrage vom Oktober 1909 herrschte jedenfalls bei der
Feststellung der Muttersprache der Schüler volle Willkür.
In der Denkschrift heißt es wörtlich: "Im Jahre 1906 wurde dem
Inspektor auf seine Anfrage, wie hoch der Prozentsatz der
deutschsprechenden [100] Kinder sei,
geantwortet, daß kaum 10 Prozent der Schüler sich zur
deutschen Muttersprache bekennen. In diesem Jahre wurde dem Inspektor
auf sein Ersuchen mitgeteilt, daß
20 - 25 Prozent der Kinder den Religionsunterricht in
deutscher Sprache erhalten." Also das Kirchenkollegium muß, als es in
die Enge getrieben wird, zugeben, daß die Zahl der
deutschsprechenden Kinder um mehr als das Doppelte höher sei, als
von ihm seinerzeit angegeben wurde, und das trotz dreier Jahre
zielbewußter Verdrängung des deutschen Einflusses! Keines
Zusatzes bedarf die im Anschluß an diese Feststellung gegebene
Erklärung, warum in der zweiklassigen Mädchenschule noch
immer 79 Mädchen den Religionsunterricht in deutscher Sprache
erhalten: "Die Kenntnisse in der deutschen Sprache sind bei den 79 Kindern
äußerst gering. Der deutsche Religionsunterricht erfolgt nur auf
besonderen Wunsch der Eltern, die glauben, daß ihre Kinder auf diese
Weise die deutsche Sprache leichter erlernen!"
Oft hört man, im Kirchenkollegium hätten
Toleranzgrundsätze eine Heimstätte gefunden. Dazu lese man
den höchst lehrreichen Revisionsvermerk des russischen
Schulinspektors aus dem Jahre 1909. Der russische Beamte stellt mit
dürren Worten fest: "Das Kollegium, das sich in das Recht der
Schüleraufnahme einmengt, weist den katholischen Kindern die freien
Plätze an, während für evangelische Kinder die Pforten
der Schule geschlossen bleiben!" Die russische Regierung, die sich damals
deutschfreundlich zeigte, hatte in wohlberechneter Absicht sich der
deutschen Minderheit der Warschauer evangelischen Gemeinde
angenommen und ihre Rechte vertreten.
Die Hintansetzung der deutschen Gemeindemitglieder durch das
Kirchenkollegium war eine der Hauptursachen für die
Gründung des "Deutschen Vereins für das Zartum Polen". In
dem Bericht der St. Petersburger Zeitung über die erfolgte
Aufnahme der Vereinstätigkeit heißt es:
"Der Verein hat sich
hohe und herrliche Aufgaben gestellt; soll doch die infolge der rastlosen
Tätigkeit vieler evangelischer Prediger in Warschau polonisierte
deutsch-evangelische Kirchenschule wieder ihrer ursprünglichen
Aufgabe zugeführt werden. Herrschen doch in derselben wahrhaft
skandalöse Zustände. Die Kinder dürfen dort nicht
einmal deutsch beten. Trotz wiederholter mündlicher und schriftlicher
energischer Proteste der Eltern werden die Kinder in der offiziellen deutschen
Schule zum polnischen Gebet genötigt. Aufgabe des Vereins ist ferner,
das schlummernde und verschüchterte Nationalgefühl der
Deutschen zu wecken und zu entflammen, damit sie den an sie
herantretenden Aufgaben gewachsen sind. Es ist zum Beispiel die als
deutsch-evangelische Gemeindeschule gegründete Anstalt so
konzessioniert und eingerichtet gewesen, daß die durch Ungunst der
Verhältnisse in polnischer Umgebung der Gefahr der Polonisierung
unterliegenden Kinder ihrer Muttersprache durch die Schule wieder
zugeführt werden. Die geistliche Schulleitung hat den Spieß
einfach umgedreht. Wer noch nicht polnisch konnte, mußte es in der
Schule lernen und der deutschen Sprache wurde nur der
allerdürftigste Raum gewährt. Und alle die Herren
führen deutsche Namen, haben deutsches Blut in ihren Adern, haben
noch im alten Dorpat studiert!"
Den Bemühungen des Vereins gelang es, die Gründung einer
städtischen Schule mit deutscher Unterrichtssprache durchzusetzen.
Das Kirchen- [101]
kollegium erschwerte in jeder Weise die Tätigkeit der opferfreudigen
deutschen Männer (einer von ihnen wurde als deutscher Spion
denunziert und einige Monate lang gefangen gehalten, bis seine Unschuld an
den Tag kam). Die russische Schulbehörte urteilte darüber:
"Das Kollegium unternimmt alle von ihm abhängigen Schritte, um den
Deutschen die Eröffnung einer besonderen, nicht polnischen Schule
unmöglich zu machen."
Generalsuperintendent Bursche, der damals einen vermittlenden Standpunkt
einzunehmen versuchte, trat für eine bedingte Berücksichtigung
der Rechte der deutschen Minderheit der evangelischen Gemeinde ein. Er
schrieb in seinem Zwiastun ewangieliczny: "Die Zahl der Deutschen
in der Warschauer evangelischen Gemeinde kann nicht genau festgestellt
werden, jedoch kann man sie auf 20 Prozent schätzen. (In
Wirklichkeit war sie viel höher.) Im Kollegium ist aber kein einziger
Deutscher. Das ist eine Ungerechtigkeit, welche wir Polen
empfinden sollten. Auf einige dreißig Kollegiumsmitglieder kann man
doch wohl auch zwei bis drei Sitze den Warschauer Deutschen geben. Unsere
Interessen verlieren dadurch nichts." Und der Erfolg dieser zarten Mahnung
war, daß man dem Generalsuperintendenten aus dem Kreise des
Kollegiums vorwarf, er vertrete einen einseitigen Standpunkt und neige zum
Hakatismus!
Schwere Zeiten haben die Warschauer Deutschen während des ersten
Kriegsjahres durchmachen müssen. Monatelang waren sie Zeugen
eines leidenschaftlichen Hasses gegen alles Deutsche. Deutsche Rede war
verpönt. Ließ sich dennoch ein deutsches Wort hören, so
wurde es schwer geahndet. Der Gast eines Mittagslokals, der seine
Abstammung durch Germanismen verriet, mußte recht lange auf
Bedienung warten. Aus den Zeitungsspalten grinste der
Völkerhaß in seiner widerlichsten Form den Warschauer
Deutschen entgegen. Ihr Herz krampfte sich zusammen, wenn sie lasen,
daß jeder Deutsche, der eine Schwelle überschreite, das Haus
entweihe und daß auch der hilfsbedürftigste Deutsche mit
Hunden davongehetzt zu werden verdiene.
Als nach der Besetzung Warschaus durch die deutschen Truppen der
zurückgebliebene deutsche Teil der Gemeinde schwache Versuche
machte, in der Schulfrage zu seinem Recht zu kommen und die deutsche
Verwaltung durch ihre Verordnungen den deutschen Bemühungen
entgegenkam, nahm das Kollegium der
evangelisch-lutherischen Gemeinde Anlaß, seinen einseitigen und
ablehnenden Standpunkt in einer Denkschrift an die deutsche
Behörde zu vertreten und eine scharfe Absage an das Deutschtum zu
richten. Die Denkschrift klingt mit falschem Pathos in die Worte aus: "Wir
sind als Polen geboren, als Polen wollen wir leben und
wirken!" - Der "Verein für das Deutschtum im Ausland"
verhalf den Warschauer Deutschen zu einer eigenen Schule, die im Beisein
des Generalgouverneurs v. Beseler im Herbst 1916 eröffnet
werden konnte.
Der Niedergang des
[katholischen]
Deutschtums
in Warschau |
Durch ein Dekret der Regierung wurde 1810 die
deutschkatholische Bennonibrüderschaft aufgelöst.
Ihre Anstalten und die Kirche gingen in den Besitz der
"deutsch-katholischen Brüderschaft der unbefleckten
Empfängnis der Jungfrau Maria" über. Letztere war auch
gehalten, die deutsch-katholischen Knaben- und Mädchenschule zu
übernehmen. Nach einiger Zeit tauschte die Brüderschaft die
alte Jesuitenkirche gegen die Pauliner- [102] kirche zum Heiligen Geist um, welche sich
seitdem die "deutsch-katholische Nationalkirche zum Heiligen Geist" nannte.
Eine zweite deutsch-katholische Gesellschaft, die "Brüderschaft der
tätigen Nächstenliebe" schloß sich der Kirchengemeinde
an. In späteren Jahrzehnten mußte die Brüderschaft mit
wirtschaftlichen Nöten kämpfen. Da half ihr eine
größere Spende des Kaisers Nikolaus I. Als der
Paulinerorden von Czenstochau 1850 den Vorschlag machte, die Kirche
wieder zurückzunehmen, konnte sie dankend ablehnen, weil sie die
Kirche weiter als "deutsche Nationalkirche" zu behalten beabsichtige und
auf die kaiserliche Huld vertraue. Der Beschluß, das Angebot der
Czenstochauer Klosterbrüder abzulehnen, war auf Betreiben des
Rektors Jakob de Gueldre gefaßt worden. Dieser deutschbewußte
Mann hat sich damals um die Erhaltung des Warschauer katholischen
Deutschtums große Verdienste erworben. So machte er 1852 den
Mitgliedern der Brüderschaft Vorhaltungen, weil sie die Pflege des
deutschen Gesanges vernachlässigt hätten, so daß ein
fremdsprachiger Sängerchor in den deutschen Gottesdiensten
mitwirken müsse. Darauf beschloß man, "wieder deutsch zu
singen und zu lernen, soviel die Kräfte erlauben, den deutschen
Gesang regelmäßig herzustellen." Als der Unterhalt der Schule
größere Mittel verschlang und der Vorschlag gemacht wurde, sie
an die russische Regierung abzutreten, kam unter seiner Leitung der
Entschluß zustande, "daß sie die seit dreihundert Jahren
bestehende deutsch-katholische Schule mit allen Privilegien, Rechten und
Pflichten weiter behalten und sich in den Augen der Nachwelt nicht den
Vorwurf zuziehen wollen, als hätten sie aus Trägheit oder
sträflicher Nachlässigkeit die deutsche katholische
Gemeinschule preisgegeben."
Mit dem Tode de Gueldres (1853) begann der Verfall der
Brüderschaft und mit ihr der des Warschauer Deutschtums
katholischer Prägung. Die Sitzungsprotokolle wurden seitdem nur
noch in polnischer Sprache geführt. In den neunziger Jahren scheint
eine Vereinigung der "deutsch-katholischen Brüderschaft der
unbefleckten Empfängnis der Jungfrau Maria" mit der
"Brüderschaft der tätigen Nächstenliebe" stattgefunden
zu haben.
Die deutsch-katholische Gemeinde schmolz immer mehr zusammen. In den
letzten Jahren fand nur noch einmal monatlich deutscher Gottesdienst statt.
Nach Kriegsbeginn wurde die alte deutsch-katholische Schule geschlossen
und die deutschen Gottesdienste in der
"deutsch-katholischen Nationalkirche zum Heiligen Geist" ganz eingestellt.
So erlosch das alte, einst zu stolzen Hoffnungen Anlaß gebende
katholische Deutschtum in Warschau.
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