Die letzte deutsche
Bauernkolonisation
Nicht neidlos hatten die in Masowien ansässigen
Großgrundbesitzer die Erfolge der von ihren Standesgenossen in
Großpolen betriebenen landwirtschaftlichen Kolonisation verfolgt. Sie
bemerkten, daß überall, wo deutsche Bauern hinkamen, die
Landwirtschaft verbessert, mit dem Gemüsebau begonnen,
Obstbäume gepflanzt und für bessere Viehzucht gesorgt wurde.
Es war bisher ihr Kummer gewesen, daß noch jedesmal die deutschen
Auswanderungsströme in Großpolen Halt machten und nur
vereinzelte Kolonisten weiter nach Osten zogen.
Ansiedlung der
von den Jesuiten aus
Großpolen und Westpreußen
vertriebenen deutschen
Bauern in Masowien |
Durch die von den Jesuiten geleiteten
Protestantenverfolgungen in Großpolen und Westpreußen waren
viele deutsche Landwirte heimlos geworden. Verschiedene
Großgrundbesitzer rechts und links der Weichsel in Masowien, die sich
auf ihren weitausgedehnten Besitzungen - nach einer
Urkunde - wie "kleine Könige" fühlten und sich auch so
bezeichneten, boten den Vertriebenen Zuflucht an und sicherten ihnen freie
Religionsübung und Hilfe bei der Einrichtung von Schulen und
Andachtsstätten zu. Die Kunde von dem Entgegenkommen der
polnischen Großgrundbesitzer verbreitete sich in ganz
Großpolen und Westpreußen und lockte noch mehr Einwanderer
in die nördliche Weichselgegend. Alle fanden freundliche [57] Aufnahme bei den Grundherren, in deren
Absicht es lag, die unwirtliche Gegend mit fleißigen deutschen Bauern
zu besiedeln.
Die
ältesten
deutschen Dörfer
an der oberen Weichsel |
Die älteste deutsche Ansiedlung scheint
Bogpomoz an der Weichsel zu sein. Einwanderer aus Thorn,
Graudenz und Bromberg legten sie 1703 an. Das erste, bis 1886
erhaltengebliebene, Schul- und Bethaus wurde 1714 gebaut. Eine
Dorfüberlieferung berichtet, daß die Frau des Grundherrn
Serakowski aus Bobrowniki beim Überschreiten der Schwelle des
einzuweihenden Schulhauses der versammelten Gemeinde ein deutsches
"Helf Gott!" entbot. Die Ansiedler nannten ihr Dorf nach diesem Wunsch,
der in der Übersetzung die polnische Form "Bogpomoz" bekam. Die
Deutschen in Bogpomoz besitzen eine alte Urkunde aus dem Jahre 1788. Sie
enthält einen Pachtvertrag des damaligen Besitzers von Bobrowniki,
Kajetan Serakowski, mit den Bevollmächtigten der deutschen
Ansiedler Karl Möller, Gottfried Dulinski, Jakob Ruda und Kleister
über die Nutznießung des Ansiedlungsgebietes während
der nächsten vierzig Jahre. Der in polnischer Sprache auf Pergament
geschriebene Vertrag ist von dem König Stanislaus August
eigenhändig bestätigt worden. Im Schriftstück wird auf
einen um vierzig Jahre älteren Vertrag Bezug genommen. Nach den
getroffenen Vereinbarungen waren die Ansiedler verpflichtet, am
Martinitage den Gutspfennig von 518 polnischen Gulden zu erlegen. Im
Vertrage wird erwähnt, daß der katholische Geistliche in
Bobrowniki verpflichtet sei, die kirchlichen Handlungen, wie Taufen,
Trauungen und Begräbnisse in der evangelischen Ansiedlung zu
übernehmen. Dafür habe er jährlich zu beanspruchen: 7
Korzec Hafer, 7 Zentner Heu, 8 Pfund trockenen Käse, 28 Pfund
Butter, 7 Hühner und eine Gans. Der den Unkundigen seltsam
erscheinende Brauch, kirchliche Handlungen durch katholische Geistliche
vollziehen zu lassen, war in Polen bis vor wenigen Jahrzehnten weit
verbreitet.
Im Jahre 1842 löste der damalige Besitzer von Bobrowniki das alte
Pachtverhältnis und forderte die Ansiedler auf, das seit 140 Jahren
von ihren Vorfahren bewohnte Dorf zu räumen. Sie und die Insassen
der anderen in der Nähe befindlichen deutschen Kolonien Rybitwy
u. a. kauften das ganze Gut und sicherten sich den alten Besitz.
Bogpomoz hat heute 26 Höfe, die in der Regel einen
größeren Landbesitz - bis
60 Morgen - umfassen. Die Obstgärten erstrecken sich
bis zum Ufer der Weichsel. Es wird umsäumt von Kiefernwald.
Während des Krieges hat es, wie die ganze obere Weichselgegend,
nicht gelitten.
Weitere
Gründungen von
Ansiedlungen in Westpolen
und an der mittleren Weichsel
im 18. Jahrhundert |
Das benachbarte Rybitwy wurde fast
gleichzeitig mit Bogpomoz auf dem Boden des Gutes Bobrowniki angelegt.
Seine ursprünglichen Bewohner stammten aus der Nähe von
Bromberg, Graudenz und Marienwerder. Mühsam rangen sie dem
Boden der neuen Ansiedlungsstätte die Früchte ab. Auch die von
ihnen betriebene Fischerei warf nur kärglichen Gewinn ab. So kam es,
daß sie erst 1780 die Mittel zum Bau einer Schule aufbrachten.
Auch Gnoino ist nicht viel später als die zuerst genannten
beiden Kolonien angelegt worden. Unter den Gründern der
Ansiedlung befanden sich eine Anzahl Handwerker. Der schlechte Boden
brachte nur geringen Ertrag, so daß die Ansiedler nicht
vorwärts kamen. Nicht einmal zum Bau [58] einer Schule brachten sie es. Erst als der
Gutsbesitzer 1848 die deutschen Insassen dieses Dorfes aussiedelte, rafften
sich die Kolonisten in Gnoino zur Gründung einer eigenen Schule auf.
Wie den Einwohnern von Bogpomoz und Rybitwy, drohte auch den
Landwirten in Gnoino 1842 die Vertreibung aus dem von den Vorfahren
übernommenen Besitz.
Das nahe Brzezno verdankt seine Gründung dem
Gutsbesitzer Rosciszewski, der in der ersten Hälfte des
18. Jahrhunderts hier eine Stadt anlegen wollte und deutsche
Handwerker aus Preußen kommen ließ. Auch Tuchmacher,
Tuchscherer und Färber aus der schlesischen Stadt Grünberg
waren unter den Einwanderern vertreten. Woran es lag, daß die
Ansiedlung in den Anfängen ihrer Entwicklung stecken blieb und sich
nicht zur Stadt aufschwang, läßt sich nicht ermitteln.
Im Rypiner Kreise entstanden die ersten deutschen Schulen 1719 in
Tomaschewo, 1720 in Kierz, 1725 in Jeziorki, 1730 in Zbojenko, Glowinsk
und Obory. Es folgt 1750 Somsiory und bis zum Ende des
18. Jahrhunderts noch eine weitere Anzahl. Die Gründer dieser
Dörfer waren aus Großpolen vertriebene evangelische
Deutsche.
Der Kastellan des Dobrzyner Landes und Starost von Rypin, Graf
Michael Podoski, Erbherr von Kupnowo, verhalf 1784 den Evangelischen
zur Gründung des Kirchspiels Michalki, dem er 45 Morgen Land
schenkte. Im nächsten Jahre kam der erste evangelische Pastor Albert
Bocianoski nach Michalki. Bis dahin hatten Thorner Pastoren die
seelsorgerische Pflege an den im Drobrzyner Lande zerstreuten
Evangelischen geübt. Andachten hielten die Lehrer der
Religionsschulen, deren Zahl bis zum Ende des 18. Jahrhunderts auf
vierzig gestiegen war. Man darf sich unter den Lehrern der damaligen Zeit
nicht seminarisch gebildete oder sonst irgendwie für das Lehrfach
vorbereitete und geprüfte Jugendbildner vorstellen. Zumeist waren es
des Lesens und Schreibens kundige Landwirte und Handwerker, die sich
zum Schuldienst verpflichteten.
Das
Kolonisationswerk
der deutschen Verwaltung
zu Beginn des 19. Jahrhunderts |
Älter als Michalki ist das Kirchspiel
Lipno. Es bestand schon 1782. Der Mittelpunkt des Kirchspiels war
damals die 3 Kilometer von Lipno entfernte Kolonie Bialowiczyn. Im
September 1799 verfügte die königl. preußische Kammer
zu Plock die Verlegung des Pfarrsitzes nach Lipno. Hölzerne
Mietshäuser dienten damals als Andachts- und Schulstätten.
Erst 1806 wird mit dem Bau einer kleinen Kirche begonnen. Während
der Franzosenzeit durchlebte die Gemeinde schwere Tage. Der Pastor
mußte sich aus eigenen Mitteln erhalten. Gottesdienste konnten nicht
abgehalten werden. Die Kirche diente den Franzosen als
Intendanturmagazin, französische Soldaten vernichteten das
Pfarrarchiv, in dem sich wertvolle Aufschlüsse über die
Einwanderung der Deutschen in die Gegend um Lipno befanden. Das
Kirchspiel hatte damals eine weite Ausdehnung. Am Anfang des
19. Jahrhunderts umschloß es vierunddreißig
Schulgemeinden.
Zu den größten deutschen Dörfern gehört
Rumunki Fabjanki, das zu Beginn des vorigen Jahrhunderts von
einem deutschen Gutsbesitzer angelegt wurde. Rumunki ist von
"Räumungen" abgeleitet. Mit diesem Worte wurde die Urbarmachung
(Räumung) des Waldbodens bezeichnet. In der Wojtschaft
Spähtal, zwischen Wloclawek und Lipno, sind
1830-40 eine Anzahl "Räumungen" von dem Gutsbesitzer Suminski
von Boducin [59] - und an
anderen Stellen 1850-60 von dem deutschen Gutsbesitzer Kolbe angelegt
worden.
Während der napoleonischen Kriege kamen viele Flüchtlinge
aus Preußen, die sich in den Wäldern rechts der Weichsel
niederließen. Wie die früheren Ansiedler, so schlossen auch die
neuen Ankömmlinge mit den Grundbesitzern "ewige" oder auch
"langjährige" Pachtverträge. Der Pachtzins wurde in Bargeld,
Naturalien oder Fronarbeit entrichtet. In den 40er Jahren des vorigen
Jahrhunderts kündigten die Grundbesitzer die "ewigen"
Verträge. Ein deutsches Dorf nach dem anderen verlor seine
deutschen Insassen und bekam polnische Bewohner. So geschah es 1842 mit
Glodowo, 1848 mit Grabiny, 1849 mit Czarke, Jastrzembie usw. Ein Teil der
Vertriebenen siedelte nach Wolhynien und anderen Gebieten Rußlands
über. Andere blieben in der Nähe und legten auf urbar
gemachtem Waldboden neue Kolonien an. Die Seelenzahl der evangelischen
Gemeinde Lipno sank damals von 5000 auf 4000.
In den 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde Osiek, das
spätere Ossowka, mit den ihm benachbarten Kolonien von
der Gemeinde Lipno abgezweigt und zum Kirchspiel erhoben. Nach einer
vor fünfzig Jahren zusammengestellten Statistik umfaßte die
Gemeinde Ossowka 145 Dörfer, in denen evangelische Deutsche
wohnten. Es befanden sich darunter auch die alten, rein deutschen
Ansiedlungen Bogpomoz, Rybitwy, Gnoino, Brzezno. Im Kirchspiel Lipno
waren damals 161 Dörfer eingepfarrt. Innerhalb der Grenzen des
Kirchspiels Michalki-Rypin befanden sich 715 Dörfer, in denen
Evangelische wohnten. Zu beachten ist, daß nicht alle diese
Dörfer deutsche Ansiedlungen waren.
Nach der Statistik des evang.-augsb. Konsistoriums war vor dem Kriege die
Seelenzahl in den Gemeinden Lipno 7000, Ossowka 8000 und
Michalki-Rypin 7000. Die Angaben, die auf Schätzungen beruhen,
waren nach der Erläuterung des Generalsuperintendenten Bursche
um mehr als ein Drittel zu niedrig gegriffen. Da die drei Gemeinden zu den
wenigen evangelischen Kirchspielen in Polen gehören, die von den
Kriegsschrecken fast unberührt geblieben sind, so kann angenommen
werden, daß die Zahl der evangelischen Deutschen in den Kreisen
Lipno und Rypin, die vor dem Kriege mindestens 30 000 betragen
haben, sich wenig verringert hat. Sie verteilen sich auf über 200 rein
deutsche Dörfer.
Die Ankömmlinge der alten Auswanderer aus Großpolen sind
wirtschaftlich gut vorwärtsgekommen. Sie haben wesentlich zur
kulturellen Hebung des von ihnen bewohnten Landstriches beigetragen.
Freilich muß auch von ihnen das gesagt werden, was von den
deutschen Kolonisten in Polen im allgemeinen gilt, daß
sie - sich selbst überlassen und ohne Zusammenhang mit den
kulturellen und wirtschaftlichen Kraftquellen des
Mutterlandes - auf der vor Jahrzehnten erreichten Entwicklungsstufe
stehen geblieben sind.
Wirtschaftliche Fehlschläge und die immer noch anhaltende
Glaubensverfolgung führten noch in der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts wiederholt deutsche Auswanderer nach den
westlichen Teilen des späteren Kongreßpolen. Eine Anzahl
Familien, die aus der Umgegend von Bromberg und Wollstein stammten,
gründete die Kolonie Prazuchy in der [60] Nähe von Stawischin bei Kalisch.
Nach einer Überlieferung soll der Wald, in dem sie sich
niederließen, so dicht gewesen sein, daß sie bei ihrer Ankunft
nicht Raum für ein Nachtlager fanden. Es bedurfte zäher
Arbeit, bis sie dem Boden im niedergebrannten Wald soviel
Feldfrüchte abgewannen, wie sie zum Lebensunterhalt nötig
hatten. Als bemittelte Leute hatten sie die alte Heimat verlassen. Der Erfolg
ihrer Mühe war so gering, daß sie das Mitgebrachte
verausgabten und genötigt waren, ihren Landbesitz zu
verpfänden. Groß waren die Enttäuschungen, die
ihnen ihr Aufenthalt in Polen brachte; mutlos sind sie aber nicht geworden.
Sie blieben ihrer Scholle treu, auch dann als sie von den von Kosciuszko
geführten Scharen viel zu leiden hatten. Die Aufständischen
fahndeten nach ihnen, so daß sie sich mit ihren Habseligkeiten
öfters in den nahen Wäldern verbergen mußten. Aber
auch in ruhigeren Zeiten ist ihnen manches Üble begegnet. Sie hatten
viel von den mißgünstigen Nachbarn auszustehen; sie waren
froh, daß sie hinter unwegsamen Wäldern ein abgeschiedenes
Dasein führen konnten. Die polnischen Behörden erlaubten sich
manche Härten den deutschen Ansiedlern gegenüber. Deshalb
begrüßten sie nach der dritten Teilung Polens mit Freuden die
preußische Verwaltung, von der sie vollen Rechtsschutz erhofften.
Den Jahren der Freiheit und Erholung folgten neue Bedrückungen, als
Napoleon seinen Zug nach Rußland unternahm und die Franzosen
beim Durchzug ihnen alles wegnahmen, so daß sie in den
nächsten Jahren abermals große Not leiden mußten. Nach
den vielen Prüfungen sind nach dem Wiener
Kongreß auch bei
den Deutschen in Prazuchy glücklichere Zeiten eingekehrt. Unter der
russischen Verwaltung erlangten sie Gleichberechtigung mit der polnischen
Bevölkerung.
Fast gleichzeitig mit den Ansiedlern in Prazuchy siedelten sich Landwirte aus
Westpreußen in der Nähe von Chodecz an. Den ersten
Ansiedlern folgten bald weitere, so daß in der Umgegend von Chodecz
eine deutsche Ansiedlung nach der anderen entstand und die ganze Gegend
einen deutschen Anstrich bekam. Zum Unglück für die
Kolonisten konnten sie die Grundstücke nicht käuflich
erwerben, sondern nur 40jährige Pachtverträge schließen.
Die meisten Grundherren hatten keine Neigung, die Verträge mit den
Deutschen zu erneuern und ließen polnische Bauern an ihre Stelle
treten. So kam es, daß aus vielen deutschen Kolonien polnische
Dörfer wurden, allerdings mit Häusern in
westpreußischer Bauart.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ließen sich in dem unweit gelegenen
Städtchen Dombrowice schwäbische und
elsässische Tabaksbauern nieder und legten einige Kolonien an, die
sich gut entwickelten. In der Mitte des 19. Jahrhunderts waren die
meisten der elsässischen Tabakspflanzer noch französische
Staatsangehörige.
Der Grundherr wollte auch Chodecz zur Industriestadt machen. In den 20er
Jahren folgte er dem Beispiel anderer Magnaten und ließ
schließlich Tuchmacher kommen. Da aber die zugesagten Beihilfen
vom Grundherrn ausblieben, so übersiedelten die Tuchmacher nach
Lodz und Tomaschow. Die wenigen Zurückgebliebenen
verarmten.
In den späteren Jahrzehnten kauften sich preußische
Gutsbesitzer in der Nähe an, die, weil sie zuverlässige
Tagelöhner haben wollten, deutsche Landarbeiter aus dem
Posenschen kommen ließen. Dem bedeutenden [61] Zuwachs an deutschen Bewohnern des
dortigen Gebiets tat indessen die bald darauf einsetzende Abwanderung nach
Wolhynien und dem Cholmgebiet starken Abbruch.
Nach dem Wunsche ihres Besitzers, des Fürsten Stanislaus
Poniatowski, sollte auf der sandigen Halbinsel zwischen Weichsel und Narew
eine Stadt entstehen. Im Jahre 1782 ließ er deutsche Handwerker und
Landbauern kommen. Sie legten den Grund zu der Stadt Neuhof
(Nowydwor), in der sich später auf Einladung des Grundherrn auch
deutsche Tuchmacher und Färber niederließen. Bald entfaltete
sich ringsum ein reges deutsches Leben. Die Kolonien Wiesendorf, Skierdy,
Reiszewo und Modlin entstanden. Den Ansiedlern war Religionsduldung und
Beihilfe zur Einrichtung ihres Kirchen- und Schulwesens versprochen
worden. Zunächst wurden die Gottesdienste im oberen Stockwerk
eines Wollspeichers, dessen unterer Stock als Rathaus diente, abgehalten.
Schwere Schicksalsschläge brachte den Ansiedlern das Jahr 1813.
Eine Weichselüberschwemmung verursachte große
Schäden. Die Schrecken der Belagerung der nahen Festung Modlin
trieben die deutschen Kolonisten auseinander. Während der
nächsten Jahrzehnte erholte sich Staat und Kolonie und ihre
Einwohner gelangten zu großem Wohlstand. Seit den letzten
dreißig Jahren mußten die Deutschen in und um Neuhof
zahlreiche Verdächtigungen der polnischen Presse über sich
ergehen lassen, die sie als im deutschen Solde stehende Beobachter des
militärischen Lebens in der benachbarten Festung Nowogeorgiewsk
(Modlin) hinstellten. Leider haben die Hetzereien eine furchtbare Wirkung
gehabt; sämtliche Kolonisten aus der näheren und weiteren
Umgebung sind in den ersten Kriegsmonaten von den Russen verschleppt
worden.
Die
Zustände
im damaligen Polen |
Nach der dritten Teilung Polens fiel Westpolen an
Preußen. In stiller, unermüdlicher Arbeit suchte die
preußische Verwaltung der neuen Provinz
Südpreußen zu helfen. Über die Zustände
im damaligen Polen lesen wir in einem Bericht aus dem Jahre 1793: "Die
Nahrungsmittel der Landesbewohner bestehen größtenteils aus
Suppe von Brot und Kleie und aus Kapusta (Sauerkohl). In der
gemeinsamen Stube steht beständig ein Faß Kapusta, das einen
abscheulichen Gestank verbreitet. Dieser wird dadurch noch vermehrt,
daß alles Federvieh des Nachts auf Brettern über dem Steinofen
sitzt und diesen stets bemistet. Die meisten Einwohner entkleiden sich nie.
Die Kinder gehen meist nackend. Gewaschen und gekämmt wird nie.
Der gemeine Pole kennt keinen Kamm, daher er unbeschreiblich viel
Ungeziefer nährt. Der Bauer geht, wenn er in die Stadt kommt, mit
seiner Familie zur Messe, betet mit einer wahren Heiligkeit seinen
Rosenkranz und kniet nicht nur dabei, sondern wirft sich oft auf den
Erdboden und küßt ihn, lauset sich aber auch mitunter und
wirft dann das reichlich erhaschte Ungeziefer um sich, daher man neben ihm
in Gefahr ist, bevölkert zu werden. Nachdem er so seinem Gott und
Geistlichen eine halbe Stunde gedient hat, geht er mit seiner Familie ins
Wirtshaus. Hier versäuft er alles gelöste Geld in Branntwein,
tanzt dann mit seiner Gattin durch die Straßen und so nach Hause,
wenn er nicht zuviel gesoffen hat."
Kolonisationspläne lagen im Zuge jener Zeit. Auswanderungsagenten
der russischen Regierung bereisten ganz Deutschland und entwarfen
glän- [62] zende
Schilderungen von den fruchtbaren südrussischen Gebieten, die von
deutschen Kolonisten der Kultur erschlossen werden sollten. Nach dem Plane
der russischen Regierung sollten die Ankömmlinge "in
ländlichen Beschäftigungen und Handwerken als Beispiel
dienen". Auch die preußische Regierung, die schon auf erfolgreiche
Ansiedlungsunternehmungen in den östlichen Teilen Preußens
zurückblicken konnte, war besorgt, einen Teil des deutschen
Auswanderungsstromes nach ihrer neuen Provinz zu lenken. Sie sicherte den
Eingewanderten Ansiedlungsbeihilfen zu und hatte den redlichen Willen,
sich um das Fortkommen der Ansiedler zu bemühen.
So entstanden an der Weichsel und im Inneren des Landes Hunderte
deutscher Dörfer. Aus Württemberg, Baden, Elsaß,
Brandenburg, Pommern, Schlesien, Thüringen ergossen sich
ungezählte Ansiedlerscharen über das polnische Land. Es gab
keinen deutschen Staat und keine deutsche Provinz, die nicht Vertreter ihrer
Bevölkerung in das neue Ansiedlungsgebiet entsandt
hätten.
Das
Siedlungsgebiet bei Lodz |
Auch die Umgebung von Lodz, wo sich
damals noch meilenweite Wälder ausdehnten, war als Siedlungsgebiet
gedacht. Nicht Lodz, sondern die benachbarte Kolonie
Neu-Sulzfeld (polnisch Nowosolna) sollte der Mittelpunkt deutschen
Lebens werden. Strahlenförmig, entsprechend den Richtungen der
Windrose, gehen vom Neu-Sulzfelder Marktplatz sieben Straßen aus,
an denen deutsche Kolonien angelegt wurden. Als nach dem Wegzug der
preußischen Behörden auch der Kolonisationsplan verschwand,
gründete der sich selbst überlassene
Neu-Sulzfelder Kolonistenbezirk auf erworbenen Gütern polnischer
Besitzer eine Tochterkolonie nach der andern.1 Aber
auch die andern in der Nähe von Lodz gelegenen
Stamm- [63] kolonien dehnten
sich aus und gaben den Überschuß ihrer Bevölkerung an
neugebildete Tochterkolonien oder auch an polnische Dörfer ab, die
oftmals deutschen Anstrich bekamen. So kam es, daß die vor einigen
Jahr- [64] zehnten noch rein
deutsche Industriestadt Lodz von einem Kranz deutscher
Bauernansiedlungen umgeben ist.
Gründung der
"Königlichen Dörfer"
im Urwalde |
In der unweit von Lodz gelegenen Kolonie
Groembach (polnisch Laznowska Wola) wird noch heute eine
Erbzinsverschreibung der Königl. Südpreußischen
Kriegs- und Domänenkammer zu Warschau, ausgefertigt am 4.
Februar 1802 für den Kolonisten Jakob Haas, aufbewahrt. Den
einzelnen Abschnitten des weitläufigen Schriftstücks ist zu
entnehmen, daß "der Erbzinsmann, der Kolonist Jakob Haas, die
Urbarmachung des Grundstücks, welches ihm bereits vorläufig
angewiesen worden ist und vor Aushändigung der
gegenwärtigen Erbzinsverschreibung förmlich gerichtlich
übergeben wird, mit allem Fleiß und dergestalt betreiben wird,
daß solches längstens bis zum letzten November 1806 in
völlige Kultur gelegt ist. Die dazu nötigen Rodungswerkzeuge,
bestehend in 1 Axt, 1 Stück- [65] haue, 1 breiten Haue und 1 Spitzeisen,
werden ihm in Natura oder in Geld, nach den in dortiger Gegend
üblichen Preisen verabreicht werden, auch werden ihm für
jeden rein gerodeten Morgen zehn Taler an Rodungsgeldern, welche ihm der
Intendant auszahlen wird, bewilligt. Auf diesem Etablissement wird ihm ein
Wohnhaus mit Stallung und eine kleine Scheune auf königliche
Kosten erbaut und in völlig wohnbarem Zustand unentgeltlich
übergeben werden. Dagegen soll er verbunden sein, solche auf seine
Kosten und ohne auf eine Unterstützung Anspruch machen zu
können, zu unterhalten. Auch müssen die Gebäude zu
ewigen Zeiten in der jetzigen Größe - wenigstens nicht
kleiner - und auf derselben Stelle erhalten werden, wo der erste
Aufbau geschieht. Um ihm übrigens bis zum Aufbau des Hauses ein
einstweiliges Unterkommen auf seinem Etablissement zu verschaffen, werden
ihm sechs Thaler zum Aufbau einer Hütte bewilligt." Während
der nächsten sechs Jahre waren die Ansiedler von allen
Steuerzahlungen befreit. Die vierundzwanzig Abschnitte der Urkunde
sprechen für die Sorgfalt, mit der sich die preußische
Verwaltung sowohl um die Entwicklung des neuen Gebiets wie auch um die
Zukunft der ins Land geholten deutschen Ansiedler sorgte. So war der
Kolonist verpflichtet, innerhalb der nächsten zehn Jahre
"dreißig Stück gepfropfte Obstbäume guter Art"
anzupflanzen. Zur Einrichtung der Wirtschaft erhielt er von der
Kriegs- und Domänenkammer: 2 Kühe, 1 Stück
Jungvieh, 1 Pflug, 1 Wagen, 1 Mistgabel, 1 Spaten und 2 Korzec Roggen, 1 Korzec Gerste, 1 Korzec Hafer, ½ Korzec Kartoffeln zur Saat. Weil
die Kammer nachträglich die Zeit der Steuerfreiheit um ein Jahr
beschränkte, legten die Groembacher Ansiedler Berufung gegen die
Änderung der ursprünglichen Bestimmungen ein. Aus dem
Anhang der Erbzinsverschreibung erfahren wir von Vernehmungen in
Sachen der Berufung. Es werden uns auch die Namen der aus Brandenburg,
Pommern, Mecklenburg, Württemberg und der Rheinprovinz
gekommenen ersten Ansiedler bekannt: Schmidt, Haer, Scherer, Frey,
Beyerle, Blume, Schnierle, Franz, Steinmetz, Kalfuß, Rath, Nestlin,
Böhm, Fleig, Müller u. a.
Ähnlich wie in Groembach vollzog sich die Ansiedlung in den nahen
Kolonien Königsbach (Bukowiec), Grünberg
(Zielona Gora) und Wilhelmswald (Borowo). In Königsbach
und Grünberg waren es Schwaben und Elsässer, die sich
inmitten der von Lodz und Tomaschow hinziehenden Wälder
ansässig machten. Die zuerst Gekommenen waren genötigt,
Erdhütten zu errichten, die eine Bedachung aus Baumstämmen
und Rasenstücken erhielten. Mit Gruseln erzählen die heutigen
Königsbacher von den Besuchen, die die Wölfe den neuen
Waldbewohnern machten. In Winterabenden sahen sie in die kleinen Fenster
der Erdhütten hinein und schleppten die Hunde davon. Die Ansiedler
waren verpflichtet, den Wald gegen ein Rodungsgeld urbar zu machen. Als
es ihnen gelungen war, in jahrelanger mühsamer Arbeit das ihnen von
der preußischen Verwaltung gestellte Ziel zu erreichen, hatten die
Ereignisse von 1806 Preußen genötigt, sich aus Polen
zurückzuziehen. Da war es für die Kolonisten ein Glück,
daß die gewissenhaften Beamten der Kriegs- und
Domänenkammer nicht unterlassen hatte, auf Grund der
aufgenommenen Vermessungspläne Erbzinsverschreibungen
auszustellen und so den Besitzstand zu sichern. In [66] der Art der Ausfertigung waren sich die
Verschreibungen überall gleich.2 Der
Besitzer durfte wohl sein Grundstück veräußern, aber in
den ersten zehn Jahren nur an andere deutsche Ansiedler. Auch
Königsbach weitete [67] sich unter polnischer Herrschaft dank dem
Fleiß seiner Bewohner aus. Hier hat sich echtes Schwabentum in Art
und Sprache am längsten erhalten. Von den über hundert
Höfen des Dorfes haben die Russen auf ihrem
Rück- [68] zug am 8. Dezember
1914 über achtzig angezündet. Unter den niedergebrannten
Gebäuden befand sich auch das 1808 erbaute Kirchlein. Auf
über eine Million Mark berechnen die Königsbacher ihren
Schaden. Nicht besser [69] erging es der von
Schwaben bewohnten Nachbarkolonie Grünberg, in der die
Russen ebenfalls die meisten Wirtschaften niedergebrannt haben.
[70] Zwischen Lodz und
Rzgow, am Fuße des Gräberhügels, der die Leichen der in
den russischen Nachtangriffen am 22. November 1914 gefallenen
zweitausend deutschen und russischen Krieger birgt, liegt
Effingshausen (Starowa Gora), eine der von der preußischen
Verwaltung angelegten Stammkolonien. Ihre ersten Bewohner waren
Einwanderer aus Baden und Sachsen. Auch diese Ansiedlung hat sich trotz
ungünstiger Bodenverhältnisse gut entwickelt. Als die
entscheidenden Kämpfe sich abspielten, saßen die
Dorfbewohner in ihren Kellern und durchlebten eine grauenvolle Nacht.
Die
Schwabenkolonien
bei Lodz und Warschau |
Verschiedene der nach Königsbach
gekommenen Schwaben und Elsässerfamilien wurden nach dem in der
Nähe von Pabianice angelegten Walddorf Hochwald
(Markowka) verpflanzt. Hier hat sich schwäbische Art und Sprache
nicht so lange erhalten können wie in Königsbach. Die
Ansiedlung ging unter denselben Voraussetzungen wie in den anderen
"königlichen" Dörfern vor sich. Es wurden durch den Wald
Straßen gehauen, Plätze vermessen und den einzelnen Familien
Erbzinsverschreibungen ausgefolgt. Nicht nur die Aufführung von
Wohn- und Wirtschaftsgebäuden und die Ausrüstung der
Ansiedler mit Vieh, Saat und Geräten - auch der Bau von
Brunnen geschah auf Kosten der Kriegs- und Domänenkammer. Auch
Hochwald hatte viel von den Wölfen zu leiden. Am Tage
überfielen sie die Viehherden und in der Nacht drangen sie in die
Höfe ein und zerrissen die Hunde. Einst lief ein toller Wolf durch die
Dorfstraße und biß elf Einwohner, die eines elenden Todes
starben. Als an einem der nächsten Tage der Wolf sich wieder zeigte
und sich auf eine Gruppe spielender Kinder stürzen wollte, warf sich
ihm ein herzhafter Mann entgegen, umschlang ihn und hielt ihn so lange fest,
bis einige herbeigeeilte Männer ihn erschlugen. Nicht leicht war es den
Hochwäldern, sich emporzuarbeiten. Der Anbau von Tabak,
Zichorien- und Farbpflanzen sicherte ihnen einen mäßigen
Wohlstand. Bekannt wurden die Hochwälder Kirmesfeiern. Nach dem
stillen und wenig Abwechslung bietenden Arbeitsleben, das die
Hochwälder das Jahr hindurch führten, fühlten sie den
Drang, an einigen Tagen des Jahres recht ausgelassen zu sein. Es wurde in
allen Höfen gebacken und geschlachtet, man lud Gäste ein und
ließ es sich bei Musik und Tanz eine Woche lang wohl
sein. - Während der Kämpfe um Pabianice, Anfang
Dezember 1914, sind auch einige Wirtschaften im Hochwald
zusammengeschossen worden. Groß ist der Sachschaden, den die
Dorfbewohner durch Wegnahme von Vieh, Getreide usw. erlitten. Aber noch
schlimmer erging es der nahen Tochterkolonie Wymyslow, die fast
vollständig heruntergebrannt war.
Während der Zeit der preußischen Herrschaft setzten viele
polnische Grundherren das von ihren Vorfahren oder Nachbarn begonnene
Kolonisationswerk fort. So gründete der damalige polnische
Justizminister Graf Felix Lubienski 1806 in der Nähe des heutigen
Zyrardow elf deutsche Kolonien, die er zu dem evangelischen Kirchspiel
Wiskitki zusammenschließen ließ. Vor der
Räumung Warschaus haben die Russen die dortigen Deutschen
verschleppt.
Süddeutsche Einwanderer kamen bis in die Nähe der Weichsel
und gründeten u. a. die große Schwabenkolonie
Leonberg bei Gombin. [71] Ja in der Nähe von Warschau sind
heute noch in der Kolonie Stara Iwitschna bei Piaseczno
schwäbische Laute zu hören, wie Stadtpfarrer Ott
(während der Okkupationszeit Gouvernementspfarrer in Warschau)
im Schwäbischen Merkur erzählt:
"Südwestlich
von Warschau liegt das stattliche, von Einzelhöfen umgebene deutsche
Bauerndorf Stara Iwitschna. Schon von weither grüßt die rote
Backsteinkirche, wie die ganze Umgegend gezeichnet mit den Spuren der
Kriegsverwüstung: der von den Russen als Beobachtungsstand
benutzte Turm, von dem aus man die Schornsteine der Warschauer Vororte
sehen kann, hat einen gewaltigen Volltreffer erhalten. Im geräumigen,
hellen Kirchenschiff konnte ich den Landsleuten an einem strahlenden
Maiensonntag Gottesdienst halten. Nur alle 4 Wochen kann der 30 Kilometer
entfernt wohnende Zivilpfarrer von Pilica ins Dorf kommen; im
übrigen ist die Gemeinde auf Lesegottesdienste angewiesen, die der
»Kantor« hält, der als Kirchschullehrer auch
Religions- und Konfirmandenunterricht erteilt. Um so freudiger wurde der
Soldatenpfarrer aus Warschau begrüßt. Mit dem
Ortskommandanten der etwa 6000, zur Hälfte jüdische,
Einwohner zählenden Nachbarstadt Piaseczno, in Begleitung des
dortigen, von den Deutschen eingesetzten Ortsvorstehers, der zugleich
Kirchenvorstand ist, gings in toller Wagenfahrt vorbei an unendlich sich
dehnenden Kornfeldern zur Kirche, vor der sich die Kirchenältesten
aufgestellt hatten, biedere deutsche Männer mit heimatlich klingenden
Namen wie Martin, Haug, Bühler, Eisele u. a. Von den
zerstreuten Höfen pilgerten die Gemeindemitglieder zum Gotteshaus,
zu dessen Fenstern die Bäume des benachbarten Friedhofs
hereinschauen. Ein Gang durch diesen versetzt uns wieder in die Heimat,
wenn wir an den Kreuzen und Grabsteinen die Namen der Toten lesen:
Knödler, Lutz, Leibbrand usw. Nur die Schreibweise erinnert daran,
daß wir in Polen sind, wenn es da heißt: »Sanft Ruhe
seiner Asche« oder »Gewezener Landwürd«.
Eine Umfrage nach der schwäbischen Herkunft der Leute
förderte nicht viel zutage; die Familienbibeln, die vielleicht am ehesten
hätten Aufschluß geben können, waren abhanden
gekommen, als die kurze Zeit von den Russen verschleppten Einwohner
zurückkehrten. Ein Kirchenältester wußte immerhin von
seinem Vater, daß er als 10jähriger Knabe im Neckar gebadet
habe. Eigentümlichkeiten der Mundart und die Familiennamen
lassen ebenfalls Schlüsse zu."
Auch der in der Nähe von Lodz begüterte Raphael
Bratuszewski bemühte sich um die Ansiedlung deutscher Kolonisten.
In seinen ausgedehnten Wäldern wurde um das Jahr 1800 die Kolonie
Groß-Bruschitz angelegt; ihr reihten sich bald andere
"Hauländer"-Ansiedlungen: Klein-Bruschitz, Ruda-Bugaj,
Adamow, Rombien u. a. an. Auch das frühere fast rein
deutsche Weberstädtchen Alexandrow verdankt seine Entstehung
diesem weitsichtigen und um die Entwicklung jener Gegend verdienten Mann.
Seinem Beispiel folgten andere Nachbarn, so der Gutsherr von Bardzimin,
Stokowski, der 1811 die Kolonie Huta Bardzinska gründete.
Und unweit davon legte der Gutsbesitzer Kossobudzki die Kolonie
Dombrowo an. In späteren Jahren entstanden in der
Nähe die Kolonien Wladislawow (Gründer
Gutsbesitzer Wardenski), Maryslawow (Gründer
Gutsbesitzer Danecki) u. a. Die Gegend [72] um Alexandrow bei Lodz ist zu einem
fast geschlossenen deutschen Siedlungsgebiet geworden.
In der Nähe des heutigen Tomaschow entstand schon 1797 auf dem
"Jankower Hauland", dessen Eigentümer der Gutsbesitzer Tyminski
war, die Kolonie Lonczkowice. Landwirte aus der Bromberger
Gegend siedelten sich hier an und rodeten die Wälder aus. Auch hier
folgten bald andere Gutsbesitzer dem Beispiel ihres Standesgenossen und
gründeten die deutschen Walddörfer Maxymow, Lipianki,
Wykno, Ciosny, Maxymilianow u. a.
So wurde vor hundert Jahren das polnische Land mit einem Netz deutscher
Ansiedlungen überzogen. In emsiger Arbeit rodeten die deutschen
"Hauländer" die meilenweiten Wälder um Lodz aus,
gründeten Dörfer und städtische Ansiedlungen und
legten den Grund zum Wohlstand der Gegend. Die Ansiedler in der
Nähe der Industriestädte richteten sich auf Hilfsleistungen
für den Fabrikbetrieb ein. Entweder betrieben sie Lohnfuhrwerk und
führten Kohlen, Ziegeln und anderes Baumaterial heran oder sie
stellten Handwebstühle auf und erzeugten manche Waren, deren
Herstellung auf mechanischem Wege sich nicht lohnte.
Schwäbische und fränkische Einwohner versuchten sich auch
im Weinbau, doch mußten sie die Erfahrung machen, daß das
polnische Klima der Rebe nicht zuträglich ist. In früheren
Jahrzehnten war auch der Tabakbau verbreitet, bis die Einführung
der Akzise die Entwicklung hemmte. In der Umgegend von Wloclawek ist in
den letzten Jahren der Zichorienanbau gepflegt worden. Die
Aufwärtsentwicklung des deutschen Bauern zum Gutsbesitzer kommt
auch vor, aber nicht so oft wie bei den deutschen Kolonisten in
Südrußland, die weiteren Blick besitzen.
Der
Wandertrieb
der deutschen Kolonisten |
Bis in die [zweite] Hälfte des 19.
Jahrhunderts setzte sich der Zuzug deutscher Ansiedler nach neuen
Ansiedlungsgebieten fort. Nicht alle kamen aus der alten Heimat; auch die
älteren deutschen Kolonien gaben den Überschuß ihrer
Bevölkerung an die neuentstandenen Dörfer ab. Und nicht nur
den Überschuß; der den deutschen Kolonisten eigene
Wandertrieb und die ihnen gemachten Vorspiegelungen eines leichteren
Fortkommens verleiteten viele, ihre alten Hofstellen zu verlassen und ihr
Glück an anderen Stellen zu versuchen. In einer Schilderung aus den
sechziger Jahren heißt es: "Allen deutschen Kolonisten ist ein
merkwürdiger Hang zum Wandern eigen. Sie kaufen sich gern da an,
wo Wälder ausgeteilt werden, wo sie dann das Holz herunterschlagen,
verkaufen und, nach dem sie einen Teil ihres Landes urbar gemacht haben,
wieder weiterziehen. Oft benützt erst der vierte oder fünfte
Ansiedler das ganze Feld zum Ackerbau und findet dann auch sein
spärliches Auskommen. Ist nun das Land schon gänzlich
bebaut und die Kolonie ganz eingerichtet, dann pflegen auch viele für
längere Zeit sitzen zu bleiben und sich so gut als möglich
einzurichten. Es bedarf aber nur einer geringeren Veranlassung, etwa einer
schwachen, unbestimmen Aussicht auf leichteren Erwerb, und sie verkaufen
Hab und Gut und ziehen davon, wie dies besonders in den letzten Jahren
häufig vorgekommen, da Jünglinge und Greise sich auf den
Weg machten, sich im westlichen und südlichen Rußland und an
der Wolga eine neue Heimat zu gründen." (E. H. Busch.)
Ein typisches Beispiel für die Art der Ansiedlung bietet der Bezirk um
[73]
Chorzeszow in der Nähe von Lask. In den vierziger Jahren
wurde das Gut parzelliert. Abkömmlinge der aus Hessen, Pommern,
Württemberg, Sachsen und anderen Teile Deutschlands
eingewanderten Kolonisten siedelten sich an und gründeten die
Dörfer Elodia, Pelagia, Julianow und Chorzeszow. In späteren
Jahrzehnten kauften sich die Söhne der ursprünglichen
Ansiedler in den benachbarten polnischen Dörfern Adolfow,
Ludwinka und Babiniec an.
Erhaltengebliebene
deutsche Benennungen
der Kolonien |
Vielfach sind die deutschen Benennungen der
Kolonien in Vergessenheit geraten. Erst dem Deutschen Verein gelang es,
ihren heutigen Bewohnern die ursprünglichen deutschen Namen
wieder wert zu machen. An anderen Stellen haben sich die deutschen
Ortsnamen bis in unsere Tage hinüberretten können. So in
Michelsdorf, Egersdorf, Karlshof, Woltersdorf, Neuford (vielfach vertreten),
Birkenfeld, Frankenfeld, Friedrichsfeld, Sophiental, Adelhof, Emilienheim,
Ingelfingen, Briesner-Hauland, Wenglewer-Hauland, Annafeld, Rehfeld,
Grafenort, Hilsbach, Donnersruh, Heineleben, Georgental und Luisental.
Kämpfe um das
Besitzrecht |
Auch an den zuletzt eingewanderten deutschen
Einsiedlern in Polen hat sich die alte Erfahrung wiederholt, daß
ihr Wirken lästig wurde, als ihre anfängliche Aufgabe, unter
vollem Kräfteeinsatz aus Wildnissen fruchtbare Gegenden zu schaffen
und in Urwäldern freundliche Dörfer erstehen zu lassen,
erfüllt war. Die Grundherren hatten keine Neigung mehr, die
Pachtverträge zu erneuern und damit den an harte Arbeit
gewöhnten Landwirten den Ertrag ihres Schaffens zu sichern. Und
bald rückten gefügigere polnische Bauern an die Stelle der
deutschen "Hauländer". Wo aber die Einwanderer so klug gewesen
waren, von vornherein sofortige oder spätere Kaufbriefe zu
vereinbaren oder noch während der Pachtdauer Besitztitel zu
erwerben, da kam es oftmals zu Streitigkeiten, wenn das Stammgut einen
neuen Herrn bekam oder andere Änderungen eintraten. Selten ging es
ohne Rechtsbeugungen ab; galten doch die Deutschen als landfremde
Elemente, während die Grundherren in allen Behörden und
Gerichten ihre Verwandten und Freunde hatten.
Als Beispiel für die Rechtspflege jener Tage sei vom Schicksal der
Kolonisten in Okup berichtet. Eingewanderte Sachsen und
Thüringer erwarben vom Besitzer des unweit Lask gelegenen Gutes
Bilew größere Ländereien. Der benachbarte Wald und ein
Stück Weideland wurde mit einem Servitut zugunsten der Ansiedler
belastet. Ohne sich mit den Kolonisten verständigt zu haben,
verkaufte der Grundherr nachher Teile seines Besitztums mit den den
Kolonisten zur Nutznießung überlassenen
Wald- und Landstücken. Alle Bemühungen der deutschen
Dorfgemeinde, zu ihrem Rechte zu kommen, schlugen fehl.
Rücksichtslos ging man in den Amtskanzleien über die
Gerechtsame der Deutschen hinweg. Da schritten sie zur Selbsthilfe und
behinderten die Leute des neuen Besitzers bei der Inbesitznahme der
strittigen Gelände; immer noch hofften sie auf ein Eingreifen der um
Herstellung der Rechtsgrundlage angerufenen Behörde. Berichte
über die "revoltierenden" Ansiedler waren an das Kreisamt gelangt
und hatten dem Kreischef Veranlassung gegeben, ein Häuflein
Kosaken nach Okup zu schicken. Betrunken waren die Steppensöhne
ange- [74] kommen, so
daß es den Männern des Dorfes leicht war, sie zu entwaffnen
und - in der Meinung, man habe sich einen Übergriff gegen sie,
die staatstreuen Deutschen, erlaubt - gebunden nach dem Kreisort zu
bringen. Nun ließ die Gegenpartei ihren ganzen Einfluß arbeiten.
Nach einigen Tagen wurden sämtliche Männer des Dorfes,
unter der Anklage des Widerstandes gegen die amtliche Gewalt und
Freiheitsberaubung von Militärpersonen, in das Gefängnis
nach Petrikau abgeführt. Grau, der Führer der Okuper
Deutschen, konnte sich noch rechtzeitig flüchten. Er interessierte
einen geschickten Rechtsanwalt in Warschau für die Sache der
Okuper und wandte sich auch an seinen Landesherrn nach Weimar um
Hilfe. Dank den regen Beziehungen des Weimarer Hofes nach Petersburg
gelang es den Okupern zu ihrem Rechte zu verhelfen.
Sitten
und Gebräuche
der deutschen Bauern |
Über Leben, Sitte und
Gebräuche der deutschen Urwaldkolonisten liegt uns eine
Schilderung vor, die E. H. Busch 1867 in seinen Beiträgen zur
Geschichte und Statistik des Kirchen- und Schulwesens der
ev.-augsb. Gemeinden im Königreich Polen auf Grund
verschiedener Berichte entworfen hat. Er sagt darin:
"Der deutsche Bauer in Polen
lebt teils in zusammenhängenden Kolonien und Dörfern, teils in
einsam gelegenen Höfen mitten im Walde, auf sogenannten
Räumungen, die meistens ein bis zwei Werft voneinander entfernt
sind. In der Mitte eines Komplexes solcher Räumungen liegen
gewöhnlich Bethaus, Schule und Schenke. Letztere dient dann
gewöhnlich als Zusammenkunftsort für die zerstreut
wohnenden Gemeindeglieder bei Beratungen. Auf dem
Gehöfte eines wohlhabenden Kolonisten sind
Wohn- und Wirtschaftsgebäude voneinander getrennt; bei weniger
bemittelten Bauern, die kleinere Grundstücke bewirtschaften, findet
sich nur ein einziges langes Gebäude, das unter einem Dach
Wohnhaus, Scheune und Stallung enthält; letztere ist dann
gewöhnlich mit der Wohnung des Kolonisten so verbunden, daß
er gleich aus seiner Stube in den Vieh- oder Pferdestall gehen kann. In dem
gewöhnlich sehr großen Wohnzimmer findet man ein oder zwei
Bettstellen, einige buntbemalte Kasten, einen Tisch, einen Schrank, der
unten mit geschlossenen Türen zur Aufbewahrung des Brotes und der
Butter versehen, oben aber offen ist, in welcher oberen Hälfte mit
einer gewissen Eleganz die Löffel in Reih und Glied aufgehängt
sind, hinter welchen meist blau bemalte Teller und einige Tassen und
Gläser stehen. An der einen Stubenwand sind gewöhnlich noch
einige tönerne Schüsseln von verschiedener Größe
aufgestellt. Nach der Menge und Sauberkeit aller dieser Geräte wird
die Tüchtigkeit der Hausfrau beurteilt. An der anderen Wand
hängt das Arbeitsgerät des Hausherrn: Säge, Hammer,
Beil und Bohrer. Axt und Sense liegen immer unter dem Schrank. Am
Feuerherd neben dem Ofen fehlt nirgends die geliebte Ofenbank; dort sitzen
und spielen die Kinder oder ruhen die Alten nach getaner Arbeit. Auf einem
Brett am Balken unter der Decke befindet sich des Kolonisten Bibliothek, die
gewöhnlich aus etlichen Gesangbüchern, Brastbergers
Predigten, einigen Abc-Büchern, Luthers Katechismus und einer Bibel
besteht. - Neben dem großen Wohnzimmer ist immer ein
kleineres, in welchem »die Alten auf dem Ausgedinge«
wohnen, nachdem sie Hab und Gut dem Sohne übergeben haben und
manchmal ein kümmerliches Leben führen, da die
Erfüllung des vierten Gebotes zu- [75] weilen den Kindern sehr schwer ist; das
sind aber Ausnahmen. - Was das eheliche Leben der
Kolonisten anbelangt, so ist dasselbe im ganzen recht befriedigend; kleine
eheliche Zwistigkeiten werden in der Familie geschlichtet, in weiter um sich
greifenden Fällen sucht man Hilfe beim Pastor. Immer ist der Mann
unumschränkter Gebieter im Hause, die Stimme der Hausfrau wird
selten vernommen. Für die Kindererziehung geschieht leider nicht
viel. Ist eine Schule am Ort, so wird das Kind während der
Winterzeit in die Schule geschickt, und dabei lernt es selten mehr, als
daß es im vierzehnten Jahr deutsch lesen kann, den Katechismus
auswendig gelernt hat und etwas aus der biblischen Geschichte weiß;
die Konfirmanden sind daher im allgemeinen sehr dürftig
vorbereitet... Man muß oft die Arbeit und Geschicklichkeit der armen
Dorfschullehrer bewundern, die es verstehen, in einigen Wochen dem Kinde
das Lesen beizubringen und ihm noch dazu den Katechismus
einzutrichtern. - Neugeborene Kinder werden meistens in der ersten
Woche getauft, und der Tag der Taufe ist ein Familienfest, das
sogenannte Kindelbier, zu dem alle Bekannten eingeladen werden. Die
Bewirtung der Gäste beschränkt sich auf Branntwein, Bier und
Brot. Da es oft vorkommt, daß der Pastor dreißig bis vierzig
Werst entfernt wohnt, so wird in solchem Falle vom Schulmeister die
Nottaufe erteilt, die bei der nächsten Anwesenheit des Pastors
bestätigt wird. - Hochzeiten werden in der Regel mit
großem bäuerlichen Pomp gefeiert. Nachdem die Gäste
sich zur bestimmten Stunde im Hause der Brauteltern versammelt haben,
bricht man auf, um in die Kirche zu fahren. Die beiderseitigen Eltern geben
den Brautleuten ihren Segen und der Brautführer hält
gewöhnlich eine zu diesem Zweck erlernte Rede; dann setzt man sich
auf die bereitstehenden Wagen und fährt unter Musik und Gesang der
Kirche zu, voran der mit bunten Bändern und Tüchern
geschmückte Brautführer, dann der Wagen mit der Braut und
im letzten Wagen der Bräutigam. Je näher man zur Kirche
kommt, desto leiser spielt die Musik, bis sie zuletzt ganz schweigt.
Während der Trauung steht der Brautführer dicht hinter dem
Brautpaare und sieht darauf, daß Braut und Bräutigam hart
nebeneinander treten und keine Lücke zwischen ihnen bleibt. Nach
der Trauung fährt der junge Ehemann voran, die junge Frau folgt
und der Brautführer beschließt den Zug. In dieser Anordnung
ist schon die künftige Stellung der Eheleute zueinander angedeutet.
Nach Hause gekommen, setzt man sich zum Hochzeitsmahl, bei dem
Schweinefleisch mit Pflaumen und Hirsegrütze in Milch gekocht nicht
fehlen dürfen. Das Mahl beginnt mit einem Gebet, das vom
Schulmeister, der selten fehlt und immer den Ehrenplatz neben der Braut
einnimmt, oder von einem in der Heil. Schrift bewanderten Gaste gesprochen
wird; zum Schluß der Mahlzeit wird wieder ein Lied aus dem
Gesangbuch gesungen und ein Gebet gehalten. Die Hochzeitfeier dauert
wenigstens zwei, oft aber auch acht Tage, während welcher Zeit
Unglaubliches im Essen und Trinken geleistet
wird. - Begräbnisse werden zumeist nur vom
Schullehrer abgehalten, der dabei 10 bis 12 Lieder hintereinander absingen muß. Das
Begräbnismahl darf nie fehlen. - Die Kleidung der
Kolonisten hat schon ihr Charakteristisches verloren, denn die meisten,
sowohl Männer als Frauen, huldigen schon der wandelbaren Mode
und wollen nach dem An- [76] zuge sich nicht mehr von den
Städtern unterscheiden lassen; nur der lange blaue Tuchrock der
Männer hat noch seine Herrschaft behalten."
Die
stehengebliebene Kultur |
Wesentliche Änderungen in der
Lebens- und Anschauungsweise sind seitdem bei den Kolonisten nicht
eingetreten. Wohl ragen sie mit ihrer Rechtschaffenheit und ihrem
Fleiß noch immer aus ihrer Umgebung hervor. Aber sie sind
stehengeblieben, dort wo schon Busch und seine Gewährsleute sie
sahen. Dieser Tiefstand ist in erster Linie auf die
Rückständigkeit des Schulwesens zurückzuführen.
Es soll nicht unerwähnt bleiben, daß sich einzelne Volksfreunde,
zumeist Pastoren, um seine Höherentwicklung bemühten. Aber
es fehlte doch der große Zug in dieser Arbeit; das Einsetzen der vollen
Person, das nötig ist, wenn ein in Angriff genommenes Werk nicht vor
den ersten Schwierigkeiten im Stich gelassen werden soll. So lassen sich,
rückschauend, in Berichten und Schilderungen wohl zahlreiche
Klagen über den unerfreulichen Stand der Dinge, aber sehr wenige
Mitteilungen über unternommene Arbeiten zur Besserung feststellen.
Busch konnte noch mit Fug und Recht sagen, daß die Kolonisten in Polen sich
(vor fünfzig Jahren) kaum von den Bauern in Deutschland
unterschieden. Die neue Zeit im reichsdeutschen Bauerntum, das gewaltige,
vielverzweigte Genossenschaftswesen, die Aufklärungsarbeit
zugunsten neuer Arten der Bodenbehandlung, ist dem deutschen
Kolonistentum in Polen ferngeblieben. Polnische
Volksfremde - Gutsbesitzer und Geistliche -, denen der Segen
der neuzeitlichen Unternehmungen in Deutschland bekanntgeworden ist,
versuchten mit Erfolg den polnischen Bauern aufzuklären. Der
deutschen Kolonisten nahm sich kaum jemand an. Und wenn dennoch ein
schwacher Versuch erfolgte, so trat ein Erliegen noch vor oder doch bald
nach der ersten Anstrengung ein.
Beginnende
Aufklärungsarbeiten |
Erst der 1916 gegründete "Deutsche Verein, Hauptsitz in Lodz" hat
sich des deutschen Bauerntums angenommen: Vorträge über
Bodenbearbeitung, Düngung, Pflanzenwechsel und andere Fragen, die
Tätigkeit der vom Verein ins Leben gerufenen Landwirtschaftlichen
Bezugs- und Absatzgesellschaft, Winterkurse für junge Landwirte
und die Tätigkeit eines Wanderlehrers und andere
Aufklärungsarbeiten sollten den Landleuten die
Arbeits- und Anschauungsweise des reichsdeutschen Bauern
näherbringen. Im Jahre 1918 ist diesen Unternehmungen das deutsche
Genossenschaftswesen mit Gründung zahlreicher Raiffeisenkassen
und ihrer Zusammenfassung in den "Deutschen Genossenschaftsverband"
gefolgt. Man darf sich nicht wundern, wenn diese auf Geduld eingestellte
Arbeit auf dem vernachlässigten Boden nicht sofortige Erfolge
zeitigt.
An der Weichsel, zwischen der preußischen Grenze und
Warschau, gibt es Gebiete, bei deren Besuch man glaubt, in eine deutsche
Provinz verschlagen zu sein. Als besonderes Merkzeichen der deutschen
Weichseldörfer gelten die "Hocke", Zäune aus Weidengeflecht,
die nicht nur jeden Hof umgeben, sondern jede Wirtschaft in mehrere Teile
zerlegen. Weidenreihen ziehen sich an den geflochtenen
Strauchzäunen entlang. Weiden und hunderte von
Obst-, hauptsächlich Pflaumenbäume, umgeben die
Häuser, die in der Weichselniederung auf Erdhügeln aufgebaut
sind, damit bei Dammbrüchen Menschen und Vieh gegen die
Wasserfluten der Weichsel geschützt werden. Die versteckte Lage der
Häuser hat ihre Besitzer bei den wiederholten großen
Truppendurchmärschen zu Beginn des Krieges vor [77] Besuchen der Russen geschützt, so
daß der Krieg fast spurlos an den Weichselansiedlungen
vorüberging.
Das abgeschiedene Dasein begünstigt bei den Deutschen der
Niederung die Neigung zum Grüblertum. "Sie dünken sich
hinter ihren Hocken wie Halbgötter!" äußerte sich ein
Kenner der dortigen Verhältnisse.
"Das Sicheinspinnen in eigene
Gedanken und das Abgeschlossensein gegen fremde Ideen bringt Gutes und
weniger Gutes mit sich. Von großer Bedeutung für die Ansiedler
ist auch heute noch die Religion, sowohl die alte lutherische wie auch manche
der Abarten, die in der evangelischen Kirche so zahlreich vertreten sind. In
Wiontschemin steht auf hohem Weichselufer eine Kapelle der Baptisten. Wir
besuchen den früheren Prediger der Baptisten, der ebenso Besitzer
eines Hofes ist wie alle Landwirte. Vor einigen Jahren ist er mit den
Führern einer neuen religiösen Gemeinde bekanntgeworden,
die von Amerika aus nach Deutschland verpflanzt wurde und sich
»Gemeinde Gottes« nennt. Eine Anzahl der von ihnen
beeinflußten Familien schlossen sich ihm an und gründeten eine
eigene Gemeinde. In dem nahen Deutsch-Wymischle sind Mennoniten
beheimatet, während Mitglieder der Brüdergemeinde zerstreut
in den verschiedenen Ansiedlungen wohnen. Auch die christliche
Gemeinschaft innerhalb der evangelischen Landeskirche hat ihre Ableger.
Bei der Fahrt durch Swiniary wird mir der neben der Schule stehende
Betsaal gezeigt, in dem gutbesuchte Gemeinschaftsversammlungen
abgehalten werden. Während wir auf einer erhöhten Stelle
der Straße fahren, die sich dicht an der Weichsel hinzieht, sehen wir
vollbesetzte Boote, die vom jenseitigen Ufer kommen. Ihre Insassen haben
drüben den Gottesdienst besucht, der den aus Wyschogrod
gekommene Pastor gehalten hat. Entzückt weilt der Blick auf dem
freundlich-sonnigen Strombild. Diesseits und jenseits deutsche Ansiedlungen
und der Fluß und seine Ufer belebt von deutschen Leuten! Fast wie im
alten Mutterlande!"3
Wirtschaftliche
Überlegenheit
der Weichseldeutschen |
Die wirtschaftliche Tüchtigkeit der
Weichseldeutschen ist auch von fremden Beurteilern anerkannt worden. So
schrieb der russische Präsident des Kielcer Kameralhofes:
"Das Äußere einer
deutschen Wirtschaft stellt sich als etwas Abgerundetes und streng
Durchdachtes dar, es ist offensichtlich, daß die Ertragsfähigkeit
dieser Wirtschaften eben durch ihre ganze Organisation bedingt wird.
Vieh- und Pferdestall und Düngergrube sind auf einem deutschen
Hofe derartig angelegt, daß auch nicht ein Stück Dünger
oder ein Tropfen Jauche verloren geht. Der Deutsche hat einen
vollständigen Komplex von landwirtschaftlichen Geräten,
einschließlich einer Dreschmaschine mit Pferdeantrieb. Alles ist stets in
bester Ordnung. Pferde und Vieh sind von guter Rasse, gut gefüttert
und rein gehalten, da der Deutsche seinem Vieh Streu mit freigiebiger Hand
gewährt. Der Brunnen ist innen und außen mit Feldsteinen
vermauert, stets sorgfältig zugedeckt und mit einer Vorrichtung
für ein möglichst leichtes Wasserschöpfen versehen... Die
Deutschen siedeln sich im allgemeinen gern in Niederungen
an. - Zu einer deutschen Wirtschaft gehört ein Stück
moorigen Bodens, in dessen Nähe Sand vorhanden ist. Die sumpfigen
Stellen werden mit [78] einer Schicht von
ungefähr 25 - 30 Zentimeter aufgeschüttet und
darauf junge Pflanzenbäume gepflanzt. Gewöhnlich schon nach
vier Jahren hat der Kolonist einen außerordentlich ertragreichen
Garten... Wenn man längs der Weichsel mit dem Dampfer von
Bobrowniki nach Dobrzyn fährt, scheinen die deutschen Kolonien an
der Weichsel einen einzigen ununterbrochenen Garten darzustellen. Die auf
der Höhe verstreuten polnischen Höfe sehen daneben einsam
aus, da sie fast von keinerlei Vegetation umgeben sind. Die
Überlegenheit der deutschen Wirtschaften fällt in der hiesigen
Gegend recht grell in die Augen. Die deutschen Bauernwirtschaften sind
sogar besser eingerichtet als die Gutswirtschaften."4
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1Bis vor kurzem galt
Neu-Sulzfeld als älteste Schwabenkolonie Polens. Der
während der Zeit der deutschen Okkupation nach
Neu-Sulzfeld berufene reichsdeutsche Pfarrverweser Pastor Ludwig
Eyth hat sich während seiner Amtstätigkeit mit der
Erforschung der Ursprungsorte der einzelnen Familien befaßt und das
Ergebnis in einem Aufsatz: "Ist Neu-Sulzfeld Schwabenkolonie?" in der
Deutschen Post (1918, Nr. 17) niedergelegt. Da er die erste
Arbeit auf dem Gebiet der Familienforschung darstellt, so sei er hier
wiedergegeben:
"Weithin steht in Polen die Gemeinde
Neu-Sulzfeld in dem Ruf, eine echte, rechte Schwabenkolonie zu
sein. Und der Krieg, der große Erreger und Beweger der Menschheit,
hat dafür gesorgt, daß diese Meinung weit über die
Grenzpfähle Polens hinaus ins »Ausland«, ins deutsche
Land gedrungen ist. Als ich vor zwei Jahren hierher gerufen wurde, der
durch den Krieg hirtenlos gewordenen Gemeinde mich anzunehmen
für die Kriegsdauer, da sollte mir, als einem Schwaben, der
Entschluß, nach Polen zu gehen, seitens des
evangelisch-augsburgischen Konsistoriums in Warschau, und des
deutsch-evangelischen Kirchenausschusses in Berlin eben durch die
Aussicht, in einer schwäbischen Gemeinde meines Amtes walten zu
dürfen, leichter und verlockender gemacht werden. Wie freute ich
mich, hier für einigen Jahren mit meinen der Heimat längst so
ferngerückten Landsleuten in nähere Berührung zu
treten und in den trauten Klängen unserer Heimatsprache mit ihnen
verkehren zu können. Allein mein Erstaunen war nicht gering, als ich
bei meiner Ankunft alle möglichen, aber nur keine
schwäbischen Laute an mein Ohr schlagen hörte! Wohl
heimelten mich eine ganze Reihe von Familiennamen, auch Vornamen, wie sie
mir von meiner schwäbischen Heimat her bekannt und vertraut
waren, mächtig an, aber so viel anderes, wie besonders die
Umgangssprache und auch die ganz anders geartete Besiedlungsweise der
Kolonie, mutete mich gar fremd und gänzlich neu und unbekannt
an.
Es bedurfte erst längerer Zeit und
näherer Berührung mit Häusern und Familien derselben,
bis meine ersten Eindrücke sich verwischten und ihr eigentlicher
[63] Stammescharakter
sich mehr und mehr mir erschloß. Da, an der trauten, heimatlichen
Herdstätte oder in der Staatsstube meiner Gemeindemitglieder mit
ihnen sitzend und gemütliche Zwiesprache mit ihnen pflegend, auch
seelsorgerlich mich mit ihnen unterredend, kam ihr wahres Wesen und ihre
eigentliche Stammesart zum Vorschein, da löste sich die Zunge
ungezwungen und kamen die anfangs so schmerzlich vermißten
Heimatlaute und verwandte Gesinnungsart an den Tag, und nicht wenige
nehmen es mit ihren Pastoren im »Schwäbeln«
gründlich auf. Allerdings sind es in der Hauptsache nur die
älteren Generationen, die Großväter und
Großmütter, die ihr Schwäbisch in der Sprache und in
der Art sich zu geben und zu denken, sich bewahrt haben. Die
jüngeren Generationen verraten nur noch in einzelnen
Redewendungen und Begriffsbestimmungen ihre schwäbische
Abstammung und die jüngste Generation, unsere liebe Jugend, hat in
jeder Beziehung alles Schwäbische gründlich abgelegt. Hier ist
auch keine Spur mehr übriggeblieben von der Stammesart der
Väter und Großväter.
Nicht wenige Familien sind aber auch, in denen man
umsonst sucht nach Berührungspunkten mit der schwäbischen
Scholle und Art. Es wäre auch unberechtigt, sie da suchen zu wollen,
wo sie gar nicht sich finden können. Sind doch ihrer viele
ursprünglich ganz wo anders beheimatet gewesen, und das
schwäbische Element war von Anfang an nicht so überwiegend
in der Gemeinde vertreten, daß es alle übrigen Teile derselben
hätte so nachdrücklich beeinflussen können. Doch davon
später.
Meine Vorliebe zur Erforschung der
Heimatgeschichte ließ mir keine Ruhe, bis ich die völkische
Zusammensetzung meiner Gemeinde und die Ausgangspunkte der einstigen
Einwanderung der Kolonie erkundet hatte. Das Interesse, zu erfahren,
inwieweit Neu-Sulzfeld wirklich verdient, eine Schwabenkolonie zu
heißen, ließ mich nicht mehr los, und vielleicht teilen noch
weitere Kreise mit mir dieses Interesse.
Die Quellen für meine Forschungsarbeiten
bildeten natürlich mangels anderer Nachrichten, woran Polen
außerordentlich arm ist, ausschließlich die Kirchenbücher,
vor allem die Trauregister, die über die Herkunft und Abstammung der ersten
Einwanderer am ergiebigsten Auskunft geben. Leider beginnen die
Kirchenbücher der Gemeinde Neu-Suzfeld erst mit dem Jahre 1838.
Weitere zehn Jahre zurückzusehen, erlaubten mir die
Kirchenbücher der St. Trinitatisgemeinde in Lodz. Gar zu gern
hätte ich noch die Register der benachbarten katholischen
Kirchengemeinde Mileschki durchforscht, wo vielfach die ersten kirchlichen
Handlungen, mangels einer eigenen Kirchspielgründung am Orte,
vollzogen wurden. Doch war es mir nicht möglich, Einblick in diese
Kirchenbücher zu bekommen.
Das Ergebnis meiner Nachforschungen war nun das
Folgende. Es wanderten im Laufe der ersten Jahrzehnte des
19. Jahrhunderts in Neu-Sulzfeld und nächster Umgebung
ein:
Aus Württemberg: 21 Familien;
nämlich aus Biberach: Neuwirt; Hemmingen: Maual und Rapp;
Hofen: Keller; Hohenstraßen: Ebert und Schwarz; Kuppingen: Roller;
Langeßlingen (?): Leer; Münchingen: Hönes,
Schüle, Schwarz, Walter und Wolfangel;
Neu-Nifra: Kübler; Nufringen: Glaser und Scherer; Ochsenbach:
Späth; Schömberg: Fauer; Tieringen: Groß und
März; Weil im Schönbuch: Renz.
Aus Baden: 14 Familien; aus Deckenheim:
Kreter und Schwamm; Dossenheim: Freier; Erpotsheim: Schäfer und
Schneider; Göndelsheim: Rätz; Größingen:
Hoffmann; Leimen: Weidenmeier; Nußloch: Meier; Schandhausen:
Schütz; Schabenhausen: Ketterer; Walldorf: Schmelcher und Wahl;
Wiesloch: Krittmann.
Aus Bayern (Pfalz): 28 Familien; aus
Alsheim: Hermann; Beiersdorf: Brickert; Blesweiher: Reiser; Bergen:
Franzmann; Bolzchau: Erler; Eschelbach (vielleicht Württb.):
Schuster; Falkenheim: Friekel; Freinsheim: Schaffner; Frausheim: Andres;
Hornheim (viell. Württb.): Knodel; Kalstadt: Lumelius; Kinderheim:
Krieg; Lachen: Bauer, Brickert, Grabler, Meermann, Roth, Schmidt,
Theobald, Zoller; Landsberg: Grund; Mingen: Schüle;
Oberhochstädt: Schäfer; St. [64] Ludwig bei Offenbach: Figeisen; Sulzfeld:
Klebsattel (nach mündlk. Überlieferung auch Franzmann);
Steinalp: Korb; Zweibrücken: Schwarz; ohne nähere
Ortsbezeichnung: Kelber.
Aus Hessen: 4 Familien; aus
Frammershausen: Bayer; Jachtrow (?): Hermann; Obermosstadt:
Walter; Odernheim: Seile.
Aus Posen: 23 Familien; aus Brätz:
Seiffert; Tischbü: Schmidtke; Galezichi: Reiter; Globuski: Sauer;
Goll: Steinke; Jablonow: Jesse; Karnikel: Kettlig; Karnina: Rosemann;
Koszen: Grill; Kowal: Gudrian; Ludwikow: Henke; Neglow: Leske;
Neuberg: Nofer; Neudomancz: Neumann; Tignin: Schulz; Posen:
Grüning; Srubin: Musott; Streli(z): Reisdorf; Szermochlow:
Schön; Stromiau: Stelter; Thorn: Schulz; Trumaschynie bei Riglau:
Friedenberger; Wöstruwko: Selle.
Aus Preußen: 15 Familien; aus
Emstal: Wahl; Falkenburg: Plock; Goldberg: Schuhmann; Katkow:
Kolberg; Kleinschabisch: Schrot; Landsberg: Baumsart und Grund; Mulia:
Gust; Pito: Eichendorf; Ratzeburg: Arndt, Blach und Reuspieß;
Perleberg: Bode; Schwiebus: Engler; Simmekowo: Gindert.
Aus Sachsen: 1 Familie; Kartheus:
Gruber.
Aus Schlesien: 2 Familien; Romberg:
Bergmann; Sagan: Vamke.
Aus Frankreich 3
Familien; aus Neukastel: Klein; Hangsweiler: Becker und Ledermann.
Für die richtige Schreibart der Heimatorte
kann nicht immer Sicherheit gegeben werden, da eine Nachprüfung
der oft sehr kleinen Dörfer nach dem zur Verfügung stehenden
Kartenmaterial nicht möglich war.
Ein Rückblick auf die Heimatorte, aus denen
die Sulzfelder Kolonisten s. Z. ausgewandert sind, ergibt also wohl ein
ganz entschiedenes Überwiegen der süddeutschen
Stämme gegenüber der mittel- und norddeutschen
(67 : 42), das für den Kern der Kolonie noch
stärker wird, da die aus Posen und Preußen stammenden
Familien weit häufiger in den Außenteilen der Kolonie sich
befinden. Aber innerhalb der süddeutschen Bestandteile nehmen die
Schwaben, d. h. Württemberger, nicht den ersten Raum ein,
stehen vielmehr hinter den Bayern um ein Bedeutendes zurück
(21 : 28), welches Verhältnis sich allerdings durch die
Erforschung der allerfrühesten Einwanderungszeit noch etwas
zugunsten der Schwaben (Württemberger) verändern
dürfte, wenn der mündlichen Überlieferung Glauben
geschenkt werden darf. Übrigens dürfen wir den Begriff
Schwaben gar nicht so eng fassen, als er vielfach genommen wird, wobei man
ihn mit Württemberg sich decken läßt. Die Grenzen des
schwäbischen Stammes sind vielmehr ganz andere, viel
weiterreichende als die das heutige Schwabenland bestimmenden. Sie reichen
noch tief ins bayrische und badische Land hinein. Und so können wir
die Ergebnisse unserer Forschung feststellen: die Kolonie
Neu-Sulzfeld (Nowosolna) ist zwar keine reine, ausschließlich
schwäbische Siedlung, wohl aber stark überwiegend und im
weiteren Sinne des Wortes genommen, doch eine
Schwabenkolonie." ...zurück...
2In einem der vom Feuer verschont
gebliebenen Häuser des Dorfes fand sich unter anderen vergilbten
Papieren eine Erbverschreibung, die hier vollinhaltlich wiedergegeben
sei.
I. Erbverschreibung
für den Kolonisten Martin Kiehler.
Seine Königs Majestät von
Preußen Unser allergnädigster Herr genehmigt und
bestätigt hierdurch die angeheftete Erbverschreibung vom 15. Juny
a. c. für den Kolonisten Martin Kiehler aus Domfessel,
Departements Niederrhein, französischen Gebiets, über die ihm
zugeteilte dreißig Magdeburger Morgen, oder Ein Hufer Stelle, sub.
Ml. IX. auf der Kolonie Koenigsbach, Domainen Amts Pabianice, in allen
ihren Punkten und Klauseln.
Signatum Kalisch den 15. July 1803.
Königl. Südp. Krieges und
Domänen-Kammer.
(Unterschriften).
Confirmation
der Erbverschreibung, für den Kolonisten
zweiter Klasse Martin Kiehler aus Domfessel, Departements Niederrhein,
französischen Gebiets gebürtig, über die ihm zugeteilte
30 Morgen oder Ein Hufer Stelle sub Ml. IX auf der Kolonie Koenigsbach
Domainen Amts Pabianice.
(Unterschrift.)
Zweiter Classe.
Nachdem von höchster Behörde dem
Colonisten Martin Kiehler aus Domfessel Departements
Niederrhein französischen Gebiets gebürtig zu seinem
Etablissement
Dreißig Magdeburg. Morgen oder Einer Hufe
Magdeburgisch Landes in der zum hiesigen
Königl.-Domainen Amte gehörigen und Wyskitnoer
Forst-Revier belegenen Colonie Koenigsbach zur Cultur und Benutzung
bewilliget worden; so wird demselben darüber nachstehende
Erbverschreibung ertheilt:
§ 1. Es erhält der Colonist
Martin Kiehler obige Grundstücke, und zwar sub. Nro. IX
des hierüber aufgenommenen Vermessungs-Plans, für sich,
seine Erben und Nachkommen auf ewige Zeiten, zu
Erbzins-Rechten, dergestalt und also, daß er über dieses sein
Etablissement nach seinem Gefallen, jedoch mit Vorwissen und Bewilligung
der Königl. Krieges- und Domainen Cammer disponiren, und solches
also verschenken, verkaufen, vertauschen, oder anderweit
veräußern kann, jedoch mit den Einschränkungen:
daß der Besitzer innerhalb der ersten 10 Jahre das Grundstück
nur an einen Ausländer verkaufen kann und die Anlegung des
Kauf-Pretii im Lande nachweisen muß, daß nach Ablauf der
ersten 10 Jahre demselben der Verkauf seines Etablissements an einen
Einländer nur in dem Fall gestattet werden soll, wenn entweder nur
dadurch der Verfall der Stelle zu verhüten steht, oder der
Verkäufer die Wiederanlegung des Kaufgeldes im Einlande
nachweiset, ferner: daß das Grundstück nicht eher mit Schulden
belastet werden darf, bis die demselben etwa gemachten Vorschüsse
sämtlich getilgt sind, wozu jedoch selbst dann, wenn die
Vorschüsse zurück gezahlt sind, in jenem speziellen Falle
zuförderst die Genehmigung der Königl. Cammer nachgesucht
werden muß; wobei übrigens auf dem Fall der
Veräußerung der Königl. Cammer das
Verkaufs-Recht binnen 2 Monaten, nachdem derselben die
Veräußerung angezeigt worden, reserviert bleibt, und von dem
neuen Annehmer beym Verkauf, Tausch, Schenkung,
Vermächtniß und Erbgangsrecht an andere Erben, als
Descendenten, die Hälfte des Canons als Laudemium entrichtet
werden muß.
§ 2. Werden ihm gedachte
Grundstücke ohne alles
Ankaufs-Geld überlassen, auch demselben das zum Betriebe seiner
Wirtschaft erforderliche Gebäude, als
[67]
Ein Wohnhaus,
Ein
Stallungs-Gebäude
und Eine Scheune
für Königl. Rechnung gratis erbaut, so
wie auch
§ 3. demselben durch Sechs Jahre die
Befreiung von Canon, Rauchfangs-Gelde und Vorspannleistung als von
Trinit. 1803 bis 1809 zugesichert werden.
§ 4. Derselbe hat zum
Vieh-Besatz Saatgetreide und Wirtschaftsgeräten eine Summe von 161
rt. 16 ggr. schreibe Ein Hundert Ein und Sechzig Reichsthaler Sechzehn gute
Groschen erhalten.
Auch erhält derselbe, da seine
Grundstücke auch mit Holz bestanden und er solche selbst roden und
urbar machen muß nach Maßgabe des
Vermessungs-Registers pro Morgen im mittleren Boden 10 Rt: und in
starken Boden pro Morgen 15 Rt.: überhaupt die Summe von 350 Rt.:
Rodegelder, die ihm so wie bereits geschehen successive nach den
Fortschritten der Rodung ausgezahlt wird.
§ 5. Wird demselben Raff- und
Lese-Holz gegen die gewöhnlichen Heidenmiethe, so lange als es die
Forsten verstatten, und selbiges ohne Nachtheil der alten
Holz-Berechtigten geschehen kann, bewilliget: dagegen hat er auf
Weide-Freiheit außerhalb seines Etablissements keine
Ansprüche zu machen; nicht minder wird demselben
§ 6. die Enrollements-Freiheit
für sich und seine von ihm ins Land gebrachten Söhne
Namens
Nicolaus .........11 Jahr alt
Peter ............... 6 Jahr alt und
Jacob .............. 2 Jahr alt
zugesichert.
§ 7. Bleibt derselbe mit seiner Familie
von der Landesüblichen Erbunterthänigkeit befreit.
§ 8. Wird zwar demselben, wie ab 2
bemerkt worden, die zu seinem Etablissement erforderlichen
Wohn- und Wirtschafts-Gebäude für Königl. Rechnung
erbaut, jedoch muß er für die Zukunft sowohl alle und jede bei
künftig vorkommenden Neu- und Reparatur-Bauten erforderlichen
Bau-Materialien ohne alle Concurrenz des Dominii aus eigenen Mitteln
anschaffen, als auch überhaupt sämtliche
Bau- und Unterhaltungs-Kosten übernehmen.
§ 9. Derselbe ist verpflichtet, nach
Ablauf der Freijahre, nemlich von Trinit. 1809 an, den vollen Erbzins,
welcher von 20 Morgen mittlern Boden à 10 ggr. und von 10 Morgen
starken Boden à 12 ggr. überhaupt alljährlich auf 13
Rt. 8 ggr. schreibe Dreyzehn Reichsthaler Acht gute Groschen festgesetzt
worden, zur Domainen-Amts-Casse in königl. Preuß. Courant
abzuführen; wobei jedoch dessen verhältnismäßige
Erhöhung bei Erhöhung der
Cammer-Taxe vom Roggen ausdrücklich vorbehalten bleibt, welcher
Erb-Acquirent sich unterwirft.
§ 10. Ist derselbe gehalten, nach
Ablauf der Freijahre alle öffentlichen Abgaben und Lasten, als
Rauchfangs-Gelder, Fourage-Lieferung, Vorspannleistung, oder wie sie sonst
Namen haben, und jetzt oder zukünftig festgesetzt werden
mögen, zu leisten und zu entrichten, auch
§ 11. seine Gebäude dereinst
auf seine Kosten in die Feuer-Societät versichern zu lassen, auch wenn
sie durch Zufall beschädigt oder zu Grunde gerichtet werden, auf seine
Kosten wieder herzustellen, und überhaupt alle und jede
Unglücks-Fälle, auch die in der Substanz zu
übernehmen, und kann in keinem Falle Heruntersetzung oder Ersatz
des Zinses verlangen, auch im Falle die Gebäude durch Brandt
eingeäschert werden, solchen gegen Empfang der
Feuer-Societät-Hälfte zu retablieren und insofern diese nicht
zureicht das übrige ex propriis zuzulassen ohne irgend eine
Unterstützung vom Dominii an Bauholtz, anderen Materialien oder an
baarem Gelde zu fördern.
§ 12. Sobald derselbe einer schlechten
und liederlichen Wirtschaft überführt wird; so soll er
exmittiert, und die Stelle auf seine Gefahr und Kosten feil gestellt
werden.
[68] §
13. Derselbe ist verpflichtet, seine Getränke aus einer der
Amts-Provinations-Statten zu nehmen, und zwar vom Vorwerke Kottlin oder
wohin er sonst durch das hiesige Domainen-Amt gewiesen wird.
§ 14. Bleibt derselbe samt seiner
Familie und seinen Hausgenossen der Jurisdiktion des hiesigen
Domainen- und Justiz-Amts unterworfen.
§ 15. Derselbe ist nicht nur
verpflichtet, denjenigen, der von der höhern Behörde zum
Schulzen ernannt, und in dieser Qualität der
Colonie-Gemeinde vom hiesigen Amte vorgestelt wird, als solchen
anzunehmen und anzuerkennen, auch ihm den schuldigen Gehorsam zu
leisten, sondern er muß es sich auch gefallen lassen, wenn er selbst zum
Schulzen erwählt werden sollte, solches zu übernehmen, und die
damit verbundenen Obliegenheiten zu erfüllen.
§ 16. In den Kirchen- und
Schul-Abgaben ist derselbe verpflichtet nach Maßgabe des
Allgemeinen Landrechts beizutragen. Derselbe macht sich auch verbindlich,
den zu treffenden Anordnungen in Absicht der zu entrichtenden
Beiträge an barem Gelde oder Naturalien zur Unterhaltung eines
Schullehrers sich unterwerfen, auch
§ 17. der Societät zur
gegenseitigen Hilfsleistung der Untertanen im Amte nicht nur bei
Unglücksfällen, sondern auch bei Neubauten, und bei
großen, den Neubauten gleich zu achtenden Reparaturen, beizutreten,
wo sich die Untertanen mit Hand- und Spann-Diensten, und mit
Dachdeck-Stroh wechselseitig unterstützen müssen.
§ 18. Ist derselbe gehalten, die
Eintragung dieses Grundstücks nebst den vorzüglichen
Bedingungen dieser Erbverschreibung, und des Canons, als eines oneris
perpetui, in das Hypothekenbuch beim hiesigen
Justiz-Amte binnen 3 Monaten auf seine Kosten zu bewürken, und
den Hypothekenschein bei der Königl. Cammer einzureichen.
§ 19. Sobald der jedesmalige Besitzer
mit der Abführung des Kanons zwei Jahre im Rückstande
bleibt, so fällt das Nutzungsrecht dieses Grundstücks ohne
weiteres dem Fisco anheim, ohne daß die darauf verwandten
Meliorationes vergütigt werden dürfen.
Gegeben Pabianice den 15. Juny
1804.
Königl. Südpreuß.
Domainen-Amt
(Unterschrift).
Erbschreibung
für den Colonisten Martin Kiehler
zu Koenigsbach, Amts Pabianice
über Eine Hufe Magdeb. Landes
unterzeichnet
Martin Kiehler.
Daß die Contrahenten vorstehende
Erbverschreibung nach vorgängiger Erklärung, daß
ihnen der Inhalt bekannt sein, eigenhändig unterschrieben haben,
dieselben auch dispositionsfähig sind, solches wird hiermit
acceptirt.
Vollmacht
Der Amtmann.
Die Ansiedler waren verpflichtet,
Leumundszeugnisse von bürgerlichen und kirchlichen Ämtern
ihrer Heimat mitzubringen. Bei den Nachkommen des in der
Erbverschreibung erwähnten Martin Kiehler fanden sich Atteste des
Bürgermeisters und des Pfarrers seines Heimatortes.
Das Zeugnis des Bürgermeisters lautet:
Departement
vom
Niederrhein.
Domfessel, 29, Mertz 1803.
Gegenwärtigem Bürger, Nahmens
Martin Kiehler, bis dahin Einwohner hiesiger Gemeinde und im Begriff ist
von hier aus zu ziehen, und [69] sich anderwärts Niederzulassen, als
nehmlich mit seinem Weib und 5 Kindern, wird ihm also in Wahrheit
Attestiert, daß er sich jederzeit gegen seine Obern Gehorsam, nach den
Gesetzen und Willig in den Abgaben und gegen Jedermann dienstfertig und
friedsam erzeigt hat, und von Kindheit an zu dem Ackerbau angewiesen
worden, dessen er durchaus Kundig ist, wie auch zum Klee und Garten Bau
und überhaupt zu aller Landarbeit fleißig und aufgelegt ist.
Weil er aber eine sehr starke Familie hat und das Land in hiesiger Gegend
sehr Theuer ist, er aber wenig Eigenthum besitzt, also genötigt ist,
Kraft seines, als rechtschaffenen Vater fühlenden Wunsches, seine
Kinder Glücklich zu sehen, sich auf eine Gegend zu begeben, wo seine
Arbeit besser als hier belohnt wird.
Obiges wird hiermit der Wahrheit
Gemäß attestirt und Unterschrieben.
Thiebold Meir.
In einem umfangreichen Schriftstück des
Pfarramtes wird die Unbescholtenheit desselben Martin Kiehler (dessen
Familienname hier Köhler genannt wird) bestätigt und
Auszüge aus den Kirchenakten gegeben. In der Einleitung heißt
es:
Zeugnisse,
die ehrliche Herkunft, die unbescholtene Aufführung, den christlichen
Ehestand, Geburt und Taufe der fünf Kinder des Martin
Köhler betreffend.
Martin Köhler, bürgerlicher
Einwohner zu Domfessel, Pfarrei Lorenzen, ehemals zur
fürstlich-Nassauischen Grafschaft Saarwerden, nunmehr zum Canton
Saarunion - (ehemals Saarboxenheim) bezirk von Zabern,
Niederrheinischen Departements der französischen Republik
gehörig, ist gebürtig von Maxweiler, Pfarrei Berg, in der
ehemaligen Grafschaft Saarwerden, bekennet sich mit seiner Familie zu
unserer Evangelisch-Lutherischen Kirche, und wird aus der Lutherischen
Pfarrei Berg Zeugnisse, seine Person betreffend, in Händen haben. (Es
folgen Auszüge aus dem Kirchenregister) ....
Daß obige Auszüge aus dem
Kirchenbuch der Pfarrei Lorenzen und Domfessel, demselbigen
gleichlautend seyn wird nicht allein bezeuget, sondern es wird auch dem
Bürger Martin Köhler und seiner Ehefrau, der Eva Elisabetha,
einer geborenen Lenge, der Wahrheit gemäß das Zeugnis
gegeben daß dieselben einen von allen großen Lastern befreiten,
unanstößigen, ehrbaren und christlichen Lebenswandel
geführet, sich ordentlich zu unserm öffentlichen Gottesdienst
gehalten und das heilige Abendmahl von Zeit zu Zeit empfangen, friedlich in
der Ehe und mit ihren Mitchristen stets nachbarlich und freundlich gelebt
haben. Indem nun diese christliche, ehrbare, redliche, treue und
fleißige Familie unsere Gemeinde verläßt, so entlasse ich
sie mit den herzlichsten Segenswünschen. Der Allmächtige sey
ihr Schutz auf ihrer vorhabenden Reisse, und die gute Vorsehung bringe sie
glücklich an einen Ort hin, wo ihre Wohlfahrt an Leib und Seele
gedeihen kann. Ich empfehle diese... (Lücke)... mit denen sie in
Verbindung kommen mag, zur brüderlichen Aufnahme und liebreichen
Unterstützung, im Falle sie es benötigt seyn möchte;
besonders aber empfehle ich sie der treuen Aufsicht ihres künftigen
Seelsorgers.
Gegeben zu Lorenzen, Canton
Saar-Union, Arrondissement Zabern.
Departement von Niederrhein. Den 19. März 1803. - 28.
Ventose XI.
Ludwig Philipp Hildebrand,
Evangelisch-Lutherischer Pfarrer zu Lorenzen und Domfessel.
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3Adolf Eichler in einer
Reiseschilderung, Deutsche Post, Nr. 41, 1916. ...zurück...
4Zitiert nach Georg
Cleinow: Die Zukunft Polens. I. Band, Seite 135. Leipzig
1908. ...zurück...
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