Das "preußische
System"
Das
verwahrloste
Westpreußen |
Friedrich
der Große schrieb 1773 in einem Briefe an Voltaire
über den Zustand
des ihm nach der ersten Teilung Polens zugefallenen
Anteils: "Man kann die polnischen Provinzen mit keinem
europäischen Staate, sondern nur mit Kanada in Vergleich ziehen."
Und zwei Jahre später äußerte sich der König zu
d'Alembert: "Ich betrachte mich als den Lykurg und Solon dieser Barbaren.
Denken Sie, was das heißt: in diesem unglücklichen Lande kennt
man das Eigentum nicht; statt aller Gesetze unterdrückt der
Stärkere ungestraft den Schwächeren. Allein das hat ein Ende,
und für die Zukunft wird man gute Maßregeln dagegen nehmen.
Nur durch ziemlich lange Zeit und durch eine besondere Erziehung der
Jugend wird man es dahin bringen, diese Irokesen zu zivilisieren." Dieses
herbe Urteil betraf nicht etwa die entlegenen Provinzen Ostpolens, sondern
[52] Westpreußen
und den Netzedistrikt, wo sich seit Jahrhundertern zahlreiche deutsche
Siedlungen befanden, die dazu beigetragen hatten, daß sich
Ströme deutscher Kultur immer wieder in das Land ergossen. Freilich
hatten die Jesuiten mit ihren Bemühungen, den stark vertretenen
Protestantismus auszurotten, Massenauswanderungen der deutschen
Ansiedler bewirkt. Dazu kamen Streitigkeiten der polnischen Adligen und
andere Hemmungen der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes. Der
Wohlstand der alten deutschen Ansiedlung Thorn war nach dem Blutgericht
zurückgegangen. Eine andere deutsche städtische Siedlung,
Bromberg, lag bei dem Übergang in preußischen Besitz in
Trümmern.
Wirtschaftlicher Aufschwung
nach der Übernahme
in preußische Verwaltung |
Der große König hat sein Wort wahr
gemacht. Die Verwaltung der neuen Provinz teilte das Land in kleine
Verwaltungsbezirke, an deren Spitze ein Landrat stand, der für die
Entwicklung seines Kreises verantwortlich war. "Wie durch einen Zauber
wurden neue Kirchengemeinden geschaffen, 187 Schullehrer ins Land
gebracht, Haufen von deutschen Handwerkern geworben, vom
Maschinenbauer bis zum Ziegelstreicher hinab. Überall begann ein
Graben, Hämmern, Bauen. Die Städte wurden neu mit
Menschen besetzt, Straße auf Straße erhob sich aus
den Trümmerhaufen, die Starosteien
wurden in Krongüter umgewandelt, neue Kolonistendörfer
ausgesteckt, neue Ackerkulturen befohlen. Schon im ersten Jahr nach der
Besitznahme wurde der große Kanal gegraben, der in einem Laufe von
drei Meilen die Warschau durch die Brahe und Netze mit der Oder und Elbe
verbindet: ein Jahr nachdem der König den Befehl erteilt hatte, sah er
selbst beladene Oderkähne von 120 Fuß Länge nach dem
Osten zur Weichsel einfahren. Durch die neue Wasserader wurden Strecken
Land entsumpft und sofort durch deutsche Kolonisten besetzt.
Unablässig trieb der König, er lobte und schalt; wie groß
der Eifer seiner Beamten auch war, sie vermochten selten, ihm genug zu tun.
Dadurch geschah es, daß auch die polnischen Landstriche sich an die
Ordnung des neuen Landes gewöhnten."1
Mit wachsendem Staunen hatte man im nahen polnischen Königreich
auf die raschen Erfolge der Kulturpolitik des preußischen
Königs gesehen. Einsichtige und vaterländisch gesinnte
Männer fanden sich zusammen. Es ging ja um Sein oder Nichtsein
Polens, dessen Weiterbestehen gefährdet war. Um sich
größeren Einfluß in dem politisch zerrütteten
Lande zu sichern, hatte Katharina II. nach dem Tode des
sächsischen Königs August III. die Wahl ihres
Günstlings, des Grafen Stanislaus August Poniatowski, zum
König von Polen durchgesetzt. Russische Bestechungsgelder machten
die Mitglieder des polnischen Senats fort und fort den Petersburger
Wünschen gefügig. Preußen und Österreich sahen
die Einverleibung des polnischen Reiches in Rußland in naher Zukunft
voraus. Da beanspruchten auch sie Teile des dem Untergang geweihten
Staates. So kam es zu den Teilungen Polens.
Stanislaus Augusts
Bemühungen,
das "preußische System"
nach Polen zu übertragen |
Auch Stanislaus August war gewillt, sein
möglichstes zu tun, um den Bestand des polnischen
Königreiches zu sichern. Mancherlei hat er unter- [53] nommen, um es dem großen Friedrich
gleich zu tun. Industrien wurden angelegt und hier und da Ansätze
zur Neuregelung der Verwaltung gemacht. Doch der schwache polnische
König besaß nicht den festen Willen des preußischen
Monarchen. All sein Tun blieb Stückwerk; mußte es bleiben,
weil die ausführenden Kräfte in ihrem sittlichen Wert weit
hinter der preußischen Beamtenschaft zurückblieben. Das
"preußische System" erforderte einen gesunden Unterbau und
ließ sich nicht ohne weiteres auf die morschgewordene polnische
Adelsrepublik verpflanzen. Eine großangelegte königliche
Wollwarenmanufaktur mit einigen Tuch-, Hut- und Strumpffabriken ging
schon nach einigen Jahren ein. Andere Industriezweige behaupteten sich mit
wechselndem Erfolg.
Der
König als Gönner
der deutschen Handwerker
und Gewerbetreibenden |
Mehr Glück hatte der polnische König
bei der Heranziehung deutscher Handwerker. Er wußte deutsche
Redlichkeit und Tüchtigkeit zu schätzen und begünstigte
die Ansiedlung deutscher Gewerbetreibender. Einst traf er einen
wandernden Sattlergesellen, der ihm auf seine Fragen über Woher
und Wohin so klare Antworten gab, daß er seine Freude daran hatte.
Er bestellte ihn ins königliche Schloß, betraute ihn mit der
Gründung einer Wagenfabrik und lieh ihm das zur Einrichtung
nötige Geld. Daß der König sein Vertrauen keinem
Unwürdigen geschenkt hatte, bewies das rasche Aufblühen des
Unternehmens, das noch zu Lebzeiten seines Besitzers über 200
Arbeiter beschäftigte. Weil sich die in der Fabrik hergestellten Wagen
durch Dauerhaftigkeit und Eleganz auszeichneten, erhielt Warschau einen
guten Ruf als Ursprungsort seiner Fahrwerke, die in Güte den aus
London bezogenen nicht nachstanden. Stanislaus August bewahrte dem
Inhaber der Wagenfabrik sein Wohlwollen und adelte ihn. Er starb 1808 als
hochangesehener Baron von Dangel.
Von deutscher Treue berichtet die Inschrift eines Leichensteins auf dem
alten evangelischen Friedhof in Warschau: "Hier ruht Georg Heinrich
Butzau, welcher den König Stanislaus August mit eigener Brust am 3.
November 1771 gegen die Waffen nichtswürdiger
Königsmörder schützend, von zwei Kugeln getroffen, den
Tod eines Helden starb."
Zeugnis von der großen Wertschätzung, deren sich deutsches
Wesen bei dem König erfreute, bieten die vielen Namen von deutschen
Adligen und Gelehrten, die im Staats- oder persönlichen Dienste des
Königs standen. Ein Graf v. Unruh war Direktor der
königlichen Münze, Alexander v. Brucken Adjutant, Freiherr v.
Doebel Stallmeister, Chr. Gottl. v. Friese Kabinettsekretär, Johann
Stoll Leibarzt, Christoph Leop. Pohl Zahnarzt. Auch zahlreiche niedere
Bedienstete deutscher Herkunft befanden sich am Hofe. Deutsche
Professoren unterrichteten an der neuen Ritter- und Kadettenschule.
Geheimrat Kortum bemühte sich um die Einführung des
Freimaurertums. Deutsche Ärzte waren sehr geschätzt.
Verdienstvoll war auch die sonstige Tätigkeit der Deutschen, die als
Bankiers, Buchhändler, Hotelbesitzer und Inhaber aller Arten von
Geschäften die Hauptrolle im wirtschaftlichen Leben der polnischen
Hauptstadt spielten.
Noch zu Lebzeiten des Königs Stanislaus August kam es zwischen den
beiden Richtungen in der Republik, der reformfreudigen jungpolnischen
und der russischgesinnten, zum offenen Kampf, der den Russen abermals
Anlaß gab, ihre Truppen in Polen einmarschieren zu lassen. Auch
Preußen [54] besetzte polnisches
Gebiet. Das Ergebnis der Wirren war 1793 die zweite Teilung Polens.
Warschau und Masowien
als "Südpreußen"
in preußischem Besitz |
Nach Niederwerfung des Aufstandes der polnischen Patrioten erfolgte 1796
die dritte Teilung, bei welcher Preußen das Herzogtum Masowien mit
der Hauptstadt Warschau zufiel. Nun erst konnten sich die Segnungen des
"preußischen Systems" in der Provinz
Südpreußen - unter welchem Namen die neuen
polnischen Gebietsteile der Monarchie zusammengefaßt
waren - geltend machen.
Warschau selbst hatte unter den Aufständen sehr gelitten.
Verschiedene der großen deutschen
Bank- und Handelshäuser mußten infolge der erlittenen
Verluste ihre Zahlungen einstellen. Alle Gewerbetreibenden, die sich in ihren
Erzeugnissen auf den Bedarf der königlichen Hofhaltung und der
reichen Magnaten eingerichtet hatten, blieben ohne Abnehmer. Sehr
gesunken war die Einwohnerzahl: von 100 000 auf 84 000.
Trotzdem war Warschau nach Berlin die zweitgrößte Stadt
Preußens. Der neuen Verwaltung, an deren Spitze seit 1798
Generalleutnant v. Köhler stand, wartete eine Fülle von
Aufgaben, denn Warschau war ebenso vernachlässigt wie das ganze
Land.
Hebung
des Wirtschaftslebens,
des Schulwesens,
der Wissenschaften
und des geistigen Lebens
durch deutsche Vermittlung |
Bald zeigte es sich, was die einem bewußten Willen entspringende
ordnende Hand auch mit sparsamen Mitteln zu erreichen vermag. Die die
Straßen und Plätze der Stadt verunzierenden vielen Buden und
Stände der fliegenden Händler verschwanden. Jeder
Stadtbezirk bekam seinen eigenen Markt, auf dem die vorgeschriebenen
Preise eingehalten werden mußten. Alle baufälligen und
verkehrsstörenden Tore und Mauervorsprünge mußten
entfernt werden. Das Aufstapeln und Kleinmachen des Brennholzes vor den
Häusern wurde untersagt. Straßen und Plätze
mußten gereinigt und die hochgelegenen Teile geebnet werden.
Polizeilich registrierte jugendliche Schuhputzer leisteten am Abend Dienste
als wandelnde Laternen, weil die Straßenbeleuchtung mangelhaft war.
Sittenpolizei und Pockenimpfung wurden eingeführt. Dem Handel
und allen Gewerbetreibenden diente eine Darlehns- und Lombardkasse.
Auch die rückständigen Postverhältnisse wurden neu
geregelt und Personen- und Paketbeförderung sowie Briefbestellung
eingerichtet. Segensreich wirkte die neue Feuerversicherungsdirektion. Es gab
keinen Zweig staatlichen oder städtischen Lebens, in den nicht die
wohltätige Hand der preußischen Verwaltung ordnend eingriff.
Geholfen wurde auch den Gutsbesitzern, die wegen Geldmangel ihren
großen Besitz nicht richtig bewirtschaften konnten. Sie fanden
Erleichterungen bei den Bemühungen um Hypothekenkredit, so
daß sie die verfallenen Bauten erneuern und Vieh und
landwirtschaftliche Geräte anschaffen konnten.
Ernst nahm es die preußische Verwaltung mit der Gestaltung des
Schulwesens. Friedrich
Wilhelm III. schrieb an den Minister
v. Massow und forderte den Unterricht der
Stadt- und Dorfkinder in Polen. Rousseau und Pestalozzi wurden um Rat
ersucht und die bekanntesten deutschen Schulmänner, wie Meierotto,
Gedicke, Rochow u. a. zur Begutachtung der Neuordnung
herangezogen. Ein polnischer Schulmann, Jeziorowski, erhielt den Auftrag,
sich zu Pestalozzi zu begeben und im Einvernehmen mit ihm mit der
Ausbildung polnischer Volksschullehrer im Lehrerseminar zu Lowitsch und
später in anderen Seminaren zu beginnen. Meierotto und Gedicke
befaßten sich mit der Visitation der vorhandenen älteren und
[55] neueingerichteten
Schulen. Die Kosten des Volksschulwesens wurden durch die Mittel des
Jesuitenfonds gedeckt. - In Warschau entstand 1804 das von der
Regierung gegründete Lyzeum, in dem in deutscher und polnischer
Sprache unterrichtet wurde. Der Lehrkörper bestand zur
Hälfte aus Deutschen und Polen. Direktor der Anstalt war Samuel
Gottlieb Linde. Dem grundlegenden Wirken dieses Mannes verdankt die
polnische Sprachwissenschaft viel. Er war ein 1771 in Thorn geborener
Deutscher. Nach Abschluß seiner Studien auf der Universität
Leipzig berief ihn der Gründer des galizischen Nationalinstituts, Graf
Ossolinski, zum Bibliothekar. Mit deutscher Gründlichkeit arbeitete
Linde, der in seiner Aussprache des Polnischen stets seine deutsche Herkunft
verriet, jahrelang an dem unübertroffenen sechsbändigen
Wörterbuch der polnischen Sprache, das
1807-1814 in Warschau erschien.
Aber nicht nur deutsche Gelehrte haben die polnische
Literatur- und Sprachwissenschaft befruchtet: auch deutsche
Buchhändler leisteten ihnen als Verleger polnischer Werke und
Anreger neuer Veröffentlichungen wertvolle Dienste. Besonders
verdienstvoll war die Tätigkeit des Hofbuchhändlers und
Druckereibesitzers Michael Gröll, eines 1762 in Warschau
eingewanderten Dresdners. Er gründete die "Polnische Bibliothek"
und verlegte ein Anzahl Schriften. Nach ihm ließen sich die deutschen
Buchhändler Wilke, Thoms, Melchin und Netto in Warschau
nieder.
Goethe
hatte sich in einem Aufsatz mit der Eindeutschung Polens
befaßt und den Vorschlag gemacht, deutsche Theatergesellschaften
durchs Land ziehen zu lassen. Er berief sich darauf, daß auch die
Jesuiten, "die gewiß wußten, wie man Menschen behandeln
muß, das Schauspiel mit in den Plan ihrer Erziehung genommen
haben." Ohne von Goethes Gedanken geleitet zu werden, ermöglichten
die deutschen Behörden einigen deutschen Theatergesellschaften das
Auftreten in Warschau, Kalisch und anderen größeren
Städten Südpreußens. Der Theaterdirektor
Döbbelin kam mit seiner Gesellschaft nach Warschau und vereinigte
sich mit Adalbert Boguslawski, der sich um das polnische Theater
größere Verdienste erwarb, zu gemeinsamer Tätigkeit. Sie
fanden aber nicht die Unterstützung der deutschen Gesellschaft. "Man
verlangte", so schrieb Boguslawski, "daß das Warschauer Theater in
seinen Darbietungen dem Berliner gleichkomme." Auf seine
Bemühungen hin bewilligte die preußische Verwaltung eine
jährliche Unterstützung. Es kam nicht mehr zu ihrer
Auszahlung, weil die politischen Ereignisse die Beziehungen der
preußischen Regierung zu Warschau lösten.
Eine Bereicherung des geistigen Lebens der
deutsch-polnischen Gesellschaft des damaligen Warschaus geschah auch
durch die deutschen Dichter, die im Dienste der preußischen
Verwaltung standen. Von ihnen sind der Regierungsrat E. T. A. Hoffmann,
der Kammersekretär Zacharias
Werner und der Regierungsassessor J. E. Hitzig zu nennen.
Andere der geistig angeregten Beamten vermittelten den Warschauern die
Kenntnis der Werke der deutschen Musikgrößen durch
öffentliche Konzerte.
Bei dem starken deutschen Einschlag der Warschauer Bürgerschaft
überrascht es uns nicht, aus Berichten zu hören, daß sich
deutsche Bräuche, so der des Christbaumschmückens, immer
mehr einbürgerten.
[56] Deutsche Gelehrte
weckten den Sinn der Warschauer für Naturwissenschaften. Nach der
Gründung der "Physikalischen Gesellschaft" wurden physikalische
Experimente zur Modesache. - Auch die zur Verbreitung
wissenschaftlicher Erkenntnisse und der polnischen Sprache 1800
gegründete "Gesellschaft der Freunde der Wissenschaften", deren
späterer Vorsitzender Staszyc war, hatte unter ihren 30 wirklichen
Mitgliedern eine große Anzahl deutscher
Gelehrter. - Deutsche Ärzte waren seit jeher in Warschau stark
vertreten. Von den acht Gründern der 1809 ins Leben gerufenen
medizinischen Akademie waren fünf Deutsche.
Preußens Unglück in seinem Kriege gegen Napoleon verursachte
1806 die Aufgabe der südpreußischen Provinzen, deren
kulturelle Aufschließung mit ehrlichem Eifer während der
elfjährigen Herrschaft unternommen worden war. Am 26. November
1806 übergab General v. Köhler die
Verwaltungsgeschäfte an den Fürsten Josef Poniatowski und
verließ mit seinen Beamten die Stadt. Zwei Tage später schrieb
die Gazeta Warszawska: "Das von Güte und Milde geleitete
Regiment dieses Beamten gewann ihm die allgemeine Liebe und Verehrung; er
schied, begleitet von dem Segen und den guten Wünschen der
Einwohner, denen er Herrscher und Freund zugleich war, um dafür
ihre dauernde Dankbarkeit und Hochachtung zu finden."
Das nachmals in Polen so geschmähte "preußische System" hatte
dem Lande reiche Segnungen gebracht. Auf der von ihm geschaffenen festen
Grundlage hätten die späteren Verwaltungen glatt
weiterarbeiten können - wenn sie gewollt hätten!
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