[45]
Deutsche Not im niedergehenden
Polen
Die
Korruption bei
den Königswahlen |
Bei der Wahlhandlung nach dem Tode des Königs Sobieski zeigte sich
der vorgeschrittene Zerfall des einst so mächtigen polnischen Reiches.
Der Adel war in Parteien zersplittert und ließ sich von den Bewerbern
um die polnische Königskrone bestechen. Nicht nur auf dem
Wahlfelde, sondern auch in Warschau und in der Krönungskirche
spielte sich der Kampf der Meinungen ab. Als endlich die für den
sächsischen Kurfürsten eintretende Partei siegte, atmeten alle
Einsichtsvollen auf; schien es doch, als ob dem polnischen Lande der so
nötige bürgerliche Frieden beschert werden sollte.
Nöte der deutschen Bürger
in Warschau während
des Nordischen Krieges |
August II. Bündnis mit den
Gegnern des jungen Karl XII. von Schweden, dem russischen Kaiser
Peter I. und dem dänischen König Friedrich IV.,
sollte Polen zum Verhängnis werden. Im Mai 1702 mußte
August II. Warschau verlassen, weil die schwedischen Truppen
herannahten. Um und in Warschau selbst wurden wiederholt Schlachten
geschlagen. Die deutsche Bürgerschaft mußte hohe
Kontributionen zahlen; die Stadt war verpflichtet, wöchentlich
20 000 Tympfen (so benannt nach dem deutschen Münzmeister
Tympf) und große Posten Naturalien an die schwedischen Truppen
abzuführen. Einige Jahre dauerte der Kampf um die Herrschaft in
Polen. Auf Betreiben des schwedischen Königs wurde Stanislaus
Leszczynski als Gegenkönig gewählt. Warschau ging wiederholt
aus einer Hand in die andere. Auch die Russen waren eine Zeitlang seine
Herren. Zar Peter fand schon eine verarmte Bürgerschaft vor, aus der
kaum noch etwas herauszupressen war. Er mußte sich darauf
beschränken, Kunstgegenstände aus dem königlichen
Schloß nach Petersburg mitzunehmen. Im Oktober 1707 zogen die
Russen weg; August II. nahm wieder Besitz von der
unglücklichen Stadt. Im nächsten Jahre wurde sie schwer von
der Pest heimgesucht; sie raffte 30 000 Einwohner dahin. Von den 40
Bediensteten des königlichen Schlosses blieben nur noch drei
übrig und von den 36 deutschen Schuhmachern starben 33. Bei der
Bekämpfung der Seuche leistete die alte deutsche
Bennonibrüderschaft Hervorragendes. Ihre Vorsteher waren
unermüdlich in der Pflege der Erkrankten. Nicht weniger als 49 ihrer
besten Mitglieder, darunter auch der opferbereite Pater Heinrich, fielen der
Pest zum Opfer. In den nächsten Jahren trat die Epidemie noch
zweimal auf. Zwei größere Feuersbrünste und eine
bedeutende Überschwemmung vermehrten die Nöte der
deutschen Bürgerschaft.
Weitere
Unterdrückung
der evangelischen Deutschen |
Während der kriegerischen Ereignisse waren
die die Protestanten bedrückenden Bestimmungen
außer Kraft gesetzt worden. Stanislaus Leszczynski begünstigte
sogar den protestantischen Adel. Nach der Schlacht von Poltawa
mußten die Protestanten ihre Hoffnungen auf Gleichberechtigung der
Konfessionen fahren lassen. Unter Mitwirkung des russischen Gesandten
wurde 1716 in Warschau von den Bevollmächtigten des Königs
[46] August II.
unter Berufung auf frühere Bestimmungen ein Vertrag geschlossen,
nach welchem es den Protestanten nicht erlaubt war, neue Kirchen zu bauen.
Sie durften nur zu Hausandachten zusammenkommen. Die Kirchen, die in
neuerer Zeit in Städten, Dörfern und Adelsschlössern
errichtet worden waren, sollten abgetragen oder an die Katholiken
übergeben werden. Alle ihnen von dem schwedischen König
verschafften Religionserleichterungen wurden rückgängig
gemacht.
Das
Thorner Bluturteil
und seine Folgen |
Die Jesuiten achteten auf strenge Ausführung
der neuen Verordnungen. August II.
hatte 1717 den Evangelischen
Milderungen versprochen. Aber die mißverständliche Fassung
einiger Sätze bot den Jesuiten und ihren Freunden willkommene
Handhaben zur weiteren Unterdrückung. - Bekannt ist das
Thorner Blutgericht von 1724. Zöglinge der Jesuitenschule
hatten die Schüler einer evangelischen Lehranstalt der deutschen
Stadt Thorn in Großpolen angegriffen. Ein über frühere
Vorkommnisse erbitterter Volkshaufe drang darauf in die Jesuitenschule
und zerstörte die Einrichtung, ohne zu morden oder zu rauben. Die
Jesuiten behaupteten, daß bei dem Tumult der Altar der Kapelle
entweiht worden sei. Bürgermeister Rößner und andere
Bürgerschaftsvertreter wurden zur Verantwortung gezogen. Eine nur
aus Katholiken bestehende Kommission führte die Untersuchung
durch. Das Ergebnis war, daß der Bürgermeister und zehn
andere angesehene Bürger zur Enthauptung verurteilt wurden. Das
Bluturteil rief in ganz Europa flammende Entrüstung hervor. Die
protestantischen Höfe machten Vorstellungen beim polnischen
König. Der preußische König und der englische Gesandte
drohten mit einem Kriege, falls die Evangelischen in Polen noch weiter
drangsaliert werden sollten. Während der Tagung des polnischen
Reichstages von 1726 verlas man die Proteste der fremden Mächte. Es
entstand eine allgemeine Aufregung. Die deutschen und polnischen
Protestanten sollten dafür büßen, daß die
ausländischen Regierungen Partei für sie genommen hatten.
Man verbot ihnen bei Todesstrafe, den Schutz der anderen Mächte
anzurufen. Nun wurde das Schicksal der Evangelischen in Polen noch
härter. In Großpolen allein verloren sie in den Jahren 1718 bis
1754 über dreißig Kirchen, die man wegnahm oder
zerstörte. Überall beschnitt man ihre bürgerlichen
Rechte.
Zum
Stammeshaß
gesellt sich
die Glaubenswut |
Gustav Freytag bietet erschütternde
Schilderungen aus jener Zeit: "Zu dem Gegensatz der Sprache kam jetzt
auch der Gegensatz der Konfession, zu dem Stammhaß die
Glaubenswut. Gerade in dem Jahrhundert der Aufklärung wurde in
diesen Landschaften die Verfolgung der Deutschen fanatisch, eine
protestantische Kirche nach der anderen wurde entzogen, niedergerissen, die
hölzernen angezündet; war eine Kirche verbrannt, so hatten die
Dörfer das Glaubensrecht verloren, deutsche Prediger und
Schullehrer wurden verjagt und schändlich mißhandelt. Einer
der größten Grundherren des Landes, ein Unruh aus dem Hause
Birnbaum, Starost von Gnesen, wurde zum Tode mit Zungenausreißen
und Handabhauen verurteilt, weil er aus deutschen Büchern
beißende Bemerkungen gegen die Jesuiten in ein Notizbuch
geschrieben hatte. Es gab kein Recht, keinen Schutz mehr. Die nationale
Partei des polnischen Adels verfolgte im Bunde mit den Pfaffen am
leidenschaftlichsten die, welche sie als Deutsche und Protestanten
haßte. Zu den Patrioten oder Kon- [47] föderierten lief alles raublustige
Gesindel; sie warben Haufen, zogen plündernd im Lande umher,
überfielen kleinere Städte und deutsche Dörfer, nicht nur
aus Glaubenseifer, noch mehr aus Habsucht. Der polnische Edelmann
Roskowski zog einen roten und einen schwarzen Stiefel an, der eine sollte
Feuer, der andere Tod bedeuten; so ritt er brandschatzend von einem Ort
zum anderen, ließ endlich in Jastrow dem evangelischen Prediger
Willich Hände, Füße und zuletzt den Kopf abhauen und
die Glieder in einen Morast werfen. Das geschah 1768."1
Nachdem friedlichere Verhältnisse Platz gegriffen hatten, begann der
sächsische Hof in Warschau mit dem Wiederaufbau der
zerstörten Teile der Hauptstadt. Sächsische und italienische
Meister wurden nach Warschau berufen, um die noch heute vorhandenen
Prachtbauten aufzuführen. Bereits 1724 konnte August II. mit
seinem Hofstaat das Sächsische Palais beziehen. Im nächsten
Jahr fand die Eröffnung des großen Hoftheaters statt, für
welches Sänger und Tänzer aus Dresden berufen worden
waren. In der Nähe der neuen Bauten entstand der Sächsische
Garten. Für die vielen sächsischen Kriegsvölker, die
öfter gegen die die Ostgrenze überschreitenden räuberischen
Tataren und Kosaken ausgeschickt werden mußten, wurden
große Kasernenbauten errichtet. An der Ujasdower Allee, dort wo sich
heute der botanische Garten befindet, ließ der König einen
Kalvarienberg errichten. Die erste der dreiunddreißig gemauerten
Kapellen war aus Marmor. Zwei neue Stadtteile, die Krakauer Vorstadt und
die Neue Welt und auch die Ujasdower Allee verdankt Warschau der
Bautätigkeit der beiden sächsischen Könige.
Neue
deutsche
Einwanderungen in
Warschau während
der Regierung der
sächsischen Könige |
In den ruhigeren Zeitläuften erholte sich
auch die deutsche Bürgerschaft der Hauptstadt. Von der
Bennonibrüderschaft erfahren wir, daß sie wieder an
Vermögen und Ansehen zunahm. Einer der berühmtesten
Vorsteher war Franz Witthoff aus dem alten deutschen
Bürgergeschlecht der Witthoffs. Er starb 1719, nachdem er achtmal
Vogt und einmal Präsident der Altstadt gewesen war und ein
großes in Häusern und Liegenschaften bestehendes
Vermögen erworben hatte. Sein einziger Sohn, ein Jesuitenpater, starb
1727 und vermachte das große Vermögen dem Jesuitenorden.
Die Töchter des Hauses waren an polnische Adlige verheiratet. Nur
eine von ihnen wurde die Frau eines Deutschen mit französischem
Namen, des Barons Peter de Riaucourt, der sich in Warschau als
Buchhändler niedergelassen hatte und später ein
Bankgeschäft gründete. - Jan Naumanski, dessen
deutsche Abkunft der Name verrät, gründete 1729 die beiden
ersten polnischen Zeitungen.
Ein Teil der mit dem sächsischen König nach Polen
gekommenen evangelischen Hofleute war kirchlich gesinnt. Diese
Würdenträger und die aus Sachsen herangezogenen deutschen
Handwerker wie auch die einheimischen evangelischen Deutschen besuchten
im Jahre 1711 die Gottesdienste, die die beiden Wengrower Pastoren, der
lutherische und der reformierte, einige Sonntage hindurch in der Kapelle des
"Brandenburger Hofes", dem Wohnsitz des preußischen Gesandten,
abhielten. Der Bischof von Posen, Tarlo, [48] ließ durch die Warschauer
katholische Geistlichkeit die evangelischen Gottesdienste verbieten und ein
Verzeichnis der Teilnehmer an den Gottesdiensten anfertigen, um sie durch
das Tribunal zur Verantwortung zu ziehen. Der preußische Gesandte
von Loelhoeffel (der Großvater des polnischen Patrioten Lelewel)
berichtete nach Berlin über das Vorkommnis, worauf ihm
Friedrich I. die Weisung zugehen ließ, die Gottesdienste nicht
einzustellen. Dem Bischof in Posen aber ließ der preußische
König mitteilen, daß er die Jesuiten aus Danzig, Tilsit und
Königsberg vertreiben würde, falls der Bischof bei seiner
Absicht verharre. Kurze Zeit darauf kam der Wengrower lutherische Pastor
wieder nach Warschau und hielt an drei Tagen Gottesdienste, die von den
Warschauer Evangelischen gut besucht waren. Auch in der Folge wurden
seitens der katholischen Geistlichkeit kein Einspruch mehr gegen die
Abhaltung der evangelischen Gottesdienste erhoben. Gern wäre die
Warschauer Gemeinde zu einem eigenen Prediger gekommen, aber weder sie
noch der preußische Hof gaben die Mittel zum Unterhalt eines solchen
her. Aushilfe boten die in den nächsten Jahren für die
sächsischen Truppen berufenen beiden lutherischen
Militärpfarrer, die für ihre Predigten die preußische
Botschaftskapelle mitbenutzten. Im Jahre 1732 wurde in einer der
sächsischen Kasernen eine evangelische Kapelle eingerichtet, in der
der Feldprediger Gering seine berühmt gewordenen Predigten
hielt.
Die
Gründung
und der Ausbau
der evangelischen
Gemeinde in Warschau |
Weniger gehindert in der Ausübung ihres
Glaubens wurden die Evangelischen während der Regierungszeit des
Königs August III. Die leitenden Staatsmänner
Sulkowski und Brühl standen unter dem Einfluß der russischen
Regierung. Weil der Petersburger Hof für die
griechisch-katholischen Einwohner Polens freie Religionsübung
erwirken wollte, nahm er sich auch der Interessen der einheimischen
Evangelischen an. So kam es, daß während der Regierungszeit
des zweiten sächsischen Königs die Warschauer
deutsch-lutherische Gemeinde ein erfreuliches Wachstum zu verzeichnen
hatte. Lutheraner und Reformierte durften 1736 ihren Friedhof erweitern.
Beide Religionsverwandte schlossen einen Vertrag über die
gemeinsame Benutzung des Friedhofs, dessen Verwaltung abwechselnd
besorgt wurde. In den Jahren 1700-1750 werden uns folgende lutherische
Gemeindeältesten genannt: Klempenau, Schmidt, Rautenberg,
Greßner, Gutterley, Ernst, Wessel, Brettschneider, Witt, Hartknoch,
Golzsch, Neumann, Pohl, Biber, Hübschmann, Lehner, Köster,
Harrwald, Höse und Jentsch. Die Zusammensetzung des
Gemeindevorstandes beweist den deutsche Ursprung der lutherischen
Gemeinde in Warschau.
Mit der Berufung des Bankiers Peter Tepper zum Gemeindeältesten
besserten sich die Verhältnisse der Gemeinde wesentlich. Auf einer am
6. Juli 1761 in seinem Hause stattgefundenen Gemeindeversammlung
beschloß man, dem Wengrower Pastor Reis, der noch immer die
Warschauer Gemeinde seelsorgerisch bediente, die Mittel zum Wiederaufbau
der abgebrannten Pfarr- und Schulhäuser in Wengrow zu geben. Die
Warschauer lutherische Gemeinde zählte damals 5000 Mitglieder. Im
Einverständnis mit seiner Regierung hatte der dänische
Gesandte eine Kapelle eingerichtet und einen Gesandtschaftsprediger
angestellt. Der kleine Raum konnte den Bedürfnissen nicht mehr
genügen. Deshalb erbaute der Gesandte [49] Saphorin in der Nachbarschaft, unfern der
Stelle, an der sich der Bau der gegenwärtigen lutherischen Kirche
erhebt, ein Holzgebäude, in welchem der aus der Walachei berufene
Pastor Scheidemantel 1767 den ersten Gottesdienst hielt. Die Stadtgemeinde,
die noch immer als Filiale von Wengrow galt, setzte zur Besoldung des
Predigers 200 Taler aus. Erst 1775 konnte sie sich als eigenes Kirchspiel
selbständig machen. Der mit Beginn der Regierung des Königs
Stanislaus August Poniatowski noch stärker gewordene
russische Einfluß hatte diesen Fortschritt ermöglicht. Der erste
Pastor der neuen Gemeinde war der erwähnte Scheidemantel. "Ein
treuer Bekenner Christi, ein eifriger Verkünder des göttlichen
Wortes, ein unerschütterlicher Kämpfer für die Reinheit
der Kirchenlehre, erbaute er durch seine glänzende Rednergabe die
das ärmliche Bethaus überfüllenden Zuhörer. Das
Innere dieses Gotteshauses, die kahlen Wände, die statt der Kanzel
errichtete kleine Erhöhung, der mit einer Decke und einem Kreuz
geschmückte, den Altar vertretende Tisch, die ärmlichen
Abendmahlsgeräte, alles dies erinnerte an die ersten Zeiten des
Christentum: dafür lebte aber in dem Hirten und der Gemeinde der
Geist des Glaubens und der Liebe."2
Scheidemantel gelang es, die Gemeinde für die Errichtung einer
eigenen Schule zu gewinnen. Man mietete einen Schulraum und berief Pastor
Cerulli zum Rektor und Nachmittagsprediger. Scheidemantel starb schon
1777; die Gemeinde ging ihres besten Freundes und Beraters verlustig. Kurz
vor seinem Tode hatte er vom sächsisch-gothaischen Hofe eine Beihilfe
von 3000 polnischen Gulden für Schulzwecke erwirkt.
Scheidemantels Aussaat blieb nicht ohne Frucht. Noch im Jahre 1777 raffte
sich die Gemeinde zu tatkräftigeren Entschlüssen auf. Sie
kaufte den Platz, auf dem das Bethaus stand, um eine der Bedeutung der
Gemeinde entsprechende Kirche zu bauen. Tepper bemühte sich um
die Bauerlaubnis des Königs. Von drei ihm vorgelegten
Entwürfen bestätigte der König den dritten, der einen
Rundbau mit Kuppel vorsah. Er scheute sich, den Bau einer Kirche mit
Glockenturm zuzulassen, um nicht die katholische Geistlichkeit zu
erzürnen. Tepper opferte 75 000 Gulden zum Bau. Andere
Gemeindeglieder folgten seinem Beispiel nach Maßgabe ihrer Mittel.
Die Warschauer Gemeinde brachte 390 000 polnische Gulden zum
Bau auf; ausländische Glaubensgenossen spendeten 124 000
polnische Gulden. Der Bau wurde von dem sächsischen Architekten
Zug errichtet; er gilt als eines der schönsten Werke protestantischer
Baukunst in Europa. Scheidemantels Nachfolger, Pastor Ringeltaube, vollzog
1781 die Einweihung.
Während der Kirchbau seiner Vollendung entgegenging, wurde die
Gemeinde von inneren Fehden zerrissen. Der größere Teil der
Gemeindeglieder, vornehmlich aber die Sachsen, wünschten die
Beibehaltung bzw. die Wiedereinführung der sächsischen
Liturgie. Pastor Ringeltaube hatte die reformierte Agende
übernommen. Der heftige Streit, um dessen Schlichtung sich der
russische Gesandte Baron Stackelberg bemühte, zog [50] immer weitere Kreise. Beschlüsse
und Gegenbeschlüsse folgten einander, Synoden wurden einberufen
und die fremden Mächte, die 1768 die Freiheiten der Dissidenten
durch einen Vertrag garantiert hatten, in die Streitigkeiten gezogen. Der
ärgerliche Handel endete erst 1783 durch ein königliches
Reskript, das die Unabhängigkeit der Warschauer Gemeinde
erklärte. A. F. Büsching, der Direktor des
Gymnasiums im Grauen Kloster zu Berlin, behandelt auf 250 Seiten seines
dickleibigen Werkes Neue Geschichte der Evangelischen beyder
Confessionen im Königreich Polen (Halle 1784) mit
größter Ausführlichkeit den Warschauer Agendenstreit,
der mit der Annahme der sächsischen Liturgie schloß.
Cerullis Nachfolger, der zweite Prediger und Rektor der Schule, K. L.
Hemmerich aus Dresden, der sich seit 1784 in Warschau befand, befreundete
sich mit dem polnischen General Dombrowski. Als letztere sich dem von
Kosciusko vorbereiteten Aufstand anschloß, verschwand auch
Hemmerich aus Warschau. Er blieb einige Jahre verschollen. Erst 1794 kam
die Kunde, daß er Führer einer Kompagnie der polnischen
Legion geworden sei. Er fiel 1796 bei der Belagerung von Mantua.
Von den 89 448 Einwohnern, die Warschau 1787 hatte, waren etwa 8000
deutsche Lutheraner und von 181 christlichen Geschäften, die 1789 in
Warschau gezählt wurden, lagen die meisten in deutschen
Händen. Auch die Inhaber der Bankgeschäfte waren fast
ausschließlich Deutsche. Sechs von ihnen: Tepper, Schultz, Arndt,
Kabryt, Meysner und Blank wurden 1790 geadelt.
Um sich ein Gegengewicht gegen den allmächtig werdenden
Jesuitenorden zu schaffen, berief König Wladyslaus IV. 1642
den Piaristenorden nach Polen. Auch die Piaristen
befaßten sich mit der Erziehung; auch sie hatten zahlreiche deutsche
Mitglieder. Da die Piaristen für Aufklärungsfragen eintraten, so
nimmt es uns nicht wunder, daß sie 1757 als Herausgeber der ersten
deutschen Zeitung in Warschau, der Warschauer Zeitungen,
erscheinen. Die Zeitung kam zweimal wöchentlich heraus und bot
politische Nachrichten. Sie hatte eine Nachfolgerin in der gleichfalls von 1757
bis 1763 herausgegebenen Königl. poln. priv. Warschauer
Zeitung. Einen Vorläufer hatte die Gründung der Piaristen
in der kurzlebigen, 1753 ins Leben gerufenen Warschauer Bibliothek der
gründlichen Nachrichten. Noch sechs andere
Wochenblatt- und Monatsschrift-Gründungen verzeichnet das
18. Jahrhundert, während im 19. Jahrhundert nur
dreimal der Versuch gemacht worden ist, in Warschau deutsche Zeitungen
erscheinen zu lassen.
Mit der Bedeutung der Bennonibrüderschaft ging es abwärts.
Der in Polen sich so oft wiederholende Vorgang, daß der katholische
Deutsche noch eher als der evangelische Landsmann geneigt ist, im fremden
Volkstum aufzugehen, läßt sich auch an der Entwicklung der
Brüderschaft feststellen. In der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts kamen eine Anzahl Gärtnerfamilien aus
Bamberg nach Warschau. Sie verpflanzten die Kunstgärtnerei auf
polnischen Boden. Auch sie sind, gleich den Bambergerdörfern bei
Posen, restlos polonisiert worden. - Kapuzinermönche
übernahmen 1738 an Stelle der Jesuiten die geistliche Leitung der
Bennoni-Brüderschaft. Sie führten strenge Aufsicht über
Spital und Waisenhaus [51] und schreckten nicht davor zurück,
zanksüchtige Insassen des Frauenspitals in Halseisen vor die
Kirchtür zu stellen.
Auch während des 18. Jahrhunderts wurden neue deutsche
Vorortgründungen unternommen. Die neuen Siedlungen erhielten
Kulmer Stadtrecht. So hören wir von der Jurisdiktion des Grafen
Zamoyski auf der Ordynacka. Das Rathaus stand auf der "Neuen Welt";
Johann Brandt war der erste Bürgermeister. - Zwischen
König- und Kranzstraße entstand 1757 der von Marschall
Bielinski angelegte Vorort Bielany und 1762 wurde vom Ehepaar Eustachius
und Maria Potocka der Vorort Marienstadt mit Kulmer Stadtrecht
gegründet.
Unter den vielen deutschen Gästen, die im letzten Jahrzehnt des
18. Jahrhunderts zu der deutsch-lutherischen Gemeinde in Warschau in
Beziehungen getreten waren, befand sich auch der Philosoph Fichte. Er kam
im Juni 1791 nach Warschau, um eine Hauslehrerstelle in der Familie des
Grafen Plater zu übernehmen. Verhältnisse und Behandlung
sagten ihm nicht zu, so daß er die eingegangenen Verpflichtungen
löste. Vor seiner Abreise entsprach er der Bitte des Pastors
Ringeltaube und hielt am 23. Juni eine Predigt.
Wirtschaftliche Rückschläge, verursacht durch den
Zusammenbruch der reichen deutschen Handelshäuser nach den
Aufständen der 90er Jahre, brachten die
Rechnungsverhältnisse der deutsch-lutherischen Gemeinde in
Unordnung. Da nahm sich Friedrich Wilhelm III. der
bedrängten deutschen Glaubensgenossenschaft an und schenkte ihnen
1801 19 600 Taler, womit alle Schulden, auch die vom Kirchenbau
verbliebenen, ausgeglichen werden konnten. Im April 1806 konnte die neue
evangelische Schule eingeweiht werden. Entgegenkommenderweise hatte die
preußische Verwaltung sich bereit erklärt, das Rektorgehalt zu
zahlen.
Nach bekanntem Muster benutzte die französische Intendantur nach
dem Einmarsch der Franzosen längere Zeit hindurch die lutherische
Kirche als Heumagazin, bis es der Gemeindeverwaltung durch ihre
Vorstellungen bei dem Kommandanten Dentzel, einem evangelischen
Offizier, gelang, die Kirche wieder zur Abhaltung von Gottesdiensten
freizubekommen.
|