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Deutschland östlich der Elbe - Max Wocke

Schlesien
(Sudeten, Oberschlesien, Breslau, Nordschlesien)

"Läge Schlesien an einem Meere, so daß es auch Gelegenheit darböte,
sich anschauende Begriffe von diesem Teile der Natur zu machen,
so könnte der Deutsche diese eine Provinz als eine leicht zu übersehende
und doch sehr vollständige Enzyklopädie dessen betrachten,
was auf dem Erdboden das Sehenswerteste ist."

Johann Friedrich Zöllner (1793).

Dort, wo das alte langgestreckte Gebirge der Steinkohlenzeit, das Deutschland von Frankreich her in SW.-NO.-Richtung durchzieht, an der Elbe einen plötzlichen Knick macht und die "böhmische Festung", einen alten Klotz der Erdgeschichte, umschlingt, - dort beginnt die "Schlesische Tieflandsbucht". Aber diese Bezeichnung gilt in des Wortes strenger Bedeutung nur für einen Teil des ganzen Gebietes, denn Schlesien ist nicht nur Ebene! Seine Erhebungen sind nicht nur Schuttwälle, die durch äußere Kräfte der Erde - Wasser und Eis - entstanden und geformt sind. Hier haben die Mächte des Erdinnern mit ihrem geheimnisvollen Wirken ein Gebirge geschaffen, das alle anderen deutschen Mittelgebirge an Höhe überragt. Weite Gebiete reichen über die Baumgrenze hinaus, Kuppen und Kämme tragen Grate und steile Schroffen, Schneeflecke überdauern in sonnensicheren Felsnischen fast den ganzen Sommer. Nicht alles Land östlich der Elbe ist Tiefland. Schlesien ist auch Bergland!

Die NW.-SO.-Richtung ist den schlesischen Großlandschaften Gesetz ihrer Anordnung: in "sudetischer" Richtung zieht sich am Fuße des Gebirges ein Hügelland hin, das nicht durch Berg und Tal wie das Gebirge sondern durch Berg und Ebene gekennzeichnet ist - eine "Inselberglandschaft"! In NW.-SO.-Richtung schließt sich nach der Ostgrenze zu das flache Außenland an; in derselben Richtung wird es von der Oder durchströmt, die mit ihren beiderseitigen Nebenflüssen die drei Großlandschaften zusammenklammert. Das ist die "Schlesische Tieflandsbucht"!

Wer nach natürlichen Grenzen dieses Gebietes sucht, der muß weit über die heutigen Pfähle Schlesiens hinauswandern: bis hin zu den einsamen Kämmen der Ostsudeten, zu den wilden Beskiden, von dort nach Osten bis zum Steilrand des Polnischen Jura, weiter zu der von großen Waldungen bedeckten [297] Wasserscheide zwischen Oder und der oberen Warthe. Und das ist keine Gedankenflucht der Geographen! Nein: jene von der Natur aufgerichteten Grenzen umschließen kein Stückchen Land, das nicht mindestens zeitweise einmal zum mittelalterlichen Schlesien gehört hat! Von diesem "Groß-Schlesien" aber ist das Gebiet, das im Jahre 1742 dem preußischen Staatsverband eingegliedert wurde, nur ein Teil!

Dieses Schlesien liegt auf der Grenze zwischen Ost- und Westeuropa. Es liegt auf der Grenze zwischen Nord- und Südeuropa. Und diese Lage ist dem Land zum Schicksal geworden, so stark und ausgeprägt wie selten einem anderen! Jahrhundertelang hat es keinen Frieden haben dürfen, jahrhundertelang war es dazu verurteilt, an allen Kämpfen seiner Nachbarn teilnehmen und deren Wirren auch über sich ergehen lassen zu müssen. Von Ost, von West, von Süd ist es in Verwicklungen gezogen worden. Immer wieder hat es die Folgen seiner Lage auskosten müssen.

Schlesien ist - wie ganz Ostdeutschland - immer deutsch gewesen! Die vorgermanischen Siedler der Bronzezeit, die in dem Lande stellenweise recht dicht gesiedelt haben, gehören mit Sicherheit zum illyrischen Volkstum, sind also unter gar keinen Umständen Slawen gewesen! Das kann nicht oft genug betont werden in einer Zeit, da auf Grund von unrichtigen Behauptungen immer wieder Versuche gemacht werden, unrechtmäßig Ansprüche auf deutsches Land zu erheben.

Etwa um 550 vor Christi Geburt tauchen in dem Lande zwischen Oder und Weichsel die frühgermanischen Bastarnen und Skiren auf; zusammen mit ihnen auch Kelten. Sie wandern später nach Südrußland ab. Danach erscheinen die Vandaler, deren einer Stamm, die "Silinger", dem Lande den Namen gegeben hat, den es heute noch trägt. Sie nannten den mitten aus der Ebene südlich Breslau herausragenden Berg "Slens"; das Land um diesen Berg aber "Slensane" oder "Silesi". Erst nach dem freiwilligen Abzuge dieser Ackerbauer - das Wort "Vandalismus" ist ein durch nichts gerechtfertigter alle Tatsachen auf den Kopf stellender sprachlicher Mißbrauch! - rücken slawische Stämme langsam in das menschenarme Gebiet ein; vorher war für sie kein Platz!

Die ersten Berichte über die staatlichen Verhältnisse unseres Gebietes wissen zu melden, daß das Land einen Teil des großmährischen Reiches bildete, von wo aus auch die ersten Boten des Christenglaubens ins Land kamen. Nicht lange vor dem Jahre 1000 wird es unter Boleslaus dem Tapferen zur Westmark des polnischen Reiches. Durch Eingreifen Kaiser Barbarossas bekommt es eigene Herzöge, die Piasten. Das ist um das Jahr 1160. Einer von ihnen, Boleslaus der Lange, holt die ersten deutschen Kolonisten ins Land, erobert das ganze Gebiet von der Warthe bis zur

Der Zobten.
[260]      Der Zobten (Schlesien).
Tatra und nennt sich Herzog von Schlesien, Polen und Krakau. Über 175 000 Siedler aus Thüringen und Franken nahm das Land damals auf! 1500 Dörfer wurden eingerichtet, 63 Städte gegründet! Das Land wurde wieder deutsch! An Stelle des slawischen Holzpfluges durchzog der eiserne deutsche Pflug nun den fruchtbaren Lößboden der Ebene um den Zobten, der deutsche Spaten entwässerte große Sumpfgebiete [298] und verwandelte sie zu Wiese, Hacke und Axt drangen in die Wälder ein. Zwanzig Dörfer tragen in Schlesien nach seinem Gründer, d. h. Landverteiler, den Namen Kunzendorf, Hermsdorf gibt es fünfzehnmal, nicht viel seltener kommen Petersdorf, Ludwigsdorf und Jakobsdorf vor! Arme Post, wenn der Schreiber nicht genaue Angaben macht!

Aber über das aufblühende Land kommt bald eine schwere Prüfung: Während der Kaiser in Italien weilt, stürmen Mongolenhorden über die junge Ostmark! Gegen Bürger, Bergleute (aus Goldberg) und Bauern, Ordensritter und slavische Edle siegen 1241 auf der Wahlstatt bei Liegnitz die Asiaten, ziehen sich aber nach Verwüstung und Ausplünderung des Landes zurück. Wieder strömen, von den Fürsten herbeigerufen, deutsche Siedler in das verwüstete Gebiet, und um 1300 sind Nieder- und Mittelschlesien fast ganz deutsche Landschaften! Aber es kommt noch keine Ruhe über das Land. Durch Erbteilungen zerfällt es und gerät unter böhmische Herrschaft. Nach den Heimsuchungen durch Pest und Raubritter kommen die Hussittenkriege mit grausamen Kämpfen, die über ein Jahrzehnt andauern. Erbitterung und

Bolkenhain, Schlesien. Die Bolkoburg.
[281]      Bolkenhain (Schlesien). Die Bolkoburg.
Feindschaft führen zur Trennung von der böhmischen Krone, aber leider nur, um den Herren zu wechseln. Selbständig ist Schlesien immer noch nicht. Diesmal ist das Land des Südens an der Reihe! Der Ungar Martinus Corvinus wurde König und Herrscher von Schlesien, bis es 1526 den Habsburgern zufiel. Kaum hatte es sich erholt, da kam der große Religionskrieg über das Land. Die Ruinen von Burgen, Mauern, Kirchen und Städten erinnern an die Leiden und Schrecken dieser Kämpfe. Erst nach abermals hundert Jahren erfüllte sich das Schicksal des Landes: die bisher aufgetretenen Verbindungen wurden abgelöst durch ein neues System: Schlesien wurde dem werdenden "Oderstaate" Brandenburg eingefügt. - Friedrich war damals bereit, auf Oberschlesien zu verzichten, erhielt es aber durch das Machtwort Englands. Durch dieselbe politische Macht wurden uns 1918 große Teile der deutsch gewordenen Provinz im Namen der "Gerechtigkeit" wieder genommen!

So hat das Grenzland im deutschen Südosten keine fortlaufend ruhige Entwicklung gehabt. Als Opfer seiner Lage - eingekeilt zwischen fremden Völkern - ist es immer wieder hin und hergestoßen worden: von Westen nach Osten, von Osten nach Süden, politisch, national, religiös und wirtschaftlich. Dieses Schicksal ist ihm bis auf den heutigen Tag beschieden geblieben. Nur einmal in der Mongolenschlacht bei Liegnitz hat es eine größere, sozusagen europäische Rolle spielen können.

Schlesien ist deutsches Land, aber es ist immer noch und immer wieder bedroht, heute mehr denn je: mit dem Reichsgebiet hat die Provinz eine gemeinsame Grenze von nur 200 Kilometern, mit 1200 Kilometer stößt sie an fremde Nachbarn. Vor dem Kriege hing es auf 600 Kilometer mit dem Reiche zusammen, mit 500 grenzte es an das verbündete Österreich. Und nur 270 Kilometer waren wirkliche Auslandsgrenze!

Diese politische Grenze von heute ist zugleich Zollgrenze, wirtschaftliche Mauer, die allein in Oberschlesien von mehreren hundert Zollbeamten auf [299] jeder Seite bewacht wird! So ist der jahrelange deutsch-polnische Handels- und Zollkrieg auf dem Rücken von Schlesien ausgefochten worden, das immer auf eine Ausfuhr nach Osteuropa angewiesen und eingerichtet gewesen ist. So war es kein Wunder, daß der Prozentsatz der Arbeitslosen in diesem Gebiet über dem Reichsdurchschnitt lag. Erst die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen des neuen Reiches und die großzügigen Handelsabkommen mit Polen haben hier Wandel geschaffen und die Gefahren vermindert.

Wie eine langgestreckte Halbinsel ragt Schlesien nach Südosten als ein Eckpfeiler des Reiches bis fast an den Fuß der Karpathen und vor die weite Ebene der südrussischen Steppe. In der Tat: Schlesien ist der kontinentalste Teil des Reiches. Es liegt weiter vom Meere als alle anderen Teile des Reiches. Beinahe 600 Kilometer lang ist der Weg vom oberschlesischen Kohlenhafen Kosel bis nach Stettin! Und Triest liegt näher an Oberschlesien als unser größter deutscher Seehafen Hamburg! Und dennoch: es gehört zu Mitteleuropa.

Sein Klima zeigt in vielen Einzelheiten deutliche Übergänge von dem Seeklima der deutschen Küsten mit ihren milden feuchten Wintern und den kühlen Sommern zu dem Landklima Osteuropas, das heiße Sommer und kalte trockne Winter bringt. Wie das Land in seiner Geschichte Tummelplatz verschiedener Mächte wurde, so ist es auch in bezug auf die Witterungseinflüsse, die bald von den großen Landmassen des asiatischen Kontinents, bald von den Meeren West- und Nordeuropas ihren Ursprung nehmen. Im allgemeinen ist diese Übergangslage nicht ungünstig: das Land hat noch Anteil an feuchten regenbringenden Winden ohne sommerliche Kühle. Es genießt die Segnungen warmer Sommer, ohne die Dürre der Steppe ertragen zu müssen. Aber wenn zuweilen im Sommer die Sonne Tag für Tag über wolkenlosem Himmel aufgeht, und ein heißer trockner Wind über die Felder weht, wenn im Winter wochenlang ein grünblauer Himmel frostklar über der schneebedeckten Ebene sich wölbt, - dann wird offenbar, daß Schlesien doch schon vor den Toren des osteuropäischen Flachlandes liegt! Nur 200 Tage ist die Oder im Jahre schiffbar, der Rhein 320 Tage! Das heißt: die Oder ist schon eine Art Steppenfluß! Dürre und Frost nehmen ihr Leben und Bewegung. Die in der Sonne leuchtenden Sandbänke und die mit weißen "Halskrausen" geschmückten Eisschollen, die "Brieger Gänse" - so nennt sie der Volksmund - sind die sichtbaren Zeichen dafür. Aber - seltsames Zusammentreffen der Gegensätze - wenn auch das Wasser der Oder versiegt und erstarrt, auf den Höhen von Grünberg reifen die Trauben in zahlreichen Weingärten. Geschützte Lage und ein warmer Boden gleichen klimatische Ungunst so weit aus, daß hier im Norden Schlesiens noch ein Rest der früher im ganzen Lande weit verbreiteten Kultur der Rebe geblieben ist.

Schlesien ist ein kleines Deutschland - Deutschland im Kleinen! Hochgebirge, Mittelgebirge, Ebene. Diese Dreiheit bestimmt auch das Wesen des schlesischen Landes. Ein großer schiffbarer Strom durchzieht die Fluren der weiten Ebene. Weite Wälder bedecken Gebirge und Sandflächen der Heide, schwerer Boden trägt wertvolle Ackerfrucht, die auf Besitzungen von ganz [300] verschiedener Größe geerntet wird. In der Tiefe der Erde ruhen Erze und Kohlen, über denen sich Großstädte erheben, die vor einem halben Jahrhundert noch Dörfer waren. Schornsteine und andere moderne Zweckbauten ragen in den Himmel, Burgen grüßen von steilen Felskuppen, reißende Gebirgswasser werden aufgestaut und gebändigt, große Hängebrücken überqueren den Fluß, gotische Dome überragen das Dächermeer von steilen Giebeln alter Städte, Klöster tauchen plötzlich aus der Ebene auf: Barock in der Kultursteppe!

Zahlen sprechen dieselbe Sprache, nur noch genauer: Ungefähr 135 Menschen wohnen in der schlesischen Tieflandsbucht auf einen Geviertkilometer - genau wie im Reiche. Ungefähr ein Viertel der Bewohner findet sein Brot in Land- und Forstwirtschaft - ein Fünftel ist es im Reiche. In Handwerk und Industrie sind 30 Prozent aller Arbeiter tätig - im Reich sind es etwas mehr. Fast die Hälfte des deutschen Bodens trägt Ackerland - in Schlesien sind es etwas mehr als 50 Prozent! Annähernd ein Viertel des Landes ist von Wäldern überzogen - im Reiche genau so.

Schlesien liegt zwar östlich der Elbe, es ist aber nicht "Ostelbien" in des Wortes strengem Sinne. Schlesien war immer ein Land des Kampfes und des Ausgleiches, der Schauplatz vieler Wanderungen und Kämpfe, der Schnittpunkt verschiedener Rassenelemente, der Auseinandersetzung verschiedenen Volkstums - es ist auch landschaftlich und wirtschaftlich keine ruhige, geschlossene Einheit. Sein Gesicht trägt viele Züge, die Züge des ganzen Deutschland! Diese Eigentümlichkeit pflanzt sich sogar bis in die einzelnen Teile des Landes fort. Ganz besonders ausgeprägt zeigt diese Eigenart das schlesische Gebirge.



Die Sudeten

Der Name "Sudeten" für das Bergland Schlesiens stammt aus den Büchern der Fachwissenschaftler. Kein Bauer, kein Arbeiter wird von den "Sudeten" sprechen, wenn er in fernem Lande von seiner schönen Gebirgsheimat erzählt. Denn die Sudeten sind keine Einheit. Sie sind eine Vielheit von Gebirgs-"persönlichkeiten", voneinander getrennt durch weite und enge Täler, durch Flüsse, durch tiefe Scharten der Erdkruste. Für jeden dieser Teile gibt es einen Namen, der in aller Munde ist, aber für das ganze Gebirge weiß nur der Geologe einen! Denn nur er weiß, daß die vielen Landschaften, diese so verschiedenen "Häuser der Sudetenstadt" (Cloos), zusammengeschlossen werden zu einem Ganzen durch einen steilen Gebirgsrand, der plötzlich aus dem hügligen Vorlande aufsteigt: an einer NW.-SO. gerichteten Spalte ist das ganze Gebirge mit allen seinen Teilen zur Tertiärzeit gegenüber dem Vorlande gehoben worden.

Die Vielheit der Bauten dieses Berglandes hat es mit sich gebracht, daß der Mensch viel leichter und früher in das Gebirge eingedrungen ist als in andere und es zu großen Teilen gerodet hat. So sind die Sudeten das einzige Gebirge in Deutschland, das in seiner Längsrichtung von einer großen Eisenbahnlinie, der Strecke Berlin - Görlitz - Breslau durchfahren wird. Der Reisende, der diese wunderbare Strecke wählt, erlebt die ganze Mannigfaltigkeit der Sudeten; er durchfährt ein "Museum" deutscher Landschaften!

[301] Das Riesengebirge ist ein Gebiet zahlreicher Gegensätze und Rätsel auf engem Raum. Schon seine Lage ist eigenartig: wie eine gewaltige Mauer steigt es aus der tiefsten Stelle des ganzen Gebirges, dem Hirschberger Kessel, aus ungefähr 350 Metern auf über 1600 Meter als wuchtiges Granitgebirge unvermittelt empor. Ein seltsames Spiel der Erdgeschichte! - Der Wanderer, der durch die wasserreichen Täler aufsteigt, fühlt sich zunächst an Thüringen, an den Harz, den Schwarzwald erinnert. Hohe Fichten und Tannen, reißende Bäche mit Wasserfällen. Bald ändert sich aber das Bild. Der Wald wird schütterer: er trägt alle Zeichen des Kampfes um seinen Bestand. Im Bereiche seiner Wurzeln gleitet die lehmige, wasserundurchlässige Verwitterungskrume des Granites dauernd abwärts und läßt die Stämme unten krummstelzig werden. In der Höhe fegen Stürme über die Wipfel, brechen sie wie Streichhölzer ab, zerfransen die Äste zu Wetterfahnen des Jahres. Das ist die Kampfzone, in der sich nur die Latsche, die Legföhre, die Zwergkiefer hält, mit wenigen Eschen und Weiden, dicht an den Boden geschmiegt. In 1300 Meter Höhe ist der Wald verschwunden. Nur vereinzelte Wetterfichten stehen den Kampf durch.

Ganz anders sieht das Bild des "Kammes" aus! Dieser Kamm ist eigentlich kein Kamm. Der Wanderer, der nicht weiß, daß er auf einer Meereshöhe von 1400 Metern steht, vermutet, im Tieflande zu sein. Denn vor ihm breitet sich eine flache Inselberglandschaft aus, die sonst nur in der Ebene vorkommt. Vor der Hebung des Gebirges hingen diese Flächen auch mit denen des Vorlandes tatsächlich zusammen.

Das Riesengebirge. Der Kamm.
[261]      Das Riesengebirge. Der Kamm.

Zu einer anderen Formenwelt gehören Ziegenrücken und Krokonosch und auch die Schneekoppe. Sie besteht ebenso wie jene ersten Kämme aus einem gehärteten Schiefer, während der flache Kamm aus Granit gebaut ist. Dieser hat bei seinem Empordringen aus dem Erdinnern erst den Schiefer, seinen "Mantel", durch Hitze so gehärtet, wie Lehm im Ofen zu hartem Ziegelstein werden kann. Steil und schroff fallen die Berge aus Schiefer ab, sanft und ruhig liegen die Granitflächen da. Weite helle Grasflächen mit einer z. T. recht ärmlichen Flora dehnen sich auf ihm aus. In ihnen dunkle Hochmoore, uhrglasförmig gewölbt, von den reichen Niederschlägen ernährt. Der Granit, ein tonhaltiges Gestein, läßt das Wasser nicht versickern, und die Ebene läßt es nicht abfließen. So bilden sich die Moore. Vereinzelt leuchten kleine Teiche in ihnen auf. Große Bestände der Legföhre schwimmen wie grüne Inseln in einem vergilbten Grasmeer.

Zur Eiszeit konnte sich auf dieser weiten Ebenheit der Firnschnee in großen Mengen sammeln und zu Eis verwandeln. Über die steilen Hänge der Quelltrichter der Bäche stürzten die Eismassen abwärts, rissen Felsstücke mit sich hinab und schufen die nischenartigen "Kare" der Teiche und Schneegruben, die gar nichts mit Vulkankratern zu tun haben. Sieben sind es auf der klimatisch für Gletscherentwicklung günstigen Nordseite, drei auf der Südseite im Böhmischen. Große Schuttwälle, Sturzmoränen, sammelten sich am Fuße des Gletschers und schufen so die Sperrmauern für die Teiche. Einige von ihnen sind schon verschwunden. Hier wie überall in der Natur sind die Kräfte von heute die Feinde der Formen von gestern. Das gilt auch für jene seltsamen Block- [302] meere, die die Gipfel der Sturmhauben, des Hohen Rades und anderer Berge einnehmen. Auch sie stammen aus der Eiszeit: Infolge der Kälte ging der Pflanzenwuchs damals zurück, der Mangel an Wurzeln führte zu Abspülung der Verwitterungsschicht, und so konnte sich der Spaltenfrost ungehindert an den Bergkuppen austoben und Meere von Schutt schaffen, die nicht so schnell fortgebracht werden konnten, wie sie geschaffen wurden. Heute ist die Vegetation bereits wieder im Anmarsch.

Auch die Welt der Pflanzen spricht hier oben eine besondere Sprache: eine Unmenge von ihnen sind eiszeitliche "Relikte", die damals aus ihrer Heimat vor dem anrückenden Eise her geflohen sind und hier oben die Lebensbedingungen ihrer nordischen oder alpinen Heimat erfüllt fanden. Rentierflechte und isländisch Moos, Krähenbeere und nordische Brombeere, Teufelsbart, Berghähnlein und viele andere heute mit Recht geschützte Pflanzen stammen aus dieser Zeit. Sie sind alle Fremdlinge in diesem Gebiet, wie die Felsformen früher oder später dem Untergang geweiht.

So ist die ganze Landschaft des Riesengebirges völlig anders als die unserer andern deutschen Mittelgebirge: nicht idyllisch, nicht kleinräumig, sondern herb und groß. Ein Stück norwegischer Fjeldlandschaft in Schlesien! Wenn wir uns die Täler mit Wasser gefüllt denken - erinnern sie nicht an die norwegischen Fjorde, die auch so steil abfallen und auch bis unmittelbar unter die höchsten Erhebungen reichen? Hier ist nicht Eichendorff zu Hause! Diese Kammlandschaft hat [Caspar David] Friedrich nicht gemalt! Hier ist Nordeuropa!

Die ausgeprägte Eigenart des Gebirges greift sogar auf die Lufthülle über. Die nur im Spindlerpaß leicht eingekerbte Mauer des Gebirges ist häufig eine Wetterscheide. Sie trennt dann Gebiete von ganz verschiedenem Wettergesicht. Oft kommt es dabei zur Ausbildung des Föhns. Ein Tief im Norden saugt die Luft des Hochs aus Böhmen an. Die Geschlossenheit der Mauer ermöglicht keinen unmittelbaren Ausgleich. Die Luft muß das Gebirge hinaufklettern und fällt dann auf der andern Seite zum Hirschberger Kessel abwärts. In dicken Wolkenmänteln liegt dann das Gebirge da wie mit einer wolligen Decke überzogen. Im Tale aber herrscht bei heftigen Winden, ja Stürmen schönster Sonnenschein: der warme Fallwind, der Föhn, frißt nicht nur die Schneedecke am Boden sondern auch die Wolken am Himmel, so daß der Hirschberger Kessel auf diese Weise von allen Teilen der Sudeten den meisten Sonnenschein hat. Das sind Tage von eigenartiger Schönheit. Als weithin sichtbares Zeichen der Föhnlage hängt dann immer über dem Tale eine langgestreckte Wolke, wie ein Fisch oder ein Zeppelin geformt. Der Volksmund hat ihr den Namen "Motzagotls Wetterwolke" gegeben, vermutlich nach einem alten Schreiberhauer Wetterpropheten, Gottlieb Matz, mundartlich: "Motzagotl". Für die Segelfliegerei sind diese Wolken von großer Bedeutung, da in ihrem Bereich stets starke Aufwinde erscheinen.

Viel bekannter als sie ist eine andere Gestalt des Volksglaubens im Riesengebirge: Rübezahl, der Berggeist. Sein Name ist rätselhaft, und niemand kann ihn deuten. Jeder aber weiß, daß er kein anderer ist als der Herr der Berge, [303] der Geist des Riesengebirges. Die Gestalt, in der er den Menschen erscheint, ist sehr vielfältig: bald Tier, bald Mensch, bald Geist. Ursprünglich war es ein Kobold, der wohl mit den deutschen Bergleuten aus dem Harz einwanderte und ihnen bei der Arbeit - in Kutte und Kapuze gehüllt - erschien. Moritz von Schwind hat ihn dargestellt mit langem spitzen Bart, eine Keule in der Hand, Holzschuhe an den Füßen, mitten im wilden von knorrigen Ästen und Bäumen strotzenden Wald. Heute haben sich Wetterdämonensagen mit der alten Gestalt verflochten, und vieles spricht für eine enge Verwandtschaft des Berggeistes mit dem alten germanischen Windgott, der als Geist des Sturmes über die Wipfel der Bäume rast. In zahlreichen Sagen und Geschichten lebt Rübezahl heute noch im Volke als Bergmönch, Bergriese und Jäger, als Führer und Helfer der Wanderer und der armen Wurzelsucher - ein Sinnbild enger Verbundenheit des Menschen mit der großen Natur ihrer Berge.

    Die Koppe steht, des Trotzes letztes Ahnen,
    Hoch überm Ringen armer Taltitanen.
    Es schauen diesem Kampf aus Tiefen zu
    Der Teiche unergründlich schwarze Augen.
    Sie sind bestellt, das Stürmen und die Ruh'
    in ihren rätselhaften Grund zu saugen.
    Und wer recht lauscht hört manchmal tief erschrocken
    Das Zauberklingen von versunknen Glocken.             Hermann Stehr.

Das Riesengebirge. Die Schneekoppe.
[260]      Das Riesengebirge. Die Schneekoppe.
Von der Schneekoppe aus greift der Blick weit in das Land nach allen Seiten. Fast das ganze schlesische Gebirge ist an klaren Herbsttagen von hier aus zu übersehen. Im Süden schieben sich die Schieferkämme und Rücken des böhmischen Teiles kulissenartig hintereinander, von einigen Basaltkuppen in der Ferne überragt. Dieses an andere Mittelgebirge erinnernde Bild hat sich der Romantiker Kaspar David Friedrich mehrfach zum Vorwand genommen. Auch die schroffen Falkenberge bei Jannowitz gehörten zu seiner Welt. Hinter ihnen und neben ihnen zeichnen sich die in ihren Formen so unruhigen Vulkane des Waldenburger Landes in der Ferne ab: Sattelwald, Hochwald und Storchberg, Heidelberg und viele andre. Etwas weiter südlich ragen, jenseits der berühmten Leinenstadt Landeshut am Bober, das Raben- und Rehhorngebirge empor, hinter denen die Tafelbergfläche der Heuscheuer wie ein Stück Meeresspiegel ruhig liegt. Der flache Buckel des Glatzer Schneeberges erscheint nur noch im Umriß.

Der Nordhang des Gebirges, der fast gar nicht gerodet ist, führt den Blick hinunter in den Kessel, in dem zahlreiche Straßen mit Dörfern dicht besetzt nach einem zentralen Punkte weisen: Hirschberg, die Stadt des Fremdenverkehrs und der Pensionäre. Hinter diesem natürlichen Mittelpunkt des Tales steigt das Gelände hoch zur "schlesischen Wasserkuppe", den Bergen bei Grunau, wo sich die große Halle der Reichssegelflugschule gegen den Himmel [304] deutlich abzeichnet. Beinahe 25 000 Starts sind hier im Jahre 1936 von flugfreudiger deutscher Jugend ausgeführt worden. Dahinter grüßt das Bergland zwischen Bober und Katzbach, das lieblichste aller schlesischen Gebirge; lieblich durch seine alten Städtchen mit Burgen und Toren und Mauern, lieblich durch die vielen langgezogenen Dörfer in den Tälern mit den großen thüringischen Gehöften, lieblich durch die blumenreichen, bunten Bauerngärten mit Obstbäumen und großen kerzenbesetzten Kastanienkuppeln, lieblich durch den anmutigen, immer neuen Wechsel von rotbraunem Ackerland, leuchtendgrünen Wiesen und waldbestandenen Kuppen und Kämmen. Die steile Pyramide des Basaltes vom Probsthainer Spitzberg flankiert dieses Gebirge der reichen Bauerndörfer auf der einen Seite, der Kitzelberg bei Kauffung an der Katzbach an der anderen Seite. Leuchtend gelb-weiß leuchten von dort die riesigen Abbruchwände der steilen Marmorklippen herüber. In den bis 200 Meter tiefen Höhlen dieses Berges liegen die Beweise für das Auftreten des ersten Menschen in Schlesien: Feuersteingeräte und Unterkieferknochen des Höhlenbären. Vor 40 bis 50 000 Jahren haben hier Jäger gelebt.

Mit Ausnahme der wenigen Bauden auf deutscher Seite und der stillen Bauernhäuser auf der böhmischen - auch hier gibt es allerdings einige Bauden - ist das Riesengebirge ein ausgesprochenes Naturgebiet. Im Sommer zieht es unzählige Wanderer in die Berge, an denen in halber Höhe große Orte entstanden und gewachsen sind: Krummhübel und Brückenberg im Osten, Schreiberhau in größerer Höhenlage im Westen. Dazwischen eine Fülle von kleineren Streusiedlungen und Dörfern, deren Wachstum in erster Linie durch den Fremdenverkehr hervorgerufen ist. Noch mehr als im Sommer zieht das Gebirge uns im Winter in seinen Bann, denn so gute Schneelage, so weite Flächen und steile Abfahrten hat kein anderes deutsches Mittelgebirge!

Das Tal dagegen ist schon viel früher vom Menschen in Besitz genommen worden. Eine Anzahl von Ortsnamen deuten mit ihren Endungssilben wohl auf slawische Bewohner hin. Die eigentliche Besiedlung der Landschaft setzte aber erst mit der planmäßigen Kolonisation um das Jahr 1200 ein. Damals zogen in erster Linie Ackerbauer und Bergleute in das Waldland und begannen mit der Rodung. Die Knappen, Hauer und Steiger freilich kamen nicht sehr auf ihre Kosten, denn der Granit ist ein armes Gestein, und nur in seiner Mantelzone, im Schiefer, hat er uns Erze gebracht, sie anreichern und umwandeln helfen. Kupferberg, die kleinste preußische Stadt, und Schmiedeberg, das Friedrich der Große zur Königlich Preußischen Immediatstadt erhob, deuten mit ihren Namen an, daß die Natur hier dem Menschen Schätze aus dem Schoße der Erde beschert hat. Zur Inflationszeit ruhte der Abbau von Erzen vollständig, aber seit 1934 wird wieder in der Grube "Bergfreiheit" gefördert. Wir brauchen heute jedes Kilogramm Erz, das im eigenen Lande vorkommt; die hohe Esse zwischen den Halden von taubem Gestein raucht nun wieder, das Förderrad dreht sich, und Hunderte von Deutschen aus den umliegenden Dörfern sind wieder in Arbeit und Brot.

[305-312=Fotos] [313] Die zentrale Lage inmitten des Kessels und ein gewisser natürlicher Schutz durch Bober und Zacken ließen die Stadt Hirschberg im Mittelalter zu ansehnlicher Größe wachsen, trotzdem sie nicht wie viele andre an einer alten Handelsstraße lag. In den Hussitenkriegen wurde dem Gebiet und der Stadt übel mitgespielt. Eine Besserung trat erst wieder ein, als der Schuhmachergeselle Joachim Girnth auf seiner Reise nach Holland die Schleiermacherei erlernt hatte und dieses Handwerk mit einem Modell des Webstuhles in seine Heimatstadt im Jahre 1570 brachte. Im 17. und 18. Jahrhundert stand die Schleiermacherei in Hirschberg in vollster Blüte. Zu Beginn des Siebenjährigen Krieges arbeiteten hier nicht weniger als 507 Webstühle. Um 1780 reiste ein Hirschberger Kaufmann Flade nach Frankreich, England, Holland; 1785 verkaufte Hirschberg nicht weniger als 2300 Zentner Schleier! Damals sprach jeder von der "Goldstadt" Hirschberg. Wer heute diese Stadt erwähnen hört, denkt nicht mehr an Schleier und Leinenhandel. Aber die Denkmäler dieser Zeit sind noch heute erhalten: sie stehen auf dem Markte. Die prächtigen Rokoko- und Barockfassaden der Bürgerhäuser mit ihren Lauben erinnern an diese Zeiten des Wohlstandes. Ebenso die reiche Ausstattung der auf Karls des XII. Fürsprache den Protestanten bewilligten "Gnadenkirche". Fedor Sommer erzählt in seinem Roman Unter Mauern und Türmen von dieser Blütezeit der Stadt.

Unmittelbar am Fuße des Gebirges aber ist es nicht der historische Zufall gewesen, der eingegriffen hat, um Verdienstmöglichkeiten zu geben. Hier haben die Schätze und Kräfte des Bodens aus der Naturlandschaft eine Kulturlandschaft gemacht. Die Glasindustrie des Gebirges ist uralt: in dem Schiefer fanden die Glasmacher den Quarz, im Walde in großer Fülle den Brennstoff. Nicht weniger als siebenmal ist die berühmte Josefinenhütte verlegt worden; immer dem Holze nach mußte sie wandern. Heute beziehen die Hütten von Schreiberhau, Petersdorf und Hermsdorf - sie sind zu einem großen Werk zusammengeschlossen - den Quarz aus der Ferne, sind also nicht mehr rohstoffständig. Und auch die Wasserkraft wird nicht mehr in der ursprünglichen Form genutzt sondern erst nach der Umwandlung in elektrischen Strom. Unersetzlich aber ist für diese Werke der Stamm von gelernten Arbeitern. Mit vier Schmelzöfen, 800 Schleifstellen und 1200 Arbeitern ist die Vereinigte Josefinenhütte heute das größte Werk ihrer Art im Reich. Die Erzeugnisse gehen in alle Welt.

Weit jünger ist die blühende Holzindustrie des Tales. Der reiche Waldbestand hat sie ins Leben gerufen. Überall sind Sägewerke und Holzschleifen, die am Rande der Gebirgsmauer die reißenden Bäche als Quellen für die Betriebskraft ausnutzen. Im letzten Jahrhundert sind auch Zellstoff- und Papiererzeugung in das Tal eingezogen. Mehr als 2000 Arbeiter verdienen ihr Brot allein in diesen Betrieben. Auf ihnen bauen sich Pappwaren- und Tütenfabriken auf und schließlich Maschinenwerke von Weltruf: das ehemalige Füllnerwerk in Bad Warmbrunn, das früher nur Reparaturwerkstätte war, dann aber zur Erzeugung von Papiermaschinen überging, um die bodenständigen Werke [314] zu versorgen. Ganze Güterzüge mit Maschinen und vollständige Fabrikausrüstungen werden heute in alle Welt versandt und helfen dem deutschen Außenhandel. Das Füllnerwerk ist ein richtiger "Devisenschaffer".

In diesem alten Thermalbade, bekannt im ganzen Hirschberger Tal durch die alte Sitte des Tallsackmarktes am Palmsonntag, berühmt im ganzen Reich durch seine Heilquellen, liegt nicht weit von der Werkstätte hochwertiger technischer Leistungen der Maschinenindustrie eine andere Arbeitsstätte, die auch aus dem Waldgebirge ihren Ursprung herleitet: die Warmbrunner Holzschnitzschule. Die lange Dauer der Schneedecke im Gebirge läßt im Winter oft viele Hände frei für häuslichen Fleiß. Auf Grund einer Stiftung wurde die Anstalt im Jahre 1902 gegründet. Ihr Leiter stammt aus dem klassischen Gebiete der Holzschnitzkunst, dem Grödener Tale in Tirol. In aller Stille wird hier eine Arbeit geleistet, die nicht nur dem Riesengebirge und Schlesien - besonders bekannt sind die holzgeschnitzten Wegweiser - sondern dem Kunsthandwerk von ganz Deutschland zugute kommt.

Wieder nur ein Stück von jenem "Devisenschaffer" entfernt ist erst kürzlich ein sehr wichtiges Werk entstanden: Die "Schlesische Zellwolle AG. in Hirschberg", die aus wässerigen Zellstofflösungen den wichtigen Rohstoff für die heimische Textilwirtschaft herstellt: die deutsche Zellwolle.

In diesem Werk, das die schon 200 Jahre alte Erfindung des Physikers Reaumur fabrikmäßig auswertet, reicht die Holzverarbeitung der Spinnerei die Hand. Auch sie ist ein altes Gewerbe des Hirschberger Tales. Die ursprünglich weit verbreitete Hausindustrie ist zwar verschwunden - sie erlag der ausländischen Konkurrenz - und an ihre Stelle ist der Großbetrieb getreten. Schmiedeberg ist auch eine alte Leinenstadt, früher berühmt durch ihren Dammast, heute durch Teppiche. Als um die Mitte des vorigen Jahrhunderts die Not der Weber aufs höchste gestiegen war, schuf der Staat auf eigene Kosten die große Weberei und Spinnerei in Zillertal zwischen Krummhübel und Hirschberg, das damals größte industrielle Unternehmen des Riesengebirges. Auch hier wieder ein seltsamer Gegensatz: die Fabrik mit ihrem ragenden Schornstein, daneben ein klassizistisches Schloß im Stile der Schinkel und Schadow, und nur einige Minuten davon entfernt unvermittelt Tiroler Bauernhäuser! Wie kommen sie hierher? Evangelische Tiroler sind es, die lieber auswandern wollten als ihren Glauben aufgeben. Um 1837 wanderten sie hier ein. Der preußische König wies ihnen unmittelbar unter der höchsten Erhebung des Gebirges das Land an, auf dem sie sich ihre oberdeutschen Häuser - Stall und Wohnraum unter einem Dach - erbauen konnte. Sitten und Mundart haben sich bis auf den heutigen Tag gut erhalten, und im Schatten des Schlosses im preußischen Stil werden hier "Strauben", "Krapfen" und "Apfelkücheln" genau so lecker bereitet wie in Innsbruck!

Im Gegensatz zu den auf engem Raume zusammengedrängten Industrien des Waldenburger Gebietes und Oberschlesiens sind die Werke im Hirschberger Tal alle weiter auseinandergezogen. Alle fußen sie auf einer Quelle, durch die sie bodenständig sind: es ist die Wasserkraft der Flüsse. - Wenn im [315] Frühjahr der Föhn große Schneemassen auf einmal frißt oder im Sommer große Gewitter jeden Tag niedergehn und das Wasser geradezu flächenhaft auf dem lehmigen Verwitterungsboden zu Tale strömt, dann droht für die Siedlungen im Tale die Überschwemmungsgefahr. Das starke Gefälle, die großen Wassermassen und die engen Täler in der Tiefe führen dazu, daß gefährliche Höchststände eintreten, oft mit unheimlicher Geschwindigkeit. Das Hochwasserschutzgesetz vom Jahre 1900 schuf die Grundlagen für die großen landschaftlich sehr reizvollen Talsperren des Bobers und des Queiß'. Mit 50 Millionen Fassungsvermögen ist der Stausee von Mauer der größte unter ihnen. Sie alle haben in erster Linie die Aufgabe des Schutzes gegen Hochwasser und erst in zweiter Linie die der Stromerzeugung. Aber die Fäden der Überlandleitungen dieser Kraftwerke weisen weit über das Gebirge hinaus und verbinden es mit Görlitz im Westen und dem Waldenburger Bergland im Südosten. Die schweren elektrischen Lokomotiven und die Triebwagen von 120 Kilometer Geschwindigkeit auf der Bahnstrecke Breslau - Hirschberg sind ein Sinnbild für diese gebändigte Kraft, die Entfernungen überwindet. Schlesien steht in der Ausnutzung der Wasserkräfte in Preußen an erster Stelle. Den größten Anteil davon stellt das Riesengebirge.

Das Waldenburger Bergland. Industriegebiete haben sehr oft das gleiche Gesicht: Der Stil der Arbeit und ihrer Bauten, die Züge des Verkehrs und seine Notwendigkeiten schaffen fast überall dieselben Formen. Die Natur wird immer mehr zurückgedrängt, das Werk des Menschen steht einseitig im Vordergrund.

Anders im Niederschlesischen Steinkohlengebiet: Unvermittelt stehen im Waldenburger Bergland eine helle anmutige Waldlandschaft und eine düstere Industrielandschaft nebeneinander.

In tiefen Forsten schwelen noch Kohlenmeiler, aber in Tälern nicht weit davon werden "schwarze Diamanten" aus der Tiefe geholt und in riesigen Kammeröfen zu Koks verarbeitet. Es gibt in deutschen Landen kaum ein Gebirge, mit dem man dieses Gebiet vergleichen könnte.

In einer Entfernung von nur 10 bis 15 Kilometern von der tschechischen Grenze ragen zwischen hohen, steilen Vulkankegeln und Kämmen, die unruhig in den Himmel steigen, langgestreckte Siedlungen und dunkle Industriegebäude auf. In engen, schmalen Tälern erheben sich Fördertürme, hohe Essen schicken dunkle Rauchwimpel der Arbeit in den Himmel, graue Halden von taubem Gestein treten in der Steilheit ihrer Form in seltsamen Wettbewerb zu den Bergkegeln. Das Surren der Maschinen, das Pfeifen der Sirenen, der Lärm der Kohlenzüge, die verschoben werden - all das wird von den Hängen der Berge in langanhaltendem Echo fortgetragen. Zwischen diese beiden Welten des Waldes und der Fabriken ist ein enger Streifen von trockenen Grasfeldern und ärmlichen Äckern, dunklen Steinbrüchen und hellen Kiesgruben eingeschaltet. Hier windet sich in unzähligen Bogen die Eisenbahn an Schornsteinen und Kühltürmen vorbei, durch Tunnel und über Viadukte zwischen Fabriken und Koke- [316] reien hindurch, als ob sie den Reisenden von immer neuen Blickpunkten die Eigenart dieses Landes vor Augen führen wollte. Es ist die Strecke Berlin - Hirschberg - Breslau, deren Lokomotiven hier im Lande des Rauches und Dampfes mit elektrischer Kraft getrieben werden. In der Nacht wird das ganze Bild zu magischer Gewalt gesteigert: Die Melaphyr- und Porphyr-Berge umrahmen ein weites Lichtmeer. Von oben sieht man Tausende von Lampen der Zechen, Bahnhöfe und Werke, von unten leuchten die unruhig flackernden großen Flammen auf, die das Wahrzeichen aller Kokereien sind, die ihr Gas nicht zu Geld machen können und es daher als Feuerwerk in die Luft schicken. Gespenstisch steigt plötzlich eine große Dampfwolke zum Himmel empor, grell von dem glühenden Koks beleuchtet; im Hintergrund immer wieder die dunklen Hänge der Berge.

Aber nicht nur die Landschaft dieses Gebietes ist einzigartig in ihrem Nebeneinander von Natur und Menschenwerk, sondern auch die Wirtschaft selbst ist von ganz eigenem Gepräge, das in einer Reihe von Tatsachen begründet ist, die alle miteinander zusammenhängen. Im Gegensatz zum Ruhrgebiet und Oberschlesien ist die Waldenburger Kohle in Sümpfen des Binnenlandes gebildet, und nicht in großen sich immer wieder erneuernden Küstenniederungen. Die Flöze sind daher hier nur dünn; sie erreichen eine Mächtigkeit von nur 1,50 Meter, während sie in Oberschlesien 6 Meter und mehr stark sind. Der Waldenburger Bergmann muß daher das schwarze Gestein im Liegen an Ort hauen. Dazu sind die Schichten - wir sind mitten in einem Gebirge - steil aufgerichtet und nicht horizontal gelagert. Oft hören die Flöze plötzlich auf, sie sind "verworfen", wie der Bergmann sagt, und ihre Fortsetzung muß im "Liegenden" oder "Hangenden" gesucht werden. Sogenannte "Sperber" - das sind Durchbrüche von vulkanischem Gestein - durchsetzen die schwarzen Lagen, und es gibt daher viel Abraum und mehr taubes Gestein als irgendwo anders. Das Nebengestein ist weich. Viel Holz wird verbraucht, um die Stollen und Schächte zu stützen. Oft stürzen die Wände ein, weil der Ton leicht quillt, und "zu Bruch geht". Die Kohle selbst ist häufig zerdrückt, kleinstückig oder gar staubig. Kein schiffbarer Fluß führt in der Nähe vorbei, der das Massengut Kohle billig an den Ort des Verbrauchs bringen könnte. Eng begrenzt ist daher ihr Absatz. Nur in kleinem Umkreise wird sie als Hausbrand verwandt. Vor dem Kriege ging allerdings ein Fünftel der Förderung in das damals benachbarte Österreich.

Auch die Straßen und Bahnen sind dem Gesetz der Landschaft unterworfen: in engen Tälern führen sie entlang, müssen viele Windungen mitmachen, um nicht Gefälle zu verlieren, müssen in Tunneln ihren Weg durch Berge nehmen, von denen einer nach vierjähriger gewaltiger Arbeit abgetragen wurde: jetzt fährt die Bahn hier durch den größten Eisenbahneinschnitt Europas! Beschränkt ist auch der Siedlungsraum: die steilen Hänge engen den Raum von oben her ein, die Schächte von der Tiefe. Nur schmal ist die Zone, die dazwischen liegt. Im Waldenburger Industriegebiet sind 41 Prozent aller Wohnungen Einraum-Wohnungen - in Bochum, im dichtbesiedelten [317] Ruhrgebiet, sind es nur 2 bis 8 Prozent! Aber immer noch mehr der Nachteile und Belastungen für dieses Gebiet: Es mangelt ihm auch an ergiebigen Quellen, um die sich ständig verdichtende Bevölkerung und die Industrie mit Wasser zu versorgen. Zwar hat das Gebiet infolge seiner Höhenlage - der Hochwald ragt bis zu 850 Meter empor - und vor allen auch durch den Reichtum der Luft an Kohlenstaub stets mehr Regen und Schnee als die benachbarten Gebiete - Waldenburg ist ein Ausgangspunkt zu herrlichen Skifahrten! - Aber die Schichten sind alle durchlässig und von den Mächten des Erdinnern zerbrochen und zerstoßen; sie können das Wasser kaum auffangen, halten, sammeln. In den Jahren 1886 und 1893 hatte die Stadt unter einem unerträglichen Wassermangel zu leiden. So mußte man sich nach diesem kostbaren Stoff in der Ferne umsehen, und heute nennt Waldenburg eine Fernwasserleitung sein eigen, wie sie nicht noch einmal in ganz Deutschland zu finden ist. Seit dem Jahre 1900 bezieht die Stadt ihr Wasser - täglich 20 000 Kubikmeter - aus einer Entfernung von 20 bis 25 Kilometern aus den wasserreichen Kiesen und Sandschichten der Boberwiesen bei Vogelsdorf und Merzdorf. Hier ragt mitten aus grünen Flächen plötzlich ein 60 Meter hoher Schornstein in den Himmel empor und gibt von diesen merkwürdigen Verhältnissen anschauliche Kunde. Mehrfach mußte das Werk schon vergrößert werden, um der wachsenden Industriebevölkerung und ihrem steigenden Bedarf an diesem lebenswichtigen Stoffe gerecht zu werden. Kostspielig und schwierig genug war dieses Unternehmen: große Höhenunterschiede mußten überwunden werden, in Tunneln wurden die Berge durchbrochen, große Wasserbehälter wurden gebaut, und die Rohrleitungen mußten dem Gebirgsdruck angepaßt werden. Wenn auch die noch immer wachsenden Industrien ganze Ströme von Wasser verbrauchen, so konnte sich die Stadt doch jetzt ein Freibad bauen, das einige 1000 Kubikmeter Leitungswasser bekommt.

Aber noch immer nicht sind wir am Ende der "Waldenburger Not": Nicht nur ungeheure Schwierigkeiten hat der Bergmann beim Abbau zu überwinden, ihm droht hier in einer besonders tückischen Form der Tod, gegen den er sich kaum schützen kann. Unerwartet wird der Arbeiter von Kohlensäureausbrüchen überfallen, denen er in den niedrigen Stollen ahnungslos und schutzlos preisgegeben ist. Dieses Gas ist ein hinterhältiges Geschenk derselben Mächte, die dem Lande die herrlichen Berge geschenkt haben, nämlich des Vulkanismus. Infolge der hier besonders lebhaften Gebirgsbildung sind die harten Gesteine äußerst kluftreich. Und ebenso, wie das Regenwasser auf Nimmerwiedersehen durch sie und die hohlraumreichen Sandsteine nach unten versickert, genau so leicht dringt auf denselben Wegen von unten her jenes Gas empor, das sich - ein seltsam rätselhaftes Verhalten - in der Kohle so festsetzt wie Wasser in einem Schwamm. Plötzlich und völlig unerwartet, durch nichts angekündigt, zischt das Gas dann wie aus einer Selterflasche heraus und bringt dem Bergmann den sicheren Tod. Kein Mittel hat die Technik bisher gefunden, das gegen diese tückischen Gase sicher schützt, und es bleibt dem Menschen häufig nichts anderes übrig, als die Grube, den Schacht oder Stollen [318] zu verlassen und sich zu ergeben: wieder einmal ist der Mensch schwächer als die Natur. Aber nur schwer findet der Bergmann sich darein. So groß die Gefahren auch sind, er liebt seine Arbeit und sein Brot und steigt immer wieder in die Berge hinab. So wurde vor einigen Jahren auf der Wenzeslausgrube bei Mölke von den Arbeitern eine Betriebsgemeinschaft gegründet und die Arbeit wieder aufgenommen, nachdem sie von der Werksleitung wegen schwerer Unglücksfälle stillgelegt worden war. - Es ist ein seltsames Spiel der Schöpfung, daß dieselben Gase, die hier dem Menschen Siechtum und Tod bringen, in unmittelbarer Nähe in den heilkräftigen Quellen ihnen Erholung, Gesundheit und Rettung von schweren Krankheiten schenken.

Wie kann sich dieses Gebiet überhaupt noch angesichts der vielen Schwierigkeiten halten? Müßte es nicht längst als Kohlengebiet seine Rolle ausgespielt haben?

Der Waldenburger Bergbau ist der älteste auf Steinkohlen im deutschen Osten. Schon um 1360 wird er erwähnt. Friedrich der Große unterstützte ihn sehr lebhaft, und im Jahre 1779 wurde in Niederschlesien weit mehr Steinkohle gefördert als im flözreichen Oberschlesien. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts überflügelte es endgültig den Waldenburger Bergbau. Wenn er sich heute noch hält, so hat das verschiedene Gründe. Zwar ist die Kohle schwer zu gewinnen und auch als Hausbrand ist sie nicht sehr beliebt, aber sie hat als Fettkohle einen großen Vorzug, der dem ganzen Gebiet das Leben und den Fortbestand sichern hilft: sie eignet sich besser als viele andere deutsche Kohlen zur Verkokung, und 80 Prozent der Waldenburger Förderung wird zu Koks "veredelt". So finden wir in der Einfuhrstatistik von Oberschlesien einen großen Posten, der aus dem Waldenburger Gebiet stammt, als ob man "Bäume in den Wald tragen" wollte! Aber der oberschlesische Koks eignet sich nur in geringem Maße zur Verwendung in den Hüttenwerken, weil er zu weich ist, da er schlecht "sintert". Auf diese Weise kann sich der Kohlenbergbau hier immer noch halten, wenn auch die Zahl der Gruben und Schächte gegenüber der Vorkriegszeit gesunken ist. Der große Egmontschacht, einer der größten im ganzen Gebiet, mußte vor einiger Zeit stillgelegt werden. Damit ist das letzte Wahrzeichen des Bergbaues aus der Stadt Gottesberg, der höchsten preußischen Stadtgemeinde, die einst 1800 Bergleuten Arbeit und Lohn gab, verschwunden.

Wenn die Waldenburger Kohle auch nicht weit versandt werden kann, so ist doch manche Industrie zu ihr hingewandert und hat damit weitere Grundlagen für den Fortbestand dieses Arbeitsgebietes geschaffen. Porzellanmaler aus der Meißener Gegend brachten die Porzellanindustrie hierher. Das Riesenwerk "Silesia" ist das zweitgrößte seiner Art in Deutschland. Mit drei Fabriken arbeitet es in Altwasser, Waldenburg und Niedersalzbrunn. Nur heimische Rohstoffe werden hier verarbeitet, die Brennöfen werden mit Zechengas geheizt, und - was am allerwichtigsten ist - zahlreiche Frauen und Mädchen finden in diesem stark auf Handarbeit angewiesenen Industriezweige Beschäftigung und vermehren so die Zahl der Verdiener. Denn "tausend Handgriffe gehören zu einem Porzellanteller!"

Waldenburg-Altwasser, Schlesien.
[262]      Waldenburg-Altwasser (Schlesien).

Auch die große Spiegelglas- und Guß- [319] glasfabrik in Waldenburg-Altwasser arbeitet mit heimischen Rohstoffen und Zechengas. - Außer diesen Werken ist auch die Weberei hier bodenständig. Wieder war es Friedrich der Große, der hier eingriff, Flachsanbau und Leinenweberei förderte, da das Land mit seinen klaren Wassern und Bergwiesen eine gute Grundlage dafür bot. Als im 19. Jahrhundert der Strom der Weber, deren kleine Betriebe einer nach dem andern eingingen, sich zu Tal bewegte, entstand in Waldenburg die erste mechanische Großspinnerei Europas. Der Waldenburger Handelsherr Gustav Alberti war es, der hier die ersten künstlichen Flachsbleichen anlegte, eine Dampfmangel erbaute, die ersten mechanischen Spindeln konstruierte und schließlich die ganze Anlage durch eine Dampfmaschine betreiben ließ, die kein anderer als der damals 21jährige August Borsig montierte! Über 7000 Weber fanden in dem Werke wieder Arbeit und Brot. So wurde Waldenburg, der einfache Handelsplatz für Leinen im 18. Jahrhundert, zu einem vorbildlichen Industrieplatz. - In den letzten Jahren ist noch ein anderer Betriebszweig ausgebaut worden: die Weiterverarbeitung der Kohle und ihrer Reststoffe zu Benzol, Teer usw. In jüngster Zeit werden große Pläne für die Fernversorgung einiger Städte mit Waldenburger Zechengas gemacht, das in einer Menge von 100 Millionen Kubikmetern im Jahre - das würde für eine Stadt von einer Million Einwohnern reichen! - bei der Verkokung der Kohle erzeugt, aber vorläufig fast nur als Feuerwerk in die Luft geschickt wird - ein schöner Anblick, aber entgegen allen Grundsätzen und Zielen des Vierjahresplanes!

Mittelpunkt des ganzen Gebietes ist Waldenburg, das mit den umliegenden Gemeinden heute ein zusammenhängendes Siedlungsgebiet von 115 000 Einwohnern bildet. So ist der Waldenburger Kreis mit seinen alten Waldhufendörfern zu einem ausgesprochenen Industriekreis geworden, in dem sich nur 12 Prozent der Bewohner von der Landwirtschaft ernähren. Den starken Güterverkehr muß Dittersbach, der zweitgrößte Verschiebebahnhof Schlesiens, mit einem 60 Kilometer langen Gleisnetz bewältigen - wieder ein seltsamer Anblick: ein Gewirr von Gleisen und Zügen, Weichen und Signalen, Drähten und Lichtern mitten im Waldgebirge. 2400 Waggons werden täglich verschoben!

Die felsigen Berge und ihr dichtes Waldkleid hindern nicht nur das Land an seiner Entfaltung, sondern tragen auch ein Teil zu seinem Leben bei. Die steilen Hänge der Täler und die hohen Vulkankuppen und Kämme schaffen windgeschützte Talwinkel, die die Sonnenstrahlen zu voller Wirkung und Ausnutzung kommen lassen. So entstand im Süden von Waldenburg der weltberühmte klimatische Kurort Görbersdorf, das "schlesische Davos", das mit seinen Erfahrungen für zahlreiche ähnliche Schöpfungen in andern Gebirgen, z. B. im Schwarzwald, Muster geworden ist. Angelehnt an den massigen Buckel des Hochwalds liegt Bad Salzbrunn, einer der größten und schönsten Kurorte Schlesiens. Nicht weit davon Alt-Reichenau, das Dorf mit dem ungenießbaren Kaffeewasser! Mit einer Zahl von sechs Quellen steht es an der Spitze der schlesischen Kurorte und ist doch kein Bad! Aber die alkalischen Säuerlinge, die ihren Ursprung eben demselben Vulkanismus verdanken, der das ganze [320] Gebiet so vielgestaltig beherrscht, werden weit verschickt und sind als Tafelwasser sehr geschätzt. Viel besucht ist das über dem steilen Grunde des Hellebaches erbaute Schloß Fürstenstein mit seinen herrlichen Gartenanlagen. - Auch das Pflanzenkleid der Wälder trägt mit zum Erwerbsleben der Bewohner bei: In Dittersbach arbeiten in der größten Kräuterei Schlesiens über 50 Volksgenossen an der Veredlung von Kräutern zu Heil- und Kurzwecken. In Pulvern, Tabletten und Essenzen werden die Kräuter nach z. T. uralten Rezepten zusammengestellt, in riesigen Ballen gehen Lindenblüte und Schafgarbe in andere Erdteile!

In einer Längenausdehnung von 40 Kilometern zieht sich das Waldenburger Kohlenbecken von Rothenbach, das nicht weit von dem einsamen vulkanischen Sattelwaldgebirge liegt, bis hin nach Neurode am Fuße der Hohen Eule. Hier entspringt die Weistritz, deren Gewässer in der engen Pforte des Schlesiertales in einer Talsperre unter der Burg Kynau gebändigt werden und ihre Kraft abgeben müssen. Während der steile Nordabfall des Gebirges nach der Ebene zu so gut wie unbesiedelt ist, haben sich an der Südseite zahlreiche Reihendörfer an dem klimatisch begünstigten Hange gebildet. Es sind auch z. T. Industriedörfer. Die beiden Namen Wüstewaltersdorf und Wüstegiersdorf erinnern daran, daß auch dieses von Bergen eingeschlossene Gebiet einst von Kriegsnöten heimgesucht wurde: die raubenden und plündernden Horden der Hussiten waren auch hier eingefallen. Noch vor wenigen Jahrzehnten standen die Bewohner des Eulengebirges ganz im Zeichen der Handweberei. Hier spielt auch Gerhart

Das Eulengebirge. Einzelhgehöfte.
[263]      Das Eulengebirge. Einzelhgehöfte.
Hauptmanns Schauspiel "Die Weber", das den Hungeraufstand vom Jahre 1844 zum Gegenstand hat. Heute gibt es nur noch recht wenige. Die "Handweberhilfe" der Provinz Niederschlesien hat sich ihrer angenommen: durch Verarbeitung von guten, gemeinsam bezogenen Rohstoffen in künstlerisch wertvollen Mustern schaffen sie heute eine Wertarbeit, die in der Großstadt gute Preise bringt und es ihnen ermöglicht, ihr Handwerk auch im Zeitalter der Industrie noch weiter auszuüben, ohne verhungern zu müssen. - Auch das Eulengebirge, das schon zur Grafschaft Glatz hinüberführt, zeigt das eigentümliche Nebeneinander von stillen Wäldern und lauten Fabriken, hohen Aussichtstürmen und ragenden Essen, heilkräftigen Quellen und trüben Kohlenschlammbecken. Hermann Stehr, unser schlesischer Dichter, der eine Reihe von Jahren seines Lebens in Dittersbach zugebracht hat, schildert uns einen Abend in dieser Landschaft:

    "Die Häuserklötze im engen Tal
    versinken in tiefem Dämmern,
    und leise wird mit einemmal
    des Lebens wirres Hämmern.

    Nur da und dort ein trunknes Schrein
    hintaumelt durch das Schummern.
    Von allen Bergen rinnt herein
    der Wälder großes Schlummern."

[321] Die Grafschaft Glatz. Wie ein auserlesenes Kleinod hat die Natur die Grafschaft Glatz nach fast allen Seiten gesichert und abgesperrt: von der schlesischen Ackerbauebene her führt nur das schmale, steile Durchbruchstal der Neiße, das selbst für die Eisenbahn keinen Platz mehr läßt, zu diesem "Extrakabinett deutscher Gebirgsnatur". Der wasserreiche reißende Gebirgsfluß durchschneidet bei dem Wallfahrtsorte Wartha die Mauer des Sudetenrandes, der gerade auf der Strecke von der kleinen Bergwerksstadt

Glatz.
[264]      Glatz.
Reichenstein bis hin nach Silberberg besonders steil aufgerichtet aus der Ebene aufsteigt. Durch diese beiden Orte führen steinige, in vielen Kehren gewundene Paßstraßen in die Glatzer Senke hinunter. Bei Silberberg ist dieser Weg sogar durch eine alte, berühmte Feste bewehrt. Auch von den andern Seiten ist das Gebiet von einem Rahmen und Kranz hoher Gebirge umgeben. Im Norden ragt der flachgebuckelte Gneisklotz der Hohen Eule, des ältesten Bausteins des schlesischen Gebirges, auf. Vom Waldenburger Bergland her muß die Eisenbahn durch Tunnel geführt werden, um in die Grafschaft hinabzugelangen. Im Osten hält der Königshainer Spitzberg mit 750 Meter Höhe über der Neiße seine steile Wacht; er ist ein Gegenstück zu der Schneekoppe des Riesengebirges: ebenso wie sie ein Hornfels, gehärtet durch aufgedrungene granitische Schmelze, ebenso wie sie steil und felsig. Aber an seinen Hängen dringen im Frühjahr Schneeglöckchen durch die Laubdecke, und große Büsche des zartrosablütigen Seidelbastes verbreiten Wolken von strengem Duft. Dahinter riegelt das Reichensteiner Gebirge das Land ab, das einen Ausläufer des Altvatergebirges darstellt. Im Südosten wölbt sich das dichtbewaldete Glatzer Schneegebirge auf, dessen Gipfel, der Glatzer Schneeberg, mit 1425 Meter Meereshöhe die höchste Erhebung des Gebietes darstellt, die sogar weit über die Baumgrenze hinausragt. Zwischen diese beiden ist das einsame und noch wenig erschlossene Bielengebirge eingeschaltet. Auf der anderen Seite des ungefähr von Norden nach Süden verlaufenden Neißegrabens haben die Kräfte des Erdinneren eine seltsame Treppe aufgebaut, die aus drei langen, hintereinander liegenden Stufen besteht. Als erste steigt der Lomnitzkamm (900 Meter) aus dem Neißetal empor. Die nächste Stufe, der Habelschwerdter Kamm, erreicht bereits die Höhe von fast 1000 Metern. Die dritte ist der böhmische Kamm des Adlergebirges, das in der Deschneyer Koppe die Höhe von 1140 Meter überragt. In dem zwischen den beiden letzten Stufen gelegenen malerischen Hochtal der Wilden Adler oder Erlitz führt die politische Grenze entlang. Weiter nördlich erscheint das eigentümlichste Wahrzeichen des Glatzer Landes, die Heuscheuer, ein Tafelberg, wie er in so schöner Form nicht oft in deutschen Landen anzutreffen ist. Er und einige umliegende Berge sind ein kleines "Elbsandsteingebirge" in den Sudeten. Das durch Gebirgsbildung nach zwei Hauptrichtungen zerklüftete Gestein bringt durch die Arbeit des fließenden Wassers viele seltsame Felsformen hervor. Hier finden wir auch den Schlüssel zur Lösung einer Frage, die uns im schlesischen Gebirge immer wieder entgegentritt: woher weiß man, daß das Gebirge zu der Zeit, da das Hochgebirge der Alpen aufgefaltet wurde, tatsächlich gehoben wurde? Der [322] Sandstein der Heuscheuer berichtet es: Wir finden in ihm zahlreiche Muschelabdrücke. Sie sagen uns mit aller Deutlichkeit - so schwer es für uns auch vorstellbar ist - dieses: Die Heuscheuer ist einmal Meeresboden gewesen. Denn ihr Sandstein kann nur im Meere gebildet werden, und zwar in einer Tiefe von mindestens 200 - 300 Metern. Wenn sie heute 900 Meter hoch ist, so sagt das uns nichts anderes, als daß die Sudeten nach der Überflutung durch das Meer der Kreidezeit um mindestens 1100 Meter gehoben worden sind! Und für den Glatzer Schneeberg, dessen Gebiet unzweifelhaft auch einmal von diesem Kreidemeer überflutet wurde, ergibt sich sogar eine Hebung von mindestens 1500 Metern! Riesenspielzeuge der erdgeschichtlichen Kräfte!

Auch der Lauf und die Richtung der Flüsse spiegeln eine Sonderstellung der Glatzer Landschaft wieder: Nach drei verschiedenen Meeren entsendet die Grafschaft ihre Wasser. Vielleicht kann man sagen, daß das geradezu ein Glück ist, denn sie hat so reichliche Niederschläge, daß die Gefahren, die von den Wildwassern drohen, noch viel größer sein würden, wenn das ganze Gebiet nur nach der Neiße und der Oder entwässern würde. Der Wanderer, der vom Glatzer Schneeberg nach Süden in ein schnurgerade gerichtetes Tal blickt, sieht dort die Wasser der March funkeln, die der Donau und damit dem Schwarzen Meere zueilen. Auf der anderen Seite fließen alle Bäche der Biele zu, das heißt der Neiße und damit der Oder, die in die Ostsee mündet. Auf der Westseite gabelt sich im Adlergebirge das Netzwerk der Gewässer auch wieder: von der Hohen Mense, an deren Hang in 960 Meter Höhe das höchste preußische Kirchdorf Grunwald liegt, fließt die Weistritz der Neiße zu, die Erlitz aber der Adler nach Böhmen und damit der Elbe, die die Wasser zur Nordsee führt.

Und trotz des Auseinanderstrebens der Flüsse, trotz der vielen einzelnen Gebirge, die in ganz verschiedenen Gestalten das Land umschließen, ist die Grafschaft doch eine unverkennbare geschlossene Einheit. Diese Einheit wird durch das Senkungsfeld des Neißegrabens geschaffen, der die Sudeten damit in zwei Teile trennt. Wenn wir auf dem Glatzer Schneeberg stehen und nach Westen blicken, so erinnert uns das Bild manchmal an die Oberrheinische Tiefebene. Wir glauben, auf dem Feldberge des Schwarzwaldes zu stehen, tief unter uns liegt die Rheinebene, und jenseits von ihr erheben sich die Kämme der Vogesen! Der Neißegraben brach zu derselben Zeit in die Tiefe, als die schlesischen Gebirge gehoben wurden. An zahlreichen Nord-Süd gerichteten Spalten sanken die Schollen in die Tiefe. Das war zur Tertiärzeit. Ein Stück einer solchen Bruchwand ist uns in seltsamer Erbform erhalten: Die 28 Meter hohe Felswand, über die die Wölfel ihre Wasser stürzen läßt, ist ein Stück jener Bruchstufe, die sich seit dieser Zeit um ungefähr einen Kilometer rückwärts eingefressen hat. Dieselben Gesteine, einst im Meere gebildet, die in der Heuscheuer 900 Meter hoch aufragen, liegen im Neißegraben viel tiefer, zum Teil verschüttet und verhüllt unter Kiesen und Lehmen, die durch das nordische Inlandeis hier hereingebracht wurden. - So verdankt auch dieses Stück schlesischer Landschaft - ähnlich dem Hirschberger Tal - seine besondere Eigenart und Schönheit einer tiefen Scharte in der Erdkruste, die alle Wasser, die vom [323] Gebirge Abfluß suchten, an sich zog und zusammenfaßte. Waldreiche Gebirge, tiefe Täler und fruchtbare Ebene haben sich zu einer Landschaft von seltener Geschlossenheit vereinigt:

      "So recht wie eine Insel liegt die Grafschaft Glatz im schlesischen Lande. Von den Waldmauern schwerer Gebirgszüge allseitig abgeschlossen, überläßt sie sich ihren eigenen Träumen...... Überall, wohin der Blick sich auch wenden mag, trifft er auf Bergwände, die ihm den Flug ins Weite, aber nicht in die Höhe nehmen. Nie schrecken sie ab und schlagen den Atem schroff in die Brust zurück, beschränken ihn auf eine heiter-ernste Art, verlocken und besänftigen zugleich und machen gerade dadurch die Gefangenschaft zu einer solchen unentrinnbaren.... Berge und Ebene scheinen untrennbar: denn diese steigt scheinbar in langen Hängen und geruhigen Vorwellen mit auf die Höhe der Bergzüge...... In der Betrachtung dieses Landes klingt die Charakterisierung des Menschen schon mit: der Grafschaftler ist ein Wesen der bunten, vielfältigen Enge."

Der diese Worte schrieb, sagte sie über seine eigene Heimat, aus der er herauswuchs und die in ihm wirkte, wie nicht in vielen deutschen Dichtern unserer Zeit: Hermann Stehr. - Als Sohn eines ums tägliche Brot wahrhaft kämpfenden Sattlermeisters wurde er in Habelschwerdt, dem im südlichen Teile der Grafschaft liegenden Kreisstädtchen geboren in einem "jener kleinen Häuser am Stadtgraben, die eng aneinandergeschachtelt den Uferrand der Neiße entlang stehen und wie in weltabgewandter Demut sich kaum getrauen, nach der Straße zu ein Fenster zu kriegen." Stehr ist in allem ganz seiner Heimat verwachsen, und hinter allen seinen Werken spürt man das Erlebnis der Schöpfung und ihrer Geschöpfe. "Das Land schwang sich in Hügeln hinan, es stolperte in Tälern und Schluchten, es stieß in breiten massigen Höhenrücken aufwärts zu den schwarzblauen Bergen und den dunstroten Streifen darüber." Neben der Frömmigkeit der Mutter umfriedeten seine Kindheitstage die blauen Berge seiner Heimat mit den vielen Christus- und Muttergottesbildern auf allen Wegen, dem Heiligen Nepomuk auf allen Brücken, dem Ave-Maria-Läuten der Wallfahrtskirchen dieses "Auferstehungsländchens" (H. C. Kaergel). So ist Stehr ein Gottsucher unserer Zeit: "Ewigem vereidet". So gehört er derselben Welt an, aus der ein Jakob Böhme, ein Angelus Silesius kamen. "Drüber hinaus!" ist auch die Seele seiner Werke. Und das ist die Seele dieses Glatzer Landes, dieser Menschen, die es bewohnen.

So sind die Gestalten Stehrs auch Menschen seiner Heimat, oft Arme und Ärmste, Kleinbürger, Handwerker und Bauern, die ihre schlesische Mundart sprechen. Im Glatzer Bergland ist sie noch mehr zuhause als irgendwo anders. Hier hat sie sich in den Bauerndörfern der Ebene und der Täler, den Streusiedelungen der Berge und Wälder besser erhalten können als in manchem andern Gebiet. In dem eisernen Ringe der Heerkörper, der sich 1870 um Paris schloß - so wird erzählt - nahmen die ganz zufällig zusammengekommenen Franken [324] und Schlesier mit freudiger Überraschung wahr, daß ihre Mundarten sehr ähnlich klangen, so daß sie selbst der einfache Mann gut verstehen konnte. In der Tat: die Verkleinerungssilben der Namen und Hauptwörter, der Schwund des auslautenden "n" und nicht zuletzt der Vokalstand lassen die Mundart der Grafschaft, die zusammen mit der des Böhmischen Riesengebirges und des Oppaländischen ein Ganzes bildet, der ostfränkischen recht ähnlich klingen und scheiden sie deutlich von den Sprechweisen des mittleren und niederen schlesischen Flachlandes. Was die Krieger in fernem Lande vor Paris erlebten, war ein Ausdruck eines Stückes schlesischer Heimat - und Siedlungsgeschichte: auch die Grafschaft ist wie alle andern Teile des Landes von Mitteldeutschen besiedelt worden. "De aala Braatla haala a!" (die alten Bretter halten auch!). Der Hirt aber auf den Bergen singt:

    "Brih, Feurla brih!
    Ich hitt ne ganne de Küh!
    Ich hitt wul lieber de faula Ziega,
    das kann beim Feurla liega!
    Brih! Feurla, brih!"

So singt der Nachkomme jener Franken, die das Land vor sieben und acht Jahrhunderten besiedelt haben.

Um das Jahr 1000 wird die Grafschaft Glatz - einst ein Kammergut des Königs von Böhmen - zum ersten Male geschichtlich bekannt. Die wenigen Bewohner des größtenteils mit dichtem Walde bestandenen Ländchens waren Böhmen, die vorzugsweise in den offenen Niederungen und zugänglichen Tälern saßen. Noch heute erinnern die slawischen Endsilben der Namen und die zusammengedrängte unregelmäßige Bauart einiger Dörfer an diese ersten Bewohner. Um die Mitte des 13. Jahrhunderts aber überwies Ottokar II. von Böhmen ganze Bezirke an deutsche Siedler, die er aus Thüringen und Meißen ins Land rief, damit sie sich in der Umgebung von Glatz, Landeck, Wünschelburg und Reinerz ansiedelten. Sehr bald wurde der Wald in großen Strecken gerodet. Neben einigen wenigen Städten, die mit ihrem regelmäßigen Schachbrettgrundriß die Form der gegründeten Kolonistenstadt des Deutschen Ostens deutlich zeigen, entstanden viele Waldhufendörfer. Sie liegen meist auf der hohen Talterasse, um vor Überschwemmungen geschützt zu sein. In langen Reihen ziehen sie sich an den Ufern der Bäche entlang; ihre Grundstücke sind von blumenreichen Gärten umgeben, und senkrecht zum Wasserlauf ziehen sich die langen Ackerstreifen, die sogenannten "Handtücher" die Hänge hinauf, bis sie oben auf dem Bergrücken in der kleinen "Zahnbürste" von Waldstreifen endigen, der den letzten Rest des früheren Waldbestandes darstellt. In regelmäßigem Viereck stehen die thüringischen Gehöfte mit ihren massiven Torbogen da, und manch ein Erbhofbauer kann nachweisen, daß er schon mehrere hundert Jahre auf seiner Scholle sitzt. Einer von ihnen, der Trautmann aus Scheibau bei Wünschelburg, weiß heute, daß Hof und Land ihm seit 1456 gehören. Die weiteren Nachforschungen stocken leider, denn im Jahre 1425 haben die Hussiten [325] mit der ganzen Stadt auch das Rathaus und seine Akten in Flammen aufgehen lassen. Heute ist der Trautmann-Hof nur noch 105 Morgen groß. Einst war er größer: durch Erbteilungen bröckelte im Laufe der Jahre ein Stück nach dem andern ab. In ganz Schlesien sind die Trautmanns, die einstmals vom Hofe zogen, jetzt verstreut. Durch das Erbhofgesetz ist die Scholle aber nun geschützt und jeder Verkleinerung ein Riegel vorgeschoben.

In den Jahren nach der Kolonisation mußte sich das Gebiet immer wieder neue Herren gefallen lassen. Die eingekeilte Lage führte zu ewigem Wechsel. Viel mußten die Grafschafter erdulden. Ganze Ortschaften wurden in den Hussitenkriegen verwüstet. Unter Zustimmung des deutschen Kaisers wurde das Gebiet im Jahre 1458 zur Grafschaft erhoben. 1623 kam sie an den Bischof von Breslau, mußte dann aber wegen ihres Eintretens für den Winterkönig während des Dreißigjährigen Krieges sehr viel leiden. Nach dem ersten Schlesischen Kriege fiel das Land an Friedrich II. von Preußen, dem die Stände im Februar 1742 huldigten.

Trotz des großen Waldreichtums der Grafschaft - stellenweise nimmt der Wald über die Hälfte der Bodenfläche ein - ist das Gebiet doch ebenso dicht besiedelt wie das fruchtbare Mittelschlesien. Aber das Land ist von der Natur reich beschenkt, und die Bewohner sind so fleißig, daß viele Menschen ernährt werden können: die Senke gibt fruchtbaren Ackerboden her, die Berge liefern viel Holz und auch wertvolle Bausteine. In den Seitentälern aber und dort, wo das abgesunkene Land des Kessels an das gehobene grenzt, das heißt an Spalten, die tief in das Erdinnere hinabreichen, dort dringen heilkräftige Quellen empor und rufen Heilung und Erholung suchende Menschen aus weiter Ferne ins Land hinein.

Malerisch von Bergen eingeschlossen, von hohen Wäldern umgeben, liegt im Bieletal Bad Landeck, in dem auch einst Königin Luise weilte. Das ebenfalls auf der Ostseite des Kessels gelegene Wölfelsgrund ist nur

Landschaft bei Bad Kudowa, Glatzer Bergland.
[264]      Landschaft bei Bad Kudowa (Glatzer Bergland).
Luftkurort. In einem wunderbar geschützten Seitental liegt es über dem Wölfelfall, dem schönsten aller Wasserstürze in Schlesien, und bietet für Genesende, die unfreundliches Winter- und Frühlingswetter scheuen müssen, die beste Erholungsstätte dar. Ihm gegenüber auf der andern Seite des Grabens jenseits des langgestreckten Rodungsdorfes Ebersdorf liegt Bad Langenau, am Fuße der dreistufigen Waldtreppe. - Hart an der Landesgrenze, unmittelbar unter dem der Heuscheuer vorgelagerten Spiegelberge, bietet Bad Kudowa alkalische Säuerlinge von recht mannigfacher Heilwirkung an. Näher auf Glatz zu liegt einer der schönsten Wintersportorte, der zugleich wieder Bad ist: die Stadt Reinerz.

Bad Reinerz, Schlesien.
[263]      Bad Reinerz (Schlesien).
Diesen malerisch ins Tal der Weistritz eingebettete Ort ließ sich der Alte Fritz besonders angelegen sein. Kaiser und Könige lustwandelten in den Kurpromenaden, und Chopin gab hier einst sein erstes Konzert. Der Name der Stadt legt ein Mißverständnis nahe: er weist nicht auf Bergbau hin (der zwar dort früher einmal auf Eisenerz betrieben wurde), sondern ist die im täglichen Sprachgebrauch echt schlesische Umbildung von "Reinhards", des Namens des Landverteilers zur Kolonisationszeit, zu Reinerz. (Ähnlich Hermsdorf aus [326] Hermannsdorf u. a.) Der jüngste unter den Kurorten ist Bad Altheide, das unmittelbar am Rande des Senkungsfeldes liegt. Ein erfrischendes kohlensaures Wasser sprudelt hier hervor und Stahlquellen von kräftiger Heilwirkung.

So werden die Spalten, an denen einst das Gebiet des Kessels in die Tiefe sank und die umliegenden Berge um Hunderte von Metern gehoben wurden, die Spalten, die mithalfen, diese vielseitige Landschaft aufzubauen und zu formen, auch die Zufuhrwege für die wertvollen Heilwasser, zu denen Berlin täglich einen besonderen "Bäderzug" nach Schlesien abfertigt.

Aber ohne die weiten und einsamen Wälder, die jene Orte einhüllen und einrahmen, wären die Bäder nur interessante geologische Erscheinungen aber keine Kurorte, in denen der kranke Mensch Heilung und Erholung finden konnte. Und auch der Grafschafter, der das Land im Laufe der Zeit so dicht besiedelt hat, müßte verhungern, wenn die Hänge der Berge, deren flache Verwitterungskrume keinen Acker und deren Steilheit auch kein Weideland tragen kann, nicht mit Wald bestanden wären.

Über ein Drittel der gesamten Fläche der Grafschaft ist von Wald überzogen. Innerhalb der Senke der Neiße sind es zwar nur 15 Prozent, aber im Osten 42, und im Westen, wo unfruchtbare Sandsteine den Feldbau zurückdrängen, sind es sogar 51 Prozent. Im Südosten ist der Wald der stolze Besitz einiger weniger Großgrundbesitzer; sonst ist er meist in den Händen des Staates und einiger Gemeinden. Über 1000 Meter Höhenlage zeigt der Wald die Merkmale des Kampfes: lichter Stand, einseitige Beästung. Über 1200 Meter weicht er der Matte, den Geröllhalden und dem nackten Fels. Hier ist im Winter das Tummelgebiet der Skiläufer, die besonders den Glatzer Schneeberg - hier liegt der Firnschnee bis weit in den Frühling hinein -, die Hohe Mense und die Hohe Eule aufsuchen. Aber auch in tieferen Lagen - Reinerz, Mittelwalde und in dem etwas abseits gelegenen tiefen Klessengrund - sind die Sportverhältnisse sehr günstig, da die ganze Grafschaft auch im Winter ausgesprochen niederschlagsreich ist. Unweit von Wilhelmstal, einem kleinen Städtchen mit einem vergrünten Ring, - es war früher einmal Bergwerkstadt, heute ist es wieder Bauerndorf - liegt zwischen dem Bielengebirge und dem Glatzer Schneeberg das völlig einsame Gebiet der Saalwiesen. Hier gibt es noch Urwald. Ein dichtes Gewirr von Eichen und Bergahorn, Fichten und Buchen läßt nur ein spärliches Licht auf den Waldboden fallen, der stellenweise vom Germer, einer eigenartigen Charakterpflanze der Grafschaft, völlig bedeckt ist. Unter seinem bis ein Meter hohen eigentümlich gefalteten Blätterwerk vermodern die Stämme der Laubbäume, die - begünstigt durch den Feuchtigkeitsgehalt der Luft - von weißen und rehbraunen Konsolenschwämmen langsam vom Leben zum Sterben gebracht werden. Durch dieses Gebiet führt die politische Grenze, und kein Gasthaus und auch keine pflegende Hand des Forstmannes hat sich hier auf 1000 Meter Höhe hinaufgewagt.

Im Mittelalter war die Grafschaft durch ihren Tierreichtum berühmt. Das Wildschwein wurde erst im letzten Jahrhundert ausgerottet. Rot-, Birk- und Auerwild sind in den großen Revieren - am Schneeberg umfaßt die geschlossene [327] Waldfläche nahezu drei Quadratmeilen - auch heute noch keine Seltenheit. Vor einigen Jahren hat der Großgrundbesitz hier wie in anderen schlesischen Gebirgen Muffelwild ausgesetzt, das sich gut vermehrt hat, trotzdem diese Wildschafart in ihrer Heimat, auf den sonnenübergühten Felsen von Korsika und Sardinien ganz andere Daseinsbedingungen hat.

Die Dörfer, die entlang den Bächen in das Gebirge vordringen, sind meist nur recht klein. In höheren Lagen lösen sie sich in zerstreute Häuser und einzelstehende Bauden auf. Diese aufgelockerten Siedlungen gehen stellenweise sehr hoch hinauf, besonders im Gebiete der Heuscheuer und des Adlergebirges, wo der Großgrundbesitz nicht so stark vertreten ist. Wald- und Heimarbeit beschäftigt eine Menge der Hände; erst in letzter Zeit ist der Fremdenverkehr hinzugekommen, so daß stellenweise ein gewisser Wohlstand eingetreten ist. - Der große Waldreichtum des Kreises Habelschwerdt findet auch in der Bauweise der Häuser einen beredten Ausdruck, der das Landschaftsbild mit beeinflußt. Trotz des Vorkommens von guten Bausteinen herrscht das Holz einseitig vor. Die Zahl der Steinbauten sinkt hier auf 36 vom Hundert; in dem mehr industriell gerichteten Kreis Neurode unter der Eule sind es dagegen 70 Prozent! Noch deutlicher sagen es die Zahlen für die Holzdächer: hier 81 und dort 16 vom Hundert!

So findet ein großer Teil der Bevölkerung auch in der Verarbeitung des Holzes Arbeit und Brot. Die Wasserkraft wird von zahlreichen Sägewerken, Holzschleifen und Papierfabriken ausgenutzt. Reinerz hat die älteste Papierfabrik Deutschlands. In den vom Hinterland völlig abgeschlossenen Hochtälern - die Grafschaft grenzt mit 171 Kilometern an die Tschechoslowakei und nur mit ganzen 41 an Schlesien - haben sich Wirtschaftsformen erhalten, die sonst nirgends anzutreffen sind. Der Ackerbau lohnt hier nicht, denn oft zerstört ein später Nachtfrost die Getreideblüte oder ein früher Schnee deckt den Hafer ein. Hunderte von Familien sind in mühevoller Heimarbeit mit der Herstellung von Holzspanschachteln beschäftigt. Seit Generationen vererbt sich die Schachtelmacherei vom Vater auf den Sohn. Vier Mann werden für den Hobel gebraucht, wenn die "Schleißen", die Bodenspäne für die größten Schachteln, geschnitten werden! Die Jüngeren schlagen mit Stanzeisen und Schlegel die Böden und Deckel für die Schachteln aus, und die Kleinsten müssen sie leimen und zusammenstecken. Aber nur ein paar Mark bringt das Tausend, und glücklich ist die Familie, die durch eisernen Fleiß es zum eigenen Motor gebracht hat, um die Schleißenhobel anzutreiben. Über 90 Prozent des deutschen Verbrauches an Holzspanschachteln stammt aus der Grafschaft Glatz. Bei der Wirtschaftsferne des Gebietes ist es ein Glück, daß ein Teil der Erzeugnisse gleich an Ort und Stelle verbraucht werden: Die Stadt Habelschwerdt ist der Sitz einer starken Zündholzindustrie, in der die Beschäftigung sich in den letzten Jahren erheblich verbessert hat. Eins dieser Werke stellt monatlich beinahe 300 Kisten Zündhölzer her; das sind ungefähr drei Millionen Streichholzschachteln, die wiederum zum größten Teil in Schlesien selbst verbraucht werden.

Aber auch der Baustoff der Berge selbst geht in verschiedenen Formen in viele Teile Deutschlands, ja sogar der ganzen Welt. Kurz nach dem Dreißig- [328] jährigen Kriege entstand im Erlitztale die erste Glasfabrik Deutschlands mit italienischen Arbeitern. Der im Gebirge anstehende Quarz war die Grundlage dafür. Später kamen viel böhmische Glasbläser ins Land. Heute ist dieser Arbeitszweig in bezug auf seinen Rohstoff längst entwurzelt und nicht mehr bodenständig: der Quarz wird aus der Lausitz bezogen. Aber auf der Grundlage einer geschulten Arbeiterschaft arbeiten noch heute eine Reihe von Glashütten in Altheide, Lewin, Rückers und Seitenberg, deren Kristallwaren bis nach Australien und Amerika verschickt werden. - Der Sandsteinbruch in Lomnitz lieferte schon vor 300 Jahren Mühlsteine, die bis hinab nach Ungarn gingen. Und an der Heuscheuer wird ein wertvoller Baustein gewonnen. Das Reichstagsgebäude, die Staatsbibliothek, das Kaiser-Friedrich-Museum und der Berliner Dom sind von hier mit Riesenblöcken beliefert worden. Nach jahrelanger Stille ertönen nun auch wieder in dem Wünschelburger Bruch Hacke, Hammer und Steinsäge: für den großen Bau des Reichsbankdirektoriums sind hier Bausteine bestellt worden.

Über die Hälfte der gesamten Bodenfläche der Grafschaft trägt Ackerland. Alle Feldfrüchte werden angebaut, unter anderen auch sehr viel Klee und ebenso Zuckerrüben, für die in Eckersdorf eine der ersten Fabriken des Kontinents zu Beginn des vorigen Jahrhunderts errichtet wurde. In höheren Lagen wird neben Roggen, Hafer und Kartoffeln noch der Flachsbau betrieben. Bis in höchste Lage ist die blaue Blume ein Schmuck vieler Berglehnen. Bei Grunwald steigt der Roggen sogar in eine Höhe von fast 800 Metern. Der Hafer im Eulendörfel sogar bis auf 900! Oft kann er aber erst nach den ersten Schneefällen eingebracht werden und muß dann noch am Ofen trocknen.

Das eigentliche Gebiet der Landwirtschaft ist die Mitte mit vorzüglichem Ackerboden. Fast in jedem Torfe paaren sich Rittergüter mit großen Bauernhöfen. Einige kommen nahe an 2000 Einwohner heran! Der dichteste Siedlungsstreifen hat sich am Neißelauf entwickelt. Die Namen Schönau, Schöntal und Schönfeld sprechen eine lebendige Sprache. Hier überschreitet die Dichte der Bevölkerung erheblich den Durchschnitt des ganzen Landes. Von dem in geschützter Lage erbauten Habelschwerdt führt nach Glatz auf einer Strecke von 15 Kilometern eine ununterbrochene Reihe von Dörfern, von denen Grafenort durch den bedeutendsten Schloßbau Schlesiens aus dem 16. Jahrhundert bekannt ist. Karl von Holtei genoß hier Gastfreundschaft, und seine ersten schlesischen Gedichte sind hier entstanden. Rengersdorf, das nächste große Dorf mit Baumwollweberei, reicht schon in das Weichbild der Stadt und Festung Glatz hinein.

Sie liegt dort, wo ein Felsenkopf von altem Tonschiefer die Neiße um fast 100 Meter überragt und wo die wichtigsten Gewässer des ganzen Gebietes zusammenströmen und von der Neiße gemeinsam durch das Warthaer Tor ins Tiefland hinausgeführt werden. Zuweilen schwellen diese Wasser gefährlich an, aber die dichte Besiedelung des ganzen Gebietes macht den Bau von größeren Talsperren völlig unmöglich. Tiefe Flüsse haben den Straßen die Richtung gewiesen, und auch die Schienenstränge haben ihnen folgen müssen: Glatz ist der natürliche Verkehrsknotenpunkt des ganzen Gebietes.

[329-336=Fotos] [337] Die Stadt liegt auf heißumstrittener, blutgetränkter Erde. Als Schutz für die alte Handelsstraße von Böhmen nach Polen bestand eine alte Landesburg, das "Kastellum Kladsko" - das heißt Niederlassung - schon um 970 als eine der Besitzungen des böhmischen Herzogs Slavnik. Das war zu der Zeit, als in Glatz die erste christliche Kirche gebaut wurde. 1275 wurde die im Schutze der Burg entstandene Siedlung eine deutsche Stadt, nachdem sich schon früher die Minoriten auf der Neißeinsel, dem "Sande", niedergelassen hatten. Zahlreiche Prüfungen verhängte die Geschichte mit ihren vielen Kriegsläufen über die Stadt. Elfmal ist sie im ganzen vom Feinde eingeschlossen gewesen. Im unglücklichen Kriege 1806/07 gelang es der Standhaftigkeit des Grafen Götz und seiner tapferen Glatzer die Stadt so lange zu halten, bis der Friede von Tilsit geschlossen und somit die Übergabe vermieden war. Erst 1877 fiel die gegen die neuzeitlichen Waffen wertlos gewordene Umwallung, so daß die Stadt sich nun freier entwickeln konnte.

Vom Bahnhof her führt ein steiler Zugang zum Ringe über die Brücke, auf der der heilige Nepomuk die Wache hält. Die Enge der Straßen und ihre Steilheit kennzeichnen sofort die Bauart der Festungsstadt. Von der zum Oberring laufenden Böhmischen Straße führt ein schmales, mit schlimmen Katzenköpfen gepflastertes Gäßchen hinauf zum Wahrzeichen der Stadt, der Zitadelle, dem "Donjon", der den früheren Schloßberg einnimmt. Mit Ausnahme von Silberberg zeigt kein Bauwerk in ganz Preußen die Festungsbaukunst der friederizianischen Zeit so gut wie dieser schlafende Riese auf dem alten Bergmassiv. Vor uns steht eine Statue des heiligen Johannes von Nepomuk. Unter uns liegt die Stadt: Ziegeldach an Ziegeldach, Stufe über Stufe. Wie ein italienisches Städtchen. Daraus hervor ragt die Basilika der alten Pfarrkirche mit ihren ungleichen Barocktürmen; sieben schlesische Herzöge ruhen hier in kühlen Grüften. Von zwei Türmen flankiert ragt die Minoritenkirche auf. Jenseits der Neiße: der Schäferberg, den Friedrich der Große erst in die Befestigungen mit einbezog, nachdem er schon oft Stütze der Angreifer gewesen war. Und vom Rande der Neißesenke leuchtet vom "Spitzigen Berge" unweit Wölfelsgrund das Wallfahrtskirchlein St. Maria ad nivem, Spitzberg Maria Schnee herüber.

Die beiden anderen bekanntesten Wallfahrtsorte der fast ausschließlich von Katholiken besiedelten Grafschaft liegen weiter ab. Albendorf, in der Nähe von Wünschelburg unter der Heuscheuer, schaut mit seiner Rokokokirche, dem mächtigsten Bauwerk der Gegenreformation in Schlesien, weit in die Ferne. Ritter Daniel von Osterberg ließ sie erbauen; sein Schloß, erwachsen aus einem Wachtturm der böhmischen Herzöge des 11. Jahrhunderts, liegt auf einem hohen Porphyrfelsen zwischen Mittelsteine und Wünschelburg und ist eines der schönsten unter den vielen der Grafschaft. Osterberg erkannte, daß die Lage von Albendorf in einem seltsamen Spiel der Natur dem biblischen Jerusalem bis in kleinste Einzelheiten ähnlich ist. Da schuf er hier in diesem Winkel Schlesiens die zweite Heilige Stadt: 89 Kapellen ließ er erbauen, und Hügel, Bäche und Teiche erhielten biblische Namen. So begründete er den Ruf dieser Mutter Gottes, die vor dem Kriege alljährlich über 80 000 Pilger ins Land rief; viele davon aus [338] dem benachbarten Böhmen. Das Leben in diesem Wallfahrtsort steht in schroffem Gegensatz zu dem Getriebe auf der anderen Seite des Steinetales, wo die Ausläufer der Waldenburger Kohle im Neuroder Revier große Kraftwerke und Fabriken entstehen ließen, zu denen die Arbeiter alltäglich in langen, stummen Kolonnen ziehn. - Der dritte berühmte Wallfahrtsort der Grafschaft liegt an ihrem Eingangstor: Wartha. Unten in der Stadt die große Kirche. Auf der rechten Seite des Durchbruchtales der Neiße thront eine Kapelle hoch auf steilem mit Mischwald bestandenem Bergkegel. Auf der anderen Seite die vielen Kapellen auf einem Kiesrücken, über den einstmals die Neiße ihre Wasser zur Oder sandte.

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