Deutschland östlich
der Elbe - Max
Wocke
Schlesien
(Sudeten, Oberschlesien, Breslau, Nordschlesien)
"Läge Schlesien an einem Meere, so daß es
auch Gelegenheit darböte,
sich anschauende Begriffe von diesem Teile der
Natur zu machen,
so könnte der Deutsche diese eine Provinz als eine leicht
zu übersehende
und doch sehr vollständige Enzyklopädie
dessen betrachten,
was auf dem Erdboden das Sehenswerteste ist."
Johann Friedrich Zöllner (1793).
Dort, wo das alte langgestreckte Gebirge der Steinkohlenzeit, das Deutschland
von Frankreich her in SW.-NO.-Richtung durchzieht, an der Elbe einen
plötzlichen Knick macht und die "böhmische Festung", einen
alten Klotz der Erdgeschichte, umschlingt, - dort beginnt die
"Schlesische Tieflandsbucht". Aber diese Bezeichnung gilt in des
Wortes strenger Bedeutung nur für einen Teil des ganzen Gebietes, denn
Schlesien ist nicht nur Ebene! Seine Erhebungen sind nicht nur
Schuttwälle, die durch äußere Kräfte der
Erde - Wasser und Eis - entstanden und geformt sind. Hier haben die
Mächte des Erdinnern mit ihrem geheimnisvollen Wirken ein Gebirge
geschaffen, das alle anderen deutschen Mittelgebirge an Höhe
überragt. Weite Gebiete reichen über die Baumgrenze hinaus,
Kuppen und Kämme tragen Grate und steile Schroffen, Schneeflecke
überdauern in sonnensicheren Felsnischen fast den ganzen Sommer. Nicht
alles Land östlich der Elbe ist Tiefland. Schlesien ist auch
Bergland!
Die NW.-SO.-Richtung ist den schlesischen Großlandschaften Gesetz ihrer
Anordnung: in "sudetischer" Richtung zieht sich am Fuße des Gebirges ein
Hügelland hin, das nicht durch Berg und Tal wie das Gebirge sondern
durch Berg und Ebene gekennzeichnet ist - eine "Inselberglandschaft"! In
NW.-SO.-Richtung schließt sich nach der Ostgrenze zu das flache
Außenland an; in derselben Richtung wird es von der Oder
durchströmt, die mit ihren beiderseitigen Nebenflüssen die drei
Großlandschaften zusammenklammert. Das ist die "Schlesische
Tieflandsbucht"!
Wer nach natürlichen Grenzen dieses Gebietes sucht, der muß weit
über die heutigen Pfähle Schlesiens hinauswandern: bis hin zu den
einsamen Kämmen der Ostsudeten, zu den wilden Beskiden, von dort nach
Osten bis zum Steilrand des Polnischen Jura, weiter zu der von großen
Waldungen bedeckten [297] Wasserscheide
zwischen Oder und der oberen Warthe. Und das ist keine Gedankenflucht der
Geographen! Nein: jene von der Natur aufgerichteten Grenzen umschließen
kein Stückchen Land, das nicht mindestens zeitweise einmal zum
mittelalterlichen Schlesien gehört hat! Von diesem
"Groß-Schlesien" aber ist das Gebiet, das im Jahre 1742 dem
preußischen Staatsverband eingegliedert wurde, nur ein Teil!
Dieses Schlesien liegt auf der Grenze zwischen Ost- und Westeuropa. Es liegt auf
der Grenze zwischen Nord- und Südeuropa. Und diese Lage ist dem Land
zum Schicksal geworden, so stark und ausgeprägt wie selten einem
anderen! Jahrhundertelang hat es keinen Frieden haben dürfen,
jahrhundertelang war es dazu verurteilt, an allen Kämpfen seiner Nachbarn
teilnehmen und deren Wirren auch über sich ergehen lassen zu
müssen. Von Ost, von West, von Süd ist es in Verwicklungen
gezogen worden. Immer wieder hat es die Folgen seiner Lage auskosten
müssen.
Schlesien ist - wie ganz Ostdeutschland - immer deutsch gewesen! Die
vorgermanischen Siedler der Bronzezeit, die in dem Lande stellenweise recht
dicht gesiedelt haben, gehören mit Sicherheit zum illyrischen Volkstum,
sind also unter gar keinen Umständen Slawen gewesen! Das kann nicht oft
genug betont werden in einer Zeit, da auf Grund von unrichtigen Behauptungen
immer wieder Versuche gemacht werden, unrechtmäßig
Ansprüche auf deutsches Land zu erheben.
Etwa um 550 vor Christi Geburt tauchen in dem Lande zwischen Oder und
Weichsel die frühgermanischen Bastarnen und Skiren auf; zusammen mit
ihnen auch Kelten. Sie wandern später nach Südrußland ab.
Danach erscheinen die Vandaler, deren einer Stamm, die "Silinger", dem
Lande den Namen gegeben hat, den es heute noch trägt. Sie nannten den
mitten aus der Ebene südlich Breslau herausragenden Berg
"Slens"; das Land um diesen Berg aber "Slensane" oder "Silesi". Erst
nach dem freiwilligen Abzuge dieser
Ackerbauer - das Wort "Vandalismus" ist ein durch nichts gerechtfertigter
alle Tatsachen auf den Kopf stellender sprachlicher
Mißbrauch! - rücken slawische Stämme langsam in das
menschenarme Gebiet ein; vorher war für sie kein Platz!
Die ersten Berichte über die staatlichen Verhältnisse unseres
Gebietes wissen zu melden, daß das Land einen Teil des
großmährischen Reiches bildete, von wo aus auch die ersten Boten
des Christenglaubens ins Land kamen. Nicht lange vor dem Jahre 1000 wird es
unter Boleslaus dem Tapferen zur Westmark des polnischen Reiches. Durch
Eingreifen Kaiser Barbarossas bekommt es eigene Herzöge, die Piasten.
Das ist um das Jahr 1160. Einer von ihnen, Boleslaus der Lange, holt die ersten
deutschen Kolonisten ins Land, erobert das ganze Gebiet von der Warthe bis zur
[260]
Der Zobten (Schlesien).
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Tatra und nennt sich Herzog von Schlesien, Polen und Krakau. Über
175 000 Siedler aus Thüringen und Franken nahm das Land damals
auf! 1500 Dörfer wurden eingerichtet, 63 Städte gegründet!
Das Land wurde wieder deutsch! An Stelle des slawischen Holzpfluges durchzog
der eiserne deutsche Pflug nun den fruchtbaren Lößboden der Ebene
um den Zobten, der deutsche Spaten entwässerte große Sumpfgebiete
[298] und verwandelte sie zu
Wiese, Hacke und Axt drangen in die Wälder ein. Zwanzig Dörfer
tragen in Schlesien nach seinem Gründer, d. h. Landverteiler, den
Namen Kunzendorf, Hermsdorf gibt es fünfzehnmal, nicht viel seltener
kommen Petersdorf, Ludwigsdorf und Jakobsdorf vor! Arme Post, wenn der
Schreiber nicht genaue Angaben macht!
Aber über das aufblühende Land kommt bald eine schwere
Prüfung: Während der Kaiser in Italien weilt, stürmen
Mongolenhorden über die junge Ostmark! Gegen Bürger, Bergleute
(aus Goldberg) und Bauern, Ordensritter und slavische Edle siegen 1241 auf der
Wahlstatt bei Liegnitz die Asiaten, ziehen sich aber nach Verwüstung und
Ausplünderung des Landes zurück. Wieder strömen, von den
Fürsten herbeigerufen, deutsche Siedler in das verwüstete Gebiet,
und um 1300 sind Nieder- und Mittelschlesien fast ganz deutsche Landschaften!
Aber es kommt noch keine Ruhe über das Land. Durch Erbteilungen
zerfällt es und gerät unter böhmische Herrschaft. Nach den
Heimsuchungen durch Pest und Raubritter kommen die Hussittenkriege mit
grausamen Kämpfen, die über ein Jahrzehnt andauern. Erbitterung und
[281]
Bolkenhain (Schlesien). Die Bolkoburg.
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Feindschaft führen zur Trennung von der böhmischen Krone, aber
leider nur, um den Herren zu wechseln. Selbständig ist Schlesien immer
noch nicht. Diesmal ist das Land des Südens an der Reihe! Der Ungar
Martinus Corvinus wurde König und Herrscher von Schlesien, bis es 1526
den Habsburgern zufiel. Kaum hatte es sich erholt, da kam der große
Religionskrieg über das Land. Die Ruinen von Burgen, Mauern, Kirchen
und Städten erinnern an die Leiden und Schrecken dieser Kämpfe.
Erst nach abermals hundert Jahren erfüllte sich das Schicksal des Landes:
die bisher aufgetretenen Verbindungen wurden abgelöst durch ein neues
System: Schlesien wurde dem werdenden "Oderstaate" Brandenburg
eingefügt. - Friedrich
war damals bereit, auf Oberschlesien zu
verzichten, erhielt es aber durch das Machtwort Englands. Durch dieselbe
politische Macht wurden uns 1918 große Teile der deutsch gewordenen
Provinz im Namen der "Gerechtigkeit" wieder genommen!
So hat das Grenzland im deutschen Südosten keine fortlaufend ruhige
Entwicklung gehabt. Als Opfer seiner Lage - eingekeilt zwischen fremden
Völkern - ist es immer wieder hin und hergestoßen worden:
von Westen nach Osten, von Osten nach Süden, politisch, national,
religiös und wirtschaftlich. Dieses Schicksal ist ihm bis auf den heutigen
Tag beschieden geblieben. Nur einmal in der Mongolenschlacht bei Liegnitz hat
es eine größere, sozusagen europäische Rolle spielen
können.
Schlesien ist deutsches Land, aber es ist immer noch und immer wieder bedroht,
heute mehr denn je: mit dem Reichsgebiet hat die Provinz eine gemeinsame
Grenze von nur 200 Kilometern, mit 1200 Kilometer
stößt sie an fremde Nachbarn. Vor dem Kriege hing es auf
600 Kilometer mit dem Reiche zusammen, mit 500 grenzte es an das
verbündete Österreich. Und nur 270 Kilometer waren
wirkliche Auslandsgrenze!
Diese politische Grenze von heute ist zugleich Zollgrenze, wirtschaftliche Mauer,
die allein in Oberschlesien von mehreren hundert Zollbeamten auf [299] jeder Seite bewacht
wird! So ist der jahrelange deutsch-polnische Handels- und Zollkrieg auf dem
Rücken von Schlesien ausgefochten worden, das immer auf eine Ausfuhr
nach Osteuropa angewiesen und eingerichtet gewesen ist. So war es kein Wunder,
daß der Prozentsatz der Arbeitslosen in diesem Gebiet über dem
Reichsdurchschnitt lag. Erst die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen des neuen
Reiches und die großzügigen Handelsabkommen mit Polen haben
hier Wandel geschaffen und die Gefahren vermindert.
Wie eine langgestreckte Halbinsel ragt Schlesien nach Südosten als ein
Eckpfeiler des Reiches bis fast an den Fuß der Karpathen und vor die weite
Ebene der südrussischen Steppe. In der Tat: Schlesien ist der kontinentalste
Teil des Reiches. Es liegt weiter vom Meere als alle anderen Teile des Reiches.
Beinahe 600 Kilometer lang ist der Weg vom oberschlesischen
Kohlenhafen Kosel bis nach Stettin! Und Triest liegt näher an
Oberschlesien als unser größter deutscher Seehafen Hamburg! Und
dennoch: es gehört zu Mitteleuropa.
Sein Klima zeigt in vielen Einzelheiten deutliche Übergänge von
dem Seeklima der deutschen Küsten mit ihren milden feuchten Wintern
und den kühlen Sommern zu dem Landklima Osteuropas, das heiße
Sommer und kalte trockne Winter bringt. Wie das Land in seiner Geschichte
Tummelplatz verschiedener Mächte wurde, so ist es auch in bezug auf die
Witterungseinflüsse, die bald von den großen Landmassen des
asiatischen Kontinents, bald von den Meeren
West- und Nordeuropas ihren Ursprung nehmen. Im allgemeinen ist diese
Übergangslage nicht ungünstig: das Land hat noch Anteil an
feuchten regenbringenden Winden ohne sommerliche Kühle. Es
genießt die Segnungen warmer Sommer, ohne die Dürre der Steppe
ertragen zu müssen. Aber wenn zuweilen im Sommer die Sonne Tag
für Tag über wolkenlosem Himmel aufgeht, und ein heißer
trockner Wind über die Felder weht, wenn im Winter wochenlang ein
grünblauer Himmel frostklar über der schneebedeckten Ebene sich
wölbt, - dann wird offenbar, daß Schlesien doch schon vor den
Toren des osteuropäischen Flachlandes liegt! Nur 200 Tage ist die Oder im
Jahre schiffbar, der Rhein 320 Tage! Das heißt: die Oder ist schon eine Art
Steppenfluß! Dürre und Frost nehmen ihr Leben und Bewegung. Die
in der Sonne leuchtenden Sandbänke und die mit weißen
"Halskrausen" geschmückten Eisschollen, die "Brieger
Gänse" - so nennt sie der Volksmund - sind die sichtbaren
Zeichen dafür. Aber - seltsames Zusammentreffen der
Gegensätze - wenn auch das Wasser der Oder versiegt und erstarrt,
auf den Höhen von Grünberg reifen die Trauben in zahlreichen
Weingärten. Geschützte Lage und ein warmer Boden gleichen
klimatische Ungunst so weit aus, daß hier im Norden Schlesiens noch ein
Rest der früher im ganzen Lande weit verbreiteten Kultur der Rebe
geblieben ist.
Schlesien ist ein kleines Deutschland - Deutschland im Kleinen! Hochgebirge,
Mittelgebirge, Ebene. Diese Dreiheit bestimmt auch das Wesen des schlesischen
Landes. Ein großer schiffbarer Strom durchzieht die Fluren der weiten
Ebene. Weite Wälder bedecken Gebirge und Sandflächen der Heide,
schwerer Boden trägt wertvolle Ackerfrucht, die auf Besitzungen von ganz
[300] verschiedener
Größe geerntet wird. In der Tiefe der Erde ruhen Erze und Kohlen,
über denen sich Großstädte erheben, die vor einem halben
Jahrhundert noch Dörfer waren. Schornsteine und andere moderne
Zweckbauten ragen in den Himmel, Burgen grüßen von steilen
Felskuppen, reißende Gebirgswasser werden aufgestaut und
gebändigt, große Hängebrücken überqueren den
Fluß, gotische Dome überragen das Dächermeer von steilen
Giebeln alter Städte, Klöster tauchen plötzlich aus der Ebene
auf: Barock in der Kultursteppe!
Zahlen sprechen dieselbe Sprache, nur noch genauer: Ungefähr 135
Menschen wohnen in der schlesischen Tieflandsbucht auf einen
Geviertkilometer - genau wie im Reiche. Ungefähr ein Viertel der
Bewohner findet sein Brot in Land- und
Forstwirtschaft - ein Fünftel ist es im Reiche. In Handwerk und
Industrie sind 30 Prozent aller Arbeiter
tätig - im Reich sind es etwas mehr. Fast die Hälfte des
deutschen Bodens trägt Ackerland - in Schlesien sind es etwas mehr
als 50 Prozent! Annähernd ein Viertel des Landes ist von
Wäldern überzogen - im Reiche genau so.
Schlesien liegt zwar östlich der Elbe, es ist aber nicht "Ostelbien" in des
Wortes strengem Sinne. Schlesien war immer ein Land des Kampfes und des
Ausgleiches, der Schauplatz vieler Wanderungen und Kämpfe, der
Schnittpunkt verschiedener Rassenelemente, der Auseinandersetzung
verschiedenen Volkstums - es ist auch landschaftlich und wirtschaftlich
keine ruhige, geschlossene Einheit. Sein Gesicht trägt viele
Züge, die Züge des ganzen Deutschland! Diese
Eigentümlichkeit pflanzt sich sogar bis in die einzelnen Teile des Landes
fort. Ganz besonders ausgeprägt zeigt diese Eigenart das schlesische
Gebirge.
Die Sudeten
Der Name "Sudeten" für das Bergland Schlesiens stammt aus den
Büchern der Fachwissenschaftler. Kein Bauer, kein Arbeiter wird von den
"Sudeten" sprechen, wenn er in fernem Lande von seiner schönen
Gebirgsheimat erzählt. Denn die Sudeten sind keine Einheit. Sie sind eine
Vielheit von Gebirgs-"persönlichkeiten", voneinander getrennt durch weite
und enge Täler, durch Flüsse, durch tiefe Scharten der Erdkruste.
Für jeden dieser Teile gibt es einen Namen, der in aller Munde ist, aber
für das ganze Gebirge weiß nur der Geologe einen! Denn nur er
weiß, daß die vielen Landschaften, diese so verschiedenen
"Häuser der Sudetenstadt" (Cloos), zusammengeschlossen werden zu
einem Ganzen durch einen steilen Gebirgsrand, der plötzlich aus dem
hügligen Vorlande aufsteigt: an einer
NW.-SO. gerichteten Spalte ist das ganze Gebirge mit allen seinen Teilen zur
Tertiärzeit gegenüber dem Vorlande gehoben worden.
Die Vielheit der Bauten dieses Berglandes hat es mit sich gebracht, daß der
Mensch viel leichter und früher in das Gebirge eingedrungen ist als in
andere und es zu großen Teilen gerodet hat. So sind die Sudeten das einzige
Gebirge in Deutschland, das in seiner Längsrichtung von einer großen
Eisenbahnlinie, der Strecke
Berlin - Görlitz - Breslau durchfahren wird. Der
Reisende, der diese wunderbare Strecke wählt, erlebt die ganze
Mannigfaltigkeit der Sudeten; er durchfährt ein "Museum" deutscher
Landschaften!
[301] Das Riesengebirge ist
ein Gebiet zahlreicher Gegensätze und Rätsel auf engem Raum.
Schon seine Lage ist eigenartig: wie eine gewaltige Mauer steigt es aus der
tiefsten Stelle des ganzen Gebirges, dem Hirschberger Kessel, aus ungefähr
350 Metern auf über 1600 Meter als wuchtiges Granitgebirge
unvermittelt empor. Ein seltsames Spiel der
Erdgeschichte! - Der Wanderer, der durch die wasserreichen Täler
aufsteigt, fühlt sich zunächst an Thüringen, an den Harz, den
Schwarzwald erinnert. Hohe Fichten und Tannen, reißende Bäche mit
Wasserfällen. Bald ändert sich aber das Bild. Der Wald wird
schütterer: er trägt alle Zeichen des Kampfes um seinen Bestand. Im
Bereiche seiner Wurzeln gleitet die lehmige, wasserundurchlässige
Verwitterungskrume des Granites dauernd abwärts und läßt die
Stämme unten krummstelzig werden. In der Höhe fegen
Stürme über die Wipfel, brechen sie wie Streichhölzer ab,
zerfransen die Äste zu Wetterfahnen des Jahres. Das ist die Kampfzone, in
der sich nur die Latsche, die Legföhre, die Zwergkiefer hält, mit
wenigen Eschen und Weiden, dicht an den Boden geschmiegt. In
1300 Meter Höhe ist der Wald verschwunden. Nur vereinzelte
Wetterfichten stehen den Kampf durch.
Ganz anders sieht das Bild des "Kammes" aus! Dieser Kamm ist
eigentlich kein Kamm. Der Wanderer, der nicht weiß, daß er auf einer
Meereshöhe von 1400 Metern steht, vermutet, im Tieflande zu sein.
Denn vor ihm breitet sich eine flache Inselberglandschaft aus, die sonst nur in der
Ebene vorkommt. Vor der Hebung des Gebirges hingen diese Flächen auch
mit denen des Vorlandes tatsächlich zusammen.
[261]
Das Riesengebirge. Der Kamm.
|
Zu einer anderen
Formenwelt gehören Ziegenrücken und Krokonosch und auch die
Schneekoppe. Sie besteht ebenso wie jene ersten Kämme aus einem
gehärteten Schiefer, während der flache Kamm aus Granit gebaut ist.
Dieser hat bei seinem Empordringen aus dem Erdinnern erst den Schiefer, seinen
"Mantel", durch Hitze so gehärtet, wie Lehm im Ofen zu hartem Ziegelstein
werden kann. Steil und schroff fallen die Berge aus Schiefer ab, sanft und ruhig
liegen die Granitflächen da. Weite helle Grasflächen mit einer
z. T. recht ärmlichen Flora dehnen sich auf ihm aus. In ihnen dunkle
Hochmoore, uhrglasförmig gewölbt, von den reichen
Niederschlägen ernährt. Der Granit, ein tonhaltiges Gestein,
läßt das Wasser nicht versickern, und die Ebene läßt es
nicht abfließen. So bilden sich die Moore. Vereinzelt leuchten kleine Teiche
in ihnen auf. Große Bestände der Legföhre schwimmen wie
grüne Inseln in einem vergilbten Grasmeer.
Zur Eiszeit konnte sich auf dieser weiten Ebenheit der Firnschnee in großen
Mengen sammeln und zu Eis verwandeln. Über die steilen Hänge der
Quelltrichter der Bäche stürzten die Eismassen abwärts, rissen
Felsstücke mit sich hinab und schufen die nischenartigen "Kare" der Teiche
und Schneegruben, die gar nichts mit Vulkankratern zu tun haben. Sieben sind es
auf der klimatisch für Gletscherentwicklung günstigen Nordseite,
drei auf der Südseite im Böhmischen. Große
Schuttwälle, Sturzmoränen, sammelten sich am Fuße des
Gletschers und schufen so die Sperrmauern für die Teiche. Einige von
ihnen sind schon verschwunden. Hier wie überall in der Natur sind die
Kräfte von heute die Feinde der Formen von gestern. Das gilt auch
für jene seltsamen Block- [302] meere, die die Gipfel
der Sturmhauben, des Hohen Rades und anderer Berge einnehmen. Auch sie
stammen aus der Eiszeit: Infolge der Kälte ging der Pflanzenwuchs damals
zurück, der Mangel an Wurzeln führte zu Abspülung der
Verwitterungsschicht, und so konnte sich der Spaltenfrost ungehindert an den
Bergkuppen austoben und Meere von Schutt schaffen, die nicht so schnell
fortgebracht werden konnten, wie sie geschaffen wurden. Heute ist die Vegetation
bereits wieder im Anmarsch.
Auch die Welt der Pflanzen spricht hier oben eine besondere Sprache: eine
Unmenge von ihnen sind eiszeitliche "Relikte", die damals aus ihrer Heimat vor
dem anrückenden Eise her geflohen sind und hier oben die
Lebensbedingungen ihrer nordischen oder alpinen Heimat erfüllt fanden.
Rentierflechte und isländisch Moos, Krähenbeere und nordische
Brombeere, Teufelsbart, Berghähnlein und viele andere heute mit Recht
geschützte Pflanzen stammen aus dieser Zeit. Sie sind alle Fremdlinge in
diesem Gebiet, wie die Felsformen früher oder später dem Untergang
geweiht.
So ist die ganze Landschaft des Riesengebirges völlig anders als die unserer
andern deutschen Mittelgebirge: nicht idyllisch, nicht kleinräumig, sondern
herb und groß. Ein Stück norwegischer Fjeldlandschaft in Schlesien!
Wenn wir uns die Täler mit Wasser gefüllt
denken - erinnern sie nicht an die norwegischen Fjorde, die auch so steil
abfallen und auch bis unmittelbar unter die höchsten Erhebungen reichen?
Hier ist nicht Eichendorff
zu Hause! Diese Kammlandschaft hat [Caspar David]
Friedrich nicht gemalt! Hier ist Nordeuropa!
Die ausgeprägte Eigenart des Gebirges greift sogar auf die Lufthülle
über. Die nur im Spindlerpaß leicht eingekerbte Mauer des Gebirges
ist häufig eine Wetterscheide. Sie trennt dann Gebiete von ganz
verschiedenem Wettergesicht. Oft kommt es dabei zur Ausbildung des
Föhns. Ein Tief im Norden saugt die Luft des Hochs aus Böhmen an.
Die Geschlossenheit der Mauer ermöglicht keinen unmittelbaren Ausgleich.
Die Luft muß das Gebirge hinaufklettern und fällt dann auf der
andern Seite zum Hirschberger Kessel abwärts. In dicken
Wolkenmänteln liegt dann das Gebirge da wie mit einer wolligen Decke
überzogen. Im Tale aber herrscht bei heftigen Winden, ja Stürmen
schönster Sonnenschein: der warme Fallwind, der Föhn, frißt
nicht nur die Schneedecke am Boden sondern auch die Wolken am Himmel, so
daß der Hirschberger Kessel auf diese Weise von allen Teilen der Sudeten
den meisten Sonnenschein hat. Das sind Tage von eigenartiger Schönheit.
Als weithin sichtbares Zeichen der Föhnlage hängt dann immer
über dem Tale eine langgestreckte Wolke, wie ein Fisch oder ein Zeppelin
geformt. Der Volksmund hat ihr den Namen "Motzagotls Wetterwolke"
gegeben, vermutlich nach einem alten Schreiberhauer Wetterpropheten, Gottlieb
Matz, mundartlich: "Motzagotl". Für die Segelfliegerei sind diese Wolken
von großer Bedeutung, da in ihrem Bereich stets starke Aufwinde
erscheinen.
Viel bekannter als sie ist eine andere Gestalt des Volksglaubens im Riesengebirge:
Rübezahl, der Berggeist. Sein Name ist rätselhaft, und
niemand kann ihn deuten. Jeder aber weiß, daß er kein anderer ist als
der Herr der Berge, [303] der Geist des
Riesengebirges. Die Gestalt, in der er den Menschen erscheint, ist sehr
vielfältig: bald Tier, bald Mensch, bald Geist. Ursprünglich war es
ein Kobold, der wohl mit den deutschen Bergleuten aus dem Harz einwanderte
und ihnen bei der Arbeit - in Kutte und Kapuze
gehüllt - erschien. Moritz von Schwind hat ihn dargestellt mit
langem spitzen Bart, eine Keule in der Hand, Holzschuhe an den
Füßen, mitten im wilden von knorrigen Ästen und
Bäumen strotzenden Wald. Heute haben sich Wetterdämonensagen
mit der alten Gestalt verflochten, und vieles spricht für eine enge
Verwandtschaft des Berggeistes mit dem alten germanischen Windgott, der als
Geist des Sturmes über die Wipfel der Bäume rast. In zahlreichen
Sagen und Geschichten lebt Rübezahl heute noch im Volke als
Bergmönch, Bergriese und Jäger, als Führer und Helfer der
Wanderer und der armen Wurzelsucher - ein Sinnbild enger Verbundenheit
des Menschen mit der großen Natur ihrer Berge.
Die Koppe steht, des Trotzes letztes Ahnen,
Hoch überm Ringen armer Taltitanen.
Es schauen diesem Kampf aus Tiefen zu
Der Teiche unergründlich schwarze Augen.
Sie sind bestellt, das Stürmen und die Ruh'
in ihren rätselhaften Grund zu saugen.
Und wer recht lauscht hört manchmal tief erschrocken
Das Zauberklingen von versunknen Glocken. Hermann
Stehr.
[260]
Das Riesengebirge. Die Schneekoppe.
|
Von der Schneekoppe aus greift der Blick weit in das Land nach allen
Seiten. Fast das ganze schlesische Gebirge ist an klaren Herbsttagen von hier aus
zu übersehen. Im Süden schieben sich die Schieferkämme und
Rücken des böhmischen Teiles kulissenartig hintereinander, von
einigen Basaltkuppen in der Ferne überragt. Dieses an andere Mittelgebirge
erinnernde Bild hat sich der Romantiker Kaspar David Friedrich mehrfach zum
Vorwand genommen. Auch die schroffen Falkenberge bei Jannowitz
gehörten zu seiner Welt. Hinter ihnen und neben ihnen zeichnen sich die in
ihren Formen so unruhigen Vulkane des Waldenburger Landes in der Ferne ab:
Sattelwald, Hochwald und Storchberg, Heidelberg und viele andre. Etwas weiter
südlich ragen, jenseits der berühmten Leinenstadt Landeshut am
Bober, das Raben- und Rehhorngebirge empor, hinter denen die
Tafelbergfläche der Heuscheuer wie ein Stück Meeresspiegel ruhig
liegt. Der flache Buckel des Glatzer Schneeberges erscheint nur noch im
Umriß.
Der Nordhang des Gebirges, der fast gar nicht gerodet ist, führt den Blick
hinunter in den Kessel, in dem zahlreiche Straßen mit Dörfern dicht
besetzt nach einem zentralen Punkte weisen: Hirschberg, die Stadt des
Fremdenverkehrs und der Pensionäre. Hinter diesem natürlichen
Mittelpunkt des Tales steigt das Gelände hoch zur "schlesischen
Wasserkuppe", den Bergen bei Grunau, wo sich die große Halle der
Reichssegelflugschule gegen den Himmel [304] deutlich abzeichnet.
Beinahe 25 000 Starts sind hier im Jahre 1936 von flugfreudiger deutscher
Jugend ausgeführt worden. Dahinter grüßt das Bergland
zwischen Bober und Katzbach, das lieblichste aller schlesischen Gebirge; lieblich
durch seine alten Städtchen mit Burgen und Toren und Mauern, lieblich
durch die vielen langgezogenen Dörfer in den Tälern mit den
großen thüringischen Gehöften, lieblich durch die
blumenreichen, bunten Bauerngärten mit Obstbäumen und
großen kerzenbesetzten Kastanienkuppeln, lieblich durch den anmutigen,
immer neuen Wechsel von rotbraunem Ackerland, leuchtendgrünen Wiesen
und waldbestandenen Kuppen und Kämmen. Die steile Pyramide des
Basaltes vom Probsthainer Spitzberg flankiert dieses Gebirge der reichen
Bauerndörfer auf der einen Seite, der Kitzelberg bei Kauffung an der
Katzbach an der anderen Seite. Leuchtend
gelb-weiß leuchten von dort die riesigen Abbruchwände der steilen
Marmorklippen herüber. In den bis 200 Meter tiefen Höhlen
dieses Berges liegen die Beweise für das Auftreten des ersten Menschen in
Schlesien: Feuersteingeräte und Unterkieferknochen des
Höhlenbären. Vor 40 bis 50 000 Jahren haben hier
Jäger gelebt.
Mit Ausnahme der wenigen Bauden auf deutscher Seite und der stillen
Bauernhäuser auf der böhmischen - auch hier gibt es
allerdings einige Bauden - ist das Riesengebirge ein ausgesprochenes
Naturgebiet. Im Sommer zieht es unzählige Wanderer in die
Berge, an denen in halber Höhe große Orte entstanden und
gewachsen sind: Krummhübel und Brückenberg im Osten,
Schreiberhau in größerer Höhenlage im Westen. Dazwischen
eine Fülle von kleineren Streusiedlungen und Dörfern, deren
Wachstum in erster Linie durch den Fremdenverkehr hervorgerufen ist. Noch
mehr als im Sommer zieht das Gebirge uns im Winter in seinen Bann, denn so
gute Schneelage, so weite Flächen und steile Abfahrten hat kein anderes
deutsches Mittelgebirge!
Das Tal dagegen ist schon viel früher vom Menschen in Besitz genommen
worden. Eine Anzahl von Ortsnamen deuten mit ihren Endungssilben wohl auf
slawische Bewohner hin. Die eigentliche Besiedlung der Landschaft setzte aber
erst mit der planmäßigen Kolonisation um das Jahr 1200 ein. Damals
zogen in erster Linie Ackerbauer und Bergleute in das Waldland und begannen
mit der Rodung. Die Knappen, Hauer und Steiger freilich kamen nicht sehr auf
ihre Kosten, denn der Granit ist ein armes Gestein, und nur in seiner Mantelzone,
im Schiefer, hat er uns Erze gebracht, sie anreichern und umwandeln helfen.
Kupferberg, die kleinste preußische Stadt, und Schmiedeberg, das Friedrich
der Große zur Königlich Preußischen Immediatstadt erhob,
deuten mit ihren Namen an, daß die Natur hier dem Menschen
Schätze aus dem Schoße der Erde beschert hat. Zur Inflationszeit
ruhte der Abbau von Erzen vollständig, aber seit 1934 wird wieder in der
Grube "Bergfreiheit" gefördert. Wir brauchen heute jedes Kilogramm Erz,
das im eigenen Lande vorkommt; die hohe Esse zwischen den Halden von taubem
Gestein raucht nun wieder, das Förderrad dreht sich, und Hunderte von
Deutschen aus den umliegenden Dörfern sind wieder in Arbeit und
Brot.
[305-312=Fotos] [313] Die
zentrale Lage inmitten des Kessels und ein gewisser natürlicher Schutz
durch Bober und Zacken ließen die Stadt Hirschberg im Mittelalter zu
ansehnlicher Größe wachsen, trotzdem sie nicht wie viele andre an
einer alten Handelsstraße lag. In den Hussitenkriegen wurde dem Gebiet
und der Stadt übel mitgespielt. Eine Besserung trat erst wieder ein, als der
Schuhmachergeselle Joachim Girnth auf seiner Reise nach Holland die
Schleiermacherei erlernt hatte und dieses Handwerk mit einem Modell
des Webstuhles in seine Heimatstadt im Jahre 1570 brachte. Im 17. und
18. Jahrhundert stand die Schleiermacherei in Hirschberg in vollster
Blüte. Zu Beginn des Siebenjährigen Krieges arbeiteten hier nicht
weniger als 507 Webstühle. Um 1780 reiste ein Hirschberger Kaufmann
Flade nach Frankreich, England, Holland; 1785 verkaufte Hirschberg
nicht weniger als 2300 Zentner Schleier! Damals sprach jeder von der "Goldstadt"
Hirschberg. Wer heute diese Stadt erwähnen hört, denkt nicht mehr
an Schleier und Leinenhandel. Aber die Denkmäler dieser Zeit sind noch
heute erhalten: sie stehen auf dem Markte. Die prächtigen
Rokoko- und Barockfassaden der Bürgerhäuser mit ihren Lauben
erinnern an diese Zeiten des Wohlstandes. Ebenso die reiche Ausstattung der auf
Karls des XII. Fürsprache den Protestanten bewilligten "Gnadenkirche".
Fedor Sommer erzählt in seinem Roman Unter Mauern und
Türmen von dieser Blütezeit der Stadt.
Unmittelbar am Fuße des Gebirges aber ist es nicht der historische Zufall
gewesen, der eingegriffen hat, um Verdienstmöglichkeiten zu geben. Hier
haben die Schätze und Kräfte des Bodens aus der Naturlandschaft
eine Kulturlandschaft gemacht. Die Glasindustrie des Gebirges ist uralt: in dem
Schiefer fanden die Glasmacher den Quarz, im Walde in großer Fülle
den Brennstoff. Nicht weniger als siebenmal ist die berühmte
Josefinenhütte verlegt worden; immer dem Holze nach mußte sie
wandern. Heute beziehen die Hütten von Schreiberhau, Petersdorf und
Hermsdorf - sie sind zu einem großen Werk
zusammengeschlossen - den Quarz aus der Ferne, sind also nicht mehr
rohstoffständig. Und auch die Wasserkraft wird nicht mehr in der
ursprünglichen Form genutzt sondern erst nach der Umwandlung in
elektrischen Strom. Unersetzlich aber ist für diese Werke der Stamm von
gelernten Arbeitern. Mit vier Schmelzöfen, 800 Schleifstellen und 1200 Arbeitern ist die Vereinigte Josefinenhütte heute das größte
Werk ihrer Art im Reich. Die Erzeugnisse gehen in alle Welt.
Weit jünger ist die blühende Holzindustrie des Tales. Der reiche
Waldbestand hat sie ins Leben gerufen. Überall sind Sägewerke und
Holzschleifen, die am Rande der Gebirgsmauer die reißenden Bäche
als Quellen für die Betriebskraft ausnutzen. Im letzten Jahrhundert sind
auch Zellstoff- und Papiererzeugung in das Tal eingezogen. Mehr als 2000
Arbeiter verdienen ihr Brot allein in diesen Betrieben. Auf ihnen bauen sich
Pappwaren- und Tütenfabriken auf und schließlich Maschinenwerke
von Weltruf: das ehemalige Füllnerwerk in Bad Warmbrunn, das
früher nur Reparaturwerkstätte war, dann aber zur Erzeugung von
Papiermaschinen überging, um die bodenständigen Werke [314] zu versorgen. Ganze
Güterzüge mit Maschinen und vollständige
Fabrikausrüstungen werden heute in alle Welt versandt und helfen dem
deutschen Außenhandel. Das Füllnerwerk ist ein richtiger
"Devisenschaffer".
In diesem alten Thermalbade, bekannt im ganzen Hirschberger Tal durch die alte
Sitte des Tallsackmarktes am Palmsonntag, berühmt im ganzen Reich
durch seine Heilquellen, liegt nicht weit von der Werkstätte hochwertiger
technischer Leistungen der Maschinenindustrie eine andere Arbeitsstätte,
die auch aus dem Waldgebirge ihren Ursprung herleitet: die Warmbrunner
Holzschnitzschule. Die lange Dauer der Schneedecke im Gebirge läßt
im Winter oft viele Hände frei für häuslichen Fleiß. Auf
Grund einer Stiftung wurde die Anstalt im Jahre 1902 gegründet. Ihr Leiter
stammt aus dem klassischen Gebiete der Holzschnitzkunst, dem Grödener
Tale in Tirol. In aller Stille wird hier eine Arbeit geleistet, die nicht nur dem
Riesengebirge und Schlesien - besonders bekannt sind die holzgeschnitzten
Wegweiser - sondern dem Kunsthandwerk von ganz Deutschland zugute
kommt.
Wieder nur ein Stück von jenem "Devisenschaffer" entfernt ist erst
kürzlich ein sehr wichtiges Werk entstanden: Die "Schlesische
Zellwolle AG. in Hirschberg", die aus wässerigen
Zellstofflösungen den wichtigen Rohstoff für die heimische
Textilwirtschaft herstellt: die deutsche Zellwolle.
In diesem Werk, das die schon 200 Jahre alte Erfindung des Physikers Reaumur
fabrikmäßig auswertet, reicht die Holzverarbeitung der Spinnerei die
Hand. Auch sie ist ein altes Gewerbe des Hirschberger Tales. Die
ursprünglich weit verbreitete Hausindustrie ist zwar
verschwunden - sie erlag der ausländischen
Konkurrenz - und an ihre Stelle ist der Großbetrieb getreten.
Schmiedeberg ist auch eine alte Leinenstadt, früher berühmt durch
ihren Dammast, heute durch Teppiche. Als um die Mitte des vorigen Jahrhunderts
die Not der Weber aufs höchste gestiegen war, schuf der Staat auf eigene
Kosten die große Weberei und Spinnerei in Zillertal zwischen
Krummhübel und Hirschberg, das damals größte industrielle
Unternehmen des Riesengebirges. Auch hier wieder ein seltsamer Gegensatz: die
Fabrik mit ihrem ragenden Schornstein, daneben ein klassizistisches Schloß
im Stile der Schinkel und Schadow,
und nur einige Minuten davon entfernt
unvermittelt Tiroler Bauernhäuser! Wie kommen sie hierher? Evangelische
Tiroler sind es, die lieber auswandern wollten als ihren Glauben aufgeben. Um
1837 wanderten sie hier ein. Der preußische König wies ihnen
unmittelbar unter der höchsten Erhebung des Gebirges das Land an, auf
dem sie sich ihre oberdeutschen Häuser - Stall und Wohnraum unter
einem Dach - erbauen konnte. Sitten und Mundart haben sich bis
auf den heutigen Tag gut erhalten, und im Schatten des Schlosses im
preußischen Stil werden hier "Strauben", "Krapfen" und
"Apfelkücheln" genau so lecker bereitet wie in Innsbruck!
Im Gegensatz zu den auf engem Raume zusammengedrängten Industrien
des Waldenburger Gebietes und Oberschlesiens sind die Werke im Hirschberger
Tal alle weiter auseinandergezogen. Alle fußen sie auf einer
Quelle, durch die sie bodenständig sind: es ist die Wasserkraft der
Flüsse. - Wenn im [315] Frühjahr der
Föhn große Schneemassen auf einmal frißt oder im Sommer
große Gewitter jeden Tag niedergehn und das Wasser geradezu
flächenhaft auf dem lehmigen Verwitterungsboden zu Tale strömt,
dann droht für die Siedlungen im Tale die Überschwemmungsgefahr.
Das starke Gefälle, die großen Wassermassen und die engen
Täler in der Tiefe führen dazu, daß gefährliche
Höchststände eintreten, oft mit unheimlicher Geschwindigkeit. Das
Hochwasserschutzgesetz vom Jahre 1900 schuf die Grundlagen für die
großen landschaftlich sehr reizvollen Talsperren des Bobers und des
Queiß'. Mit 50 Millionen Fassungsvermögen ist der Stausee
von Mauer der größte unter ihnen. Sie alle haben in erster Linie die
Aufgabe des Schutzes gegen Hochwasser und erst in zweiter Linie die der
Stromerzeugung. Aber die Fäden der Überlandleitungen dieser
Kraftwerke weisen weit über das Gebirge hinaus und verbinden es mit
Görlitz im Westen und dem Waldenburger Bergland im Südosten.
Die schweren elektrischen Lokomotiven und die Triebwagen von
120 Kilometer Geschwindigkeit auf der Bahnstrecke
Breslau - Hirschberg sind ein Sinnbild für diese
gebändigte Kraft, die Entfernungen überwindet. Schlesien steht in
der Ausnutzung der Wasserkräfte in Preußen an erster Stelle. Den
größten Anteil davon stellt das Riesengebirge.
Das Waldenburger Bergland. Industriegebiete haben sehr oft das gleiche
Gesicht: Der Stil der Arbeit und ihrer Bauten, die Züge des Verkehrs und
seine Notwendigkeiten schaffen fast überall dieselben Formen. Die Natur
wird immer mehr zurückgedrängt, das Werk des Menschen steht
einseitig im Vordergrund.
Anders im Niederschlesischen Steinkohlengebiet: Unvermittelt stehen im
Waldenburger Bergland eine helle anmutige Waldlandschaft und eine
düstere Industrielandschaft nebeneinander.
In tiefen Forsten schwelen noch Kohlenmeiler, aber in Tälern nicht weit
davon werden "schwarze Diamanten" aus der Tiefe geholt und in riesigen
Kammeröfen zu Koks verarbeitet. Es gibt in deutschen Landen kaum ein
Gebirge, mit dem man dieses Gebiet vergleichen könnte.
In einer Entfernung von nur 10 bis 15 Kilometern von der tschechischen Grenze
ragen zwischen hohen, steilen Vulkankegeln und Kämmen, die unruhig in
den Himmel steigen, langgestreckte Siedlungen und dunkle
Industriegebäude auf. In engen, schmalen Tälern erheben sich
Fördertürme, hohe Essen schicken dunkle Rauchwimpel der Arbeit
in den Himmel, graue Halden von taubem Gestein treten in der Steilheit ihrer
Form in seltsamen Wettbewerb zu den Bergkegeln. Das Surren der Maschinen,
das Pfeifen der Sirenen, der Lärm der Kohlenzüge, die verschoben
werden - all das wird von den Hängen der Berge in langanhaltendem
Echo fortgetragen. Zwischen diese beiden Welten des Waldes und der Fabriken ist
ein enger Streifen von trockenen Grasfeldern und ärmlichen Äckern,
dunklen Steinbrüchen und hellen Kiesgruben eingeschaltet. Hier windet
sich in unzähligen Bogen die Eisenbahn an Schornsteinen und
Kühltürmen vorbei, durch Tunnel und über Viadukte zwischen
Fabriken und Koke- [316] reien hindurch, als ob
sie den Reisenden von immer neuen Blickpunkten die Eigenart dieses Landes vor
Augen führen wollte. Es ist die Strecke
Berlin - Hirschberg - Breslau, deren Lokomotiven hier im
Lande des Rauches und Dampfes mit elektrischer Kraft getrieben werden. In der
Nacht wird das ganze Bild zu magischer Gewalt gesteigert: Die
Melaphyr- und Porphyr-Berge umrahmen ein weites Lichtmeer. Von oben sieht
man Tausende von Lampen der Zechen, Bahnhöfe und Werke, von unten
leuchten die unruhig flackernden großen Flammen auf, die das Wahrzeichen
aller Kokereien sind, die ihr Gas nicht zu Geld machen können und es
daher als Feuerwerk in die Luft schicken. Gespenstisch steigt plötzlich eine
große Dampfwolke zum Himmel empor, grell von dem glühenden
Koks beleuchtet; im Hintergrund immer wieder die dunklen Hänge der
Berge.
Aber nicht nur die Landschaft dieses Gebietes ist einzigartig in ihrem
Nebeneinander von Natur und Menschenwerk, sondern auch die Wirtschaft selbst
ist von ganz eigenem Gepräge, das in einer Reihe von Tatsachen
begründet ist, die alle miteinander zusammenhängen. Im Gegensatz
zum Ruhrgebiet und Oberschlesien ist die Waldenburger Kohle in Sümpfen
des Binnenlandes gebildet, und nicht in großen sich immer wieder
erneuernden Küstenniederungen. Die Flöze sind daher hier nur
dünn; sie erreichen eine Mächtigkeit von nur 1,50 Meter,
während sie in Oberschlesien 6 Meter und mehr stark sind. Der
Waldenburger Bergmann muß daher das schwarze Gestein im Liegen an Ort
hauen. Dazu sind die Schichten - wir sind mitten in einem
Gebirge - steil aufgerichtet und nicht horizontal gelagert. Oft hören
die Flöze plötzlich auf, sie sind "verworfen", wie der Bergmann sagt,
und ihre Fortsetzung muß im "Liegenden" oder "Hangenden" gesucht
werden. Sogenannte "Sperber" - das sind Durchbrüche von
vulkanischem Gestein - durchsetzen die schwarzen Lagen, und es gibt
daher viel Abraum und mehr taubes Gestein als irgendwo anders. Das
Nebengestein ist weich. Viel Holz wird verbraucht, um die Stollen und
Schächte zu stützen. Oft stürzen die Wände ein, weil
der Ton leicht quillt, und "zu Bruch geht". Die Kohle selbst ist häufig
zerdrückt, kleinstückig oder gar staubig. Kein schiffbarer Fluß
führt in der Nähe vorbei, der das Massengut Kohle billig an den Ort
des Verbrauchs bringen könnte. Eng begrenzt ist daher ihr Absatz. Nur in
kleinem Umkreise wird sie als Hausbrand verwandt. Vor dem Kriege ging
allerdings ein Fünftel der Förderung in das damals benachbarte
Österreich.
Auch die Straßen und Bahnen sind dem Gesetz der Landschaft unterworfen:
in engen Tälern führen sie entlang, müssen viele Windungen
mitmachen, um nicht Gefälle zu verlieren, müssen in Tunneln ihren
Weg durch Berge nehmen, von denen einer nach vierjähriger gewaltiger
Arbeit abgetragen wurde: jetzt fährt die Bahn hier durch den
größten Eisenbahneinschnitt Europas! Beschränkt ist auch der
Siedlungsraum: die steilen Hänge engen den Raum von oben her ein, die
Schächte von der Tiefe. Nur schmal ist die Zone, die dazwischen liegt. Im
Waldenburger Industriegebiet sind 41 Prozent aller Wohnungen
Einraum-Wohnungen - in Bochum, im dichtbesiedelten [317] Ruhrgebiet, sind es nur
2 bis 8 Prozent! Aber immer noch mehr der Nachteile und Belastungen
für dieses Gebiet: Es mangelt ihm auch an ergiebigen Quellen, um die sich
ständig verdichtende Bevölkerung und die Industrie mit Wasser zu
versorgen. Zwar hat das Gebiet infolge seiner
Höhenlage - der Hochwald ragt bis zu 850 Meter
empor - und vor allen auch durch den Reichtum der Luft an Kohlenstaub
stets mehr Regen und Schnee als die benachbarten
Gebiete - Waldenburg ist ein Ausgangspunkt zu herrlichen
Skifahrten! - Aber die Schichten sind alle durchlässig und von den
Mächten des Erdinnern zerbrochen und zerstoßen; sie können
das Wasser kaum auffangen, halten, sammeln. In den Jahren 1886 und 1893 hatte
die Stadt unter einem unerträglichen Wassermangel zu leiden. So
mußte man sich nach diesem kostbaren Stoff in der Ferne umsehen, und
heute nennt Waldenburg eine Fernwasserleitung sein eigen, wie sie nicht noch
einmal in ganz Deutschland zu finden ist. Seit dem Jahre 1900 bezieht die Stadt
ihr Wasser - täglich 20 000
Kubikmeter - aus einer Entfernung von 20 bis 25 Kilometern aus
den wasserreichen Kiesen und Sandschichten der Boberwiesen bei Vogelsdorf
und Merzdorf. Hier ragt mitten aus grünen Flächen plötzlich
ein 60 Meter hoher Schornstein in den Himmel empor und gibt von diesen
merkwürdigen Verhältnissen anschauliche Kunde. Mehrfach
mußte das Werk schon vergrößert werden, um der wachsenden
Industriebevölkerung und ihrem steigenden Bedarf an diesem
lebenswichtigen Stoffe gerecht zu werden. Kostspielig und schwierig genug war
dieses Unternehmen: große Höhenunterschiede mußten
überwunden werden, in Tunneln wurden die Berge durchbrochen,
große Wasserbehälter wurden gebaut, und die Rohrleitungen
mußten dem Gebirgsdruck angepaßt werden. Wenn auch die noch
immer wachsenden Industrien ganze Ströme von Wasser verbrauchen, so
konnte sich die Stadt doch jetzt ein Freibad bauen, das einige
1000 Kubikmeter Leitungswasser bekommt.
Aber noch immer nicht sind wir am Ende der "Waldenburger Not": Nicht nur
ungeheure Schwierigkeiten hat der Bergmann beim Abbau zu überwinden,
ihm droht hier in einer besonders tückischen Form der Tod, gegen den er
sich kaum schützen kann. Unerwartet wird der Arbeiter von
Kohlensäureausbrüchen überfallen, denen er in den niedrigen
Stollen ahnungslos und schutzlos preisgegeben ist. Dieses Gas ist ein
hinterhältiges Geschenk derselben Mächte, die dem Lande die
herrlichen Berge geschenkt haben, nämlich des Vulkanismus. Infolge der
hier besonders lebhaften Gebirgsbildung sind die harten Gesteine
äußerst kluftreich. Und ebenso, wie das Regenwasser auf
Nimmerwiedersehen durch sie und die hohlraumreichen Sandsteine nach unten
versickert, genau so leicht dringt auf denselben Wegen von unten her jenes Gas
empor, das sich - ein seltsam rätselhaftes
Verhalten - in der Kohle so festsetzt wie Wasser in einem Schwamm.
Plötzlich und völlig unerwartet, durch nichts angekündigt,
zischt das Gas dann wie aus einer Selterflasche heraus und bringt dem Bergmann
den sicheren Tod. Kein Mittel hat die Technik bisher gefunden, das gegen diese
tückischen Gase sicher schützt, und es bleibt dem Menschen
häufig nichts anderes übrig, als die Grube, den Schacht oder Stollen
[318] zu verlassen und sich
zu ergeben: wieder einmal ist der Mensch schwächer als die Natur. Aber
nur schwer findet der Bergmann sich darein. So groß die Gefahren auch
sind, er liebt seine Arbeit und sein Brot und steigt immer wieder in die Berge
hinab. So wurde vor einigen Jahren auf der Wenzeslausgrube bei Mölke
von den Arbeitern eine Betriebsgemeinschaft gegründet und die Arbeit
wieder aufgenommen, nachdem sie von der Werksleitung wegen schwerer
Unglücksfälle stillgelegt worden
war. - Es ist ein seltsames Spiel der Schöpfung, daß dieselben
Gase, die hier dem Menschen Siechtum und Tod bringen, in unmittelbarer
Nähe in den heilkräftigen Quellen ihnen Erholung, Gesundheit und
Rettung von schweren Krankheiten schenken.
Wie kann sich dieses Gebiet überhaupt noch angesichts der vielen
Schwierigkeiten halten? Müßte es nicht längst als
Kohlengebiet seine Rolle ausgespielt haben?
Der Waldenburger Bergbau ist der älteste auf Steinkohlen im deutschen
Osten. Schon um 1360 wird er erwähnt. Friedrich der Große
unterstützte ihn sehr lebhaft, und im Jahre 1779 wurde in Niederschlesien
weit mehr Steinkohle gefördert als im flözreichen Oberschlesien.
Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts überflügelte es
endgültig den Waldenburger Bergbau. Wenn er sich heute noch hält,
so hat das verschiedene Gründe. Zwar ist die Kohle schwer zu gewinnen
und auch als Hausbrand ist sie nicht sehr beliebt, aber sie hat als Fettkohle einen
großen Vorzug, der dem ganzen Gebiet das Leben und den Fortbestand
sichern hilft: sie eignet sich besser als viele andere deutsche Kohlen zur
Verkokung, und 80 Prozent der Waldenburger Förderung wird zu
Koks "veredelt". So finden wir in der Einfuhrstatistik von Oberschlesien einen
großen Posten, der aus dem Waldenburger Gebiet stammt, als ob man
"Bäume in den Wald tragen" wollte! Aber der oberschlesische Koks eignet
sich nur in geringem Maße zur Verwendung in den Hüttenwerken,
weil er zu weich ist, da er schlecht "sintert". Auf diese Weise kann sich der
Kohlenbergbau hier immer noch halten, wenn auch die Zahl der Gruben und
Schächte gegenüber der Vorkriegszeit gesunken ist. Der große
Egmontschacht, einer der größten im ganzen Gebiet, mußte vor
einiger Zeit stillgelegt werden. Damit ist das letzte Wahrzeichen des Bergbaues
aus der Stadt Gottesberg, der höchsten preußischen Stadtgemeinde,
die einst 1800 Bergleuten Arbeit und Lohn gab, verschwunden.
Wenn die Waldenburger Kohle auch nicht weit versandt werden kann, so ist doch
manche Industrie zu ihr hingewandert und hat damit weitere Grundlagen
für den Fortbestand dieses Arbeitsgebietes geschaffen. Porzellanmaler aus
der Meißener Gegend brachten die Porzellanindustrie hierher. Das
Riesenwerk "Silesia" ist das zweitgrößte seiner Art in Deutschland.
Mit drei Fabriken arbeitet es in Altwasser, Waldenburg und Niedersalzbrunn. Nur
heimische Rohstoffe werden hier verarbeitet, die Brennöfen werden mit
Zechengas geheizt, und - was am allerwichtigsten
ist - zahlreiche Frauen und Mädchen finden in diesem stark auf
Handarbeit angewiesenen Industriezweige Beschäftigung und vermehren so
die Zahl der Verdiener. Denn "tausend Handgriffe gehören zu einem
Porzellanteller!"
[262]
Waldenburg-Altwasser (Schlesien).
|
Auch die große Spiegelglas- und
Guß- [319] glasfabrik in
Waldenburg-Altwasser arbeitet mit heimischen Rohstoffen und
Zechengas. - Außer diesen Werken ist auch die Weberei hier
bodenständig. Wieder war es Friedrich der Große, der hier eingriff,
Flachsanbau und Leinenweberei förderte, da das Land mit seinen klaren
Wassern und Bergwiesen eine gute Grundlage dafür bot. Als im
19. Jahrhundert der Strom der Weber, deren kleine Betriebe einer nach dem
andern eingingen, sich zu Tal bewegte, entstand in Waldenburg die erste
mechanische Großspinnerei Europas. Der Waldenburger Handelsherr
Gustav Alberti war es, der hier die ersten künstlichen Flachsbleichen
anlegte, eine Dampfmangel erbaute, die ersten mechanischen Spindeln
konstruierte und schließlich die ganze Anlage durch eine Dampfmaschine
betreiben ließ, die kein anderer als der damals 21jährige August
Borsig montierte! Über 7000 Weber fanden in dem Werke wieder Arbeit
und Brot. So wurde Waldenburg, der einfache Handelsplatz für Leinen im
18. Jahrhundert, zu einem vorbildlichen
Industrieplatz. - In den letzten Jahren ist noch ein anderer Betriebszweig
ausgebaut worden: die Weiterverarbeitung der Kohle und ihrer Reststoffe zu
Benzol, Teer usw. In jüngster Zeit werden große Pläne
für die Fernversorgung einiger Städte mit Waldenburger Zechengas
gemacht, das in einer Menge von 100 Millionen Kubikmetern im
Jahre - das würde für eine Stadt von einer Million Einwohnern
reichen! - bei der Verkokung der Kohle erzeugt, aber vorläufig fast
nur als Feuerwerk in die Luft geschickt wird - ein schöner Anblick,
aber entgegen allen Grundsätzen und Zielen des Vierjahresplanes!
Mittelpunkt des ganzen Gebietes ist Waldenburg, das mit den
umliegenden Gemeinden heute ein zusammenhängendes Siedlungsgebiet
von 115 000 Einwohnern bildet. So ist der Waldenburger Kreis mit seinen
alten Waldhufendörfern zu einem ausgesprochenen Industriekreis
geworden, in dem sich nur 12 Prozent der Bewohner von der
Landwirtschaft ernähren. Den starken Güterverkehr muß
Dittersbach, der zweitgrößte Verschiebebahnhof Schlesiens, mit
einem 60 Kilometer langen Gleisnetz
bewältigen - wieder ein seltsamer Anblick: ein Gewirr von Gleisen
und Zügen, Weichen und Signalen, Drähten und Lichtern mitten im
Waldgebirge. 2400 Waggons werden täglich verschoben!
Die felsigen Berge und ihr dichtes Waldkleid hindern nicht nur das Land an seiner
Entfaltung, sondern tragen auch ein Teil zu seinem Leben bei. Die steilen
Hänge der Täler und die hohen Vulkankuppen und Kämme
schaffen windgeschützte Talwinkel, die die Sonnenstrahlen zu voller
Wirkung und Ausnutzung kommen lassen. So entstand im Süden von
Waldenburg der weltberühmte klimatische Kurort Görbersdorf, das
"schlesische Davos", das mit seinen Erfahrungen für zahlreiche
ähnliche Schöpfungen in andern Gebirgen, z. B. im
Schwarzwald, Muster geworden ist. Angelehnt an den massigen Buckel des
Hochwalds liegt Bad Salzbrunn, einer der größten und
schönsten Kurorte Schlesiens. Nicht weit davon
Alt-Reichenau, das Dorf mit dem ungenießbaren Kaffeewasser! Mit einer
Zahl von sechs Quellen steht es an der Spitze der schlesischen Kurorte und ist
doch kein Bad! Aber die alkalischen Säuerlinge, die ihren Ursprung eben
demselben Vulkanismus verdanken, der das ganze [320] Gebiet so vielgestaltig
beherrscht, werden weit verschickt und sind als Tafelwasser sehr geschätzt.
Viel besucht ist das über dem steilen Grunde des Hellebaches erbaute
Schloß Fürstenstein mit seinen herrlichen
Gartenanlagen. - Auch das Pflanzenkleid der Wälder trägt mit
zum Erwerbsleben der Bewohner bei: In Dittersbach arbeiten in der
größten Kräuterei Schlesiens über
50 Volksgenossen an der Veredlung von Kräutern zu
Heil- und Kurzwecken. In Pulvern, Tabletten und Essenzen werden die
Kräuter nach z. T. uralten Rezepten zusammengestellt, in riesigen
Ballen gehen Lindenblüte und Schafgarbe in andere Erdteile!
In einer Längenausdehnung von 40 Kilometern zieht sich das
Waldenburger Kohlenbecken von Rothenbach, das nicht weit von dem einsamen
vulkanischen Sattelwaldgebirge liegt, bis hin nach Neurode am Fuße der
Hohen Eule. Hier entspringt die Weistritz, deren Gewässer in der
engen Pforte des Schlesiertales in einer Talsperre unter der Burg Kynau
gebändigt werden und ihre Kraft abgeben müssen. Während
der steile Nordabfall des Gebirges nach der Ebene zu so gut wie unbesiedelt ist,
haben sich an der Südseite zahlreiche Reihendörfer an dem
klimatisch begünstigten Hange gebildet. Es sind auch z. T.
Industriedörfer. Die beiden Namen Wüstewaltersdorf und
Wüstegiersdorf erinnern daran, daß auch dieses von Bergen
eingeschlossene Gebiet einst von Kriegsnöten heimgesucht wurde: die
raubenden und plündernden Horden der Hussiten waren auch hier
eingefallen. Noch vor wenigen Jahrzehnten standen die Bewohner des
Eulengebirges ganz im Zeichen der Handweberei. Hier spielt auch Gerhart
[263]
Das Eulengebirge. Einzelhgehöfte.
|
Hauptmanns Schauspiel "Die Weber", das den Hungeraufstand vom Jahre 1844
zum Gegenstand hat. Heute gibt es nur noch recht wenige. Die "Handweberhilfe"
der Provinz Niederschlesien hat sich ihrer angenommen: durch Verarbeitung von
guten, gemeinsam bezogenen Rohstoffen in künstlerisch wertvollen
Mustern schaffen sie heute eine Wertarbeit, die in der Großstadt gute Preise
bringt und es ihnen ermöglicht, ihr Handwerk auch im Zeitalter der
Industrie noch weiter auszuüben, ohne verhungern zu
müssen. - Auch das Eulengebirge, das schon zur Grafschaft Glatz
hinüberführt, zeigt das eigentümliche Nebeneinander von
stillen Wäldern und lauten Fabriken, hohen Aussichtstürmen und
ragenden Essen, heilkräftigen Quellen und trüben
Kohlenschlammbecken. Hermann Stehr, unser schlesischer Dichter, der eine
Reihe von Jahren seines Lebens in Dittersbach zugebracht hat, schildert uns einen
Abend in dieser Landschaft:
"Die Häuserklötze im engen Tal
versinken in tiefem Dämmern,
und leise wird mit einemmal
des Lebens wirres Hämmern.
Nur da und dort ein trunknes Schrein
hintaumelt durch das Schummern.
Von allen Bergen rinnt herein
der Wälder großes Schlummern."
[321] Die Grafschaft
Glatz. Wie ein auserlesenes Kleinod hat die Natur die Grafschaft Glatz nach
fast allen Seiten gesichert und abgesperrt: von der schlesischen Ackerbauebene
her führt nur das schmale, steile Durchbruchstal der Neiße, das selbst
für die Eisenbahn keinen Platz mehr läßt, zu diesem
"Extrakabinett deutscher Gebirgsnatur". Der wasserreiche reißende
Gebirgsfluß durchschneidet bei dem Wallfahrtsorte Wartha die Mauer des
Sudetenrandes, der gerade auf der Strecke von der kleinen Bergwerksstadt
Reichenstein bis hin nach Silberberg besonders steil aufgerichtet aus der Ebene
aufsteigt. Durch diese beiden Orte führen steinige, in vielen Kehren
gewundene Paßstraßen in die Glatzer Senke hinunter. Bei Silberberg
ist dieser Weg sogar durch eine alte, berühmte Feste bewehrt. Auch von
den andern Seiten ist das Gebiet von einem Rahmen und Kranz hoher Gebirge
umgeben. Im Norden ragt der flachgebuckelte Gneisklotz der Hohen Eule, des
ältesten Bausteins des schlesischen Gebirges, auf. Vom Waldenburger
Bergland her muß die Eisenbahn durch Tunnel geführt werden, um in
die Grafschaft hinabzugelangen. Im Osten hält der Königshainer
Spitzberg mit 750 Meter Höhe über der Neiße seine
steile Wacht; er ist ein Gegenstück zu der Schneekoppe des Riesengebirges:
ebenso wie sie ein Hornfels, gehärtet durch aufgedrungene granitische
Schmelze, ebenso wie sie steil und felsig. Aber an seinen Hängen dringen
im Frühjahr Schneeglöckchen durch die Laubdecke, und große
Büsche des zartrosablütigen Seidelbastes verbreiten Wolken von
strengem Duft. Dahinter riegelt das Reichensteiner Gebirge das Land ab, das
einen Ausläufer des Altvatergebirges darstellt. Im Südosten
wölbt sich das dichtbewaldete Glatzer Schneegebirge auf, dessen Gipfel,
der Glatzer Schneeberg, mit 1425 Meter Meereshöhe die
höchste Erhebung des Gebietes darstellt, die sogar weit über die
Baumgrenze hinausragt. Zwischen diese beiden ist das einsame und noch wenig
erschlossene Bielengebirge eingeschaltet. Auf der anderen Seite des
ungefähr von Norden nach Süden verlaufenden Neißegrabens
haben die Kräfte des Erdinneren eine seltsame Treppe aufgebaut, die aus
drei langen, hintereinander liegenden Stufen besteht. Als erste steigt der
Lomnitzkamm (900 Meter) aus dem Neißetal empor. Die
nächste Stufe, der Habelschwerdter Kamm, erreicht bereits die Höhe
von fast 1000 Metern. Die dritte ist der böhmische Kamm des
Adlergebirges, das in der Deschneyer Koppe die Höhe von
1140 Meter überragt. In dem zwischen den beiden letzten Stufen
gelegenen malerischen Hochtal der Wilden Adler oder Erlitz führt die
politische Grenze entlang. Weiter nördlich erscheint das
eigentümlichste Wahrzeichen des Glatzer Landes, die
Heuscheuer, ein Tafelberg, wie er in so schöner Form nicht oft in
deutschen Landen anzutreffen ist. Er und einige umliegende Berge sind ein
kleines "Elbsandsteingebirge" in den Sudeten. Das durch Gebirgsbildung nach
zwei Hauptrichtungen zerklüftete Gestein bringt durch die Arbeit des
fließenden Wassers viele seltsame Felsformen hervor. Hier finden wir auch
den Schlüssel zur Lösung einer Frage, die uns im schlesischen
Gebirge immer wieder entgegentritt: woher weiß man, daß das
Gebirge zu der Zeit, da das Hochgebirge der Alpen aufgefaltet wurde,
tatsächlich gehoben wurde? Der [322] Sandstein der
Heuscheuer berichtet es: Wir finden in ihm zahlreiche Muschelabdrücke.
Sie sagen uns mit aller Deutlichkeit - so schwer es für uns auch
vorstellbar ist - dieses: Die Heuscheuer ist einmal Meeresboden gewesen.
Denn ihr Sandstein kann nur im Meere gebildet werden, und zwar in einer Tiefe
von mindestens 200 - 300 Metern. Wenn sie heute
900 Meter hoch ist, so sagt das uns nichts anderes, als daß die
Sudeten nach der Überflutung durch das Meer der Kreidezeit um
mindestens 1100 Meter gehoben worden sind! Und für den Glatzer
Schneeberg, dessen Gebiet unzweifelhaft auch einmal von diesem Kreidemeer
überflutet wurde, ergibt sich sogar eine Hebung von mindestens
1500 Metern! Riesenspielzeuge der erdgeschichtlichen Kräfte!
Auch der Lauf und die Richtung der Flüsse spiegeln eine Sonderstellung
der Glatzer Landschaft wieder: Nach drei verschiedenen Meeren entsendet die
Grafschaft ihre Wasser. Vielleicht kann man sagen, daß das geradezu ein
Glück ist, denn sie hat so reichliche Niederschläge, daß die
Gefahren, die von den Wildwassern drohen, noch viel größer sein
würden, wenn das ganze Gebiet nur nach der Neiße und der Oder
entwässern würde. Der Wanderer, der vom Glatzer Schneeberg nach
Süden in ein schnurgerade gerichtetes Tal blickt, sieht dort die Wasser der
March funkeln, die der Donau und damit dem Schwarzen Meere zueilen. Auf der
anderen Seite fließen alle Bäche der Biele zu, das heißt der
Neiße und damit der Oder, die in die Ostsee mündet. Auf der
Westseite gabelt sich im Adlergebirge das Netzwerk der Gewässer auch
wieder: von der Hohen Mense, an deren Hang in 960 Meter Höhe
das höchste preußische Kirchdorf Grunwald liegt, fließt die
Weistritz der Neiße zu, die Erlitz aber der Adler nach Böhmen und
damit der Elbe, die die Wasser zur Nordsee führt.
Und trotz des Auseinanderstrebens der Flüsse, trotz der vielen einzelnen
Gebirge, die in ganz verschiedenen Gestalten das Land umschließen, ist die
Grafschaft doch eine unverkennbare geschlossene Einheit. Diese Einheit wird
durch das Senkungsfeld des Neißegrabens geschaffen, der die
Sudeten damit in zwei Teile trennt. Wenn wir auf dem Glatzer Schneeberg stehen
und nach Westen blicken, so erinnert uns das Bild manchmal an die
Oberrheinische Tiefebene. Wir glauben, auf dem Feldberge des Schwarzwaldes zu
stehen, tief unter uns liegt die Rheinebene, und jenseits von ihr erheben sich die
Kämme der Vogesen! Der Neißegraben brach zu derselben Zeit in die
Tiefe, als die schlesischen Gebirge gehoben wurden. An zahlreichen
Nord-Süd gerichteten Spalten sanken die Schollen in die Tiefe. Das war zur
Tertiärzeit. Ein Stück einer solchen Bruchwand ist uns in seltsamer
Erbform erhalten: Die 28 Meter hohe Felswand, über die die
Wölfel ihre Wasser stürzen läßt, ist ein Stück
jener Bruchstufe, die sich seit dieser Zeit um ungefähr einen Kilometer
rückwärts eingefressen hat. Dieselben Gesteine, einst im Meere
gebildet, die in der Heuscheuer 900 Meter hoch aufragen, liegen im
Neißegraben viel tiefer, zum Teil verschüttet und verhüllt unter
Kiesen und Lehmen, die durch das nordische Inlandeis hier hereingebracht
wurden. - So verdankt auch dieses Stück schlesischer
Landschaft - ähnlich dem Hirschberger
Tal - seine besondere Eigenart und Schönheit einer tiefen Scharte in
der Erdkruste, die alle Wasser, die vom [323] Gebirge Abfluß
suchten, an sich zog und zusammenfaßte. Waldreiche Gebirge, tiefe
Täler und fruchtbare Ebene haben sich zu einer Landschaft von seltener
Geschlossenheit vereinigt:
"So recht wie eine Insel liegt die
Grafschaft Glatz im schlesischen Lande. Von den Waldmauern schwerer
Gebirgszüge allseitig abgeschlossen, überläßt sie sich
ihren eigenen Träumen...... Überall, wohin der Blick sich auch
wenden mag, trifft er auf Bergwände, die ihm den Flug ins Weite, aber
nicht in die Höhe nehmen. Nie schrecken sie ab und schlagen den Atem
schroff in die Brust zurück, beschränken ihn auf eine
heiter-ernste Art, verlocken und besänftigen zugleich und machen gerade
dadurch die Gefangenschaft zu einer solchen unentrinnbaren.... Berge und Ebene
scheinen untrennbar: denn diese steigt scheinbar in langen Hängen und
geruhigen Vorwellen mit auf die Höhe der Bergzüge...... In der
Betrachtung dieses Landes klingt die Charakterisierung des Menschen schon mit:
der Grafschaftler ist ein Wesen der bunten, vielfältigen
Enge."
Der diese Worte schrieb, sagte sie über seine eigene Heimat, aus der er
herauswuchs und die in ihm wirkte, wie nicht in vielen deutschen Dichtern
unserer Zeit: Hermann Stehr. - Als Sohn eines ums tägliche
Brot wahrhaft kämpfenden Sattlermeisters wurde er in Habelschwerdt, dem
im südlichen Teile der Grafschaft liegenden Kreisstädtchen geboren
in einem "jener kleinen Häuser am Stadtgraben, die eng
aneinandergeschachtelt den Uferrand der Neiße entlang stehen und wie in
weltabgewandter Demut sich kaum getrauen, nach der Straße zu ein Fenster
zu kriegen." Stehr ist in allem ganz seiner Heimat verwachsen, und hinter allen
seinen Werken spürt man das Erlebnis der Schöpfung und ihrer
Geschöpfe. "Das Land schwang sich in Hügeln hinan, es stolperte in
Tälern und Schluchten, es stieß in breiten massigen
Höhenrücken aufwärts zu den schwarzblauen Bergen und den
dunstroten Streifen darüber." Neben der Frömmigkeit der Mutter
umfriedeten seine Kindheitstage die blauen Berge seiner Heimat mit den vielen
Christus- und Muttergottesbildern auf allen Wegen, dem Heiligen Nepomuk auf
allen Brücken, dem Ave-Maria-Läuten der Wallfahrtskirchen dieses
"Auferstehungsländchens" (H. C. Kaergel). So ist Stehr ein
Gottsucher unserer Zeit: "Ewigem vereidet". So gehört er derselben Welt
an, aus der ein Jakob Böhme, ein Angelus Silesius kamen. "Drüber
hinaus!" ist auch die Seele seiner Werke. Und das ist die Seele dieses Glatzer
Landes, dieser Menschen, die es bewohnen.
So sind die Gestalten Stehrs auch Menschen seiner Heimat, oft Arme und
Ärmste, Kleinbürger, Handwerker und Bauern, die ihre
schlesische Mundart sprechen. Im Glatzer Bergland ist sie noch mehr
zuhause als irgendwo anders. Hier hat sie sich in den Bauerndörfern der
Ebene und der Täler, den Streusiedelungen der Berge und Wälder
besser erhalten können als in manchem andern Gebiet. In dem eisernen
Ringe der Heerkörper, der sich 1870 um Paris
schloß - so wird erzählt - nahmen die ganz
zufällig zusammengekommenen Franken [324] und Schlesier mit
freudiger Überraschung wahr, daß ihre Mundarten sehr ähnlich
klangen, so daß sie selbst der einfache Mann gut verstehen konnte. In der
Tat: die Verkleinerungssilben der Namen und Hauptwörter, der Schwund
des auslautenden "n" und nicht zuletzt der Vokalstand lassen die Mundart der
Grafschaft, die zusammen mit der des Böhmischen Riesengebirges und des
Oppaländischen ein Ganzes bildet, der ostfränkischen recht
ähnlich klingen und scheiden sie deutlich von den Sprechweisen des
mittleren und niederen schlesischen Flachlandes. Was die Krieger in fernem
Lande vor Paris erlebten, war ein Ausdruck eines Stückes schlesischer
Heimat - und Siedlungsgeschichte: auch die Grafschaft ist wie alle andern Teile
des Landes von Mitteldeutschen besiedelt worden. "De aala Braatla haala a!" (die
alten Bretter halten auch!). Der Hirt aber auf den Bergen singt:
"Brih, Feurla brih!
Ich hitt ne ganne de Küh!
Ich hitt wul lieber de faula Ziega,
das kann beim Feurla liega!
Brih! Feurla, brih!"
So singt der Nachkomme jener Franken, die das Land vor sieben und acht
Jahrhunderten besiedelt haben.
Um das Jahr 1000 wird die Grafschaft Glatz - einst ein Kammergut des
Königs von Böhmen - zum ersten Male geschichtlich bekannt.
Die wenigen Bewohner des größtenteils mit dichtem Walde
bestandenen Ländchens waren Böhmen, die vorzugsweise in den
offenen Niederungen und zugänglichen Tälern saßen. Noch
heute erinnern die slawischen Endsilben der Namen und die
zusammengedrängte unregelmäßige Bauart einiger
Dörfer an diese ersten Bewohner. Um die Mitte des 13. Jahrhunderts
aber überwies Ottokar II. von Böhmen ganze Bezirke an
deutsche Siedler, die er aus Thüringen und Meißen ins Land rief,
damit sie sich in der Umgebung von Glatz, Landeck, Wünschelburg und
Reinerz ansiedelten. Sehr bald wurde der Wald in großen Strecken gerodet.
Neben einigen wenigen Städten, die mit ihrem regelmäßigen
Schachbrettgrundriß die Form der gegründeten Kolonistenstadt des
Deutschen Ostens deutlich zeigen, entstanden viele Waldhufendörfer. Sie
liegen meist auf der hohen Talterasse, um vor Überschwemmungen
geschützt zu sein. In langen Reihen ziehen sie sich an den Ufern der
Bäche entlang; ihre Grundstücke sind von blumenreichen
Gärten umgeben, und senkrecht zum Wasserlauf ziehen sich die langen
Ackerstreifen, die sogenannten "Handtücher" die Hänge hinauf, bis
sie oben auf dem Bergrücken in der kleinen "Zahnbürste" von
Waldstreifen endigen, der den letzten Rest des früheren Waldbestandes
darstellt. In regelmäßigem Viereck stehen die thüringischen
Gehöfte mit ihren massiven Torbogen da, und manch ein Erbhofbauer kann
nachweisen, daß er schon mehrere hundert Jahre auf seiner Scholle sitzt.
Einer von ihnen, der Trautmann aus Scheibau bei Wünschelburg,
weiß heute, daß Hof und Land ihm seit 1456 gehören. Die
weiteren Nachforschungen stocken leider, denn im Jahre 1425 haben die Hussiten
[325] mit der ganzen Stadt
auch das Rathaus und seine Akten in Flammen aufgehen lassen. Heute ist der
Trautmann-Hof nur noch 105 Morgen groß. Einst war er
größer: durch Erbteilungen bröckelte im Laufe der Jahre ein
Stück nach dem andern ab. In ganz Schlesien sind die Trautmanns, die
einstmals vom Hofe zogen, jetzt verstreut. Durch das Erbhofgesetz ist die Scholle aber nun geschützt und jeder Verkleinerung ein Riegel vorgeschoben.
In den Jahren nach der Kolonisation mußte sich das Gebiet immer wieder
neue Herren gefallen lassen. Die eingekeilte Lage führte zu ewigem
Wechsel. Viel mußten die Grafschafter erdulden. Ganze Ortschaften wurden
in den Hussitenkriegen verwüstet. Unter Zustimmung des deutschen
Kaisers wurde das Gebiet im Jahre 1458 zur Grafschaft erhoben. 1623 kam sie an
den Bischof von Breslau, mußte dann aber wegen ihres Eintretens für
den Winterkönig während des Dreißigjährigen Krieges
sehr viel leiden. Nach dem ersten Schlesischen Kriege fiel das Land an Friedrich II.
von Preußen, dem die Stände im Februar 1742
huldigten.
Trotz des großen Waldreichtums der Grafschaft - stellenweise nimmt der
Wald über die Hälfte der Bodenfläche
ein - ist das Gebiet doch ebenso dicht besiedelt wie das fruchtbare
Mittelschlesien. Aber das Land ist von der Natur reich beschenkt, und die
Bewohner sind so fleißig, daß viele Menschen ernährt werden
können: die Senke gibt fruchtbaren Ackerboden her, die Berge liefern viel
Holz und auch wertvolle Bausteine. In den Seitentälern aber und dort, wo
das abgesunkene Land des Kessels an das gehobene grenzt, das heißt an
Spalten, die tief in das Erdinnere hinabreichen, dort dringen heilkräftige
Quellen empor und rufen Heilung und Erholung suchende Menschen aus weiter
Ferne ins Land hinein.
Malerisch von Bergen eingeschlossen, von hohen Wäldern umgeben, liegt
im Bieletal Bad Landeck, in dem auch einst Königin Luise weilte. Das
ebenfalls auf der Ostseite des Kessels gelegene Wölfelsgrund ist nur
[264]
Landschaft bei Bad Kudowa (Glatzer Bergland).
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Luftkurort. In einem wunderbar geschützten Seitental liegt es über
dem Wölfelfall, dem schönsten aller Wasserstürze in
Schlesien, und bietet für Genesende, die unfreundliches
Winter- und Frühlingswetter scheuen müssen, die beste
Erholungsstätte dar. Ihm gegenüber auf der andern Seite des Grabens
jenseits des langgestreckten Rodungsdorfes Ebersdorf liegt Bad Langenau, am
Fuße der dreistufigen Waldtreppe. - Hart an der Landesgrenze,
unmittelbar unter dem der Heuscheuer vorgelagerten Spiegelberge, bietet Bad
Kudowa alkalische Säuerlinge von recht mannigfacher Heilwirkung an.
Näher auf Glatz zu liegt einer der schönsten Wintersportorte, der
zugleich wieder Bad ist: die Stadt Reinerz.
[263]
Bad Reinerz (Schlesien).
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Diesen malerisch ins Tal der Weistritz eingebettete Ort ließ sich der Alte
Fritz besonders angelegen sein. Kaiser und Könige lustwandelten in den
Kurpromenaden, und Chopin gab hier einst sein erstes Konzert. Der Name der
Stadt legt ein Mißverständnis nahe: er weist nicht auf Bergbau hin
(der zwar dort früher einmal auf Eisenerz betrieben wurde), sondern ist die
im täglichen Sprachgebrauch echt schlesische Umbildung von "Reinhards",
des Namens des Landverteilers zur Kolonisationszeit, zu Reinerz. (Ähnlich
Hermsdorf aus [326] Hermannsdorf
u. a.) Der jüngste unter den Kurorten ist Bad Altheide, das
unmittelbar am Rande des Senkungsfeldes liegt. Ein erfrischendes kohlensaures
Wasser sprudelt hier hervor und Stahlquellen von kräftiger Heilwirkung.
So werden die Spalten, an denen einst das Gebiet des Kessels in die Tiefe sank und
die umliegenden Berge um Hunderte von Metern gehoben wurden, die Spalten,
die mithalfen, diese vielseitige Landschaft aufzubauen und zu formen, auch die
Zufuhrwege für die wertvollen Heilwasser, zu denen Berlin täglich
einen besonderen "Bäderzug" nach Schlesien abfertigt.
Aber ohne die weiten und einsamen Wälder, die jene Orte einhüllen
und einrahmen, wären die Bäder nur interessante geologische
Erscheinungen aber keine Kurorte, in denen der kranke Mensch Heilung und
Erholung finden konnte. Und auch der Grafschafter, der das Land im Laufe der
Zeit so dicht besiedelt hat, müßte verhungern, wenn die Hänge
der Berge, deren flache Verwitterungskrume keinen Acker und deren Steilheit
auch kein Weideland tragen kann, nicht mit Wald bestanden wären.
Über ein Drittel der gesamten Fläche der Grafschaft ist von Wald
überzogen. Innerhalb der Senke der Neiße sind es zwar nur
15 Prozent, aber im Osten 42, und im Westen, wo unfruchtbare Sandsteine
den Feldbau zurückdrängen, sind es sogar 51 Prozent. Im
Südosten ist der Wald der stolze Besitz einiger weniger
Großgrundbesitzer; sonst ist er meist in den Händen des Staates und
einiger Gemeinden. Über 1000 Meter Höhenlage zeigt der
Wald die Merkmale des Kampfes: lichter Stand, einseitige Beästung.
Über 1200 Meter weicht er der Matte, den Geröllhalden und
dem nackten Fels. Hier ist im Winter das Tummelgebiet der Skiläufer, die
besonders den Glatzer Schneeberg - hier liegt der Firnschnee bis weit in
den Frühling hinein -, die Hohe Mense und die Hohe Eule
aufsuchen. Aber auch in tieferen Lagen - Reinerz, Mittelwalde und in dem
etwas abseits gelegenen tiefen Klessengrund - sind die
Sportverhältnisse sehr günstig, da die ganze Grafschaft auch im
Winter ausgesprochen niederschlagsreich ist. Unweit von Wilhelmstal, einem
kleinen Städtchen mit einem vergrünten
Ring, - es war früher einmal Bergwerkstadt, heute ist es wieder
Bauerndorf - liegt zwischen dem Bielengebirge und dem Glatzer
Schneeberg das völlig einsame Gebiet der Saalwiesen. Hier gibt
es noch Urwald. Ein dichtes Gewirr von Eichen und Bergahorn, Fichten und
Buchen läßt nur ein spärliches Licht auf den Waldboden fallen,
der stellenweise vom Germer, einer eigenartigen Charakterpflanze der Grafschaft,
völlig bedeckt ist. Unter seinem bis ein Meter hohen eigentümlich
gefalteten Blätterwerk vermodern die Stämme der
Laubbäume, die - begünstigt durch den Feuchtigkeitsgehalt
der Luft - von weißen und rehbraunen Konsolenschwämmen
langsam vom Leben zum Sterben gebracht werden. Durch dieses Gebiet
führt die politische Grenze, und kein Gasthaus und auch keine pflegende
Hand des Forstmannes hat sich hier auf 1000 Meter Höhe
hinaufgewagt.
Im Mittelalter war die Grafschaft durch ihren Tierreichtum berühmt. Das
Wildschwein wurde erst im letzten Jahrhundert ausgerottet.
Rot-, Birk- und Auerwild sind in den großen
Revieren - am Schneeberg umfaßt die geschlossene [327] Waldfläche
nahezu drei Quadratmeilen - auch heute noch keine Seltenheit. Vor einigen
Jahren hat der Großgrundbesitz hier wie in anderen schlesischen Gebirgen
Muffelwild ausgesetzt, das sich gut vermehrt hat, trotzdem diese Wildschafart in
ihrer Heimat, auf den sonnenübergühten Felsen von Korsika und
Sardinien ganz andere Daseinsbedingungen hat.
Die Dörfer, die entlang den Bächen in das Gebirge vordringen, sind
meist nur recht klein. In höheren Lagen lösen sie sich in zerstreute
Häuser und einzelstehende Bauden auf. Diese aufgelockerten Siedlungen
gehen stellenweise sehr hoch hinauf, besonders im Gebiete der Heuscheuer und
des Adlergebirges, wo der Großgrundbesitz nicht so stark vertreten ist.
Wald- und Heimarbeit beschäftigt eine Menge der Hände; erst in
letzter Zeit ist der Fremdenverkehr hinzugekommen, so daß stellenweise ein
gewisser Wohlstand eingetreten ist. - Der große Waldreichtum des
Kreises Habelschwerdt findet auch in der Bauweise der Häuser einen
beredten Ausdruck, der das Landschaftsbild mit beeinflußt. Trotz des
Vorkommens von guten Bausteinen herrscht das Holz einseitig vor. Die Zahl der
Steinbauten sinkt hier auf 36 vom Hundert; in dem mehr industriell gerichteten
Kreis Neurode unter der Eule sind es dagegen 70 Prozent! Noch deutlicher
sagen es die Zahlen für die Holzdächer: hier 81 und dort 16 vom
Hundert!
So findet ein großer Teil der Bevölkerung auch in der Verarbeitung
des Holzes Arbeit und Brot. Die Wasserkraft wird von zahlreichen
Sägewerken, Holzschleifen und Papierfabriken ausgenutzt. Reinerz hat die
älteste Papierfabrik Deutschlands. In den vom Hinterland völlig
abgeschlossenen Hochtälern - die Grafschaft grenzt mit
171 Kilometern an die Tschechoslowakei und nur mit ganzen 41 an
Schlesien - haben sich Wirtschaftsformen erhalten, die sonst nirgends
anzutreffen sind. Der Ackerbau lohnt hier nicht, denn oft zerstört ein
später Nachtfrost die Getreideblüte oder ein früher Schnee
deckt den Hafer ein. Hunderte von Familien sind in mühevoller Heimarbeit
mit der Herstellung von Holzspanschachteln beschäftigt. Seit Generationen
vererbt sich die Schachtelmacherei vom Vater auf den Sohn. Vier Mann
werden für den Hobel gebraucht, wenn die "Schleißen", die
Bodenspäne für die größten Schachteln, geschnitten
werden! Die Jüngeren schlagen mit Stanzeisen und Schlegel die
Böden und Deckel für die Schachteln aus, und die Kleinsten
müssen sie leimen und zusammenstecken. Aber nur ein paar Mark bringt
das Tausend, und glücklich ist die Familie, die durch eisernen Fleiß
es zum eigenen Motor gebracht hat, um die Schleißenhobel anzutreiben.
Über 90 Prozent des deutschen Verbrauches an Holzspanschachteln
stammt aus der Grafschaft Glatz. Bei der Wirtschaftsferne des Gebietes ist es ein
Glück, daß ein Teil der Erzeugnisse gleich an Ort und Stelle
verbraucht werden: Die Stadt Habelschwerdt ist der Sitz einer starken
Zündholzindustrie, in der die Beschäftigung sich in den letzten
Jahren erheblich verbessert hat. Eins dieser Werke stellt monatlich beinahe 300
Kisten Zündhölzer her; das sind ungefähr drei Millionen
Streichholzschachteln, die wiederum zum größten Teil in Schlesien
selbst verbraucht werden.
Aber auch der Baustoff der Berge selbst geht in verschiedenen Formen in viele
Teile Deutschlands, ja sogar der ganzen Welt. Kurz nach dem
Dreißig- [328] jährigen Kriege
entstand im Erlitztale die erste Glasfabrik Deutschlands mit italienischen
Arbeitern. Der im Gebirge anstehende Quarz war die Grundlage dafür.
Später kamen viel böhmische Glasbläser ins Land.
Heute ist dieser Arbeitszweig in bezug auf seinen Rohstoff längst
entwurzelt und nicht mehr bodenständig: der Quarz wird aus der Lausitz
bezogen. Aber auf der Grundlage einer geschulten Arbeiterschaft arbeiten noch
heute eine Reihe von Glashütten in Altheide, Lewin, Rückers und
Seitenberg, deren Kristallwaren bis nach Australien und Amerika verschickt
werden. - Der Sandsteinbruch in Lomnitz lieferte schon vor
300 Jahren Mühlsteine, die bis hinab nach Ungarn gingen. Und an
der Heuscheuer wird ein wertvoller Baustein gewonnen. Das
Reichstagsgebäude, die Staatsbibliothek, das
Kaiser-Friedrich-Museum und der Berliner Dom sind von hier mit
Riesenblöcken beliefert worden. Nach jahrelanger Stille ertönen nun
auch wieder in dem Wünschelburger Bruch Hacke, Hammer und
Steinsäge: für den großen Bau des Reichsbankdirektoriums
sind hier Bausteine bestellt worden.
Über die Hälfte der gesamten Bodenfläche der Grafschaft
trägt Ackerland. Alle Feldfrüchte werden angebaut, unter anderen
auch sehr viel Klee und ebenso Zuckerrüben, für die in Eckersdorf
eine der ersten Fabriken des Kontinents zu Beginn des vorigen Jahrhunderts
errichtet wurde. In höheren Lagen wird neben Roggen, Hafer und
Kartoffeln noch der Flachsbau betrieben. Bis in höchste Lage ist die blaue
Blume ein Schmuck vieler Berglehnen. Bei Grunwald steigt der Roggen sogar in
eine Höhe von fast 800 Metern. Der Hafer im Eulendörfel
sogar bis auf 900! Oft kann er aber erst nach den ersten Schneefällen
eingebracht werden und muß dann noch am Ofen trocknen.
Das eigentliche Gebiet der Landwirtschaft ist die Mitte mit vorzüglichem
Ackerboden. Fast in jedem Torfe paaren sich Rittergüter mit großen
Bauernhöfen. Einige kommen nahe an 2000 Einwohner heran! Der
dichteste Siedlungsstreifen hat sich am Neißelauf entwickelt. Die Namen
Schönau, Schöntal und Schönfeld sprechen eine lebendige
Sprache. Hier überschreitet die Dichte der Bevölkerung erheblich
den Durchschnitt des ganzen Landes. Von dem in geschützter Lage
erbauten Habelschwerdt führt nach Glatz auf einer Strecke von
15 Kilometern eine ununterbrochene Reihe von Dörfern, von denen
Grafenort durch den bedeutendsten Schloßbau Schlesiens aus dem
16. Jahrhundert bekannt ist. Karl von Holtei genoß hier
Gastfreundschaft, und seine ersten schlesischen Gedichte sind hier entstanden.
Rengersdorf, das nächste große Dorf mit Baumwollweberei, reicht
schon in das Weichbild der Stadt und Festung Glatz hinein.
Sie liegt dort, wo ein Felsenkopf von altem Tonschiefer die Neiße um fast
100 Meter überragt und wo die wichtigsten Gewässer des ganzen
Gebietes zusammenströmen und von der Neiße gemeinsam durch das
Warthaer Tor ins Tiefland hinausgeführt werden. Zuweilen schwellen diese
Wasser gefährlich an, aber die dichte Besiedelung des ganzen Gebietes
macht den Bau von größeren Talsperren völlig
unmöglich. Tiefe Flüsse haben den Straßen die Richtung
gewiesen, und auch die Schienenstränge haben ihnen folgen müssen:
Glatz ist der natürliche Verkehrsknotenpunkt des ganzen
Gebietes.
[329-336=Fotos] [337] Die
Stadt liegt auf heißumstrittener, blutgetränkter Erde. Als Schutz
für die alte Handelsstraße von Böhmen nach Polen bestand
eine alte Landesburg, das "Kastellum Kladsko" - das heißt
Niederlassung - schon um 970 als eine der Besitzungen des
böhmischen Herzogs Slavnik. Das war zu der Zeit, als in Glatz die erste
christliche Kirche gebaut wurde. 1275 wurde die im Schutze der Burg entstandene
Siedlung eine deutsche Stadt, nachdem sich schon früher die Minoriten auf
der Neißeinsel, dem "Sande", niedergelassen hatten. Zahlreiche
Prüfungen verhängte die Geschichte mit ihren vielen
Kriegsläufen über die Stadt. Elfmal ist sie im ganzen vom Feinde
eingeschlossen gewesen. Im unglücklichen Kriege 1806/07 gelang es der
Standhaftigkeit des Grafen Götz und seiner tapferen Glatzer die Stadt so
lange zu halten, bis der Friede von Tilsit geschlossen und somit die
Übergabe vermieden war. Erst 1877 fiel die gegen die neuzeitlichen Waffen
wertlos gewordene Umwallung, so daß die Stadt sich nun freier entwickeln
konnte.
Vom Bahnhof her führt ein steiler Zugang zum Ringe über die
Brücke, auf der der heilige Nepomuk die Wache hält. Die Enge der
Straßen und ihre Steilheit kennzeichnen sofort die Bauart der Festungsstadt.
Von der zum Oberring laufenden Böhmischen Straße führt ein
schmales, mit schlimmen Katzenköpfen gepflastertes Gäßchen
hinauf zum Wahrzeichen der Stadt, der Zitadelle, dem "Donjon", der den
früheren Schloßberg einnimmt. Mit Ausnahme von Silberberg zeigt
kein Bauwerk in ganz Preußen die Festungsbaukunst der friederizianischen
Zeit so gut wie dieser schlafende Riese auf dem alten Bergmassiv. Vor uns steht
eine Statue des heiligen Johannes von Nepomuk. Unter uns liegt die Stadt:
Ziegeldach an Ziegeldach, Stufe über Stufe. Wie ein italienisches
Städtchen. Daraus hervor ragt die Basilika der alten Pfarrkirche mit ihren
ungleichen Barocktürmen; sieben schlesische Herzöge ruhen hier in
kühlen Grüften. Von zwei Türmen flankiert ragt die
Minoritenkirche auf. Jenseits der Neiße: der Schäferberg, den Friedrich
der Große erst in die Befestigungen mit einbezog, nachdem er
schon oft Stütze der Angreifer gewesen war. Und vom Rande der
Neißesenke leuchtet vom "Spitzigen Berge" unweit Wölfelsgrund das
Wallfahrtskirchlein St. Maria ad nivem, Spitzberg Maria Schnee herüber.
Die beiden anderen bekanntesten Wallfahrtsorte der fast ausschließlich von
Katholiken besiedelten Grafschaft liegen weiter ab. Albendorf, in der
Nähe von Wünschelburg unter der Heuscheuer, schaut mit seiner
Rokokokirche, dem mächtigsten Bauwerk der Gegenreformation in
Schlesien, weit in die Ferne. Ritter Daniel von Osterberg ließ sie erbauen;
sein Schloß, erwachsen aus einem Wachtturm der böhmischen
Herzöge des 11. Jahrhunderts, liegt auf einem hohen Porphyrfelsen
zwischen Mittelsteine und Wünschelburg und ist eines der schönsten
unter den vielen der Grafschaft. Osterberg erkannte, daß die Lage von
Albendorf in einem seltsamen Spiel der Natur dem biblischen Jerusalem bis in
kleinste Einzelheiten ähnlich ist. Da schuf er hier in diesem Winkel
Schlesiens die zweite Heilige Stadt: 89 Kapellen ließ er erbauen, und
Hügel, Bäche und Teiche erhielten biblische Namen. So
begründete er den Ruf dieser Mutter Gottes, die vor dem Kriege
alljährlich über 80 000 Pilger ins Land rief; viele davon aus
[338] dem benachbarten
Böhmen. Das Leben in diesem Wallfahrtsort steht in schroffem Gegensatz
zu dem Getriebe auf der anderen Seite des Steinetales, wo die Ausläufer der
Waldenburger Kohle im Neuroder Revier große Kraftwerke und Fabriken
entstehen ließen, zu denen die Arbeiter alltäglich in langen, stummen
Kolonnen ziehn. - Der dritte berühmte Wallfahrtsort der Grafschaft
liegt an ihrem Eingangstor: Wartha. Unten in der Stadt die große Kirche.
Auf der rechten Seite des Durchbruchtales der Neiße thront eine Kapelle
hoch auf steilem mit Mischwald bestandenem Bergkegel. Auf der anderen Seite
die vielen Kapellen auf einem Kiesrücken, über den einstmals die
Neiße ihre Wasser zur Oder sandte.
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