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Schlesien
Hermann Stehr
Schlesien wird stets als Kolonialland vom Westen her gesehen, für den,
schon von der Elbe an, der Osten beginnt mit naturhaften, schwerfälligen
Menschen, einer dünneren, dumpferen Kulturschicht und eintönig
russisch-sarmatischer Landschaft, und spricht man in Westdeutschland von
Schlesien, so glaubt jeder Rheinländer, in diesem Lande in
allernächster Nähe von Warschau oder Krakau zu sein. Diese
Menschen halten sich noch immer in ihrer Anschauung an das Goethesche Urteil
über Oberschlesien und wissen nichts von der Beglückung Alexander
von Humboldts, der auf dem Rosengarten des
Bober-Katzbachgebirges das schlesische Land zu seinen Füßen und
auf der anderen Seite das Riesengebirge in der Höhe schweben sah.
Nein, dieses Land, das dem voreingenommenen deutschen Westler als der Anfang
der russischen Steppenödigkeit erscheint, ist in Wirklichkeit nicht nur eine
tiefe Wesens- [146] beglückung
seiner Bewohner, sondern überrascht jeden Wanderer durch die
Vielgestaltigkeit der verschiedensten Landschaften, die oft weit voneinander
abweicht, und erfüllt ihn zugleich mit dem Segen einer Harmonie, die bei
der strömenden Fülle widerstreitender Art ein Rätsel ist. Aber
das Geheimnis der durchgehenden Melodie so vieler gegeneinanderklingender
Formen liegt in der Gedämpftheit ihrer gegensätzlichen
Bildungen.
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Acker und Schlote: das oberschlesische Land.
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Von Osten her beginnt das Land Schlesien mit einem Tändelkranz
anmutiger Hügel, die, überbuscht, gewissermaßen den
lieblichen Anfang Schlesiens aus der sarmatischen Ebene bedeuten. Dieser
schlesisch-polnische Landrücken, eine Fortsetzung des Flämings,
sinkt langsam zur Talmulde ihres großen Stromes, der Oder, nieder, die sich
als eine eigenartige, fruchtbare Landschaft für sich in bedeutender
gemächlicher Breite von Südosten bis zum Nordwesten der Provinz
hinzieht. Über einen Fruchtgürtel besten Gartenlandes kommt man in
das Durcheinandertummeln von Einzelbergen, die als das Aufbegehren der
unruhig gewordenen Ebene nach den Vorbergen der Sudeten hindrängen. In
weitem Bogen kreisen sie an diesen südöstlichen Gebirgswall der
Sudeten heran, wie das Bober-Katzbach-Gebirge, oder sie schmiegen sich nahe zu
dem Kamm wie die Falkenberge bei Fischbach. [147] Dann rammt sich als
Südostgrenze des Landes, ein halbes hundert Kilometer lang, der Zug der
Sudeten als natürliche Grenze ein. Doch, wie ganz Schlesien eine
Sammlung der verschiedensten Landschaften ist, so stellt sich das Gebirge der
Sudeten als ein Konglomerat von verschiedenen Gebirgen dar, so unähnlich
in ihrer Art sind die einzelnen Teile. Das Lausitzer Bergland ist ein
unregelmäßiges Gequirle von Bergen, die nie das Maß eines
Mittelgebirges ganz erreichen; das Isergebirge zieht als ein einziger
Kammrücken mit stundentiefen, schweigend verwunschenen
Hochwäldern hin. Das Riesengebirge schwingt über die Grenze des
Baumwuchses hinaus und ist eine Bergwelt fast alpinen Charakters.
Seengefüllte Kare, der große und kleine Teich, sind in seinen Granit
gebohrt. Täler mit hundert Meter senkrechten Wänden, wie der
Riesen- und Melzergrund, haben sich in seinen Leib gerissen. Schneegruben, von
Gletschern der Eiszeit gesägt, schrecken den Wanderer mit ihren
schwindelnd jähen Felsenwänden. Die Schneekoppe reißt sich
als vulkanischer Riesenstoß über alle Erhebungen der Sudeten
hinaus. Nach dieser Gewaltleistung erholt sich der Zug in der traulichen
Gemächlichkeit des Rabengebirges und erwacht dann, wie in der
Erinnerung an seine vulkanischen Großtaten, zur steilen Unruhe des
Waldenburger Berglandes. Der daran gewachsene Glatzer Gebirgskessel
fällt ganz aus dem Rahmen des gesamten Gebirges, und seine Randgebirge
sind dazu noch von der größten Verschiedenheit: zerklüftet
steigt die Sarg- und Tafelbergform der Heuscheuer aus der Ebene. Massig, in
sanfter Gemächlichkeit, wölbt sich der große Schneeberg aus
dem tirolerisch anmutenden Wölfelsgrund über 1400 Meter empor.
Im Altvater machen die Sudeten den letzten Versuch, sich zum Hochgebirge zu
steigern, bringen es aber nur bis zu 1500 Metern, gehen dann sanft in das
Mährische Gesenke hinunter und träumen sich mit dem bukolischen
Hügelfrieden des Kuhländchens, schon außerhalb der
preußischen Grenzen, an der Quelle der Oder, vorüber in die
schönbewegte Ebene Mährens hinein.
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Die Schneekoppe, gesehen vom Kamm des Riesengebirges.
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[148]
Ringelreihen der wendischen "Teepuppen" (Oberlausitzer Volkstracht).
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[147]
Prozession in einer deutschen Sprachinsel des ehemaligen Oberschlesien.
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Wer so durch Schlesien wandert, dessen Geist atmet, bis in die Tiefe des Herzens,
dank- [148] bar auf; denn es hat
sich ihm ein schönes Stück deutscher Erde geboten, die Vorstellung
deutscher Landschaft und Eigenart ist um eine vielgestaltige Kostbarkeit reicher
geworden. Das Wesen dieser schlesischen Landschaft gestaltet in ihrer
vielfältigen Form, was allen Menschen, besonders aber unserer chaotischen
und extrem bewegten Zeit so notwendig ist: Größe ohne
Ausschweifung, inniges Wesen ohne Süßlichkeit, Ernst ohne
Düsterkeit, Tiefe ohne Härte, heitere Daseinsbereitschaft bei
besonnen-rüstiger Tüchtigkeit.
Und was die Landschaft singt, das klingt in den Menschen wider. Der schlesische
Genius hat einen Ernst, der tiefdringend ist. Seine Heiterkeit blüht
gedankenvoll, seine Formkraft vielfältig. Sein Wagen ist mutig, zäh
und voll Elastizität, sein Träumen versonnen, fromm, ja, himmlisch
angeglüht.
Der schlesische Mensch ist unverwechselbar wie seine Berge, seine Ebenen, sein
Himmel, seine Flüsse und Seen, die seines Herzens Schlag füllen
und regeln und seinen Geist formen.
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Das gotische Rathaus von Breslau.
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