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Ostpreußen
Eugen Mossakowsky

Was wußte man 1913 im Reich von Ostpreußen? Die Vorstellungen waren stellenweise geradezu abenteuerlich: das "preußische Kernland" lag gleichsam außerhalb der Allgemeinbildung. Es ist lehrreich, daraufhin alte Jahrgänge großer Zeitungen anzusehen: selbst hier wußte man beispielsweise von Frankreich mehr. Wie war das möglich? Das deutsche Verkehrsnetz war dichter und dichter geworden, und längst lag Ostpreußen nicht mehr abseits: von Berlin fuhr man nach Masuren nicht länger und nicht beschwerlicher als in bayerische Gebirgswinkel. Aber so mächtig in den Deutschen auch der Trieb aufgeschossen war, den Raum zu überwinden und von Unbekanntem zu Unbekanntem zu eilen - trotz des sogenannten Reisefiebers wurde Ostpreußen an den Fahrkartenschaltern nur wenig gefordert. Die deutsche Lebensrichtung ging westwärts. Wen zog es schon nach Ostpreußen? Wer von dorther ins Reich kam, wurde irgendwie nachsichtig angesehen und behandelt, wie jemand, der abseits der geltenden Lebensformen aufgewachsen. Gewiß: man fand ihn interessant. Man befragte ihn, man hörte ihm zu. Reichte er womöglich noch Fotos vom dornröschenhaften Masuren herum, kam flugs Stimmung auf: wonderful - bis der Ostpreuße spürte, daß er gegen Gummi sprach und schwieg. 1914 wurde es anders. Der Krieg brachte Millionen Deutsche über die Weichsel. Es entstand das Wort, daß die Deutschen eigentlich erst damals Ostpreußen entdeckt haben. Das war mehr als ein Witz. Als wäre es soeben entdecktes Neuland, entstand eine Literatur, die erstaunlichen Absatz fand. Wirkte hier nur der Krieg? Wir haben heute viele und zum Teil sogar gute Schriften über Ostpreußen, und es ist festzustellen, wie insbesondere die Jugend nach ihnen fragt und wie gründlich sie sich mit ihnen befaßt. Aus dem Reich fahren jahraus, jahrein Tausende junger Deutscher mit dem staatlich geförderten Seedienst von Swinemünde nach Pillau. Man muß sie beobachten, wenn sie auf See sind, beobachten, wenn sie an Land gehen, die Gesichter wach und die Augen durstig. Geht die deutsche Lebensrichtung wieder ostwärts? Wenn diese Jugend lange wieder daheim ist, rätselt und grübelt und spricht und schreibt sie über die ostpreußische Landschaft, über ihre Menschen und deren Lebensformen. Ostpreußen hat sie angezogen. Es läßt sie nicht mehr los.

Am Kurischen Haff.
[142]      Am Kurischen Haff.


Man spricht von Ostpreußen - aber wer ist der Ostpreuße? Die gelehrten Männer streiten sich noch heute, ob die slawischen Pruzzen einst völlig ausgerottet worden sind oder nicht. Es hat für unsere Fragestellung nur wenig Bedeutung. Die Geschichte Ostpreußens gibt sichere Auskunft, daß auf diesem Raume im Lauf seiner 900jährigen Kolonisation von überall Blut zusammengeströmt ist. Franken, Schwaben, Pfälzer, [134] Nassauer, Thüringer, Ober- wie Niedersachsen - sie kamen mit dem Deutschen Ritterorden und setzten sich fest. 1411 wird bei Tannenberg die Ordensmacht gebrochen. Litauer und Polen strömen ins Land. Es kommt der Anfang Brandenburg-Preußens. Märker ziehen ostwärts, siedeln und schlagen Wurzeln. Es kommt die Zeit der Reformation. Holländische, französische, schottische, schweizerische Protestanten finden hier Zuflucht und neue Heimat. Und es kommt 1709-10 die Pest. Sie hat im damaligen Herzogtum Preußen über 300 000 Menschen dahingerafft, nördlich des Pregellaufes allein über 100 000. "Mein Vater" - schreibt Kronprinz Friedrich 1739 - "baute alles wieder auf, was die Pest verwüstet hatte, und bevölkerte das Land mit Tausenden von Familien aus allen Gegenden Europas." Dabei darf nicht die ausgiebige Blutzufuhr vergessen werden, die sich während der Einfälle der Tataren, Schweden und Russen vollzogen hat. Vielleicht können die "vor dem lieben Gott ins Land gekommenen" Adelsfamilien sagen, daß sie dieses oder jenes Blutes sind. Durch die Adern der Ostpreußen fließt Blut, von dem die meisten sich nichts träumen lassen. Nur zuweilen, wenn sie etwa im Winter zusammensitzen und den fünften und sechsten Grog in sich haben, bricht nicht selten hervor, was ihnen an blutsmäßigem Erbgut noch innewohnt. Es kehrt dann dieser oder jener, den die von Kindesbeinen in jedem Nerv als einen der ihren kennen, plötzlich eine Seite heraus, daß er nun wie ein Fremder wirkt. Er bekommt, so sagt man, seinen Raptus. "Mänsch, was schad't di!" Es ist seltsam, wie es meist nur dieses Anrufes bedarf, um das durchgebrochene ursprüngliche Wesen wieder zu bannen. Es hat keine Macht mehr. Aber es ist nicht an dem, daß sich hier das verschiedenartigste Blut im Laufe der Jahrhunderte aufs verschiedenartigste gemischt hat. Die ostpreußischen Adelsfamilien, die ihr Blut verhältnismäßig "rein" gehalten haben, können in den meisten Fällen die ursprüngliche Herkunft feststellen, doch was erinnert bei ihren Männern und Frauen noch an die Mitte, den Westen oder Süden des deutschen Raumes? Der Franke, der Schwabe, der Pfälzer, der Thüringer, sie alle - wo blieb ihr Wesen und wo ihre Lebensform?


Es war wohl so, daß weniger christlicher Missionswille, sondern massiver Landhunger die Deutschritter ostwärts getrieben hat, und es war wohl auch so, daß hier die heidnischen Herren des Landes sich gegen den Raub nicht minder wehrten als gegen das Kreuz. Wir wissen immerhin manches von dem Kampfe, der dann begann. Aber war der Pruzze nur der Landbesitzer, der beraubt, nur der Heide, der bekehrt werden sollte? Weder aus beiden noch aus dem sogenannten Barbarismus jener Zeit erklärt sich erschöpfend die geradezu infernalische Wildheit, mit der die Deutschritter vorgegangen sind. Die Landschaft formt den Menschen nach ihrem Bilde. Anders als in der Mitte, im Westen und Süden des deutschen Raumes ist sie hier - und anders auch der Mensch, den sie ausprägt. Und so standen sie sich gegenüber, die Deutschritter und die Pruzzen: wesensverschiedene Menschen, in denen verschiedene Landschaften ihre bluthafte Gestaltung gefunden hatten. Es gab keine Verständigung. Der Kampf ging auf Leben und Tod. Die Pruzzen haben ihn verloren, aber die Deutschritter unterlagen am Ende doch der Landschaft, und so oft dieser Kampf sich auch wiederholte und wiederholt - immer setzt sie ihren Willen durch.

Das Tannenberg-Denkmal.
[144]      Das Tannenberg-Denkmal.

Man beobachte daraufhin einen Menschen, der beispielsweise aus dem überfüllten Raum jenseits [135=Foto] [136] der Elbe nach Ostpreußen kommt und siedelt. Was sich einst in den Deutschrittern vollzog, wie in denen, die nach ihnen kamen, es vollzieht sich aufs neue in ihm. Er wandelt sich hier. Es geschieht nicht von heute auf morgen, sondern braucht seine Zeit: ein Jahrzehnt vielleicht und länger und länger, ehe deutliche Anzeichen festzustellen sind. Das Wesen, die Denk- und Wertgesetze, die er mitgebracht hat, die gesamten Lebensformen, sie ändern sich, selbst wenn er vom nächsten Nachbarn kilometerweit entfernt ist. Hier wirkt die Landschaft. Unter ihrem Gesetz verliert der Mensch, was eine andere Landschaft formte. Mögen seine Kinder und Enkel darauf halten, sich nur mit Blut aus der einstigen Heimat zu mischen - es gelingt ihnen nicht, sich "rein" zu erhalten. Drei, vier, fünf Generationen, dann ist an den Nachfahren abzulesen, wie die ostpreußische Landschaft sie doch nach ihrem Bilde geformt hat.


Die Schönheit des Ostlandes. Dünen bei Nidden.
[139]      Die Schönheit des Ostlandes. Dünen bei Nidden.


Selbst wo der Boden ansteigt und wellenförmige Gestaltung gefunden hat, ist die Ebene das Kennzeichen der ostpreußischen Landschaft. Es fehlen die Hügelketten und Gebirgszüge, die in der Mitte, im Westen und Süden des deutschen Raumes die Landschaft so formenreich gestalten. Acker, Wiese, Wald, Wasser - das Thema, das die Schöpfung östlich der Weichsel angeschlagen hat, ermangelt gewiß nicht der Variationen, doch bewirkt die Ebene, daß die Sinfonie gleichtöniger ist. Hier erlebt der Mensch nicht unmittelbar und Tag um Tag die Vielgestaltung der Schöpfung. Sie liegt nicht vor ihm wie ein unerschöpflicher Brunnen, aus dem er trinkt und trinkt und Seele und Sinne beschwingt und befeuert. Was könnte hier im Menschen "faustisches" Wesen ausprägen? Wer inmitten der Ebene und ihrer gleichförmigen Landschaft lebt, erhält nicht jene innere Fülle, die springlebendig und mitteilsam macht. "Er ist" - so sagt man - "aus Ostpreußen, da bringt ihn so leicht nichts aus der Ruhe." So ist es. Hier lebt der Mensch schwerer. Es bringt sich schon in der Langsamkeit seiner Bewegungen zur Darstellung, in der Breite seiner Sprache und in seiner Wortkargheit. Es gibt ein ostpreußisches Zwiegespräch. "Na, Hans, wo weerst?" - "Na, oppem Föld." - "Weerst allein?" - "Nä." - "Na, wer weer noch doa?" - "Na, de Fried on de Lipp." - "Na, watt deed de Fried?" - "Na, he pleegt." - "Na, on watt deed de Lipp?" - "Na, he kiggd em to." - "Na, on watt deedst du?" - "Na, öck hulp em tokicke." Das trifft ins Schwarze. Man beobachte zwei ostpreußische Bauern, die viele Kilometer fahren, bis sie in der Stadt sind. Es dauert nicht lange, dann sitzen sie auf ihrem Wagen wie Trappistenmönche. Was sie einander über die kleinen Dinge des alltäglichen Lebens mitzuteilen haben, ist in wenigen Worten bald gesagt - wovon sollen sie sonst sprechen? Es ist nicht so, daß hier der Mensch stumpfsinnig durch den Tag geht und nichts in sich aufnimmt. Man ist oft überrascht, wie scharf er sieht und hört, selbst Unscheinbares nimmt er meist wahr. Nur braucht es seine Zeit, bis er es in sich hineinbuchstabiert hat, und braucht seine Zeit, ehe er davon spricht: sachlich und knapp. Es hinterläßt eine Spur - mehr nicht. Es gibt wenig, was diesen Menschen in Bewegung bringt, und noch weniger, wodurch er aus dem Gleichgewicht gerät. Es muß schon um Elementares gehen: um ein Weib etwa oder um den Hof, damit Leidenschaften aufwallen, doch selbst dann bedarf es meist erst noch des Alkohols, ehe sie durchbrechen.


Elch auf freier Wildbahn an der Nehrung.
[141]      Elch auf freier Wildbahn an der Nehrung.
[137] Hier kommt der Winter mit dem Oktober und geht mit dem April. Frost und Schnee sind die Zeichen seines strengen Regiments, und wenn der Ostwind über die Fluren schneidet, helfen kein Pelz und kein Grog. Der ostpreußische Winter härtet. Er friert gewissermaßen auch die Seele ein, und ein guter Gott - so sagt man - gab den Grog, damit man sie auftauen kann. Frühling und Herbst, wie man sie anderwärts kennt, gibt es hier nicht. Die Übergänge sind jäh. Der Sommer kommt schnell und schnell ist sein Ende. Die Tage sind heiß, doch die Abende kühl, die Nächte schubberig und herb die Morgen. Es hat bedeutsame Wirkungen, daß hier etwa die Hälfte des Jahres im Zeichen des Winters steht. Zwischen Memel und Pregel wird der Boden von zahlreichen Flüssen und Flüßchen durchzogen, doch südlich des Pregellaufes beginnt die Herrschaft von Lehm und Sand. Bauernarbeit ist nirgends leicht. Schwerer Boden zieht den Rücken krumm, und wer sich hier auf seiner Scholle behaupten will, muß diesen Preis zahlen bis zum letzten Pfennig. Aber wohl nirgends in Deutschland drängen sich Bestellung und Ernte auf eine so kurze Zeitspanne zusammen wie hier. Zwischen April und Oktober ist höchste Arbeitsintensität die Forderung des Tages. Es sind die Tage, in denen die Schöpfung ihre Pracht entfaltet, und wie in keiner anderen Jahreszeit wird der Mensch wach und aufnahmebereit. Aber während der "Poesie" des Sommers umfängt ihn hier vom Morgengrauen bis zur Dunkelheit die "Prosa" der Arbeit. Er steht unter dem Gesetz der Daseinsbehauptung. Der jagende Arbeitsprozeß drillt ihn unerbittlich, daß er nüchtern empfindet, denkt und handelt. So wird hier des Menschen Leben unter den Gesichtswinkel der Zweckmäßigkeit gerückt - die "poetische" Jahreszeit erst macht ihn "prosaisch". Wenn die Ernte eingebracht ist, ist er erschöpft. Meine Landsleute mögen sich entrüsten, aber es ist doch so, daß der Mensch in Ostpreußen gleich der Natur in eine Art Winterschlaf fällt. Es trifft stellenweise buchstäblich zu. In Masuren sind die Menschen gar nicht so selten, die sich mit Wintersanfang ins Bett legen und es bis zum Wintersende nur zu den körperlichen und häuslichen Ver- [138] richtungen verlassen, die ihnen niemand abnimmt. Es sind Bauern, die da meinen, daß sie dergestalt am sichersten neue Kraft für den Sommer und seine schwere Arbeit schöpfen. Was treibt sie auch hinaus? Wenn winters der Himmel schneeverhangen ist und das über die Ebene schweifende Auge ringsum nur auf die Zeichen der in der Kälte schlafenden Landschaft trifft, mag wohl ein Schauer der Verzagtheit durch die Seele gehen und Sehnsucht aufkommen nach dem Schlaf - "des Todes heiterem Zwillingsbruder". Pflanzenhaft lebt hier der Mensch. Er hat noch Zukunft.


Masurische Bäuerinnen.

Masurische Bäuerinnen.

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Kurischer Kettelkahnschiffer.

Kurischer Kettelkahnschiffer.
Wenn auch nicht die Deutschritter, so waren doch die Siedler, die sie nach sich zogen, Träger bäuerlichen Kulturgutes. Es hielt sich nicht. Als die Siedler hier unter der Formkraft einer anderen Landschaft gerieten, schwand es dahin. Nur nördlich des Pregellaufes, wo die von gleichartiger Landschaft geformten Litauer und Kuren so gut wie geschlossen gesiedelt haben, blieb die vorväterliche Bauernkultur lebendig. Neun Jahrhunderte sind seit Beginn der Kolonisation Ostpreußens vergangen. Die Landschaft hat das verschiedenartige Blut, das hier zusammengekommen ist, unter ihr Gesetz gezwungen und längst einen neuen Menschentypus geformt, dessen seelische Gleichmäßigkeit überall abzulesen ist. Aber eine Bauernkultur hat sich nicht entwickelt. Mit der Leibeigenschaft ist wenig erklärt - warum wuchs denn in Rußland eine Bauernkultur? Und warum blühte sie trotz leibeigenschaftlicher Abhängigkeiten in der Mitte, im Westen und Süden des deutschen Raumes auf, warum erhielt sie sich dort - und warum war es hier nicht so? Es wurde bereits dargelegt, wie gering der innere Auftrieb ist, den der Mensch durch die Ebene und ihre gleichmäßige Landschaft erhält, und auch dargelegt, wie er zur Nüchternheit und Zweckmäßigkeit geradezu gedrillt wird. Bedarf es für jede kulturelle Entwicklung nicht aber auch einer materiellen Grundlage? Die geschichtliche Gestaltung der Besitzverhältnisse erfolgte hier so, daß der Masse der Bauern nur eine schmale Basis zuteil geworden ist. Tagtäglich ist die Daseinsfrage gestellt. Man muß hart arbeiten und muß dennoch ein karges Leben führen, wenn man sich auf der Scholle behaupten und vorwärts bringen will. Man muß jeden Pfennig, bevor man ihn ausgibt, dreimal umdrehen, so daß es nicht selten anmutet, als sei der ostpreußische Bauer eigentlich die Verkörperung des Geizes. Mag sich in ihm auch ein Wille zur Bauernkultur geregt haben und noch regen - die Sorge ums tägliche Brot hält ihn nieder. Warum es in Ostpreußen keine Bauernkultur gibt? Es ist nötiger, Kartoffeln zu bauen, so antwortete mir einst ein Landgerichtsrat in Allenstein, der ein kluger Mann ist und seine Heimat kennt wie seine Westentasche. Er hat recht.

Breit und ergiebig war die materielle Grundlage des großgrundbesitzenden Adels. Es ist jedem Bürger, der diese alten Familien als "kulturloses Junkertum" bezeichnet und geringschätzig auf sie herabsieht, nur zu empfehlen, sie innerhalb ihrer vier Wände aufzusuchen. Wohl kaum trifft man in bürgerlichen Häusern beispielsweise so ausgewählte Büchereien wie auf den Herrensitzen des ostpreußischen Adels, und das bürgerliche Geistesgut steht hier nicht etwa nur als Zierat herum, sondern die Menschen haben sich stellenweise sogar sehr gründlich mit ihm befaßt. Die großen Künder der bürgerlichen Kultur sind hier nicht hinweggerauscht wie die Kraniche des Ibykus. Man kann freilich nicht sagen, daß der ostpreußische Adel von der bürgerlichen Kultur in dem Sinne erfaßt worden ist, daß sie [139] von ihm unumschränkt Besitz ergriffen hat. Dazu blieb er viel zu standesbewußt und dazu blieb er vor allem viel zu lebendig. Vielleicht war er sich immer bewußt, daß seine Herschaftsstellung ins Wanken geraten würde, wenn er sich die bürgerliche Kultur zu eigen machte. So kam es hier denn auch nicht zu ihrer Entfaltung. Man muß dabei allerdings die Frage aufwerfen, ob es in Ostpreußen überhaupt ein Bürgertum gibt, wie es sich westlich der Weichsel auf Schritt und Tritt zur Darstellung bringt? Es gibt ostpreußische Städte, doch trifft auf sie die Bezeichnung "Landstädte" im tiefsten Sinne zu: sie sind (mit der einen Ausnahme Königsbergs) Marktflecken und Zentren der Verwaltung - mehr nicht. Wessen Familie hier seit Generationen ansässig ist und entweder dem Handwerk oder dem Handel nachgeht, trägt doch noch irgendwie das Dorf in sich. Er empfindet sich vielleicht nicht als "ackerbürgerlich", doch er lebt so. Kann man in dieser Landschaft überhaupt Bürger in dem Sinne sein, wie der Mensch im Süden, im Westen und in der Mitte des deutschen Raumes? Dort wuchs jedenfalls ein bürgerliches Bewußtsein und ein bürgerlicher Herrschaftswille, der dem adligen entgegengesetzt wurde und in der Folge zu jener Auseinandersetzung führte, die mit dem Durchbruch der bürgerlichen Gestalt und der [140] Entfaltung ihrer Kultur abschloß. Hier aber blieb die Herrschaftsstellung des Adels so gut wie unbestritten - nie hat sich in den ostpreußischen Städten elementarer bürgerlicher Lebens- und Aufstiegswille geltend gemacht. Wenn man hier schon von bürgerlicher Kultur sprechen will, dann erhält sie einen gewissen Auftrieb von der studierenden Beamtenschaft. Aber wie häufig ist es, daß dieser oder jener, der aus seiner ostpreußischen Landstadt nach dem Reiche fährt und dort mit den Kameraden seiner Studienjahre zusammentrifft, von ihnen hört, daß er "verjunkert" und "verbauert" sei.


Es ist das Kennzeichen der preußischen Staatsschöpfung, daß sie den Menschen in strenge Zucht nimmt. Der sogenannten Freiheit der Persönlichkeit läßt sie nicht eben viel Raum, und wir haben 1918 die Einsicht wiedergewonnen, daß deutsche Staatlichkeit sich nur behaupten kann, wenn sie dergestalt preußisch ist. Der deutsche Raum entbehrt des Schutzes, den natürliche Grenzen bilden. Er liegt offen da. Rings aber ist er umgeben von Staaten, die nach Ausdehnung ihrer Macht und Herrschaft drängen, wie es überall beim Lebendigen so ist. Wie soll angesichts solcher Umstände der deutsche Raum behauptet werden, wenn in seiner Staatlichkeit nicht jedermann unter dem Gesetz des Dienstes und der Hingabe bis zur Entpersönlichung und Selbstaufopferung steht? Mächtig sind natürlicherweise die Widerstände. Der menschliche Persönlichkeitswille steht eigentlich dauernd in Auflehnung gegen das Gebot der Staatlichkeit. Die ostpreußische Landschaft freilich formt einen Menschentypus, der den strengen Forderungen deutscher Staatlichkeit den geringsten Widerstand entgegensetzt. Friedrich Wilhelm I., der wahrhaft ein Staatsschöpfer "von Gottes Gnaden" gewesen ist, mag diese Einsicht gehabt haben, und so geschah es wohl auch nicht von ungefähr, daß er sein Leben lang dem damaligen Herzogtum Preußen besondere Sorge und Pflege angedeihen ließ. Es gibt eine Fülle von Aussprüchen, daß er es als eine der brennendsten Aufgaben Preußens empfunden hat, diesen östlichen Raum so dicht zu besiedeln wie nur möglich. Er dachte nüchtern und handelte zweckmäßig. Er mag sich bewußt gewesen sein, daß hier die Landschaft wie eine Erziehungsanstalt für deutsche Staatlichkeit funktioniert, indem sie den Menschen seelisch wie leiblich so formt, daß er den Erfordernissen des preußischen Stils entspricht. Ob einer will oder nicht - irgendwie wird er hier "prussianisiert". Und dies vielleicht ist es, was deutsche Jugend heute so magnetisch anzieht, wenn sie mit Ostpreußen in Berührung gekommen ist.

Königskrönung Wilhelm I. in Königsberg.
[143]      Königskrönung Wilhelm I. in Königsberg.
Gemälde von Adolf v. Menzel, Museum Hannover.


Man darf nicht verschweigen, in welche Gefahr das "preußische Kernland" geraten ist. Mit dem 19. Jahrhundert kam vom Westen her die Zivilisation über den deutschen Raum. Er geriet ins Zeichen der Industrie und der Großstadt. Ostpreußen blieb lange unberührt. Es hielt sich "konservativ", wie man im Reiche sagt. Aber trotzdem ihm Kohle und Eisen fehlen, entging es doch nicht der Gefahr, in den Bannkreis der Zivilisation zu geraten. Es hat sich nicht industrialisiert. Es entstanden keine Großstädte. Königsberg ist die einzige und sie ist nicht einmal Großstadt im Sinne der Zivilisation.

Königsberg. Das Ordensschloß mit der Krönungskirche der preußischen Könige.
[135]      Königsberg. Das Ordensschloß mit der Krönungskirche der preußischen Könige.

Indes setzte eine Landflucht ein, die verhältnismäßig schnell katastrophalen Umfang annahm. Es gibt über ihre Ursachen viele Schriften, und in den meisten steht geschrieben, daß die Landflucht [141] eine unvermeidliche Folge der bäuerlichen Besitzverhältnisse gewesen ist. Nun ist es gewiß so, daß die Masse der ostpreußischen Bauern schon vor Jahrzehnten ihren Hof nicht mehr aufteilen konnten, weil er eben gerade nur noch einen Sohn und seine Familie ernährt. Sofern die anderen nicht einheirateten, wurde der Dienst auf fremdem Hof ihr Schicksal. Da hat wohl viele die neuartige Welt angelockt, von der sie hörten, daß die Arbeit dort leichter sei, der Lohn höher und ein Vorwärtskommen schneller. Aber so einer Bauer ist, hält ihn das Dorf fest, und eher leistet er hier Knechtsarbeit, als daß er zur Stadt abwandert, wenn sie auch noch so viel verheißt. Nun aber war es nicht mehr so. Was diese zweiten, dritten, vierten, fünften Bauernsöhne und was die Töchter an der industrialisierten und großstädtischen Welt so magnetisch anzog, war weniger die dort günstigere soziale Aufstiegsmöglichkeit, sondern die Aussicht auf mannigfache Bequemlichkeiten, reichhaltige Abwechslungen und bunte Vergnügung. Es fielen 1914 die letzten Zweifel, daß die Zivilisation inzwischen auch den ostpreußischen Raum in ihren Bannkreis gezogen hatte. Nun trat sie in Gestalt von Millionen Deutscher unmittelbar an den Ostpreußen heran - und er beugte sich ihr auf der ganzen Linie. Wir wissen heute, daß nicht so sehr mit der Industrie und der Technik, sondern mit dem großstädtischen Geiste ein zersetzendes Gift in das deutsche Leben gekommen ist. So kann man auch nur mit Grauen daran denken, wie die Landflucht in Ostpreußen eigentlich nach 1914 erst richtig einsetzte. Man muß die Menschen, die dann in die Großstädte westlich der Oder abwanderten, von Kindesbeinen gekannt haben, um bei späterem Zusammentreffen ermessen zu können, was in wenigen Jahren in ihnen zerstört worden ist. Das wiegt viel, viel schwerer als die Tatsache, daß Ostpreußen um so sicherer eine Beute Polens wird, je stärker es sich entvölkert. Darf man auch die Augen davor verschließen, daß Ostpreußen selber inzwischen unter den Geist der Großstadt geraten wollte? Ich wende mich keinesfalls gegen den Einzug der Technik - das letzte ostpreußische Dorf hat sie nötig. Aber es muß mit aller Schärfe gesagt werden, daß das Umsichgreifen großstädtischer Denk- und Wertgesetze und großstädtischer Lebensformen, wie es bis vor kurzem selbst in masurischen Winkeln festzustellen war, Ostpreußen schlimmer zu verheeren drohte als einst die große Pest. Die großen Städte, so sagt man [142] und es ist so, saugen den Dörfern das Blut aus, damit sie leben können. Wahrlich, sie haben genug ostpreußisches Blut gesogen und es verbraucht - das ist nicht mehr zu ändern. Einhalt gebieten aber kann man dem Einzug ihres Geistes in die Dörfer - man kann es und man muß es.


Die Landflucht hat aufgehört. Mag die Großstadt mit der Summe ihrer Bequemlichkeiten, Abwechslungen und Vergnügungen den Ostpreußen immerhin noch magnetisch anziehen - sie reißt ihn nicht mehr fort. Es ist hier nicht der Raum für eine Darstellung, warum es so geworden ist, doch soviel sei immerhin festgestellt: der Zauber der großstädtischen Zivilisation ist gebrochen. Es ist nicht etwa der Schwung sozialer Aufstiegsmöglichkeiten, die den Ostpreußen heute in der Heimat halten. Die wirtschaftliche Not des ostpreußischen Bauern ist entsetzlich. Es gibt beispielsweise Höfe von 700 Morgen, auf denen ist oft tagelang nicht eine Reichsmark zusammenzubringen, selbst wenn sie alle: vom Hofbesitzer bis zum letzten Hütejungen die Taschen umkrempeln. Was ein solcher Zustand für die städtische Bevölkerung bedeutet, die zum größeren Teile ja von Bauern lebt, bedarf keines Wortes. Man muß skeptisch sein, daß hier in naher Zukunft eine wesentliche Wandlung erfolgt. Ostpreußen hat wohl einen langen Dornenweg vor sich, und es ist nicht der erste in seiner leidvollen Geschichte. Bange fragt man sich, ob es ihn wohl auch diesmal bestehen wird? Man kann diese Frage stellen, aber man kann sie nicht beantworten, denn niemand kann heute sagen, wieviel Lebenskraft der Einbruch der großstädtischen Zivilisation hier zerstört hat. Sieht man, wie der ostpreußische Mensch bereits in vollem Rückzuge zum primitiven Leben ist, so wird man in der Hoffnung bestärkt, daß die großstädtische Zivilisation sich doch nur an der Oberfläche eingefressen hat. Aber das zu entscheiden, liegt bei der Zukunft. Man kann den Menschen in Ostpreußen nur darin bestärken, daß er mit seiner Rückkehr zum primitiven Leben sozusagen vor der deutschen [143] Front marschiert. Wie der Ostpreußen heute leben muß - das ist deutsches Schicksal schlechthin, wenngleich es vielerorts noch immer als vorübergehender Zustand betrachtet wird. Es wird auch in Ostpreußen manchen geben, der beim Bewußtsein der deutschen Tatsächlichkeit an Gott und aller Welt verzweifeln wird. Sei es denn! Wenn irgendwo auf dem deutschen Raum es die Schöpfung an Voraussetzungen für einen neuen Lebensstil, der sowohl preußischer Staatlichkeit wie dem Zeitalter der Technik entspricht, nicht hat fehlen lassen - so hier in Ostpreußen. Möge die deutsche Jugend, die bereits die Magie dieser Landschaft verspürt und die es machtvoll über die Weichsel drängt, um dort zu siedeln, sich nicht beirren lassen. Was Ostpreußen nötig hat, sind Menschen, die freiwillig das deutsche Schicksal der Armut und Entbehrung, der harten Arbeit und einer langen Wartezeit auf sich nehmen.

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Bilder aus Ostpreußen

Gebiets- und Bevölkerungsverluste des Deutschen Reiches und Deutsch-Österreichs
      nach dem Jahre 1918

Das Versailler Diktat. Vorgeschichte, Vollständiger Vertragstext,
      Gegenvorschläge der deutschen Regierung

Das Buch der deutschen Heimat, Kapitel "Ostpreußen".

Die deutsche Volksgruppe in Polen 1934-39

Deutschland und der Korridor

Deutschtum in Not! Die Schicksale der Deutschen in Europa außerhalb des Reiches,
      besonders die Kapitel "Das Deutschtum in Polen",
      und "Das Deutschtum in Pommerellen und Posen".

Das Grenzlanddeutschtum,
      besonders das Kapitel "Das Grenzlanddeutschtum im polnischen Staat."

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      besonders die Kapitel "Gegnerische Gebietsforderungen und ihre Vorgeschichte: Die Polen"
      und "Gebietsverlust durch erzwungene Abtretung oder Verselbständigung:
            Posen und Westpreußen".

Deutsches Land: Das Buch von Volk und Heimat
Unter Mitarbeit von Schriftstellern aller deutschen Stämme
herausgegeben von Dr. Eugen Schmahl.
Mit einem Geleitwort von Dr. Hans Steinacher,
Reichsführer des Volksbundes für das Deutschtum im Ausland,
und mit einem Geleitschreiben von Hans Grimm.