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Deutschland östlich der Elbe - Max Wocke

Schlesien
(Sudeten, Oberschlesien, Breslau, Nordschlesien)

Breslau

Viel haben wir im deutschen Osten durch den "Friedensvertrag" von Versailles verloren: deutsche Menschen, deutsche Arbeit, deutsches Land, deutsche Städte. Die alte Hansastadt Danzig gehört nicht mehr zum Reich; auch der nördlichste Ostseehafen nicht mehr: Memel. Posen, das durch deutsche Arbeit und Kultur zur Großstadt emporwuchs, ist polnisch geworden. Königsberg ist mit ganz Ostpreußen vom Reich durch einen Streifen fremden Landes abgeschnürt. Aber die größte und lebendigste der ostdeutschen Städte - größer als Stettin und Königsberg zusammen - die Stadt, die wie ein Turm mitten aus einer weiten Ebene sich erhebt, Breslau, die alte Hauptstadt Schlesiens, ist uns geblieben. "Gruß Brassel" nennt sie der schlesische Volksmund liebevoll und ehrfürchtig zugleich.

Nicht immer hat man von Breslau mit Achtung und Liebe gesprochen. "Westliche Überheblichkeit" - so sagt Wilhelm Pinder  - hat "einen Bann auf diese reiche und schöne Stadt mit 17 alten Kirchen gelegt, gepreßt voll alter Kunst", einen Bann, den es endlich zu brechen gelte. Im 16. und 17. Jahrhundert ist das Urteil der Zeitgenossen noch einmütig: "Breslau übertrifft durch seine glückliche Ortslage, durch die Stattlichkeit seiner Bauwerke unstreitig alle Städte Deutschlands" (König Wladislaus von Böhmen und Ungarn 1505). Auch im 17. Jahrhundert wird es zu den schönsten Städten Deutschlands gezählt und der Weite und Größe nach mit Augsburg verglichen. Ganz anders urteilt das 18. und 19. Jahrhundert. Da ist nur die Rede von dem "lärmenden, schmutzigen, stinkenden Breslau, aus dem ich bald erlöst zu sein wünsche" (Goethe an Herder 1790). - "Es ist eine unreine, alt und traurig aussehende Stadt" (K. G. Küttner, Reise durch Deutschland 1798). Neu entdeckt wird die Schönheit dieser Stadt dann erst wieder im 20. Jahrhundert.

Umgeben von einem äußerst fruchtbaren Ackerbaugebiet, liegt Breslau als Brückenstadt an einem großen Strom. Aber die Hauptstadt Schlesiens ist nicht als Hafen und nicht als Brückenort groß geworden, und seine reichen Bauten verdankt es nur zum geringen Teil der Fruchtbarkeit und den Bodenschätzen des Landes. Seine Größe spiegelt eine Vergangenheit wider, deren Raum viel weiter gespannt war und über die Grenzen des heutigen Schlesiens weit hinausgriff.

Auf zweifache Weise hat die Natur die Lage Breslaus vorgezeichnet: Eine ganze Reihe von Inseln boten innerhalb einer von Überschwemmungen oft heimgesuchten Flußniederung Schutz für Siedlungen und zugleich bequemen Übergang über die 5 Kilometer breite sumpfige Odersenke. So entstand Breslau als Brückenstadt kurz oberhalb der Einmündung von vier Nebenflüssen (Weide, Ohle, Lohe, Weistritz), deren reiche Wasserläufe weiter unterhalb ein Überschreiten des Stromes schwieriger gemacht hätten. So war es zugleich mit einem Flechtwerk von Wasserwegen umgeben, das der Stadt einen vorzüglichen natürlichen Schutz bot und die niederländischen Kaufleute mit Recht an ihre Heimat [351] erinnerte. Denn soweit reichte einst der Radius des Breslauer Handels! Die Stadt lag in der Mitte eines großen Viereckes des europäischen Verkehrs, dessen Ecken durch die Städte Antwerpen, Nowgorod, Venedig, Odessa gekennzeichnet sind. Dem Zusammenstreben der Gewässer im mittelschlesischen Raume entsprach die Richtung der alten Handelsstraßen, die sich hier durch Strom-, Sumpf- und Gebirgspässe gelenkt schneiden mußten: von Wien über die Mährische Pforte, von Prag durch die Glatzer Senke am Zobtenberge vorbei, aus dem Westen der Weg von Holland und Hamburg über die "Hohe Straße", nach Norden die Wege nach Stettin, Danzig, Königsberg und Warschau, nicht zuletzt nach Osten die alte Salzstraße über Brieg und Oppeln um die niederen Beskidenpässe nach Krakau und Ungarn.

Schon zur slawischen Zeit bestand an der Oder eine um das Jahr 1000 als "Wratisla" erwähnte Siedlung, die als Bischofssitz bekannt war, mit einem Schloß, Kloster und Kirchen. Die Sage weiß von einem blinden Polenkönig zu berichten, der eine Christin zur Frau nahm, dafür das Augenlicht wieder erhielt und zum Dank an der Stätte des Wunders die Stadt gründete. Der Mittelpunkt dieses ältesten Breslau ist wahrscheinlich der heutige Ritterplatz gewesen. Auf die in seiner Nähe gelegene Adalbertkirche zielten die Fluchtlinien der Straßen Breslaus hin, die in die alten Handelswege mündeten. Als die Mongolen im 13. Jahrhundert über Schlesien hinwegstürmten, flüchteten die Bewohner auf die sichere Dominsel. Die Holzhäuser der alten Stadtanlage des linken Oderufers gingen in Flammen auf; nur die Magdalenen- und Adalbertkirche überstanden die furchtbare Heimsuchung.

Wenige Monate nach der Zerstörung erhebt sich aus der Asche des Mongolenbrandes eine neue Stadt. Die deutschen Kaufleute kennen die große Bedeutung des Breslauer Raumes und des Oderüberganges. Sie bauen eine neue deutsche Stadt auf dem erhöhten Gelände südwestlich der alten. Ihr alter Mittelpunkt wird mit dem neuen Plan durch eine gradlinige Straße verknüpft. Rings um die neue Stadt wird ein Wallgraben gebaut, in den später die Ohle geleitet wird. Kaum irgendwo im deutschen Osten ist der regelmäßige Bauplan der Kolonistenstädte noch einmal so großzügig durchgeführt worden wie hier in Breslau: Über dreieinhalb Hektar - 175 mal 208 Meter! - ist die Fläche des Ringes groß. Er liegt im Schnittpunkt der Hauptstraßen. Von der alten Magdalenenkirche rückte man ausreichend ab, schuf aber eine Seitenverbindung zu ihr. Für die neu zu errichtende Stadtpfarrkirche der hl. Elisabeth wird ein besonderer Platz neben dem Ringe ausgespart. Zwei andere, der "Salzring", der spätere Blücherplatz, und der Neumarkt bleiben für den Handel der einheimischen Erzeugnisse vorbehalten. In der Mitte des Ringes entsteht ein vielgliedriges Kaufhaus, neben dem erst im 14. Jahrhundert als jüngerer Anbau das Rathaus errichtet wurde. Heinrich IV. - in der Legende der "Minnesänger" genannt - gab der Stadt 1261 das Magdeburger und 1274 das sehr wichtige Niederlagsrecht. Dieses Recht wurde die Grundlage für das Aufblühen der Stadt und ihr Wachstum weit über die Größe einer Herzogstadt hinaus. Im Jahre 1330 hatte sie bereits den Umfang der heutigen Altstadt erreicht, und [352] 120 Jahre nach dem Mongoleneinfall standen schon - eine gewaltige Leistung - acht Gotteshäuser im Bau. Mit 25 000 Einwohnern war Breslau zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges die größte Stadt des deutschen Ostens. Prag mag etwas größer gewesen sein, Wien und Danzig etwas kleiner, Dresden, Krakau, Leipzig waren halb so groß, von Berlin gar nicht zu reden.

Aber die eigentliche Blüte- und Aufschwungszeit der Stadt war damals schon vorbei. Die Geschichte wandte sich gegen die Stadt: Die Türkenkriege machten den Handel nach dem Süden unsicher. Nach Polen waren Tuchmacher aus Schlesien ausgewandert und übten dort ihr Handwerk aus. Krakau und Thorn ließen den Breslauer Handel nicht mehr weiter vordringen. Der Übergang der polnischen Krone an Sachsen brachte den Verlust der Beziehungen zu Leipzig, und der Zugang Rußlands zum Meer führte bald zur völligen Ablenkung des russischen Handels. Noch viel nachteiliger für den Außenhandel wirkte sich dann später der Übergang zu preußischer Herrschaft auf das Land aus: Es verlor allen Warenverkehr mit Österreich und Ungarn und bekam in Pommern und der Mark nur unzureichenden Ersatz. Die nunmehr fast ganz von fremden Staatsgebieten umschlossene Provinz mußte unter dem Merkantilsystem weit mehr leiden als jedes andere Gebiet. Die handelspolitische Abschnürung von den Nachbarländern erreichte in der jüngsten Gegenwart durch das Diktat von Versailles und seine Folgen ihren Höhepunkt. Alle diese Nachteile konnten nicht wettgemacht werden durch die Verbindung der Oder mit der Elbe über den Friedrich-Wilhelm-Kanal und die Spree (1668), sie konnten nicht im vorigen Jahrhundert behoben werden durch das Aufblühen des oberschlesischen Industriegebietes, sie können auch heute nicht völlig ausgeglichen werden durch die Regulierung der Oder und die künstliche Erhaltung ihrer Wasserspiegelhöhe. So ist die alte Hansestadt des weiten Raumes zwischen der Nordsee, der Ostsee und dem Schwarzen Meer im Laufe der Geschichte ihrer eigentümlichen, von der Natur vorgezeichneten Aufgabe beraubt worden, Austauschplatz zwischen Nord und Süd, West und Ost zu sein. Das kennzeichnet die Lage von Breslau auch heute noch; für ein Wirtschaftsgebiet von nur 4,5 Millionen Einwohner ist es eine viel zu große Stadt. Das schnelle Wachstum in der Gründerzeit und seine 625 000 Einwohner dürfen darüber nicht hinwegtäuschen. Die Wohndichte ist in Breslau außerordentlich groß, die Arbeitslosigkeit größer als in anderen Städten. Noch Ende des Jahres 1936 nimmt die Stadt mit 56 Arbeitslosen auf 1000 Einwohner vor Aachen, Gelsenkirchen und Dresden die erste Stelle im Reiche ein. Im Sommer 1937 sank die Zahl auf 42 ab.

Aber die Züge der großen Vergangenheit sind unauslöschlich in das Antlitz der Stadt geprägt. Handels- und Wallfahrtstraßen kreuzten sich in Breslau, bürgerliche und geistige Mächte waren hier nebeneinander lebendig und wirksam. Die glänzende Geschichte einer alten Hansastadt und freien Stadtrepublik und die ehrwürdige Vergangenheit einer alten Bischofstadt schufen hier im deutschen Osten ein reizvolles Nebeneinander von großen Gotteshäusern und prächtigen Bürgerbauten. Drei Städtebilder: Der weitgespannte Ring mit seinem Rathaus und den umliegenden Kirchen. Die Universität mit der Jesuitenkirche und [353-360=Fotos] [361] dem Jesuitenkolleg längs der Oder. Der "stille Bezirk der Bischöflichen Gewalt auf der Dom- und Sandinsel". (Grisebach).

Zwei Stilepochen sind es, die der Stadt mit ihren Bauten das Gesicht gegeben haben: die Gotik des 13. und 14. Jahrhunderts und der Barock des beginnenden 18. Jahrhunderts. Gewiß sind es nicht Meister und Werke, die führend gewirkt haben, wohl aber Stilgestaltungen und Lösungen von Bauaufgaben, die ihr eigenes Gepräge haben. Denn der Schlesier ist - wie Gustav Freytag sagt - sehr wohl bereit, Fremdes aufzunehmen, aber "ohne das eigene Wesen aufzuopfern".

Breslau. Das Rathaus.
[283]      Breslau. Das Rathaus.
"Wie freie Bürger ihren erwählten Führer", so umstehen in einem großen Viereckplatz vornehme Giebelhäuser ihr Rathaus, das unter den wenigen schlesischen Bürgerbauten der Gotik die erste Stelle einnimmt und eines der eigenwüchsigsten Werke ist, die deutsche Profangotik geschaffen hat. Begonnen wurde der Bau, als Karl IV., der Gründer der deutschen Universität in Prag, Landesvater von Schlesien war. Er ist nicht aus sich selbst allem gewachsen, sondern in Anlehnung an die große Kaufhalle errichtet, an die später der Fürstensaal angebaut wurde - in ihm nahm Friedrich der Große die Huldigung der schlesischen Stände entgegen - und noch später die Ratsstube, der westliche und der südliche Anbau. Das war um die Wende des 15. Jahrhunderts, als der verhaßte Hussit Podiebrad plötzlich starb und Breslau den kunstliebenden Ungarnkönig Matthias Corvinus als Retter feierte. Bewundernswert ist es, mit welcher Sicherheit es die Baumeister der Spätgotik verstanden haben, ältere und neuere Teile dieses Bauwerkes zu einem einheitlichen Ganzen zusammenzuschweißen. Die ausgesprochene Vorliebe für reiche Schmuckformen - Säulen, Fialen, Erker, Figuren, Fensterbekrönungen, zierlich gemeißelte Friese - und die sparsame Durchfensterung geben dem Bauwerk etwas Gemütliches, an Süddeutschland Erinnerndes, ja stellenweise Kokettes und damit ein Leben, das sich scharf von den Rathäusern der Hansastädte an der Ostsee absetzt. Trotz des gleichen Baustoffes, des Backsteines, ist hier nicht die mächtige Wucht und sichernde Kraft von Lübeck oder Stralsund zu Hause.

Untrennbar zu Rathaus und Ring gehören die beiden Pfarrkirchen von Alt-Breslau: St. Magdalenen und St. Elisabeth. In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts wurden sie erbaut, nicht in Hallenform, sondern als Basiliken ohne Querschiff. Diese Raumform hat mit dem Eintritt Breslaus in die Hansa und mit der baltischen Backsteingotik nichts zu tun. St. Magdalenen ist vor allem durch Einzelheiten bekannt. Die Südseite birgt eines der ältesten Breslauer Baudenkmäler, das "Türgerüste" der ehemaligen Vinzenzkirche auf dem Elbing, die zur Zeit der Türkenkriege vorsorglich abgebrochen wurde. Die Stadt ließ das romanische Portal an der Südseite der Kirche einbauen (1546). In St. Magdalenen predigte Johann Heß aus Nürnberg anno 1523 als erster den Protestantismus in Schlesien. Zwei Westtürme flankieren die Baumasse der Kirche und führen sie empor. Der eine trägt die Armesünderglocke, bekannt durch Wilhelm Müllers Glockenguß von Breslau: "War einst ein Glockengießer zu Breslau in der Stadt"... Die Brücke, die beide Türme verbindet, [362] wird allmitternächtlich - so erzählt die Sage - von eitlen Jungfern, die ihr Lebtag nicht zur Arbeit kommen, gefegt.

Die Kühnheit der Tiefe und Schlankheit der Höhe wird bei St. Elisabeth noch gesteigert. Über 66 Meter dehnt sich diese basilikale Stadtkirche, über 30 Meter steigt sie empor, ihre Nebenschiffe im Hauptschiff um das Doppelte überragend. Sie war die Lieblingskirche der Breslauer Patrizier, und ihr Inneres birgt manchen wertvollen Schatz; darunter einige Ölbilder von Lukas Cranach und Michael Willmann, dem schlesischen "Raffael". Der Außenbau spricht die selbstbewußte Sprache des Bauwillens einer Bürgerschaft zur Zeit ihrer größten Macht. Der einzige Turm ist das riesige Wahrzeichen der Stadt, bei dessen Anblick Goethe seinen Totentanz schrieb. Durch den Verlauf einer Nebenstraße - das erinnert an südliche Vorbilder - ist er in seitliche Stellung gekommen und schnellt in seiner Schlankheit hoch empor, mit seiner Haube die beiden Türme der Magdalenenkirche weit überragend. Die Wirkung wird noch gesteigert durch ein altes barockes Friedhofsportal, das sich - mit Heiligen-Standbildern geschmückt - zwischen zwei beiderseitig angebauten Altaristenhäusern spannt und den Eingang zum Kirchplatz bildet.

Nicht weit davon ein ganz anderes Bild: die Weißgerberohle. Ehemals ein Fluß, nach der Choleraepidemie von 1866 zugeschüttet, heute eine stille Hintergasse mit malerischen Giebelhäusern, verziert mit hölzernen Altanen und Weingerank. Hier ist der eine Schauplatz des großen Kaufmannsromanes des Schlesiers Gustav Freytag. Das alte Geschäftshaus der Firma Schröter steht in entgegengesetzter Richtung vom Ring, in der Albrechtstraße. Als Karl IV. seine Residenz an der Stelle der heutigen Universität errichtete, war die Dominsel, die seit der Mitte des 13. Jahrhunderts den Herzogpalast getragen hatte, zum alleinigen Herrschaftsbereich der geistlichen Welt geworden. Auch heute noch ist sie in ausgesprochener Schutzlage - freilich nicht mehr vor Türken oder Mongolen - wohl aber vor dem Getriebe der Großstadt. Die beiden großen Oderbrückenstraßen liegen fern von ihr, die beiden kleineren lassen sie wie eine Insel im Verkehrsschatten liegen. Einige Gäßchen tragen heute noch echte Katzenköpfe, armseliges Pflaster. Auch im Schatten der Wohndichte liegt dieser stille Stadtteil: Hier wohnen für Breslauer Verhältnisse nur sehr wenig Menschen. Aber unzählige Tauben nisten in dem Gemäuer der Kirchen, und mitternachts hört man jeden Schritt von den Wänden der stillen Häuser widerhallen. Kaum eine andere deutsche Stadt hat mitten in ihrem Kern eine solche Insel der Ruhe und des Friedens. Von der Promenade jenseits der Oder und der auf ihr gelegenen Holteihöhe genießt man einen wunderbaren Blick: Breit und ruhig fließt der Strom dahin; Wassersport und Wasserverkehr haben weiter aufwärts ihr Reich und ihre Tummelstätte. Sicher und ruhig umschließen die Fluten die beiden Eilande, die Dominsel und die Sandinsel. Die Mauern zum Fluß sind im Frühjahr überflutet von gelben Forsythien, deren biegsames Zweigwerk zum Wasser hinunterfällt. Große Fliederbüsche darüber. Zwischen den wolkigen Kuppeln von Ahorn, Zitterpappel,

Breslau. Hof des Fürstbischöflichen Hauses mit den Domtürmen.
[285]      Breslau. Hof des Fürstbischöflichen Hauses mit den Domtürmen.
Kastanie und Linde ragen die Türme der Gotteshäuser in den Himmel. Durch das zarte gelbe und warm braunrote Blattwerk schimmern die Dächer der Häuser von Domherren und [363] Kirchenbeamten, dem Kurfürstlichen Waisenhaus und der Fürstbischöflichen Residenz. Neben dem barocken Bau der Staats- und Universitätsbibliothek - ehemalige Klosterbauten - ruht das für schlesische Kirchen ungewöhnlich flache Dach der Marienkirche auf dem Sande; sie ist die erste der beiden Hallenkirchen, die die Augustiner in Breslau errichteten. Nicht weit davon stößt der nadelspitze Turmhelm der Kreuzkirche in den Himmel hinauf, und von ihm durch eine Blickspanne getrennt der Dom - 1244 begonnen, 1272 geweiht - mit seinem grünen Patinadach und den beiden schlanken Türmen. "Wie eine Stadt für sich auf heiliger Erde stehen die drei Kirchen". (H. Ch. Kaergel).

Der Dom ist ein Ziegelbau mit Werksteinverzierungen. Der Querschnitt ist der einer gotischen Basilika, um die sich zur Barockzeit ein Kranz von schönen Kapellen legte. Im Innern sind eine Reihe von berühmten schlesischen, Nürnberger, Augsburger und italienischen Meistern mit Bildern und Skulpturen vertreten. Das Bistum war so reich, daß es das "goldene" genannt wurde. Einer der reizvollsten Blicke auf die eigentümliche Verschwisterung von Backsteindom und barocken Kapellen hat man durch das sogenannte Klößeltor, ein Barocktor, das jedes Kind in Breslau kennt, weil darauf ein Klößel, das schlesische Leibgericht - in Wirklichkeit eine alte Kanonenkugel - angebracht ist. Dicht daneben steht das kleine Aegidiikirchlein, einer der Reste, die zum ältesten Bauwerk von Breslau, dem Vinzenzkloster, gehören.

Unsere besondere Liebe gilt der Kreuzkirche. Sie ist die eigentümlichste Prägung schlesischen gotischen Geistes, ein sehr rassiges Bauwerk. Es ist ein Gebilde völlig selbständiger Art, für das der Meister kein Vorbild gehabt haben kann. Der Chor birgt das Grabmal des Stifters Herzog Heinrichs IV. Zwischen dem Langhause und dem Querschiff sind zwei Türme angebaut, von denen aber nur der eine mit spitzem Turmhelm vollendet wurde. Zwei Kirchen liegen übereinander. Der Sockelbau der kryptenartig gedrückten Unterkirche gibt dem Ganzen ein kräftiges Aufwärtsschwingen. Ähnlich wie bei der Elisabethkirche wirkt auch hier die unregelmäßige Gruppierung zusammen mit dem steilen Dach besonders anziehend. "Es gibt wenige Bauten aus dem 14. Jahrhundert, die in ihrem vertikalen Hochgefühl mitt solch jugendlicher Spannkraft auftreten". (Grisebach). Auch eine andere Eigentümlichkeit des schlesischen Backsteinbaues tritt an der Kreuzkirche hervor: Der Schlesier kennt nur sehr wenig die Backsteinornamentik der norddeutschen Stilprovinz. Für Portale, Maßwerk, Gesims und andere Gliederungen steht ihm Haustein zur Verfügung. Aber es wäre oberflächlich, diese Eigentümlichkeit nur aus dem Zufall der Nähe von Sandstein abzuleiten. Die Freude an der Verarbeitung dieses Baustoffes reicht tiefer. Sie entspricht der schlesischen Auffassung der Backsteingotik überhaupt: immer wieder zeichnet die Kirchen eine gewisse Schlankheit und Sehnigkeit des Wuchses aus, eine Freude an Kühnheit und Außergewöhnlichkeit der Konstruktion, ein Behagen an zierlichem Schmuckwerk, "eine gewisse Feingliederigkeit und phantastische Spitzigkeit des Wuchses" (Burmester), die besonders durch steile Dächer und schlanke Türme erreicht wird. Es sieht so aus, als ob hier gewisse Eigentümlichkeiten des Schlesiers in den Bauwerken lebendig geworden sind. Uns fallen [364] Worte von Hermann Stehr ein. Er spricht einmal von dem "schalkhaft spöttischen", von dem "versonnenen, leichtsinnigen, träumerischen Wesen", von dem Gemüt des Schlesiers, der "phantastisch und unergründlich zugleich" ist, von seiner künstlerischen Begabung, von seiner "heiteren Gelenkigkeit und seinem nie besiegbaren Verstocktsein". Eigenwillige Kraft, Überschwenglichkeit und Formenfreude sind in den schlesischen Gotteshäusern deutlich lebendig geworden.

Noch einmal im Laufe der Baugeschichte tritt Schlesien mit Werken hervor, die dem Gesicht seiner Städte ein besonderes Gepräge geben. Noch einmal verbinden sich in Breslau der ruhig dahinfließende Strom und ein Bauwerk zu einem Stadtbild von unvergeßlicher Wirkung: Am Ufer der Oder wächst der elegante Bau des Jesuitenkollegs, der späteren Friedrich-Wilhelm-Universität, empor, und in ihrer unmittelbaren Umgebung entsteht im 18. Jahrhundert ein Baubezirk echt schlesischen Barocks. Die Entwicklung der Breslauer Universität beginnt mit dem Jahre 1659, als die Jesuiten ihre Breslauer Schule in die ehemalige Kaiserliche Burg verlegten. Ein halbes Jahrhundert später erhob sie Kaiser Leopold zur Universität mit zwei Fakultäten. 1728 erfolgte die Grundsteinlegung des heutigen Gebäudes. Die eigentliche Gründung erfolgte dann aber erst 1811, als die Frankfurter "Viadrina", die 1506 als erste deutsche Ostuniversität gegründet wurde, nach Breslau verlegt wurde. Dieser Tag ist der Gründungstag der Breslauer Friedrich-Wilhelm-Universität. Sie entstand in schwerster Zeit aus dem Geiste des deutschen Idealismus: "Der Staat muß durch geistige Kräfte ersetzen, was er an physischen verloren", so sagte Friedrich Wilhelm III. Mit zündender Rede rief vom Katheder eines Hörsaales Professor Steffens damals die Studenten und Bürger auf, dem Rufe des Königs zu folgen, und griff damit buchstäblich in das Rad der Weltgeschichte ein.

Breslau. Die Universität.
[284]      Breslau. Die Universität.

Mit der gewaltigen Front von 135 Metern zieht sich das Gebäude an der Oder entlang. Ursprünglich war es auf 200 Meter Länge geplant. Wer der künstlerische Schöpfer gewesen ist, wissen wir nicht. Wenn es auch bei barocken Bauten nicht ungewöhnlich ist, daß mehrere Meister sich an einem Werke beteiligen, so spricht doch die Einheitlichkeit der baulichen Leistung gegen eine Kollektivarbeit. Das große Portal, ein Werk des Bamberger Meisters Johann Albrecht Siegwitz, führt mit reicher Verzierung auf die schön geschwungene Doppeltreppe zu. In seiner südlichen Formgebung und Leichtigkeit erinnert es an Werke von Prag und Wien. Der damaligen Bauauffassung entsprechend liegt es nicht an der weitgeöffneten Front der Wasserseite, sondern an der stillen Stadtseite, fast versteckt in einem Winkel. Für die innere Gliederung des Baues schrieb die langgestreckte Form alles vor: An langen Gängen sind die Unterrichtsräume aufgereiht. Das "Oratorium Marianum", der heutige Musiksaal, und die Aula Leopoldina sind nur eine Geschoßhöhe hoch. Beiden Räumen ist die an die Gliederung des Kirchenraumes erinnernde Dreiteilung eigentümlich. - In der mit der Universität unmittelbar verbundenen Matthiaskirche findet die barocke Pracht der beiden Säle ihre Fortsetzung und Steigerung. Das Bauwerk ist Ende des 17. Jahrhunderts entstanden. Die üppige Ausschmückung ist eine Arbeit des Pozzoschülers Christoph Tausch, der an der Gliederung in Vorjoch, [365] Langhaus und Chor nichts änderte, es aber verstand, bei allem Reichtum des Schmuckes und der Farben eine große Einheit zu schaffen.

Aber nicht nur Breslau, sondern ganz Schlesien hat in der Zeit, da es zu Österreich gehörte, seinen Beitrag zum deutschen Barock geliefert. Wir verlassen kurz die Hauptstadt zu einer Barockreise in die Provinz: Auch im Lande sind es nicht die Fürsten gewesen, sondern hier wie da Orden und Kirche, die aus Österreich, Böhmen und Franken mit Aufträgen die Künstler in das Land riefen. Die ersten sind die Jesuitenbauten in Glatz, später in Neiße und dann die Matthiaskirche in Breslau. Alle drei in Gliederung, Raumverhältnissen und Farbgebung noch streng gehalten. Am Anfange des 18. Jahrhunderts werden in der Jesuitenkirche von Liegnitz und der Kreuzherrenkirche zu Neiße die Pilaster herausgerückt und schräg gestellt. So entsteht ein "Mehr von Überschneidung und Lockerung". Dasselbe zeigt sich auch in der ehemaligen Benediktinerinnenkirche von Kloster Liebenthal von 1726. Inmitten der weit geschwungenen, ruhig gleitenden Kammflächen des Isergebirgsvorlandes ragt diese barocke Fassade völlig unerwartet auf. Der langgestreckte, etwas eingemuldete Straßenplatz des Ringes, die Lauben der einstöckig gegiebelten Häuser und die darüber hochaufragende Klosterkirche schaffen ein Bild, das an Städte Böhmens und Mährens erinnert. Das Bauwerk selbst reicht freilich an die Neißer Kirche nicht heran, die aber von zwei anderen überragt wird: Grüssau und Wahlstatt.

Alle diese Kloster- und Schulbauten hatten das Ziel, über die Kirche das schlesische Land fester mit Österreich zu verbinden, um den wachsenden Einfluß von Berlin zu schwächen.

Grüssau, Schlesien. Klosterkirche.
[286]      Grüssau (Schlesien). Klosterkirche.

Die Zisterzienser-Stiftskirche in Grüssau - 1728 bis 1735 erbaut - von Gurlitt als "das Hauptstück des schlesischen Barocks" bezeichnet, liegt in der Nähe von Landeshut in einer Senke zwischen dem Riesengebirge und dem Waldenburger Bergland. In nächster Nachbarschaft erheben sich die barocken Vulkankegel des Rabengebirges und die bizarren Säulen und Türme der Adersbach-Weckelsdorfer Sandsteinfelsenwelt. Die Stiftskirche ist eine kreuzförmige, fünfjochige Hallenkirche, die im beweglichen Fluß ihrer Gliederung die Bauten von Liegnitz und Neiße, ja sogar Prag übertrifft. Das ist ihre echt schlesische Eigentümlichkeit. Der üppige figürliche Schmuck der Fassade stammt von einem Prager Meister, und die phantastisch behelmten Türme machen das Bauwerk zu einem der reizvollsten des deutschen Hochbarock.

Zwischen der alten Piastenstadt Liegnitz und der im hügeligen Vorlande gelegenen Stadt Jauer erhebt sich eine Anhöhe, unter der im Jahre 1241 ein schlesischer Herzog tapfer kämpfend fiel und mit Rittern, Bürgern und Bergknappen das Schicksal Schlesiens und des Abendlandes entschied: Wahlstatt. Hier baute Kilian Ignatz Dientzenhofer den Benediktinern eine Klosterkirche, die 1731 geweiht wurde. Sie erinnert weit mehr als alle anderen an den Barock Böhmens. - Südlich Breslau liegt das etwas altertümliche, aber wunderbar in seine Umgebung gebaute Heinrichau. Noch schöner ist Kloster Leubus, das über der Oder frei in der Landschaft zwischen Maltsch und Steinau gelegen ist. Zisterzienser aus Pforta an der Saale er- [366] richteten hier 1175 eine Niederlassung. In vorbildlicher Form wurde die alte gotische Kirche dem neuen Bauwerk und seinem Leben eingeordnet. Wahrhaft festlich und feierlich liegt diese in ihrer Gliederung recht strenge Schöpfung mit einer 225 Meter langen Front über den Eichenwipfeln der Oderwälder und dem breiten Strome, auf dem die langgestreckten Lastkähne das Spiegelbild der ragenden Türme immer wieder zerteilen.

Doch nun zurück zu Breslau, hinein in die Gegenwart! Die schlesische Hauptstadt ist nicht nur eine Stadt der Gotik und des Barocks, nicht nur ein Museum von spitzgiebligen Bürgerhäusern und ein Tummelplatz seltsamer Straßennamen und alter Portale, die viel erzählen können; sie hat nicht nur eine Reihe von alten Museen - in dem bedeutendsten, dem der bildenden Künste, findet der Kunstfreund eine Reihe von Originalen berühmter Meister, wie vor allem Willmann, Menzel, Böcklin, Schwind, Thoma und andere - sie hat nicht nur ein von Friedrich dem Großen erbautes Schloß, in dem Friedrich Wilhelm III., als der große Freiheitskampf in Breslau zuerst aufloderte, seinen Aufruf "An mein Volk" erließ, es ist nicht mehr eine Stadt von 60 000 Einwohnern, sondern von über 600 000, es ist zwar nicht mehr die Handelsstadt des europäischen Ostens, wohl aber eine große Garten- und Industriestadt in einer reichen Provinz, in der Nähe eines reichen Industriebezirkes, unmittelbar an einem großen Strom gelegen, umgeben von einem fruchtbaren Ackerbaugebiet. Die Wahrzeichen dieses Breslau von heute sind Bauten der Arbeit, des Handels, des Verkehrs, der Feier. Aus welcher Richtung man sich der Stadt auch nähert - überall greifen ragende Essen, Türme, fensterreiche Kaufhausfronten, Brückenbogen, Kuppeln und andere Bauten der neuen Zeit in die bewegte Silhouette der Stadt ein.

Ein Vorläufer neuer architektonischer Gesinnung ist das schon im Jahre 1871 fertiggestellte Wasserhebewerk, körperlich kraftvoll an das Ufer der Oder gesetzt. Mit der stillen Dominsel im Rücken bietet sich dem Beschauer im Winter von der Lessingbrücke aus nach Osten ein einzigartiges Stadtbild: Zwischen den beiden granitnen Tortürmen der Kaiserbrücke, die zwei girlandenartig leicht durchhängende Bogen spielend tragen, richtet sich wuchtig und gegensätzlich schwer der dunkelviolettrote Backsteinkubus des Wasserwerkes mit seinen durch hohe Bogennischen und dazwischengreifende Strebepfeiler gegliederten Wänden auf. An dem schweren Klotz vorbei und unter der Brückenwölbung hindurch gleiten lautlos die Eisschollen den breiten Fluß abwärts. Nur auf den Sandbänken und den vom Eise bedeckten stromstillen Flächen der Buhnenräume herrscht ein bewegteres Leben: Tausende von wilden Enten - buntschillernde Erpel und bescheiden gekleidete Enten - lassen sich hier zur kalten Jahreszeit nieder, um sich von Jung und Alt mit Brot und Semmel durch den Winter füttern zu lassen.

Zwischen dem Zoologischen Garten und dem Scheitniger Park - ehemalige Reste der Odertalsenke - stehen die großen Baudenkmäler des Erinnerungsjahres 1913, die das Andenken jener großen Zeit erhalten sollen, in der in Schlesien zuerst die Fahne der Erhebung geschwungen wurde: Poelzigs großzügige, in einem weiten Parabelschwung ausholende Pergola, sein Ausstellungsbau und [367] schließlich der riesige Kuppelraum der Jahrhunderthalle, alles drei zu einer monumentalen Einheit verschmolzen. Der für Ausstellungen, Versammlungen und große Vorführungen gedachte Bau der Jahrhunderthalle ist ein Zentralbau mit vier Apsiden, einer Grundfläche von rund 10 000 Quadratmeter und ungefähr 20 000 Stehplätzen. Mit ihrem Durchmesser von 65 Meter Spannweite übertrifft sie die bisher größten Kuppelbauten der Welt, die Hagia Sophia in Konstantinopel und das Pantheon in Rom. Auch die Orgel hat Rekordmaße: mit 15 000 Pfeifen war sie bis vor kurzem die größte der Welt. Jetzt ist es die Nürnberger. Den Schöpfungen Poelzigs gut angepaßt erhebt sich neben der Jahrhunderthalle der 1924 erbaute Messehof, ein einfacher Hallenbau, dessen Decke von freischwebenden Segmentbögen getragen wird.

Im Norden und Westen der Stadt regieren in den Außenbezirken Esse und Rauchfahne. Zunächst ist es die Nahrungsmittel- und Genußmittel-Industrie, die in Breslau durch das reiche Landwirtschaftsgebiet rohstoffständig ist und durch den großen Verbrauch der Bevölkerung für Absatz nicht zu sorgen braucht. Zuckerfabriken, Mühlen, Konservenfabriken, Zigarettenwerke und vor allem die Brauereien, die auf eine lange Tradition zurückblicken können. Die Nähe des oberschlesischen Industriegebietes und der billige Wasserweg der Oder haben eine ganze Reihe von Spezialbetrieben und Großunternehmungen der metallverarbeitenden Industrie entstehen lassen. Nicht nur im Reich, sondern in ganz Europa, ja auch in den Überseeländern konnte sie sich vor dem Kriege mit ihren Erzeugnissen durchsetzen. Weit bekannt ist die Fabrik landwirtschaftlicher Maschinen von Kemna, die die großen Dampfpflüge für die Urbarmachung der Pontinischen Sümpfe in Italien geliefert hat. Noch berühmter ist die größte Waggon-, Maschinen- und Lokomotivfabrik des Kontinents: die Linke-Hofmann-Werke. Hier sind eine Reihe der schnellsten Maschinen und Triebwagen der Reichsbahn erbaut. Auch der doppelstöckige Eisenbahnzug der Strecke Hamburg - Lübeck - Travemünde ist ein Werk dieses Unternehmens. Heute besteht der Umsatz bereits wieder zu 40 Prozent aus Auslandslieferungen.

Hand in Hand mit dieser Industrialisierung ging das Bestreben der Stadt, ihren Wohn- und Bauraum zu vergrößern. Diese Veränderungen zeigt der Blick aus dem Flugzeug. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Breslau eine stark übervölkerte Stadt. Noch 1914 wohnten im Durchschnitt in jedem Haus 50 Einwohner. Jetzt sind im Süden und Osten große Wohnviertel entstanden mit Grünanlagen, Wasserflächen und Sportplätzen. Durch Eingemeindungen sind weite Gebiete in die Stadt aufgenommen worden, darunter auch die Oderwälder der Strachate, die von Oßwitz und Pilsnitz. Zur Entlastung der Eisenbahn ist im Süden für die Güterzüge eine Umgehungsbahn gebaut; ihr "nasses Gegenstück" ist die 1917 vollendete Breitenbachfahrt im Osten, durch die der ganze Schiffsverkehr geführt wird. An diesem Kanal ist der Breslauer Hafen entstanden, und eine Reihe von Fabriken haben sich hier angesiedelt und ein großes Industrieviertel entstehen lassen.

Wenn Breslau auch heute noch eine verhältnismäßig große Wohndichte hat, so ist der Breslauer doch nicht verstädtert. Im Gegenteil! Er freut sich, [368] wenn an Markttagen die Bauern mit Karren und Lastwagen im Straßenbilde erscheinen. Auch Volksbräuche sind in dieser Stadt von über 600 000 Einwohnern noch "gang und gebe". Als ich als Student im Examensemester einmal über die Osterferien zur Arbeit in Breslau blieb, wurde ich am Sonntag Laetare in früher Morgenstunde von vielen Kinderstimmen geweckt: "Summer, Summer, Summer, ich bin e kleener Pummer! Laß mich nicht zu lange stiehn, i muß a Häusla weiter giehn!" Da fiel mir ein, was unser Vater uns immer am Sonntag Laetare vom Sommersingen in seiner schlesischen Heimat erzählt hatte. Mit einem Sommerstock, behängt mit bunten Bändern und Blumen, den die Mutter auf dem Markte kaufen mußte, und einem manchmal hübsch großen Sack für die Gaben ziehen an diesem Sonntage die Kinder in allen Orten Schlesiens herum, den Sommer einzusingen. Die Hausfrauen haben vorgesorgt, denn zugleich mit den Sommerstöcken auf dem Markt tauchen in den Bäckerläden körbeweise die Schaumbretzeln auf und die "Mehlweißen", ein einfaches Gebäck, das nur zum Sonntag Laetare zu haben ist. Aber manchmal gibt es auch nichts, und die Türe wird wütend zugeworfen. Dann wird das anderes Lied gesungen: "Hühnermist, Taubenmist, in diesem Hause gibt es nischt! S's ne reene Schande von soner reichen Bande!" Aber meist freut sich jeder Schlesier, wenn die Kinder zusammen mit den Vögeln den Frühling einsingen. Auch in der Großstadt von 600 000 Einwohnern!

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