[350]
Deutschland östlich
der Elbe - Max
Wocke
Schlesien
(Sudeten, Oberschlesien, Breslau, Nordschlesien)
Breslau
Viel haben wir im deutschen Osten durch den "Friedensvertrag" von Versailles
verloren: deutsche Menschen, deutsche Arbeit, deutsches Land, deutsche
Städte. Die alte Hansastadt Danzig gehört nicht mehr zum Reich;
auch der nördlichste Ostseehafen nicht mehr: Memel. Posen, das durch
deutsche Arbeit und Kultur zur Großstadt emporwuchs, ist polnisch
geworden. Königsberg ist mit ganz Ostpreußen vom Reich durch
einen Streifen fremden Landes abgeschnürt. Aber die größte
und lebendigste der ostdeutschen Städte - größer als
Stettin und Königsberg zusammen - die Stadt, die wie ein Turm
mitten aus einer weiten Ebene sich erhebt, Breslau, die alte Hauptstadt
Schlesiens, ist uns geblieben. "Gruß Brassel" nennt sie der schlesische
Volksmund liebevoll und ehrfürchtig zugleich.
Nicht immer hat man von Breslau mit Achtung und Liebe gesprochen. "Westliche
Überheblichkeit" - so sagt Wilhelm
Pinder  - hat "einen Bann auf diese reiche und schöne Stadt mit
17 alten Kirchen gelegt, gepreßt voll alter Kunst", einen Bann, den es
endlich zu brechen gelte. Im 16. und 17. Jahrhundert ist das Urteil der
Zeitgenossen noch einmütig: "Breslau übertrifft durch seine
glückliche Ortslage, durch die Stattlichkeit seiner Bauwerke unstreitig alle
Städte Deutschlands" (König Wladislaus von Böhmen und
Ungarn 1505). Auch im 17. Jahrhundert wird es zu den schönsten
Städten Deutschlands gezählt und der Weite und Größe
nach mit Augsburg verglichen. Ganz anders urteilt das 18. und
19. Jahrhundert. Da ist nur die Rede von dem "lärmenden,
schmutzigen, stinkenden Breslau, aus dem ich bald erlöst zu sein
wünsche" (Goethe an Herder 1790). - "Es ist eine unreine, alt und
traurig aussehende Stadt" (K. G. Küttner, Reise durch Deutschland
1798). Neu entdeckt wird die Schönheit dieser Stadt dann erst wieder im
20. Jahrhundert.
Umgeben von einem äußerst fruchtbaren Ackerbaugebiet, liegt
Breslau als Brückenstadt an einem großen Strom. Aber die
Hauptstadt Schlesiens ist nicht als Hafen und nicht als Brückenort
groß geworden, und seine reichen Bauten verdankt es nur zum geringen Teil
der Fruchtbarkeit und den Bodenschätzen des Landes. Seine
Größe spiegelt eine Vergangenheit wider, deren Raum viel weiter
gespannt war und über die Grenzen des heutigen Schlesiens weit
hinausgriff.
Auf zweifache Weise hat die Natur die Lage Breslaus vorgezeichnet:
Eine ganze Reihe von Inseln boten innerhalb einer von
Überschwemmungen oft heimgesuchten Flußniederung Schutz
für Siedlungen und zugleich bequemen Übergang über die
5 Kilometer breite sumpfige Odersenke. So entstand Breslau als
Brückenstadt kurz oberhalb der Einmündung von vier
Nebenflüssen (Weide, Ohle, Lohe, Weistritz), deren reiche
Wasserläufe weiter unterhalb ein Überschreiten des Stromes
schwieriger gemacht hätten. So war es zugleich mit einem Flechtwerk von
Wasserwegen umgeben, das der Stadt einen vorzüglichen natürlichen
Schutz bot und die niederländischen Kaufleute mit Recht an ihre Heimat
[351] erinnerte. Denn soweit
reichte einst der Radius des Breslauer Handels! Die Stadt lag in der Mitte eines
großen Viereckes des europäischen Verkehrs, dessen Ecken durch die
Städte Antwerpen, Nowgorod, Venedig, Odessa gekennzeichnet sind. Dem
Zusammenstreben der Gewässer im mittelschlesischen Raume entsprach
die Richtung der alten Handelsstraßen, die sich hier durch
Strom-, Sumpf- und Gebirgspässe gelenkt schneiden mußten: von
Wien über die Mährische Pforte, von Prag durch die Glatzer Senke
am Zobtenberge vorbei, aus dem Westen der Weg von Holland und Hamburg
über die "Hohe Straße", nach Norden die Wege nach Stettin, Danzig,
Königsberg und Warschau, nicht zuletzt nach Osten die alte
Salzstraße über Brieg und Oppeln um die niederen
Beskidenpässe nach Krakau und Ungarn.
Schon zur slawischen Zeit bestand an der Oder eine um das Jahr 1000 als
"Wratisla" erwähnte Siedlung, die als Bischofssitz bekannt war, mit einem
Schloß, Kloster und Kirchen. Die Sage weiß von einem blinden
Polenkönig zu berichten, der eine Christin zur Frau nahm, dafür das
Augenlicht wieder erhielt und zum Dank an der Stätte des Wunders die
Stadt gründete. Der Mittelpunkt dieses ältesten Breslau ist
wahrscheinlich der heutige Ritterplatz gewesen. Auf die in seiner Nähe
gelegene Adalbertkirche zielten die Fluchtlinien der Straßen Breslaus hin,
die in die alten Handelswege mündeten. Als die Mongolen im
13. Jahrhundert über Schlesien hinwegstürmten,
flüchteten die Bewohner auf die sichere Dominsel. Die Holzhäuser
der alten Stadtanlage des linken Oderufers gingen in Flammen auf; nur die
Magdalenen- und Adalbertkirche überstanden die furchtbare
Heimsuchung.
Wenige Monate nach der Zerstörung erhebt sich aus der Asche des
Mongolenbrandes eine neue Stadt. Die deutschen Kaufleute kennen die
große Bedeutung des Breslauer Raumes und des Oderüberganges. Sie
bauen eine neue deutsche Stadt auf dem erhöhten Gelände
südwestlich der alten. Ihr alter Mittelpunkt wird mit dem neuen Plan durch
eine gradlinige Straße verknüpft. Rings um die neue Stadt wird ein
Wallgraben gebaut, in den später die Ohle geleitet wird. Kaum irgendwo im
deutschen Osten ist der regelmäßige Bauplan der
Kolonistenstädte noch einmal so großzügig durchgeführt
worden wie hier in Breslau: Über dreieinhalb
Hektar - 175 mal 208 Meter! - ist die Fläche des Ringes
groß. Er liegt im Schnittpunkt der Hauptstraßen. Von der alten
Magdalenenkirche rückte man ausreichend ab, schuf aber eine
Seitenverbindung zu ihr. Für die neu zu errichtende Stadtpfarrkirche der
hl. Elisabeth wird ein besonderer Platz neben dem Ringe ausgespart. Zwei
andere, der "Salzring", der spätere Blücherplatz, und der Neumarkt
bleiben für den Handel der einheimischen Erzeugnisse vorbehalten. In der
Mitte des Ringes entsteht ein vielgliedriges Kaufhaus, neben dem erst im
14. Jahrhundert als jüngerer Anbau das Rathaus errichtet wurde.
Heinrich IV. - in der Legende der "Minnesänger"
genannt - gab der Stadt 1261 das Magdeburger und 1274 das sehr wichtige
Niederlagsrecht. Dieses Recht wurde die Grundlage für das
Aufblühen der Stadt und ihr Wachstum weit über die
Größe einer Herzogstadt hinaus. Im Jahre 1330 hatte sie bereits den
Umfang der heutigen Altstadt erreicht, und [352] 120 Jahre nach dem
Mongoleneinfall standen schon - eine gewaltige
Leistung - acht Gotteshäuser im Bau. Mit 25 000
Einwohnern war Breslau zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges die
größte Stadt des deutschen Ostens. Prag mag etwas
größer gewesen sein, Wien und Danzig etwas kleiner, Dresden,
Krakau, Leipzig waren halb so groß, von Berlin gar nicht zu reden.
Aber die eigentliche Blüte- und Aufschwungszeit der Stadt war damals
schon vorbei. Die Geschichte wandte sich gegen die Stadt: Die
Türkenkriege machten den Handel nach dem Süden unsicher. Nach
Polen waren Tuchmacher aus Schlesien ausgewandert und übten dort ihr
Handwerk aus. Krakau und Thorn ließen den Breslauer Handel nicht mehr
weiter vordringen. Der Übergang der polnischen Krone an Sachsen brachte
den Verlust der Beziehungen zu Leipzig, und der Zugang Rußlands zum
Meer führte bald zur völligen Ablenkung des russischen Handels.
Noch viel nachteiliger für den Außenhandel wirkte sich dann
später der Übergang zu preußischer Herrschaft auf das Land
aus: Es verlor allen Warenverkehr mit Österreich und Ungarn und bekam in
Pommern und der Mark nur unzureichenden Ersatz. Die nunmehr fast ganz von
fremden Staatsgebieten umschlossene Provinz mußte unter dem
Merkantilsystem weit mehr leiden als jedes andere Gebiet. Die handelspolitische
Abschnürung von den Nachbarländern erreichte in der
jüngsten Gegenwart durch das Diktat von Versailles und seine Folgen ihren
Höhepunkt. Alle diese Nachteile konnten nicht wettgemacht werden durch
die Verbindung der Oder mit der Elbe über den
Friedrich-Wilhelm-Kanal und die Spree (1668), sie konnten nicht im vorigen
Jahrhundert behoben werden durch das Aufblühen des oberschlesischen
Industriegebietes, sie können auch heute nicht völlig ausgeglichen
werden durch die Regulierung der Oder und die künstliche Erhaltung ihrer
Wasserspiegelhöhe. So ist die alte Hansestadt des weiten Raumes zwischen
der Nordsee, der Ostsee und dem Schwarzen Meer im Laufe der Geschichte ihrer
eigentümlichen, von der Natur vorgezeichneten Aufgabe beraubt worden,
Austauschplatz zwischen Nord und Süd, West und Ost zu sein. Das
kennzeichnet die Lage von Breslau auch heute noch; für ein
Wirtschaftsgebiet von nur 4,5 Millionen Einwohner ist es eine viel zu
große Stadt. Das schnelle Wachstum in der Gründerzeit und seine
625 000 Einwohner dürfen darüber nicht
hinwegtäuschen. Die Wohndichte ist in Breslau außerordentlich
groß, die Arbeitslosigkeit größer als in anderen Städten.
Noch Ende des Jahres 1936 nimmt die Stadt mit 56 Arbeitslosen auf 1000
Einwohner vor Aachen, Gelsenkirchen und Dresden die erste Stelle im Reiche
ein. Im Sommer 1937 sank die Zahl auf 42 ab.
Aber die Züge der großen Vergangenheit sind unauslöschlich
in das Antlitz der Stadt geprägt. Handels- und Wallfahrtstraßen
kreuzten sich in Breslau, bürgerliche und geistige Mächte waren hier
nebeneinander lebendig und wirksam. Die glänzende Geschichte einer alten
Hansastadt und freien Stadtrepublik und die ehrwürdige Vergangenheit
einer alten Bischofstadt schufen hier im deutschen Osten ein reizvolles
Nebeneinander von großen Gotteshäusern und prächtigen
Bürgerbauten. Drei Städtebilder: Der weitgespannte Ring mit seinem
Rathaus und den umliegenden Kirchen. Die Universität mit der
Jesuitenkirche und [353-360=Fotos] [361] dem
Jesuitenkolleg längs der Oder. Der "stille Bezirk der Bischöflichen
Gewalt auf der Dom- und Sandinsel". (Grisebach).
Zwei Stilepochen sind es, die der Stadt mit ihren Bauten das Gesicht gegeben
haben: die Gotik des 13. und 14. Jahrhunderts und der Barock des
beginnenden 18. Jahrhunderts. Gewiß sind es nicht Meister und
Werke, die führend gewirkt haben, wohl aber Stilgestaltungen und
Lösungen von Bauaufgaben, die ihr eigenes Gepräge haben. Denn
der Schlesier ist - wie Gustav Freytag
sagt - sehr wohl bereit, Fremdes aufzunehmen, aber "ohne das eigene
Wesen aufzuopfern".
[283]
Breslau. Das Rathaus.
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"Wie freie Bürger ihren erwählten Führer", so umstehen in
einem großen Viereckplatz vornehme Giebelhäuser ihr
Rathaus, das unter den wenigen schlesischen Bürgerbauten der
Gotik die erste Stelle einnimmt und eines der eigenwüchsigsten Werke ist,
die deutsche Profangotik geschaffen hat. Begonnen wurde der Bau, als Karl IV.,
der Gründer der deutschen Universität in Prag,
Landesvater von Schlesien war. Er ist nicht aus sich selbst allem gewachsen,
sondern in Anlehnung an die große Kaufhalle errichtet, an die später
der Fürstensaal angebaut wurde - in ihm nahm Friedrich der
Große die Huldigung der schlesischen Stände
entgegen - und noch später die Ratsstube, der westliche und der
südliche Anbau. Das war um die Wende des 15. Jahrhunderts, als der
verhaßte Hussit Podiebrad plötzlich starb und Breslau den
kunstliebenden Ungarnkönig Matthias Corvinus als Retter feierte.
Bewundernswert ist es, mit welcher Sicherheit es die Baumeister der
Spätgotik verstanden haben, ältere und neuere Teile dieses
Bauwerkes zu einem einheitlichen Ganzen zusammenzuschweißen. Die
ausgesprochene Vorliebe für reiche
Schmuckformen - Säulen, Fialen, Erker, Figuren,
Fensterbekrönungen, zierlich gemeißelte
Friese - und die sparsame Durchfensterung geben dem Bauwerk etwas
Gemütliches, an Süddeutschland Erinnerndes, ja stellenweise
Kokettes und damit ein Leben, das sich scharf von den Rathäusern der
Hansastädte an der Ostsee absetzt. Trotz des gleichen Baustoffes, des
Backsteines, ist hier nicht die mächtige Wucht und sichernde Kraft von
Lübeck oder Stralsund zu Hause.
Untrennbar zu Rathaus und Ring gehören die beiden Pfarrkirchen von
Alt-Breslau: St. Magdalenen und St. Elisabeth. In der zweiten
Hälfte des 14. Jahrhunderts wurden sie erbaut, nicht in Hallenform,
sondern als Basiliken ohne Querschiff. Diese Raumform hat mit dem Eintritt
Breslaus in die Hansa und mit der baltischen Backsteingotik nichts zu tun.
St. Magdalenen ist vor allem durch Einzelheiten bekannt. Die
Südseite birgt eines der ältesten Breslauer Baudenkmäler, das
"Türgerüste" der ehemaligen Vinzenzkirche auf dem Elbing, die zur
Zeit der Türkenkriege vorsorglich abgebrochen wurde. Die Stadt ließ
das romanische Portal an der Südseite der Kirche einbauen (1546). In
St. Magdalenen predigte Johann Heß aus Nürnberg
anno 1523 als erster den Protestantismus in Schlesien. Zwei
Westtürme flankieren die Baumasse der Kirche und führen sie
empor. Der eine trägt die Armesünderglocke, bekannt durch Wilhelm
Müllers Glockenguß von Breslau: "War einst ein
Glockengießer zu Breslau in der Stadt"... Die Brücke, die beide
Türme verbindet, [362] wird
allmitternächtlich - so erzählt die
Sage - von eitlen Jungfern, die ihr Lebtag nicht zur Arbeit kommen,
gefegt.
Die Kühnheit der Tiefe und Schlankheit der Höhe
wird bei St. Elisabeth noch gesteigert. Über
66 Meter dehnt sich diese basilikale Stadtkirche, über
30 Meter steigt sie empor, ihre Nebenschiffe im Hauptschiff um das
Doppelte überragend. Sie war die Lieblingskirche der Breslauer Patrizier,
und ihr Inneres birgt manchen wertvollen Schatz; darunter einige Ölbilder
von Lukas Cranach und Michael Willmann, dem schlesischen "Raffael".
Der Außenbau spricht die selbstbewußte Sprache des Bauwillens
einer Bürgerschaft zur Zeit ihrer größten Macht. Der einzige
Turm ist das riesige Wahrzeichen der Stadt, bei dessen Anblick Goethe seinen
Totentanz schrieb. Durch den Verlauf einer
Nebenstraße - das erinnert an südliche
Vorbilder - ist er in seitliche Stellung gekommen und schnellt in seiner
Schlankheit hoch empor, mit seiner Haube die beiden Türme der
Magdalenenkirche weit überragend. Die Wirkung wird noch gesteigert
durch ein altes barockes Friedhofsportal, das
sich - mit Heiligen-Standbildern
geschmückt - zwischen zwei beiderseitig angebauten
Altaristenhäusern spannt und den Eingang zum Kirchplatz
bildet.
Nicht weit davon ein ganz anderes Bild: die Weißgerberohle.
Ehemals ein Fluß, nach der Choleraepidemie von 1866 zugeschüttet,
heute eine stille Hintergasse mit malerischen Giebelhäusern, verziert mit
hölzernen Altanen und Weingerank. Hier ist der eine Schauplatz des
großen Kaufmannsromanes des Schlesiers Gustav Freytag. Das alte
Geschäftshaus der Firma Schröter steht in entgegengesetzter
Richtung vom Ring, in der Albrechtstraße. Als Karl IV. seine
Residenz an der Stelle der heutigen Universität errichtete, war die
Dominsel, die seit der Mitte des 13. Jahrhunderts den Herzogpalast
getragen hatte, zum alleinigen Herrschaftsbereich der geistlichen Welt geworden.
Auch heute noch ist sie in ausgesprochener
Schutzlage - freilich nicht mehr vor Türken oder
Mongolen - wohl aber vor dem Getriebe der Großstadt. Die beiden
großen Oderbrückenstraßen liegen fern von ihr, die beiden
kleineren lassen sie wie eine Insel im Verkehrsschatten liegen. Einige
Gäßchen tragen heute noch echte Katzenköpfe, armseliges
Pflaster. Auch im Schatten der Wohndichte liegt dieser stille Stadtteil: Hier
wohnen für Breslauer Verhältnisse nur sehr wenig Menschen. Aber
unzählige Tauben nisten in dem Gemäuer der Kirchen, und
mitternachts hört man jeden Schritt von den Wänden der stillen
Häuser widerhallen. Kaum eine andere deutsche Stadt hat mitten in ihrem
Kern eine solche Insel der Ruhe und des Friedens. Von der Promenade jenseits
der Oder und der auf ihr gelegenen Holteihöhe genießt man einen
wunderbaren Blick: Breit und ruhig fließt der Strom dahin; Wassersport und
Wasserverkehr haben weiter aufwärts ihr Reich und ihre
Tummelstätte. Sicher und ruhig umschließen die Fluten die beiden
Eilande, die Dominsel und die Sandinsel. Die Mauern zum Fluß sind im
Frühjahr überflutet von gelben Forsythien, deren biegsames
Zweigwerk zum Wasser hinunterfällt. Große Fliederbüsche
darüber. Zwischen den wolkigen Kuppeln von Ahorn, Zitterpappel,
[285]
Breslau. Hof des Fürstbischöflichen Hauses mit den Domtürmen.
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Kastanie und Linde ragen die Türme der Gotteshäuser in den
Himmel. Durch das zarte gelbe und warm braunrote Blattwerk schimmern die
Dächer der Häuser von Domherren und [363] Kirchenbeamten, dem
Kurfürstlichen Waisenhaus und der Fürstbischöflichen
Residenz. Neben dem barocken Bau der
Staats- und Universitätsbibliothek - ehemalige
Klosterbauten - ruht das für schlesische Kirchen
ungewöhnlich flache Dach der Marienkirche auf dem Sande; sie ist die
erste der beiden Hallenkirchen, die die Augustiner in Breslau errichteten. Nicht
weit davon stößt der nadelspitze Turmhelm der Kreuzkirche in den
Himmel hinauf, und von ihm durch eine Blickspanne getrennt der
Dom - 1244 begonnen, 1272 geweiht - mit seinem grünen
Patinadach und den beiden schlanken Türmen. "Wie eine Stadt für
sich auf heiliger Erde stehen die drei Kirchen". (H. Ch. Kaergel).
Der Dom ist ein Ziegelbau mit Werksteinverzierungen. Der Querschnitt
ist der einer gotischen Basilika, um die sich zur Barockzeit ein Kranz von
schönen Kapellen legte. Im Innern sind eine Reihe von berühmten
schlesischen, Nürnberger, Augsburger und italienischen Meistern mit
Bildern und Skulpturen vertreten. Das Bistum war so reich, daß es das
"goldene" genannt wurde. Einer der reizvollsten Blicke auf die
eigentümliche Verschwisterung von Backsteindom und barocken Kapellen
hat man durch das sogenannte Klößeltor, ein Barocktor, das jedes
Kind in Breslau kennt, weil darauf ein Klößel, das schlesische
Leibgericht - in Wirklichkeit eine alte
Kanonenkugel - angebracht ist. Dicht daneben steht das kleine
Aegidiikirchlein, einer der Reste, die zum ältesten Bauwerk von Breslau,
dem Vinzenzkloster, gehören.
Unsere besondere Liebe gilt der Kreuzkirche. Sie ist die
eigentümlichste Prägung schlesischen gotischen Geistes, ein sehr
rassiges Bauwerk. Es ist ein Gebilde völlig selbständiger Art,
für das der Meister kein Vorbild gehabt haben kann. Der Chor birgt das
Grabmal des Stifters Herzog Heinrichs IV. Zwischen dem Langhause und
dem Querschiff sind zwei Türme angebaut, von denen aber nur der eine mit
spitzem Turmhelm vollendet wurde. Zwei Kirchen liegen übereinander.
Der Sockelbau der kryptenartig gedrückten Unterkirche gibt dem Ganzen
ein kräftiges Aufwärtsschwingen. Ähnlich wie bei der
Elisabethkirche wirkt auch hier die unregelmäßige Gruppierung
zusammen mit dem steilen Dach besonders anziehend. "Es gibt wenige Bauten
aus dem 14. Jahrhundert, die in ihrem vertikalen Hochgefühl mitt
solch jugendlicher Spannkraft auftreten". (Grisebach). Auch eine andere
Eigentümlichkeit des schlesischen Backsteinbaues tritt an der Kreuzkirche
hervor: Der Schlesier kennt nur sehr wenig die Backsteinornamentik der
norddeutschen Stilprovinz. Für Portale, Maßwerk, Gesims und
andere Gliederungen steht ihm Haustein zur Verfügung. Aber es
wäre oberflächlich, diese Eigentümlichkeit nur aus dem Zufall
der Nähe von Sandstein abzuleiten. Die Freude an der Verarbeitung dieses
Baustoffes reicht tiefer. Sie entspricht der schlesischen Auffassung der
Backsteingotik überhaupt: immer wieder zeichnet die Kirchen eine gewisse
Schlankheit und Sehnigkeit des Wuchses aus, eine Freude an Kühnheit und
Außergewöhnlichkeit der Konstruktion, ein Behagen an zierlichem
Schmuckwerk, "eine gewisse Feingliederigkeit und phantastische Spitzigkeit des
Wuchses" (Burmester), die besonders durch steile Dächer und schlanke
Türme erreicht wird. Es sieht so aus, als ob hier gewisse
Eigentümlichkeiten des Schlesiers in den Bauwerken lebendig geworden
sind. Uns fallen [364] Worte von Hermann
Stehr ein. Er spricht einmal von dem "schalkhaft spöttischen", von dem
"versonnenen, leichtsinnigen, träumerischen Wesen", von dem
Gemüt des Schlesiers, der "phantastisch und unergründlich zugleich"
ist, von seiner künstlerischen Begabung, von seiner "heiteren Gelenkigkeit
und seinem nie besiegbaren Verstocktsein". Eigenwillige Kraft,
Überschwenglichkeit und Formenfreude sind in den schlesischen
Gotteshäusern deutlich lebendig geworden.
Noch einmal im Laufe der Baugeschichte tritt Schlesien mit Werken hervor, die
dem Gesicht seiner Städte ein besonderes Gepräge geben. Noch
einmal verbinden sich in Breslau der ruhig dahinfließende Strom und ein
Bauwerk zu einem Stadtbild von unvergeßlicher Wirkung: Am Ufer der
Oder wächst der elegante Bau des Jesuitenkollegs, der späteren
Friedrich-Wilhelm-Universität, empor, und in ihrer unmittelbaren
Umgebung entsteht im 18. Jahrhundert ein Baubezirk echt schlesischen
Barocks. Die Entwicklung der Breslauer Universität beginnt mit
dem Jahre 1659, als die Jesuiten ihre Breslauer Schule in die ehemalige
Kaiserliche Burg verlegten. Ein halbes Jahrhundert später erhob sie Kaiser
Leopold zur Universität mit zwei Fakultäten. 1728 erfolgte die
Grundsteinlegung des heutigen Gebäudes. Die eigentliche Gründung
erfolgte dann aber erst 1811, als die Frankfurter "Viadrina", die 1506 als erste
deutsche Ostuniversität gegründet wurde, nach Breslau verlegt
wurde. Dieser Tag ist der Gründungstag der Breslauer
Friedrich-Wilhelm-Universität. Sie entstand in schwerster Zeit aus dem
Geiste des deutschen Idealismus: "Der Staat muß durch geistige
Kräfte ersetzen, was er an physischen verloren", so sagte Friedrich
Wilhelm III. Mit zündender Rede rief vom Katheder eines
Hörsaales Professor Steffens damals die Studenten und Bürger auf,
dem Rufe des Königs zu folgen, und griff damit buchstäblich in das
Rad der Weltgeschichte ein.
[284]
Breslau. Die Universität.
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Mit der gewaltigen Front von 135 Metern zieht sich das Gebäude an der
Oder entlang. Ursprünglich war es auf 200 Meter Länge
geplant. Wer der künstlerische Schöpfer gewesen ist, wissen wir
nicht. Wenn es auch bei barocken Bauten nicht ungewöhnlich ist, daß
mehrere Meister sich an einem Werke beteiligen, so spricht doch die
Einheitlichkeit der baulichen Leistung gegen eine Kollektivarbeit. Das
große Portal, ein Werk des Bamberger Meisters Johann Albrecht Siegwitz,
führt mit reicher Verzierung auf die schön geschwungene
Doppeltreppe zu. In seiner südlichen Formgebung und Leichtigkeit erinnert
es an Werke von Prag und Wien. Der damaligen Bauauffassung entsprechend liegt
es nicht an der weitgeöffneten Front der Wasserseite, sondern an der stillen
Stadtseite, fast versteckt in einem Winkel. Für die innere Gliederung des
Baues schrieb die langgestreckte Form alles vor: An langen Gängen sind
die Unterrichtsräume aufgereiht. Das "Oratorium Marianum", der heutige
Musiksaal, und die Aula Leopoldina sind nur eine Geschoßhöhe
hoch. Beiden Räumen ist die an die Gliederung des Kirchenraumes
erinnernde Dreiteilung eigentümlich. - In der mit der
Universität unmittelbar verbundenen Matthiaskirche findet die
barocke Pracht der beiden Säle ihre Fortsetzung und Steigerung. Das
Bauwerk ist Ende des 17. Jahrhunderts entstanden. Die üppige
Ausschmückung ist eine Arbeit des Pozzoschülers Christoph Tausch,
der an der Gliederung in Vorjoch, [365] Langhaus und Chor
nichts änderte, es aber verstand, bei allem Reichtum des Schmuckes und
der Farben eine große Einheit zu schaffen.
Aber nicht nur Breslau, sondern ganz Schlesien hat in der Zeit, da es zu
Österreich gehörte, seinen Beitrag zum deutschen Barock
geliefert. Wir verlassen kurz die Hauptstadt zu einer Barockreise in die Provinz:
Auch im Lande sind es nicht die Fürsten gewesen, sondern hier wie da
Orden und Kirche, die aus Österreich, Böhmen und Franken mit
Aufträgen die Künstler in das Land riefen. Die ersten sind die
Jesuitenbauten in Glatz, später in Neiße und dann die Matthiaskirche
in Breslau. Alle drei in Gliederung, Raumverhältnissen und Farbgebung
noch streng gehalten. Am Anfange des 18. Jahrhunderts werden in der
Jesuitenkirche von Liegnitz und der Kreuzherrenkirche zu Neiße die
Pilaster herausgerückt und schräg gestellt. So entsteht ein "Mehr von
Überschneidung und Lockerung". Dasselbe zeigt sich auch in der
ehemaligen Benediktinerinnenkirche von Kloster Liebenthal von 1726.
Inmitten der weit geschwungenen, ruhig gleitenden Kammflächen des
Isergebirgsvorlandes ragt diese barocke Fassade völlig unerwartet auf. Der
langgestreckte, etwas eingemuldete Straßenplatz des Ringes, die Lauben der
einstöckig gegiebelten Häuser und die darüber hochaufragende
Klosterkirche schaffen ein Bild, das an Städte Böhmens und
Mährens erinnert. Das Bauwerk selbst reicht freilich an die Neißer
Kirche nicht heran, die aber von zwei anderen überragt wird:
Grüssau und Wahlstatt.
Alle diese Kloster- und Schulbauten hatten das Ziel, über die Kirche das
schlesische Land fester mit Österreich zu verbinden, um den wachsenden
Einfluß von Berlin zu schwächen.
[286]
Grüssau (Schlesien). Klosterkirche.
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Die Zisterzienser-Stiftskirche in Grüssau - 1728 bis 1735
erbaut - von Gurlitt als "das Hauptstück des schlesischen Barocks"
bezeichnet, liegt in der Nähe von Landeshut in einer Senke zwischen dem
Riesengebirge und dem Waldenburger Bergland. In nächster Nachbarschaft
erheben sich die barocken Vulkankegel des Rabengebirges und die bizarren
Säulen und Türme der
Adersbach-Weckelsdorfer Sandsteinfelsenwelt. Die Stiftskirche ist eine
kreuzförmige, fünfjochige Hallenkirche, die im beweglichen
Fluß ihrer Gliederung die Bauten von Liegnitz und Neiße, ja sogar
Prag übertrifft. Das ist ihre echt schlesische Eigentümlichkeit. Der
üppige figürliche Schmuck der Fassade stammt von einem Prager
Meister, und die phantastisch behelmten Türme machen das Bauwerk zu
einem der reizvollsten des deutschen Hochbarock.
Zwischen der alten Piastenstadt Liegnitz und der im hügeligen Vorlande
gelegenen Stadt Jauer erhebt sich eine Anhöhe, unter der im Jahre 1241 ein
schlesischer Herzog tapfer kämpfend fiel und mit Rittern, Bürgern
und Bergknappen das Schicksal Schlesiens und des Abendlandes entschied:
Wahlstatt. Hier baute Kilian Ignatz Dientzenhofer den Benediktinern
eine Klosterkirche, die 1731 geweiht wurde. Sie erinnert weit mehr als alle
anderen an den Barock Böhmens. - Südlich Breslau liegt das
etwas altertümliche, aber wunderbar in seine Umgebung gebaute
Heinrichau. Noch schöner ist Kloster Leubus, das über der
Oder frei in der Landschaft zwischen Maltsch und Steinau gelegen ist.
Zisterzienser aus Pforta an der Saale er- [366] richteten hier 1175 eine
Niederlassung. In vorbildlicher Form wurde die alte gotische Kirche dem neuen
Bauwerk und seinem Leben eingeordnet. Wahrhaft festlich und feierlich liegt
diese in ihrer Gliederung recht strenge Schöpfung mit einer
225 Meter langen Front über den Eichenwipfeln der
Oderwälder und dem breiten Strome, auf dem die langgestreckten
Lastkähne das Spiegelbild der ragenden Türme immer wieder
zerteilen.
Doch nun zurück zu Breslau, hinein in die Gegenwart! Die schlesische
Hauptstadt ist nicht nur eine Stadt der Gotik und des Barocks, nicht nur ein
Museum von spitzgiebligen Bürgerhäusern und ein Tummelplatz
seltsamer Straßennamen und alter Portale, die viel erzählen
können; sie hat nicht nur eine Reihe von alten
Museen - in dem bedeutendsten, dem der bildenden Künste, findet
der Kunstfreund eine Reihe von Originalen berühmter Meister, wie vor
allem Willmann, Menzel, Böcklin, Schwind, Thoma und
andere - sie hat nicht nur ein von Friedrich dem Großen erbautes
Schloß, in dem Friedrich
Wilhelm III., als der große
Freiheitskampf in Breslau zuerst aufloderte, seinen Aufruf "An mein Volk"
erließ, es ist nicht mehr eine Stadt von 60 000 Einwohnern, sondern
von über 600 000, es ist zwar nicht mehr die Handelsstadt des
europäischen Ostens, wohl aber eine große
Garten- und Industriestadt in einer reichen Provinz, in der Nähe eines
reichen Industriebezirkes, unmittelbar an einem großen Strom gelegen,
umgeben von einem fruchtbaren Ackerbaugebiet. Die Wahrzeichen dieses Breslau
von heute sind Bauten der Arbeit, des Handels, des Verkehrs, der Feier. Aus
welcher Richtung man sich der Stadt auch
nähert - überall greifen ragende Essen, Türme,
fensterreiche Kaufhausfronten, Brückenbogen, Kuppeln und andere Bauten
der neuen Zeit in die bewegte Silhouette der Stadt ein.
Ein Vorläufer neuer architektonischer Gesinnung ist das schon im Jahre
1871 fertiggestellte Wasserhebewerk, körperlich kraftvoll an das Ufer der
Oder gesetzt. Mit der stillen Dominsel im Rücken bietet sich dem
Beschauer im Winter von der Lessingbrücke aus nach Osten ein
einzigartiges Stadtbild: Zwischen den beiden granitnen Tortürmen der
Kaiserbrücke, die zwei girlandenartig leicht durchhängende Bogen
spielend tragen, richtet sich wuchtig und gegensätzlich schwer der
dunkelviolettrote Backsteinkubus des Wasserwerkes mit seinen durch hohe
Bogennischen und dazwischengreifende Strebepfeiler gegliederten Wänden
auf. An dem schweren Klotz vorbei und unter der Brückenwölbung
hindurch gleiten lautlos die Eisschollen den breiten Fluß abwärts. Nur
auf den Sandbänken und den vom Eise bedeckten stromstillen
Flächen der Buhnenräume herrscht ein bewegteres Leben: Tausende
von wilden Enten - buntschillernde Erpel und bescheiden gekleidete
Enten - lassen sich hier zur kalten Jahreszeit nieder, um sich von Jung und
Alt mit Brot und Semmel durch den Winter füttern zu lassen.
Zwischen dem Zoologischen Garten und dem Scheitniger
Park - ehemalige Reste der Odertalsenke - stehen die großen
Baudenkmäler des Erinnerungsjahres 1913, die das Andenken jener
großen Zeit erhalten sollen, in der in Schlesien zuerst die Fahne der
Erhebung geschwungen wurde: Poelzigs großzügige, in einem weiten
Parabelschwung ausholende Pergola, sein Ausstellungsbau und [367] schließlich der
riesige Kuppelraum der Jahrhunderthalle, alles drei zu einer
monumentalen Einheit verschmolzen. Der für Ausstellungen,
Versammlungen und große Vorführungen gedachte Bau der
Jahrhunderthalle ist ein Zentralbau mit vier Apsiden, einer Grundfläche von
rund 10 000 Quadratmeter und ungefähr 20 000
Stehplätzen. Mit ihrem Durchmesser von 65 Meter Spannweite
übertrifft sie die bisher größten Kuppelbauten der Welt, die
Hagia Sophia in Konstantinopel und das Pantheon in Rom. Auch die Orgel hat
Rekordmaße: mit 15 000 Pfeifen war sie bis vor kurzem die
größte der Welt. Jetzt ist es die Nürnberger. Den
Schöpfungen Poelzigs gut angepaßt erhebt sich neben der
Jahrhunderthalle der 1924 erbaute Messehof, ein einfacher Hallenbau, dessen
Decke von freischwebenden Segmentbögen getragen wird.
Im Norden und Westen der Stadt regieren in den Außenbezirken Esse und
Rauchfahne. Zunächst ist es die Nahrungsmittel- und
Genußmittel-Industrie, die in Breslau durch das reiche
Landwirtschaftsgebiet rohstoffständig ist und durch den großen
Verbrauch der Bevölkerung für Absatz nicht zu sorgen braucht.
Zuckerfabriken, Mühlen, Konservenfabriken, Zigarettenwerke und vor
allem die Brauereien, die auf eine lange Tradition zurückblicken
können. Die Nähe des oberschlesischen Industriegebietes und der
billige Wasserweg der Oder haben eine ganze Reihe von Spezialbetrieben und
Großunternehmungen der metallverarbeitenden Industrie entstehen lassen.
Nicht nur im Reich, sondern in ganz Europa, ja auch in den
Überseeländern konnte sie sich vor dem Kriege mit ihren
Erzeugnissen durchsetzen. Weit bekannt ist die Fabrik landwirtschaftlicher
Maschinen von Kemna, die die großen Dampfpflüge für die
Urbarmachung der Pontinischen Sümpfe in Italien geliefert hat. Noch
berühmter ist die größte
Waggon-, Maschinen- und Lokomotivfabrik des Kontinents: die
Linke-Hofmann-Werke. Hier sind eine Reihe der schnellsten Maschinen und
Triebwagen der Reichsbahn erbaut. Auch der doppelstöckige Eisenbahnzug
der Strecke Hamburg - Lübeck - Travemünde ist
ein Werk dieses Unternehmens. Heute besteht der Umsatz bereits wieder zu 40
Prozent aus Auslandslieferungen.
Hand in Hand mit dieser Industrialisierung ging das Bestreben der Stadt, ihren
Wohn- und Bauraum zu vergrößern. Diese Veränderungen
zeigt der Blick aus dem Flugzeug. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war
Breslau eine stark übervölkerte Stadt. Noch 1914 wohnten im
Durchschnitt in jedem Haus 50 Einwohner. Jetzt sind im Süden und Osten
große Wohnviertel entstanden mit Grünanlagen,
Wasserflächen und Sportplätzen. Durch Eingemeindungen sind weite
Gebiete in die Stadt aufgenommen worden, darunter auch die Oderwälder
der Strachate, die von Oßwitz und Pilsnitz. Zur Entlastung der Eisenbahn ist
im Süden für die Güterzüge eine Umgehungsbahn
gebaut; ihr "nasses Gegenstück" ist die 1917 vollendete Breitenbachfahrt
im Osten, durch die der ganze Schiffsverkehr geführt wird. An diesem
Kanal ist der Breslauer Hafen entstanden, und eine Reihe von Fabriken haben sich
hier angesiedelt und ein großes Industrieviertel entstehen lassen.
Wenn Breslau auch heute noch eine verhältnismäßig
große Wohndichte hat, so ist der Breslauer doch nicht verstädtert. Im
Gegenteil! Er freut sich, [368] wenn an Markttagen
die Bauern mit Karren und Lastwagen im Straßenbilde erscheinen. Auch
Volksbräuche sind in dieser Stadt von über 600 000
Einwohnern noch "gang und gebe". Als ich als Student im Examensemester
einmal über die Osterferien zur Arbeit in Breslau blieb, wurde ich am
Sonntag Laetare in früher Morgenstunde von vielen Kinderstimmen
geweckt: "Summer, Summer, Summer, ich bin e kleener Pummer! Laß
mich nicht zu lange stiehn, i muß a Häusla weiter giehn!" Da fiel mir
ein, was unser Vater uns immer am Sonntag Laetare vom
Sommersingen in seiner schlesischen Heimat erzählt hatte. Mit
einem Sommerstock, behängt mit bunten Bändern und Blumen, den
die Mutter auf dem Markte kaufen mußte, und einem manchmal
hübsch großen Sack für die Gaben ziehen an diesem Sonntage
die Kinder in allen Orten Schlesiens herum, den Sommer einzusingen. Die
Hausfrauen haben vorgesorgt, denn zugleich mit den Sommerstöcken auf
dem Markt tauchen in den Bäckerläden körbeweise die
Schaumbretzeln auf und die "Mehlweißen", ein einfaches Gebäck,
das nur zum Sonntag Laetare zu haben ist. Aber manchmal gibt es auch nichts,
und die Türe wird wütend zugeworfen. Dann wird das anderes Lied
gesungen: "Hühnermist, Taubenmist, in diesem Hause gibt es nischt! S's ne
reene Schande von soner reichen Bande!" Aber meist freut sich jeder Schlesier,
wenn die Kinder zusammen mit den Vögeln den Frühling einsingen.
Auch in der Großstadt von 600 000 Einwohnern!
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