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Schlesische Dichtung.
Aus dem 20. Kapitel von "Ahnung und Gegenwart"
J. v. Eichendorff
Es war Friedrich seltsam zumute, als er den anderen Tag am Saume des Waldes
herauskam und den wirtlichen, zierlich bepflanzten Weg mit seinen bunten
Lusthäusern und dunklen Lauben dort auf einmal vor sich sah, auf dem er
bei Antritt seiner Reise die ersten einsamen, fröhlichen Stunden nach der
Trennung von seinen Universitäts-Freunden zugebracht hatte.
Überrascht blieb er eine Weile vor der weiten, von der Sonne
hellbeschienenen Gegend stehen, die ihm wie ein Traum, wie eine liebliche
Zauberei vorkam; denn eine Gegend aus unserem ersten, frischen Jugendglanze
bleibt uns wie das Bild der ersten Geliebten ewig erinnerlich und reizend. Dann
lenkte er langsam den lustigen Berg hinan. Dort oben war alles noch wie damals,
die Tische und Bänke im Grünen standen noch immer an derselben
Stelle, mehrere Gesellschaften waren wieder bunt und fröhlich über
den grünen Platz zerstreut und schmausten und lachten, aller kaum
vergangenen Not vergessend. Auch der alte Harfenist lebte noch und sang
draußen seine vorigen Lieder. Friedrich suchte das lustige Sommerhaus auf,
wo er damals gespeist und den eben verlassenen Gesellen frisch zugetrunken
hatte. Dort fand er den Namen Rosa wieder, den er an jenem schwülen
Nachmittage mit seinem Ringe in die Fensterscheibe
gezeichnet. — Er hielt beide Hände vor die Augen, so tief
überfiel ihn die Gewalt dieser Erinnerung. Die treuen Züge blitzten
noch frisch in der Sonne, aber die Züge jenes wunderschönen Bildes,
das er damals in der Seele hatte, waren unterdes im Leben verworren und verloren
für immer. —
Er lehnte sich zum Fenster hinaus und übersah die schöne, noch gar
wohlbekannte Gegend, und sein ganzer damaliger Zustand wurde ihm dabei so
deutlich, wie wenn man ein lang vergessenes, frühes Gedicht nach vielen
Jahren wieder liest, wo alles vergangen ist, was einem zu dem Liede
verführt. Wie anders war seitdem alles in ihm geworden! Damals segelten
seine Gedanken und Wünsche mit den Wolken ins Blaue über das
Gebirge fort, hinter dem ihm das Leben mit seinen
Reise-Wundern wie ein schönes, überschwenglich reiches Geheimnis
lag. Jetzt stand er an demselben Orte, wo er begonnen, wie nach einem
mühsam beschriebenen Zirkel, frühzeitig an dem anderen, ernsteren
und stilleren Ende seiner Reise und hatte keine Sehnsucht mehr nach dem Plunder
hinter den Bergen und weiter. Die Poesie, seine damalige, süße
Reisegefährtin, genügte ihm nicht mehr, alle seine ernstesten,
herzlichsten Pläne waren an dem Neide seiner Zeit gescheitert, seine
Mädchenliebe mußte, ohne daß er es selbst bemerkte, einer
höheren Liebe weichen, und jenes große, reiche Geheimnis des
Lebens hatte sich ihm endlich in Gott gelöst.
Während er dies alles so überdachte, fiel ihm ein, wie Leontins
Schloß ganz in der Nähe von hier sei. Er fühlte ein recht
herzliches Verlangen, diesen seinen Bruder und jene Waldberge wiederzusehen.
Der Gedanke bewegte ihn so, daß er sogleich sein Pferd bestieg und von
dem Berge hinab die schattige Landstraße wieder einschlug.
[151] Die Sonne stand hoch,
er hoffte den Wald noch vor Anbruch der Nacht zurückzulegen. Nach
einiger Zeit erlangte er einen hohen Bergrücken. Die Lage der
Wälder, den Kreis von niederen Bergen ringsumher, alles kam ihm so
bekannt vor. Er ritt langsam fort, bis er sich endlich erinnerte, daß es
dieselbe Heide sei, über welche er in jener Nacht, da er sich verirrt und das
seltsame Abenteuer in der Mühle bestand, sein Pferd am Zügel
geführt hatte. Der Schlag der Eisenhämmer kam nur schwach und
verworren aus der fernen Tiefe herauf. Es war ihm, als rückte sein ganzes
Leben Bild vor Bild so wieder rückwärts, wie ein Schiff nach langer
Fahrt, die wohlbekannten Ufer wieder begrüßend, endlich dem alten,
heimatlichen Hafen bereichert zufährt. Ein Gebirgsbach fand sich dort in
der Einsamkeit mit seiner plauderhaften Emsigkeit neben ihm ein. Er wußte,
daß es der nämliche sei, der die schöne Wiese von Leontins
Schlosse durchschnitt, und folgte ihm auf einem Fußsteige die Höhe
hinab. Da erblickte er nach langem Wege unerwartet auch die berüchtigte
Waldmühle im Grunde wieder. Wie gespensterhaft und voll wunderbarer
Schrecken hatte ihm damals die phantastische Nacht diese Gegend ausgebildet,
die heut recht behaglich im Sonnenscheine vor ihm lag. Der Bach rauschte
melancholisch an der alten Mühle vorüber, die halbverfallen dastand
und schon lange verlassen zu sein schien; das Rad war zerbrochen und stand still.
Auf der einen Seite der Mühle war ein schöner, lichtgrüner
Grund, über welchem frische Eichen ihre kühlen Hallen woben. Dort
sah er ein Mädchen in weißem Kleide auf dem Boden sitzen, halb mit
dem Rücken nach ihm gekehrt. Er hörte es singen und konnte
deutlich folgende Worte verstehen:
In einem kühlen Grunde
Da geht ein Mühlenrad,
Mein' Liebste ist verschwunden,
Die dort gewohnet hat.
Sie hat mir Treu versprochen,
Gab mir ein'n Ring dabei,
Sie hat die Treu' gebrochen,
Mein Ringlein sprang entzwei.
Ich möcht' als Spielmann reisen
Weit in die Welt hinaus,
Und singen meine Weisen
Und gehn von Haus zu Haus.
Ich möcht' als Reiter fliegen
Wohl in die blut'ge Schlacht,
Um stille Feuer liegen
Im Feld bei dunkler Nacht.
Hör' ich das Mühlrad gehen,
Ich weiß nicht, was ich will -
Ich möcht am liebsten sterben,
Da wär's auf einmal still.
[152] Diese Worte, so aus
tiefster Seele herausgesungen, kamen Friedrich in dem Munde eines
Mädchens sehr seltsam vor. Wie erstaunt, ja wunderbar erschüttert
aber war er, als sich das Mädchen während des Gesanges, ohne ihn
zu bemerken, einmal flüchtig umwandte, und er bei dem Sonnenstreif, der
durch die Zweige grade auf ihr Gesicht fiel, nicht nur eine auffallende
Ähnlichkeit mit dem Mädchen, das ihn damals in der Mühle
hinaufgeleuchtet, bemerkte, sondern in dieser Kleidung und Umgebung vielmehr
jenes wunderschöne Kind aus längstverklungener Zeit
wiederzusehen glaubte, mit der er als kleiner Knabe so oft zu Hause im Garten
gespielt, und die er seitdem nie wiedergesehen hatte. Jetzt fiel es ihm auch
plötzlich wie Schuppen von den Augen, daß dies dieselben
Züge seien, die ihm in dem verlassenen Gebirgsschlosse auf dem Bilde der
heiligen Anna in dem Gesichte des Kindes Maria so sehr aufgefallen
waren. —
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