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Süddeutschland - Eberhard Lutze

Der Bodensee

Deutschlands größter See trägt den stolzen Namen "Schwäbisches Meer". Wahrlich, wie ein Meer erstreckt er sich in der Richtung Südost-Nordwest quer durch die schweizerische und schwäbisch-bayerische Hochebene, mit einer Längsachse von 69 Kilometern und 539 Quadratkilometern Flächeninhalt. Nach Nordwesten gabelt er sich fingerartig in Unter- und Überlingersee; in dem Hauptbecken des Obersees hat man eine Tiefe von 252 Meter gelotet. Er ist Randsee und Alpensee zugleich. Randsee, weil bei Bregenz und Rohrschach die Berge unmittelbar an ihn herantreten; Alpensee, weil sein Südufer von gewaltigen Alpenriesen überragt wird, der Appenzeller Alpenkette, dem schneeglänzenden Säntis, den Bergen der Vorarlberger und Allgäuer Alpen, des Rätikons. Ja, auf den Obersee blickt das schimmernde Firnfeld der Scesaplana herab. Das deutsche Nordufer indessen, die Inseln und Halbinseln, bieten das liebliche, von Kuppen durchsetzte Bild der Moränenlandschaft des Alpenvorlandes, das sich an einigen Stellen zum Mittelgebirge erhebt. Ein nirgendwo in Deutschland wieder anzutreffender zauberischer Reichtum ist das: die weite Wasserfläche, das Hochgebirge, die Gartenlandschaft der Reichenau und Mainau, die Weinberge, die Kuppen des Hegau. Wohltätig wie das Meer wirkt sich die Wassermasse des Bodensees auf das Klima aus, das weich und warm, feucht und gemildert, wahrhaft südlichen Charakter trägt und die Trauben des zu blumigem "Schiller" gekelterten Seeweines bis zu einer Höhe von 450 Metern reifen läßt. Das "Seeklima" erfährt durch die Nähe der Alpen eine Niederschlagszunahme: einem 700 bis 800 Millimeter betragenden Jahresniederschlag im westlichen Seegebiet steht ein solcher von 910 in Friedrichshafen, von 1400 bei Bregenz gegenüber! Selten nur gibt es arktische Vorstöße: im Winter 1830 und 1880 ließ grimmige Kälte den ganzen See zufrieren. Ausgelassene Eisfeste, Fastnachtstreiben, ein gedrucktes Flugblatt feierten das ungewohnte Ereignis. Es muß schon strenger Frost längere Zeit anhalten, wenn die Eisdecke an den schmalsten Stellen des Sees Schlitten zu tragen vermag. Die Regel ist das jedenfalls nicht. Feuchte, neblige Tage verhüllen die Großartigkeit der Landschaft, sondern die seeschwäbischen Städte ab von ihrem Hinterland, in merkwürdigem Gegensatz zu den lauten Pilgerzügen, die von den ersten Blütentagen des Frühlings bis zu den letzten Sonnentagen des Spätherbstes die Bodenseelandschaft durchzogen.

Der nordwestliche Zipfel, der mehr Binnensee- und Stromcharakter trägt, unterscheidet sich als Landschaftsbild durchaus von dem offenen Obersee. Nach der Einengung bei Konstanz weitet sich der See wieder, und südlich der Reichenau durchströmt ihn der junge Rhein, der zu Füßen des Pfänders bei Bregenz einmündet und ihn bei Stein verläßt. Die Rheinmündung ist heute reguliert; ursprünglich bildete sie ein breites Delta, wie es die Bregenzer Ache noch tut. Doch hat er seine Gebirgskraft in der Kläranlage des Sees nicht eingebüßt. Wenig später bildet er bei Schloß Laufen unweit von Schaffhausen den mäch- [793] tigsten Wasserfall Mitteleuropas. In einer Breite von 160 Metern stürzen seine Fluten über eine Schwelle aus hartem Jurakalk 15 bis 19 Meter herab.

Der Rheinfall bei Schaffhausen.
[745]      Der Rheinfall bei Schaffhausen.

Ausgedehnte Turbinenanlagen bändigen über 26 000 Pferdestärken dieser gigantischen Naturgewalt für die menschliche Technik. Rasch wechselt die Landschaft, in welche die Elektrizitätswerke und Industriebauten harte, nüchterne Züge hineingetragen haben. Und doch verbindet sich die Vielseitigkeit der Bodenseegegend zu einem geschlossenen, freundlich-festlichen Charakter. Das Gebiet schließt sich zu einer Landschaft zusammen. Sie ist Mitte und Einheit zugleich. Die fünf Länder Württemberg, Baden, Schweiz, Vorarlberg und Bayern haben an ihr teil. Und bevor 1096 die Zähringer, Hohenstaufen und Welfen Großschwaben aufteilten, war der See geographischer Mittelpunkt der alemannischen Stammeslandschaften, deren "klassische Schwabenluft" kräftig blieb auch nach der dynastischen Zerreißung: sie ist spürbar in den Beiträgen, die das schwäbische Volk unserer mittelalterlichen deutschen Kultur geschenkt hat.

Freilich, schon vor der Landnahme durch die Alemannen ist der Bodensee ein kulturelles Zentrum gewesen. Die berühmten Pfahlbauten sind von Trägern der jungsteinzeitlichen Kultur als Schutz für Leben und Besitz auf Rosten in den See hineingebaut worden. In Unteruhldingen kann man aus zwei Rekonstruktionen von dem Bau und der Ausstattung mit Gerät und Waffen eine Vorstellung gewinnen. Die Pfahlbauleute haben eine vielverzweigte Kultur besessen. Jagd, Fischerei, Getreidebau wurden betrieben. Stein-, Ton- und Holzbearbeitung ist überliefert. Ihre bewährte Bauweise hat sich bis in geschichtliche Zeit nachweisen lassen.

Bodensee. Unteruhldingen. Pfahlbauten der jüngeren Steinzeit, rekonstruiert.
[750]      Bodensee. Unteruhldingen. Pfahlbauten der jüngeren Steinzeit, rekonstruiert.

Zu römischer Zeit waren die Bodenseegestade römisches Zehntland. Während hier wohl Kelten die Hauptarbeit leisteten, spielte sich das große Leben der römischen Kolonie weiter westlich, am Rhein ab. Erst in dem Augenblick, als die Franken das politische Erbe der Alemannen antreten und im Vollzug ihrer Politik mit der Christianisierung der Alemannen beginnen, tritt der Bodensee in das helle Licht der Geschichte. Mit Ehrfurcht begrüßt man die Reichenau, auf der sich kostbare Denkmale alter Klosterkultur erhalten haben, deren Fundamente der irische Sendbote Pirmin im Anfang des 8. Jahrhunderts durch die Gründung der Abtei Reichenau legte. Noch uns gilt der in stiller Mönchsgemeinschaft gedichtete Gruß Walafried Strabos: "Sei gegrüßt mir selige Insel"! Auch uns packt jene eigenartige Rührung vor den Anfängen unserer neuzeitlichen Kultur, die auf dem stillen Eiland wuchsen, wie sie Victor von Scheffels "Ekkehard" in wundersamer Weise lebendig gemacht hat. Fern den Fluten des geliebten Sees läßt Scheffel den gelehrten Mönch Ermenrich in den Tagen Ludwigs des Deutschen auf seiner Abtei singen:

    "Reichenau, grünendes Eiland, wie bist du vor andern gesegnet,
    Reich an Schätzen des Wissens und heiligem Sinn der Bewohner,
    Reich an des Obstbaums Frucht und schwellender Traube des Weinbergs:
    Immerdar blüht es auf dir und spiegelt im See sich die Lilie.
    Weithin schallet dein Ruhm bis ins neblige Land der Britannen."

Kirche (10. - 12. Jahrhundert) auf der Reichenau.
[747]      Kirche (10. - 12. Jahrhundert) auf der Reichenau.

Wasserburg am Bodensee.
[752]      Wasserburg am Bodensee.
[794] Und Wilhelm von Scholz schreibt über die Reichenau: "Wir durchwandern das grüne Eiland, das einst vor Jahrhunderten Mönchshand rodete, als es noch Sintlas-Aue hieß und von Schlangengezücht wimmelte. Jetzt ist die hügelige Reichenau einer der sonnigsten, lichtesten Flecke: drei wohlhabende Dörfer mit ihren freundlichen Kirchen durch schöne Straßen verbunden, Gärten, Rebberge mit Sommerhaus, weidenbestandenes Ried, flache Schilf- und Kiesgestade, an denen Fischerkähne liegen, Ufervillen, die Ruine einer alten Wasserburg - und nichts von Wald, kein Dunkel, keine tiefen Schatten, alles durchsonnt, bewohnt, ein kleines, vom See umspültes Reich..."

Bodenseefischer.
[769]      Bodenseefischer.

Die St. Georgskirche zu Oberzell ist das früheste Denkmal auf der Insel. Die ältesten deutschen Wandbilder haben sich hier gut erkenntlich, in zarten unwirklichen Farben erhalten. Um das Jahr 1000 ist die Bilderfolge entstanden. Klar, in einzelne Bildfelder zerlegt, sind biblische Geschichten dargestellt. Auf italienischem Boden findet man verwandte Kompositionen. Neu bei dem Reichenauer Meister ist, daß er die Raumperspektive aufgibt. Seine Gestalten stehen vor farbig gestreiften Gründen. Ein Jüngstes Gericht, etwa ein Menschenalter später entstanden, ist vielleicht die erste auf deutschem Boden gewachsene, aus nordischem Geist gestaltete Darstellung dieses die Gemüter um das Jahr 1000 besonders leidenschaftlich erregenden Themas. In Burgfelden und in Goldbach findet es im Verlauf desselben Jahrhunderts weitere Ausdeutungen - Engel posaunen den Tag des Weltgerichtes ein -, und die Chormalerei in Niederzell auf der Reichenau aus dem 12. Jahrhundert zeigt die voll ausgebildete Komposition des deutschen Mittelalters. Bereits zeitgenössische Berichte rühmen die Blüte der Reichenauer Malkultur, die in der Buchmalerei zu ottonischer Zeit Schöpfungen glühender Ausdruckskraft geschaffen hat. So dürfen wir, die stillen Kirchen der Reichenau durchwandelnd, uns dem ehrfürchtigen Gedanken hingeben, vor Erstschöpfungen frühdeutschen Geistes zu stehen, der aus der Begegnung mit dem frühchristlichen Bilderkreis zu eigener Gestaltung, zu grundlegenden Bildideen gelangte.

Der Hohentwiel in Oberschwaben.
[746]      Der Hohentwiel (Oberschwaben).

Geblendet von dem Gold herbstlichen Sonnenglanzes verlassen wir das Innere der Kirchen. Weit geht der Blick vom "Bürgle" und der Hochwacht über den blauen Gnadensee in blaue Fernem zu den Hegauhöhen mit dem Klingsteinkegel des Hohentwiel, "von dessen Ausguck Scheffel sehnsüchtig über das weite Land schaute, ein schmerzliches Liebeserlebnis in ferne Vergangenheit zurückdichtend," dem Hohenkrähen, Stoffeln, Höwen, Mägde- und Schienerberg. Über einen pappelbestandenen Damm führt der Weg nach Konstanz, der alten Bischofsstadt. Einst stand auf dem Domberg ein römisches Kastell, das die "Meerengenlage" glänzend beherrschte. Die Leinwand- und Bischofsstadt des Mittelalters stand unter den deutschen Städten in erster Reihe. Das Münster und das Konzilsgebäude sind Zeugen dieser Größe, die ihr glanzvollstes Schauspiel in dem völkerreichen Konzil 1414 bis 1418 erlebten, tragisch endend durch den Verrat an Johann Hus, der in Konstanz sein Leben ließ.

Konstanz. Innerer Rathaushof.
[748]      Konstanz. Innerer Rathaushof.

Die widerstrebendsten Mächte sind in Konstanz tätig gewesen: Kaiser und Bischof, Bürger und Zünfte. Noch klingt hinter dem modisch-vornehmen Getriebe auf [795] der "Insel" der Schatten der Dominikaner auf, deren Kloster hier stand. Karls V. Machtwort riegelte den Siegeszug der Reformation ab, mit der Größe war es aus; zwei Jahrhunderte später konnte Joseph II. das alte stolze Konstanz als

Meersburg am Bodensee.
[751]      Meersburg am Bodensee.

Überlingen am Bodensee.
[770]      Überlingen am Bodensee.
"lumpiges Pfaffennest" abtun. Als Hauptstadt des badischen Seekreises liegt es heute als vielbesuchte einzige reichsdeutsche Stadt auf der schweizerischen Seite des Bodensees. Heute gibt es keinen Bischof mehr in Konstanz, und auch die Rokokoresidenz der geistlichen Herren, das Schloß in Meersburg, muß sich die Profanierung zur Taubstummenanstalt gefallen lassen. Meersburg - eines der malerischsten Fleckchen deutscher Erde! Man vergißt die Gegenwart, wenn man die steilen Treppen vom Gestade zur Oberstadt emporsteigt, wo Brunnen rauschen und kühne Bogen zu dem prächtigen, ganz weltlichen Bau des Bischofsschlosses geschlagen sind, alles überragt von der trutzigen Meersburg. Ein paar Schritte hinter dem Stadttor rasen die Autos auf schwarzer Asphaltstraße dahin. Jenseits der Straße liegt der Friedhof, auf ihm das Grab von Annette von Droste-Hülshoff, die 1848 in Meersburg starb, wo sie ihre schönen Verse auf den Bodensee gedichtet hatte:

      "Im Fischerhause kein Lämpchen brennt,
      Im öden Turme kein Heimchen schrillt,
      Nur langsam rollend der Pulsschlag schwillt
      In dem zitternden Element."

Meersburg, nicht zuletzt auch durch seinen süßen Meerwein berühmt, hat eine sehr angenehme zentrale Lage. Leicht erreicht man von hier die Mainau, deren Schloß und Park der großherzoglich badischen Familie gehört. Rasch ist man in Überlingen, der alten Reichs- und neuen Kurstadt. Anheimelnd altertümlichen Gassen, charaktervollen Bauten begegnet man hier. Die Holzschnitzereien des Jakob Rueß im Rathaus (1490) verherrlichen die ständische Gliederung des alten deutschen Reiches; im Münster steht der seltsam durchleuchtete mächtige Hochaltar des Jörg Zürn vom Anfang des 17. Jahrhunderts, ein Frühwerk deutscher Barockplastik. Und noch drei Bauten warten in Überlingens Nähe: das Schloß Heiligenberg mit seinem glanzvollen Rittersaal aus der deutschen Renaissance und seinem inmitten weiter Buchenwälder schönsten Blick über die Bodenseeweite, die Klosterkirche der alten Zisterziensergründung Salem, deren herber gotischer Stil von den zierlichen Alabasterschöpfungen des Bildhauers Johann Georg Dirr (um 1774/84) übertönt wird und endlich, auf steilem Seeufer beherrschend gelegen, Peter Thumbs Klosterkirche und Probstei Neubirnau. Einzigartig die Verschmelzung von Probsteigebäude und Kirche; in festliche, der Landschaft gleichgestimmte spätbarocke Daseinsfreude ist der ernste Geist des mittelalterlichen Zisterzienserordens gebannt.

Thumbs Vater Christian hat ein halbes Jahrhundert früher - um 1700 - die Schloßkirche zu Friedrichshafen gebaut, schwer und wuchtig, mit strotzender Barockstukkatur der Wessobrunner Schule. Die schöne Baugruppe von Schloß und Kirche liegt westlich vor dem Ort, der seinen Namen nach Friedrich I. von Württemberg trägt, der 1811 den Hafen anlegte und Deutschlands [796] erste Binnenseedampferschiffahrt ins Leben rief. Mit noch einer Ruhmestat deutscher Technik ist Friedrichshafens Name für immer verbunden: der Bezwingung der Luft durch den Grafen Ferdinand von Zeppelin. Von hier unternahm der Graf 1908 seinen ersten Flug, von hier erhebt sich der "Graf Zeppelin" seit 1933 zu seinen fahrplanmäßigen Flügen nach Südamerika. Friedrichshafen ist Sitz der Luftschiffbau-Gesellschaft Zeppelin und ihrer Tochtergesellschaften, der Dornier-Werke und der Maybach-Motoren-Fabrik.

Lindau im Bodensee.
[752]      Lindau im Bodensee.
Östlich von Friedrichshafen läuft die Grenze zu Bayern, dessen Löwe die Hafeneinfahrt zur Inselstadt Lindau bewacht. Schön ist die Lage auch dieser Stadt, begeisternd der Blick vom alten Leuchtturm herunter. Schwäbisch-alemannisch ist ihr Gesicht, wie überall in den Städten am Bodensee - trotz dem bayerischen Löwen. Die Laubengänge in der Maximilianstraße, die Gestalt der mit Läden versehenen, reich durchfensterten Häuser unterscheiden sich kaum von den Straßenbildern auf der schweizerischen Seeseite. Und überall, wo die Straßen zu Ende gehen, blinkt und gleißt der See, der die Insel liebend umfängt, ihr Idylle und Frische und Zartheit und der mittelalterlichen Reichsstadt heitere Lebendigkeit einhaucht, die wie ein Schimmer Lindau im Bodensee umgoldet.

Und neben der Seestadt liegt Bad Schachen, der modische Kurort. Schön mag der Aufenthalt in einem dieser gesegneten Bäder sein, die sich das Wohl ihrer Gäste vorzüglich angelegen sein lassen, schöner ist das freie Schweifen an den Gestaden des Sees, dessen Weite und Lieblichkeit, dessen märchenhafte Licht- und Farbenstimmungen übermächtig die Wanderlust wecken.

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Deutsches Land: Das Buch von Volk und Heimat,
      besonders die Kapitel "Baden" und "Schwaben".

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Hermann Goern, Georg Hoeltje, Eberhard Lutze und Max Wocke