[267]
Schwaben
Wilhelm von Scholz
Der Begriff "Schwaben" fällt in bezug auf Volk und Land nicht ganz mit
seinem politischen Träger "Württemberg" zusammen. Er
umfaßt, wie er geschichtlich durch die Jahrhunderte geworden ist und
gewaltet hat, mehr: Stücke Badens, Teile des westlichen Bayerns, die sogar
den Namen "Schwaben" tragen; er reicht in die deutsche Schweiz hinein.
Schwaben und Alemannen waren ursprünglich nicht getrennt. Andererseits
hat der Anteil des Staates Württemberg an fränkischem Stammland,
Heilbronner Gegend, nichts mit dem eigentlich Schwäbischen zu tun.
Gustav Schwabs Wanderungen durch Schwaben - in der zu unserer
Großväter Zeit berühmten Bücherreihe des
Malerischen und romantischen Deutschland - gehen überall
bedenkenlos über die Grenzen des eigentlichen Württemberg hinaus;
hier bis Heidelberg und Freiburg im Breisgau, dort bis Lindau im Bodensee;
Baden-Baden, das Murgtal, Badenweiler umfassen sie mit, ebenso das badische
Triberg und den badischen Hegau, dessen Hauptkuppe, der Hohentwiel, allerdings
eine württembergische Einsprengung in Baden ist.
Sehr gut aber faßt Schwab, der überhaupt ein Landschaftsbild, ja das
Bild eines Landes zu vermitteln vermag, das Wesentliche seiner
Stammes- und Namensheimat hier in die Sätze: "Den Kern Schwabens
bildet eine theils von Hügelmassen besetzte, theils wellenförmig
erhabene Landschaft, welche im Westen und im Südosten von
höheren Stufen wie von Rändern eingefaßt ist. Die westlichste
dieser Stufen, welche landeinwärts allmählich, einem glatten Dache
gleich, gegen die Ebene sich herabsenkt, ist der Schwarzwald; die
südöstliche, welche plötzlich und steil, wie ein jähes
Dach, gegen dieselbe abfällt, ist die Alb. Zwischen beiden, dem
Schwarzwald und der Alb, welche im Südwesten bis auf eine Meile
einander nahe kommen, und nur noch durch die Breite des oberen Neckarthales
von einander getrennt sind, dann aber schnell von einander sich abwenden,
erweitert sich die Landschaft immer mehr gegen Nordosten bis zur Jaxt und
hinaus bis zum Mainstrom. Der Schwarzwald selbst bildet mit seinem badischen
Theile, nebst einem schmalen Streifen flachen Landes, die westliche
Gränze Schwabens; die Alb durchzieht das Königreich
Württemberg von Südwest nach Nordost in die Quere. Jenseits
derselben im Süden breitet sich eine zweite große Landschaft aus,
welche zwar niedriger liegt als die Alb, aber höher als die erste,
nördliche Ebene. Es ist dieß Oberschwabens Hochebene, welche von
der Donau bis zum Bodensee an der südlichen Gränze Schwabens
sich erstreckt."
Den Verfasser, der jetzt in einer neuen Schilderung ein Bild Schwabens zu geben
versucht, macht eine tiefe Liebe zu diesem urdeutschen Lande befangen. Sie
begann in seiner späteren [268] Schulzeit am
Schwäbischen Meere, wanderte den Neckar hinab, trank von den
Höhen der Alb mit Jubel die gebreitete Landweite in sich, rastete in den
schattig-kühlen Tannentälern des Schwarzwaldes. Dann lernte sie all
diese Reichsstädte und Fürstensitze, Kirchen und Schlösser
mit Staunen und Bewunderung kennen, die Schwaben so überreich, so eng
gedrängt schmücken wie keinen anderen deutschen
Gau - so daß Schwaben allein soviele Reichsstädte hatte wie
das ganze übrige Deutschland zusammen.
So macht ihn Fülle des Gefühls bei diesem Thema fast zaghaft und
verwirrt. Möge es ihm der Leser zugute halten und darauf vertrauen,
daß er sich doch noch besinnen und an der Stelle seiner
Ausführungen, die etwa dem Schwabenalter entsprechen würde,
gescheit werden und zur Sache kommen wird. Und diese Sache soll ja nicht nur
das Land Schwaben sein, sondern vor allem das Volk; und nicht das Volk im
allgemeinen, sondern das kulturschaffende Volk, das die geistigen Schöpfer
hervorbringt. Aber da ist es wieder nicht anders als bei dem Lande: auch da
möchte er vor allem von seiner Liebe
reden - und weiß doch nicht, ob Liebe eine gute Erzählerin
ist - von seiner Liebe schon zu den ältesten Schwaben, die geistig
hervorragten, zu den alten Mönchen von Reichenau im Bodensee. Wenn
nun auch diese frühen dichtenden und schreibenden, das Land rodenden
und die Bevölkerung unterrichtenden Kleriker gewiß zum Teil
Wahlschwaben, Wahlalemannen waren, wie es der Verfasser ist, so ist ihre
Zuneigung zu ihrer schwäbisch-alemannischen Wahlheimat kaum minder
groß und sicher bewußter gewesen als bei den Eingeborenen. Das
fühlt man sofort, wenn man nur ein paar Strophen aus dem
Heimwehgedicht des Walafrid Strabo vernimmt, der seine "Selige Insel"
Reichenau, diese Perle im Schwäbischen Meere, so ansingt:
"Meine Tränen fließen, denk' ich,
wie mir einst so wohl gewesen,
da die Reichenau den Knaben
noch, die selige, Obdach gönnte.
Heilig mir allzeit und teuer,
Mutter du, geweiht den Heiligen,
ehrenwürdig-hochgepriesen,
frommer Brüder selige Insel.
Heilig du zum andern Male,
wo die hehre Gottesmutter
wird vor allem Volk verehrt,
nochmals tön' es: selige Insel!
Rings von Wassern wild umbrandet
stehst du fest, ein Fels der Liebe,
streuest weit und breit der Lehre
Samenkörner, selige Insel!"
(Übersetzt
von Paul von Winterfeld.)
Wir haben heute in unserem dicht besiedelten Deutschland kein Gefühl
mehr dafür, was so ein ehrwürdiger alter Gottesmann in den Ausruf
"Selige Insel" alles hineinpreßte! Diese selige Insel war ein Obdach, ein
Haus, ein Herd inmitten von wenig befahrenem, [269=Foto] [270] an den
Ufern versumpftem See, von unwegsamem Wald, schroffem Gebirge und
brückenlosen Flüssen. Wildes Getier, Bären, Wölfe,
Schlangen, und mehr als rauhe Ureinwohner drängten die Kulturmenschen
in die spärlichen Ansiedelungen zusammen, Klöster oder befestigte
Dörfer, und hielten sie an die wenigen alten Römerstraßen
gebunden, die von Süden nach Norden das Land durchzogen.
[274]
Meersburg am Bodensee.
|
Eine solche Straße führte von den einstigen Castellen an See und
Rhein die Waldschluchten hinauf bis nach dem heutigen Rottweil, wohin die
Römer viel Lebensbehaglichkeit, ja Luxus ihres lichteren Südens mit
hinaufgebracht hatten. Leicht können wir uns zu dem schönen
erhaltenen Mosaikfußboden mit dem Orpheus eines römischen Bades
und den Werken künstlerischer Tonbrennkunst dort das übrige Bild
des damaligen Lebens in dieser Römerniederlassung
ergänzen - eines Lebens, das aus der Kultur Schwabens nicht
wegzudenken ist.
Mit der Keramik übrigens brachten die Römer den alten Sueven
nichts völlig Neues. Schon von der jungsteinzeitlichen Kultur, wie sie etwa
die Pfahlbauleute am Bodensee darstellen, an, beginnt die Töpferkunst als
bodenständiges Gewerbe eine so bedeutende Rolle in Schwaben zu spielen,
daß die Töpfereien geradezu zum Erkennungsmerkmal der einander
folgenden Zeitalter werden. Zunächst gehen unverzierte
Schöpf- und Vorratsgefäße, die ohne Standfläche
gehängt oder in Halter gestellt werden mußten, aus der Hand dieser
urtümlichen Kunstgewerbler hervor. Die
Stichkeramik - Tiefstichreihen mit schraffierten geometrischen
Motiven - ist die Kunst eines jüngeren Geschlechts. Ihr folgt als
Auswirkung südlichen, südöstlichen Einflusses, den
wandernde Händler vom Mittelmeer und aus Asien heraufbringen, die
verwandlungsreichere Spiralkeramik, der sich später die sogenannte
Schnurkeramik anschließt. Dann kommen die römischen
Kunsttöpfer, finden im Zusammenhange dieser alten landeingesessenen
Handwerksüberlieferung gewandte und geschickte Gesellen, bringen die
Fülle lebendiger, spielender pflanzlicher und figürlicher Formen. Die
Schüler bleiben nicht hinter den Lehrern zurück; ja es sieht nach
manchen schönen Stücken im Rottweiler Museum fast so aus, als
hätte sich eine selbständige
römisch-schwäbische Töpferschule entwickelt.
[275]
Der "Blautopf" bei Blaubeuren.
Das Motiv der "Historie von der schönen Lau"
von Eduard Mörike.
|
Solche in dem erdverbundenen Volke von Acker- und Weinbauern längst
eingeheimateten ehemaligen Römercastelle mit ihrem weltlichen
Nachleben der überwundenen Bringer fremder Kultur; Klöster wie
Reichenau, Maulbronn, Blaubeuren, Beuron mit dem geistigen und geistlichen
Dasein; die ritterlich-kriegerischen Sitze der Nachfahren altgermanischer Grafen
oder Herzöge - das waren die Stätten im alten Schwaben, in
denen lange nach der Pfahlbauzeit das erste höhere Kulturleben sich regte
und langsam, in einer jahrhundertelangen Entwickelung, zu einem Gesamtwesen
zusammenwuchs.
Diese alte aus so getrennten Wurzeln gemeinsam erblühende
schwäbische Kultur ist nun aber nicht etwas von den oberdeutschen
Nachbargebieten - dem Rheinland und Elsaß oder der deutschen
Schweiz und Österreich - grundsätzlich sehr Verschiedenes.
Die Art des Lebens, der Entwickelung strich breiter in Gleichförmigkeit
hin, als daß sich in der Gesamtheit des
alemannisch-schwäbischen Gebietes scharfe
Trennungs- und Unterscheidungslinien ziehen ließen. Und wenn wir an die
Zeit denken, in der zum erstenmal aus den verschiedenartigen Wurzeln eine
durchaus einheitliche Kultur mit herrlichen uns [271] erhaltenen
Denkmälern entstanden ist - die Zeit der Minnesinger, die
romantische Bauzeit, die Zeit der Hohenstaufenkaiser - so dürfen wir
keinen Augenblick übersehen, daß diese Epoche von
Mitteldeutschland bis nach Italien und über den Wasgenwald hinüber
nach Frankreich ein ausgesprochen Gemeinsames war. Aber wie die Kaiser dieser
Epoche, eben die Hohenstaufen, Schwaben waren, so gehörte auch eine
Reihe der vorzüglichsten Dichter demselben Stamme
an - vielleicht die größte Zahl wirklicher Dichter, die damals
überhaupt ein einzelner Volksstamm
aufwies - und führt zum ersten Male zu der Erkenntnis, eine wie
bedeutende und verbreitete dichterische Begabung unter den Sueven lebendig
ist.
Das Gesamtbild der romanischen Stilepoche ist, ich wiederhole es, im ganzen
frühmittelalterlichen Europa so einheitlich, daß von der herrlichen
romanischen Bauzeit in Schwaben - ich nenne nur Alpirsbach, Denkendorf,
Faurndau, Johanneskirche in Gmünd, Comburg, Maulbronn, Murrhardt,
Sindelfingen - nicht als von etwas Abgesondertem zu sprechen ist. Aber in
der lyrischen ritterlichen Dichtung gaben die schwäbischen Ritter den Ton
an. Ohne das, was Schwabendichter zu ihr beigesteuert haben, wäre die
wundervolle Frühblüte des Minnesangs nicht zu der Fülle und
Schönheit gekommen, mit der sie uns noch heute beglückt.
Meinloh von Sevelingen (bei Alm), Kaiser Heinrich (VI.), der junge Konradin,
der Hardegger, Burkhard von Hohenfels, der Schenke Konrad von Landegge und
vor allem der als Liederdichter wie als Epiker gleich große Hartmann von
Aue, der Sänger des "Armen Heinrich", sind einige der wichtigsten dieser
adligen Sänger. Mit welcher Liebe sie an ihrem heimatlichen Schwaben
hingen, das klingt uns am innigsten und schönsten [272] aus dem Gedicht
entgegen, in dem der Landegger, als Kämpfer im winterlichen Frankreich
stehend, sich in die Heimat sehnt. Es klingt so
gegenwärtig - nicht anders als etwa einer unserer deutschen
Kämpfer sich in den langen Weltkriegswintern heimgesehnt haben
mag:
"Immer muß ich denken,
wie's jetzt sei am Rhein
um den Bodensee,
ob da auch kein Sommer mehr.
Hier in Frankreich senken
Nebel sich ins Land mit trübem Schein,
und der Frost tut weh
bei der Seine, Aisne und dem Meer.
Diese Not hat's lang schon hier,
alle Freud' ist daran krank.
Aber Wonne, Vogelsang
ist in Schwaben, träumt es mir.
Dorthin sehn' ich mich
zu der Liebsten, die so minniglich.
Lieb und Glück und Gut
wünsch' ich der, die ich da meine.
Grüße bring' ich dar
tausend wohl und mehr.
Ich hab' Herz und Mut
ganz vereinet an die Eine.
Wo ich auch im Lande fahr',
lockt nicht Liebes mich. Mein Herz bleibt schwer.
Die viel Süße, Reine, die ich liebe, sie
zieret Schwabenland.
Hennegau, Brabant,
Flandern, Frankreich, Picardie
hat so Schönes nicht,
noch so lieblich Angesicht."
(Neudeutsch von Wilhelm von
Scholz.)
Es gehört zu einem Bilde des mittelalterlichen Schwabens, diese
Liederdichter, die freilich viel in Fahrt und Kreuzzügen von Hause fort
waren, auf ihren waldumrauschten Burgen zu sehen. Frühling und Minne
sangen sie und fast noch mehr als die Minne den Frühling. Wenn wir an die
kohlenarmen Winter der Kriegs- und Nachkriegszeit denken, in denen jeder
warme Tag ein Geschenk war, begreifen wir, wie diese Männer aus den
kleinfenstrigen, dunklen, schlecht erleuchteten und schlecht beheizten
Mauerkellern der Burgen sich in den Lenz und die Sonne hinaussehnten, wo
für sie das Leben mit dem Frühling wieder freundlichere Gestalt
annahm: da lockte sie die Jagd in Täler und auf Höhen, der
Reihentanz auf die Blumenwiesen und die Liebesverschwiegenheit des dichten
Laubes in die weiten Wälder.
Seltsamerweise war einer dieser Minnesänger ein Mönch, Heinrich
Suso, der Prior des [273] Konstanzer
Inselklosters. Nicht als mystischer Offenbarer und Prediger gehört er in die
Reihe dieser alten dichterisch begabten Schwaben, sondern als Sänger einer
göttlichen Minne, der an Kraft der Innigkeit und des beschwingten Wortes
seinen weltlichen Standesgenossen nichts nachgibt. Suso, der in Überlingen
Geborene, ist eben Schwabe, und immer hat der schwäbische Volksstamm
vor allem lyrische Dichter von Rang hervorgebracht, von den Minnesingern an bis
zu Hölderlin
und Mörike.
Wie neben der Kunst auch das Volkslied
in Schwaben eine uralte Heimat hat, das bedarf keines Hinweises. Uhlands
große Sammlung deutscher Volkslieder ist des ein schöner
Beweis.
Man ist versucht, wenn man in einem Volksstamm eine solche besondere
Begabung entdeckt, nach ihrer Ursache zu forschen, zu fragen, ob die Geschichte,
die der Stamm durchlebte, oder die Landschaft, in der er siedelt, etwa geeignet
sind, sie hervorzurufen oder sie zu fördern. Zunächst ist ja
gewiß, daß die schwäbische Landschaft mit ihrer großen
Vielfältigkeit auf engem, engstem Raum eine Überfülle der
verschiedensten Naturstimmungen bereitet und erweckt; und daß sie dabei
doch überall - selbst auf einsamen hingelagerten, fast heideartig
gedehnten Albhöhen und in tannendunklen sturzbachdurchrauschten
Schwarzwaldtälern - genau so eine lyrische Stimmung auslöst
wie am Bodensee, im romantischen Donau- oder im idyllischen Neckartal.
Gewiß ist, daß die Vielfältigkeit dieser Landschaft in all ihrer
Lieblichkeit dem Lyriker eine Fülle verschiedenster Bilder gibt. Wir
erkennen es besonders bei Hölderlin, daß der Dichter alle
Landschaften der deutschen Erde hier sehen und erleben kann, selbst die
klassische Sehnsuchtslandschaft Griechenlands. In seinem schönen Gedicht
"Die Teck" findet Hölderlin sogar das
Heroisch-Große in der schwäbischen Natur und läßt es
über das Liebliche emporwachsen.
[277]
Die Halbinsel Wasserburg am Bodensee.
|
Aber so sehr auch die schwäbische Landschaft die Lyrik fördert und
unterstützt - zeugen kann landschaftliche Schönheit die
Begabung in der Seele des Volkes doch wohl nicht. Und ich glaube, wir
müssen es ohne Erklärung als ein Letztes nehmen, daß
Schwaben nun einmal erfüllt ist von Lied und Lyrik; daß das
besinnliche Wesen der Männer, die dem Sprichwort nach erst mit dem
vierzigsten Jahre gescheit werden, ein langes, die Jugend durchdauerndes
dichterisches Träumen ist, das eben Jahre braucht, um im
irdisch-nüchternen Sinne zu praktischem Verstand zu kommen. Das macht
die Schwaben empfindungs- und humorvoll, läßt sie zu
phantasiereichen Erzählern werden und legt ihnen gute schlagende
Sprichwörter in den Mund. Die schwäbischen Dichter haben immer
mitten in ihrem Volkstum gestanden, das wieder als Ganzes ein sinnendes,
betrachtendes, gemütstiefes Verhältnis zum Leben
hat - wie der Dichter.
Mir will scheinen, als ob auch die schwäbische Schule in den bildenden
Künsten - Zeit- [274] blom, Syrlin, der
unbekannte Meister des Hochaltars zu Blaubeuren und die
anderen - ein verwandtes irgendwie als lyrisch zu bezeichnendes
Lebensgefühl in sich trage und dem Beschauer mitteile. Aber freilich sind
solche gefühlsmäßigen Feststellungen unbestimmt, zweifelhaft
und anfechtbar. Wir stehen da auf festerem Grunde bei den Poeten, von denen
einer, Hölderlin,
zu den großen lyrischen Menschheitsdichtern
gehört, wenn er auch vielleicht durchaus unübersetzbar ist und im
wesentlichen nur von Deutschen gelesen wird, von Deutschen gesprochen werden
kann, unter denen Mörike wie ein seliges Nachleuchten Goethes erscheint,
während in Schubart die große herrlich aufrührerische Flamme
zu brennen begann, die bei seinem jüngeren Zeitgenossen Schiller feurig
lodernd ins Drama schlug und gleichzeitig das mächtige helle Strahlen des
deutschen Idealismus entfachte. Uhland, Kerner, Schwab, Hauff, Vischer,
Kurz - es ist eine Namenreihe von Rang, die der ersten Blütezeit
schwäbischer Dichtung, den Minnesingern, nicht nachsteht.
Nur einer der schwäbischen Dichter, der in seiner Lebenszeit zu den
allerersten Männern der Literatur gehörte und von dem auch jetzt
noch namentlich seine Prosa verdiente, gelesen zu werden, ist uns Heutigen
weniger gegenwärtig, und vor allem nicht, wie jene anderen, gerade als
Schwabe bewußt. Denn er hat als literarische Erscheinung kaum einen
ausgesprochenen Zug seiner Heimat bewahrt, und trotzdem er mehrere
Stilperioden durchlief, lebt er für uns ganz von Grazie und Rokokoanmut
umgeben: es ist Wieland,
der aus Biberach im schwäbischen Allgäu
stammt, aber für unser Gefühl nur in das Goethesche Weimar
gehört.
Vielleicht muß man, um Schwaben - das natürlich heute zu seiner
alteingesessenen Kultur auch ein wichtiges Industrieland geworden
ist - zu kennen, einmal in einem seiner alten Städtchen eingekehrt
sein: in dem gelehrten Tübingen - das mit seinen Gassen voller
Fachwerkhäuser, seinem Schlosse, seinem Uferhöhenzug, seinen
Weinbergen sich nicht anders ausnimmt als die anderen ungelehrten Städte
Schwabens auch und viel bescheidener dreinschaut als das stolze Ulm mit seinem
Münster oder gar Stuttgart mit neuem und altem Schloß, den vielen
staatlichen Gebäuden und dem reichen Villenkranz auf seinen
Höhen - oder in Eßlingen, in Gmünd, Ravensburg,
Schorndorf, Reutlingen oder wo sonst immer.
[278]
Die Weißenhof-Siedlung oberhalb Stuttgarts, ein
Beispiel moderner Siedlungsarchitektur.
|
[275] Ein
Neckarstädtchen soll uns zu kurzem Besuch locken! Nach strengem langem
Winter, der aus kaltem Himmelsgrau immer wieder wirbelnde Flockenscharen
über die längst frühlingsbereite Erde sandte, sind
plötzlich und unvermittelt die ersten sonnigwarmen Tage gekommen und
leuchten grell über einem kahlen, nackten Lande. Sie haben den brachen
Boden so schnell erwärmt wie die dürre kurze Grasnarbe, wie selbst
den alten leblosen Steinkern, der da und dort aus der Erdkrume hervorlugt.
Braune Hügel mit Terrassenstufen, Treppeneinschnitten und den
geordneten Reihen der gebogenen Reben begleiten den gewundenen Fluß,
der an ihrer Wand immer wieder umwendet, immer wieder ein Stück in
seine Vergangenheit zurückzufließen scheint, ehe er sich auf seinen
weiten Weg durchs Land zum Meer besinnt. Wo das sonnenglitzernde ziehende
Wasser vom Fuße der Berge und der weißen Landstraße, die ihn
begleitet, zurückweicht, macht er Platz für Riedland, das schon
freudiger grünt. Da steht in Gruppen zerstreut auf viereckiger
Grasfläche eine Schar durch das Abschneiden der Ruten grotesk
verstümmelter, zu fast menschlichen Gestalten verwandelter Weiden, die
der Weinbau braucht - der schmiegsamen jungen Zweige wegen, mit denen
die Reben angepflöckt und gebunden werden.
Eine Mauer von Felsenzinnen steigt aus dem Steilabfall der Weinberge. Strecken
rauher Ackererde schließen auf der Höhe der Böschung mit
sanfter Steigung an. Ein Pfluggespann fährt vor dem mattblauen Himmel
über die Kammscheide, Wiesen, mit Obstbäumen bestanden, ziehen
sich weiter zum kahlen Wald, über dem neben einigen gedeckten
Rücken ein lichtferner Bergkegel ragt.
Inmitten all dessen, im Tal, vom Fluß umwunden, der hier ein
Nebenflüßchen aufnimmt, liegt die Stadt. Fast eine Insel, die nah und fern
Wasserwerke und Brücken umgeben, lagert sie auf ihrem halbhohen
Hügel, zu dem die Uferberge schützend hinabschauen: ein paar alte
Türme und viele Giebel, ein ansteigendes Dächergewirr, aus dem da
und dort eine einzelne hohe Hauswand frei aufsteht, um mit ihren Fensteraugen
weit ins Land zu sehen.
[276] Einstmals war die Stadt
in dieser Lage ein geschützter fester Platz. Von den zwei
Flußläufen und auf den Landseiten durch Steilabfall geschützt,
hatte sie nur eine gefährdete Seite, die man durch einen tiefen Graben
sicherte. Noch läßt ein Straßenzug die ehemalige feste
Stadtummauerung erkennen, die teilweise zum Fundament der Häuser
benutzt wurde oder friedlich Gärten und Lauben trägt. Noch stehen
ein paar graue Rundtürme und ein Wehrgangtor. Zwischen ihnen liegt das
Netzgewirr der ansteigenden und fallenden, geraden und krummen,
ausweichenden und sich verschlingenden Gassen und Gäßchen. Sehr
alte Fachwerkhäuser, an denen Maiskolben hängen, stehen eng in die
Straße hinein und drängen ihre vorgekragten oberen Stockwerke
sogar noch über die Straße hinaus; wo eine Wegbiegung einem Hause
die Ecke wegnahm, kommt im höheren Geschoß, das wie ein Erker
überhängt, doch das alte Hauseck, das der rechteckige
Grundriß vorsah, zu seinem Recht und stößt vor, wirft einen
länglich-spitzen Schatten auf die abgeflachte Ecke und das Blumenfenster,
das aus dem Mauerschatten heraussieht.
[278]
Der Marktplatz in Stuttgart, ein Stück alter
deutscher Stadtbaukunst.
|
Ein breit hingelagertes einstöckiges Schulhaus aus dem achtzehnten
Jahrhundert mit einer flachen, nach drei Seiten ausladenden Freitreppe schiebt
sein wohnliches Mansarddach zwischen die malerischen alten Häuser und
Winkel, schafft Platz um sich, auf dem Kinder spielen, und läßt einen
Augenblick an eine andere Kulturzeit denken; man sieht einen
schwäbischen Schulmeister oder Pfarrer des achtzehnten oder frühen
neunzehnten Jahrhunderts vor sich, der von der Hohen Schule Bildung und
Interessen in den ländlichen Frieden seines Berufes mitgebracht hat und
nun unter den Bürgern und Bauern des kleinen abgelegenen
Städtchens neben seiner Amtstätigkeit ein geistiges Leben
führt, das nicht mehr ganz die Berührung mit den großen
Bewegungen und Strömungen der Zeit verliert und sich in seiner Tiefe am
Ewigen erbaut.
[269]
Kirnbacher Bauernpaar.
|
Und dieser Schulmeister, der auch heute leben kann, ist dennoch nicht von den
Bewohnern der anderen Häuser sehr unterschieden, versteht sich aufs Beste
mit ihnen, trinkt seinen Schoppen Rotwein am selben Tisch mit den
bäuerlichen oder handwerklichen Nachbarn und hört aus ihren Reden
und Sprüchen eben den Geist - wenn auch derber, ungehobelter
gesagt - heraus, mit dem er sich über seiner Umgebung weit
verbunden weiß: den einer halb humor-, halb weisheitsvollen, dem
dichterischen Wesen verwandten Betrachtung des Lebens.
Je mehr man sich in die Aufgabe, Schwaben zu schildern, hineinbegibt, um so
größer, umfänglicher wird sie; um so mehr wächst die
Fülle dessen, was man noch nicht behandelt hat, und steht wartend, fast
anklagend vor dem bedrängten Verfasser. Noch habe ich von [277] Monrepos, Solitude,
Ludwigsburg, Freudenstadt und von so vielem anderem Schönen kein Wort
gesagt. Noch habe ich die industrielle Entwicklung - die Uhren im
Schwarzwald, die Metallwaren in Heilbronn, die Daimlermotoren in
Untertürkheim, die Webereien in Vaihingen und die
tausend anderen - kaum mit einem Wort gestreift. Aber ich muß vor
dem immer wachsenden Thema die Waffen strecken und möchte mit
meiner Schilderung nur noch einen kurzen Augenblick dorthin
zurückkehren, von wo sie ausging, nach Rottweil. Ich führe den Leser
noch einmal in das Museum, in dem das ganze Schwaben, das geschichtliche und
das künstlerische und das volkstümliche - dies vor allem mit
prachtvollen Fastnachtsmasken und -gewändern - beisammen ist.
Von den ältesten Gräberfunden über die Reste der
Römerzeit und die holzgeschnitzten gotischen Heiligen mit ihrem starren
Festhalten unmittelbarster Lebensmomente geht der Blick zu den Glasscheiben
aus der Renaissance mit dem farbenschwebenden Raum in sich, zu
Kaiserurkunden mit dem verschlungenen machtvollen Namenszug Karls V., die friedlich neben denen Wallensteins und anderer
Heerführer aus dem Dreißigjährigen Kriege hängen.
Vergangenheiten, die unser Auge aufschließen für die Gegenwart. Sie
lastet auf uns allen; darum mag man in geschichtlichen Zeiten, die auch nicht
immer hell waren, ein Verstehen und ein Überwinden für das Heute
finden.
Unter einer alten Linde steht ein rotsandsteinerner Hofgerichtsstuhl aus dem
Rokoko, auf dem der Abgesandte des Wiener Kaiserhofes saß und Gericht
hielt. Vergangenheit auch er. Nicht minder Vergangenheit das
württembergische Königswappen da und dort an den alten
Amtsgebäuden.
[278] Man steht sinnend still
und macht sich klar, daß in diesem Museum und hier draußen auf
Markt und in Gassen der Blick über zwei Jahrtausende hingegangen ist, in
denen immer wieder das eingeborene Leben des Landes schlimme Zeiten
überwand und zu blühen begann. Das soll uns Hoffnung und
Vertrauen geben! Der Druck, der jetzt noch auf der deutschen Seele liegt, hebt
sich, vielleicht zaghaft erst, aber er hebt sich, wenn sie fragt: wo sind die
Römer, die Hungersnöte, die Kaiserheere, die großen Seuchen,
die Franzosen, die Schweden? Wohin all die äußeren Mächte,
die jede sich einmal drückend hier auf das Leben des landverwachsenen
schwäbischen Volkes legten? Wohin? Immer wieder mußten sie vor
der sieghaften Kraft des Bodens und des Volkes weichen! "Die fremden Eroberer
kommen und gehen." Aber die Schwaben sitzen heute wie ehemals auf ihrer
Scholle.
|