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Süddeutschland - Eberhard Lutze
Streifzug durch Schwaben
"Aufrichtig und gradraus, guatmütig bis dort naus, wenn's sei muaß
au saugrob, so ischt d'r Schwôb." Mit diesem Satz August Reiffs hat sich
schwäbisches Volkstum selbst sprichwörtlich charakterisiert. Es ist
stolz auf seine Eigenart, deren Grundzug Einfachheit und Geradheit, auf sich
selbst gestellter, bis zur "Dickköpfigkeit" führender Eigensinn,
schwerblütige fromme Besinnlichkeit und dabei ausgesprochener
Unternehmungsgeist und schweifende Wanderlust sind. Merkwürdig
widerspruchsvoll spiegelt sich schwäbische Art in dem Urteil der anderen
deutschen Stämme. Auf der einen Seite hat die Auswanderung
unzähliger Schwaben aus der zu eng gewordenen, ackerbautreibenden
Heimat im vorigen Jahrhundert diese hart zupackenden Menschen der Arbeit in
alle Welt verschlagen, andererseits sind die Sieben Schwaben, die mit der Lanze
ausziehen und ein Häslein bejagen, sind das Schwabenalter, die dem
Hochdeutschen fernliegende, rauhe alemannische und schwäbische Sprache
beliebte Gegenstände hänselnder Neckerei für alle
übrigen Stämme. Mag dies alles im besonderen auf die Bewohner der
alten Grafschaft Württemberg abzielen, so hat doch vielleicht die
landschaftliche Zersplitterung der von den Schwaben bewohnten Gaue zur
Herausbildung besonders hart gezeichneter Charaktere und "Originale" ihr Teil
beigetragen. Auf keinen Stamm aber kann man die für uns Deutsche
geprägte Charakterisierung als ein Volk der Dichter und Denker mit so viel
Recht übertragen wie auf das schwäbische Volk.
Hat eine Landschaft
erhabenere Dichter als Söhne aufzuweisen wie die schwäbischen
Neckargaue, wo Friedrich Schiller und Friedrich Hölderlin das Licht der
Welt erblickten, deren Art und Menschen Ludwig Uhland und Eduard
Mörike besungen, die uns die philosophischen Denker Hegel und Schelling
schenkte, den genialen Paracelsus, den bahnbrechenden Astronomen Kepler, den
Entdecker des Gesetzes von der Erhaltung der Kraft Robert Mayer, den tragisch
unverstandenen leidenschaftlichen Vorkämpfer des deutschen
Eisenbahnwesens und Zollschutzes Friedrich List?
"Das schwäbische Volk,
das trotz aller Absonderung und aller scheckigen Vielheit und aller
Zurückstauung der Kräfte etwas Eigenständiges und
Einmaliges blieb mit einheitlicher geistiger Tracht, mit einem gemeinsamen
Lebensstil und vielen wertvollen Anlagen, hat in der Enge und Begrenzung des
äußeren Raumes und der Mittel, in dem eigenwilligen Festhalten am
alten Kopf und Zopf für seinen lebendigen Geist eine besondere
Fähigkeit zur Vertiefung und Verinnerlichung sich erworben. Sie ist wohl
oft wunderlich diese schwäbische Sinniererei in religiösen,
philosophischen, künstlerischen, auch in wirtschaftlichen Dingen, aber sie
hat die Welt oft genug mit einem tüchtigen Kopf, einer meisterlichen Hand,
einer besonderen Leistung überrascht und ihren vollwertigen Beitrag zur
deutschen Kultur gebracht" (B. Eberl).
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Ochsenhausen (Oberschwaben).
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Kein Beispiel für die zähe Willenskraft der Schwaben kann
schlagender sein als ihre Umstellung auf die Industrie, die sich im letzten
Menschenalter voll- [819] zogen hat.
Während noch 1890 fast zwei Drittel der Bevölkerung in der
Landwirtschaft ihr Brot fanden, ist die Mehrzahl heute verstädtert, aber in
einem Sinne, der die Industriearbeiter fest mit ihrem Boden verwurzelt ließ.
So gibt es in Niederschwaben Industriedörfer mit stadtartigem Charakter,
oder Industriestädte blicken auf eine sprunghafte Entwicklung aus dem
Dorf des 19. Jahrhunderts zurück. Wesentliche Bodenschätze
fehlen. So fährt die Arbeiterschaft vielerorts aus ziemlich entfernt liegenden
ländlichen Wohnorten zur Arbeitsstätte. Feinindustrie macht den
Hauptteil der schwäbischen Fabrikation aus, wobei unentschieden bleiben
mag, ob das Fehlen bodenständiger Gewerbe und jeder Schwerindustrie
eher aus der handwerklichen, erfinderischen Begabung der Bevölkerung
oder aus dem Mangel an Kohle und Rohstoff zu erklären ist.
Die sprichwörtlich bekannte Uhrmacherei im Schwarzwalde, deren
Anfänge auf ein paar Schwarzwälder Glasträger
zurückgehen, die im 17. Jahrhundert die erste Wanduhr mit
heimbrachten, dieses in Heimarbeit ausgeübte Gewerbe beschränkt
sich heute nur noch auf wenige Kleinmeister im Gebirge. Dank der
Industrialisierung durch Erhard Junghans (gestorben 1870) jedoch haben heute
Schramberg und Schwenningen als Uhrenstädte Weltruf erlangt. In
Schramberg werden jährlich 3 Millionen Uhren hergestellt. In eine
arme Heimarbeitergegend ist damit Wohlhabenheit eingezogen. Umgekehrt hat
natürlich der Mittelpunkt der Landeshauptstadt die Industrie
begünstigt. Die Baumwollspinnerei
und ‑weberei, die Leinenfabrikation - auch sie einst im
Haus- und Handbetrieb hergestellt - ist heute weltberühmt. Der
Anfang: der Stuttgarter Kaufmann Karl Bockshammer brachte heimlich aus
England eine Spinnmaschine mit nach Hause. Die 1810 von ihm in Berg
eingerichtete erste mechanische Spinnerei legte den Grund zu der bis in unsere
Tage ständig aufblühenden schwäbischen Textilindustrie. Fast
alle anderen Industriezweige in Schwaben bauen sich gleichfalls auf der
Erfindertat einzelner schwäbischer Männer auf. Der Pfarrer
Matthäus Hahn begründete die Feinmechanik. Emil Keßler
begann Eßlingens Maschinenindustrie groß zu machen. Die
Lokomotivfabrikation steht in den Eßlinger Werken obenan. Wilhelm
[778]
Geislingen an der Steige. Kornhaus.
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Mauser ist der Begründer der Oberndorfer Gewehrfabrik. Gottlieb Daimlers
Erfindung des Gasmotors lebt in den Cannstätter Daimler-Benz-Werken fort, deren
Mercedes-Benz-Wagen die deutschen Farben überall in der Welt siegreich
und unerreicht vertreten. Robert Boschs in Stuttgart gelungene Erfindung des
elektromagnetischen Zünders ist untrennbar mit dem Aufschwung der
deutschen Automobilmarken verbunden. Die
Bosch-Werke, die 1894 eine Belegschaft von 50 Mann beschäftigten,
hatten bereits vor dem Kriege fünftausend Arbeiter! Auch die
Württembergische Metallwarenfabrik in Geislingen an der
Steige - wer kennt nicht auch in den Haushalten des Auslandes ihre
Spitzenleistungen! - ist, ebenso wie das Eßlinger Werk, die
Gründung eines weitblickenden schwäbischen Unternehmers. Das
verwandte Gewerbe der Edelmetallindustrie steht gleichfalls in Schwaben in
schöner Blüte.
Nach dem badischen Pforzheim ist
Schwäbisch-Gmünd die führende deutsche
Gold- [820] schmiedestadt. Die
Herstellung von Silberarbeiten nimmt einen wichtigen Platz in der Industrie von
Heilbronn ein, das in lebhaftem Aufblühen begriffen ist. Der
Anschluß an Württemberg ist dieser Stadt zweifellos zum Segen
ausgeschlagen. Der Neckarhafen ist ein Umschlagsplatz erster Ordnung, der der
nachmittelalterliche Erbe der Handelsstadt Ulm geworden ist. Heilbronn wird
durch die ihrer Vollendung entgegengehende Neckarregulierung noch weiter als
Handelsstadt gewinnen. Ist es doch schon heute "das Einfallstor des
Kolonialwarenhandels".
[770]
Komburg (bei Schwäbisch-Hall).
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Eine der wenigen der Ergiebigkeit des Bodens verdankte Fabrikation in Schwaben
ist die Salzgewinnung. "Der Ertrag der württembergischen Salzbergwerke
Kochendorf und Heilbronn und der Salinen Friedrichshall und Clemenshall bei
Jagstfeld, Wilhelmshall bei Rottweil beträgt etwa eine halbe Million
Tonnen im Jahr, rund 4 Zentner auf den Kopf der württembergischen
Bevölkerung" (R. Gradmann). Schon früh hat die auf dem
rechten Kocherufer entspringende Salzquelle
Schwäbisch-Hall berühmt gemacht. Zwar wird heute Haller
Salz nicht mehr gehandelt, aber als Solbad zieht die Stadt noch immer Segen aus
dem "Salz der Erde". Überhaupt dürfte Schwaben einen nicht
unwesentlichen Teil seines Fremdenverkehrs den vielen Mineralquellen
verdanken, die seinem Boden entsprudeln. Das "schwäbische Karlsbad" ist
Mergentheim, dessen Karlsquelle
schon - nach Funden zu
schließen - in urgeschichtlicher Zeit
Opfer- und Dankesgaben erhalten hat, dessen Bekanntwerden als Bad aber erst
mit dem Jahre 1826 beginnt, als dem Gemeindeschäfer der
Deutschordensstadt in der Nähe des Taubergrundes der schönste
Schwabenstreich seines Lebens gelang. Er bemerkte eine brodelnde Quelle, zu der
seine Schafe sich gierig drängten und deren Wasser die Kraft hatte, seine
kranken Tiere gesund zu machen. Den klugen Schafen und dem wackeren
Schäfer, der seine Wunderquelle auf dem Rathaus meldete, ist es zu
danken, daß das Mergentheimer Bitterwasser seither Tausenden von
Kurgästen ihr Gallen-, Leber- oder Magenleiden gelindert hat...
Die Neckargaue, sind das Land der Straßen und Raine, Gärten und
Hänge überziehenden Obstwälder. Diese können
geradezu als Wahrzeichen der niederschwäbischen Kulturlandschaft gelten.
Wer wüßte nicht das Schwarzwälder Kirschwasser zu
schätzen? Und wer wüßte im Schwabenlande nicht den
schwäbischen Volkstrunk des "Moschtes" zu loben, der beim Vespern eine
gleich wichtige Rolle spielt wie die über alles geliebten "Schpätzle"
zu den Hauptmahlzeiten? Die Liebe zu diesem in unglaublichen Mengen
vertilgten Getränk ist so groß, daß sogar noch Obst
eingeführt werden muß, andererseits auf die Zucht veredelter Sorten
wenig Wert gelegt wird. Früher ist offenbar der Württemberger
Landwein ausschließliches Volksgetränk gewesen. Viele ehedem mit
Reben bestockte Hänge hat sich der lohnendere Obstbaum erobert. Die
Neckarhänge jedoch sind nach wie vor von Rebengärten
überzogen. Der rote, weiße und
Schiller-Landwein ist so süffig, daß er im Lande selbst ausgetrunken
wird. Einst gab es in den württembergischen Kanzleien eigens
Suppen-, Schlaf- und Untertränke, deren Genuß die Räte und
"Schreibersknechte" [821] zu um so emsigerer
Arbeit ermuntern sollte! Bei solcher Anteilnahme des Staates ist es kein Zufall,
daß die älteste deutsche staatliche Weinbauschule in Weinsberg ihren
Sitz hat. Wandert nur einmal den schönen Neckar entlang und
vergeßt seine reizenden Nebentäler nicht: ihr werdet den
"Neckarwein vor anderen Weinen, sonderlich in heißen Zeiten, anmutig und
berühmt" finden! "Pfui Teufel, ischt des guat!" lobt wohl der Schwabe
seinen Schoppen.
[779]
Der Neckar bei Hornegg.
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Altes Volksgut ist in der kleidsamen Betzinger Volkstracht des Oberamtes
Reutlingen und den Fastnachtsbräuchen der Baar lebendig, in der Gegend
um Villingen und Rottweil. In klaren altdeutschen Farben auf schwarzem und
weißem Grunde leuchtet diese Tracht, die nach protestantischem Brauch
eine schwarze Braut und farbige Brautjungfern vorsieht, deren festliche
Gemeinsamkeit in niedlichen "Schäpeln" und in Granatschmuck besteht. Ist
im schwäbischen Trachtengebiet die Männertracht verschwunden, so
bestreitet der Mann ausschließlich die Vermummung, die bei der "Fasnet"
seit dem 14. Jahrhundert Brauch ist. In mannigfacher Abwandlung setzt der
Narrensprung die vor Vergnügen johlende Bevölkerung in den
altertümlichen Straßen in Bewegung. In Rottweil trägt der
"Gschellnarr" an sechs Ledergurten 48 bis 56 geschmiedete Rundglocken und als
Attribut eine mit Sägemehl gefüllte Leberwurst. Die fratzenhafte
"Biß"larve, die anmutigere "Glatt"larve geben den grotesken Gestalten ein
dämonisches Ansehen. Das "Fransenkleidle", der auf Stelzen über
den Köpfen der Menge stolzierende "Federehannes", der "Schandle" und
das von zwei Treibern zu mutwilligen Sprüngen gereizte "Brieler
Rößle", damit ist eine ausgelassene, bunte Gesellschaft beieinander,
die im rhythmischen Hüpfen des Narrensprunges, bei dem Rasseln der
Schellengeläute und dem Gröhlen des Narroverses begeisterten
Widerhall findet. Barocker Witz, Jahrhunderte alte Formen, unbeirrt um modische
Strömungen feiern alljährlich fröhliche Auferstehung, wenn
am Dreikönigstag "das Gschell gerührt wird, indem die Abstauber
umhergehen, die Narrenrequisiten feierlich abstauben und leise die Glocken des
Gschells erklingen lassen".
Entgegen den althergebrachten Fastnachtssitten wird das Cannstätter
Volksfest - ähnlich dem Münchener
Oktoberfest - in Verbindung mit einer landwirtschaftlichen Ausstellung erst
seit 1818 alljährlich im September gefeiert.
[806]
Ulm. Das Münster (14.-15. Jahrh.)
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Ein ewiges Denkmal hat sich das Schwabentum in den Städten errichtet, die
seinen Lebensraum durchsetzen. Es klingt etwas von dem weitblickenden
Unternehmergeist in den Plänen, Straßen und Häusern, in den
Kirchen der schwäbischen Stadt, von dem die Wirtschaftsgeschichte
Zeugnis ablegt. Ulm und Augsburg sind die beiden Pole, die den
schwäbisch-bayerischen Korridor zwischen Iller und Lech flankieren.
Ulm, am Einfluß der Iller und Blau in die schiffbar werdende
Donau gelegen, hat sich zur zweitgrößten Stadt Württembergs
entwickelt. Die gute Verkehrslage - nach Norden mit dem Geißlinger
Albübergang, im Süden mit den Paßstraßen nach
Italien - hat Ulmer Barchent nach überall vermittelt, und "Ulmer
Geld ging durch alle Welt". Ihre höchste Blüte hat die Reichsstadt
um die Wende des 14. zum 15. Jahrhundert erlebt; unverändert blieb
ihre Bedeutung als Festung und Garnisonstadt bis in unsere [822] Tage, in denen dank
der Beseitigung der inneren Festungswerke ein lebhafter industrieller Aufschwung
da ist (Neu-Ulm). Die Altstadt aber ist gotisch und winklig, mit Flußarmen,
Geschlechterhäusern, malerisch träumenden Plätzen und
plätschernden Brunnen. Über Geschichte und Gegenwart, als
das Monument der Stadt, reckt sich der Münsterbau über
die Dächer, das gewaltigste Denkmal, das je eine altdeutsche
Bürgerschaft sich zur Ehre des Höchsten zu errichten wagte. Alles
andere trat hinter dieser Bauaufgabe zurück, an die Jahrhunderte ihre beste
Kraft gaben. 1377 begannen die Ulmer das Werk, 1890 setzten Söhne
desselben schwäbischen Volkes die Kreuzblume auf den 162 Meter
hohen, den höchsten Kirchturm der Christenheit.
[781]
Waldenburg (Württemberg).
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Das goldene Augsburg ist die Stadt der Renaissance. Dem Stadtbilde
fehlt die beherrschende Mitte. Zwischen dem Dom und der Stiftskirche
St. Ulrich und Afra wogt über die festlich breite, von
renaissancehaften Monumentalbrunnen gegliederte Maximiliansstraße das
Augsburger Leben der Vergangenheit und der Gegenwart. Mitten inne liegt das
Rathaus mit dem Perlachturm, als das Herz der Stadt. Der Stadtbaumeister Elias
Holl hat Augsburg seine eigentliche Gestalt geschenkt. Sein ernstes, steil
wachsendes Rathaus ist ein wuchtiges Denkmal für das
Machtbewußtsein der Stadt, in der die Kaufmannsgeschlechter der Fugger und Welser die
Brücke schlugen vom Meer im Norden zu der
Handelsmetropole Venedig, deren prachtentfaltende Finanzkraft kaiserliche
Gäste beschämte, wo die glänzenden Geister des Humanismus
sich mit den Meistern des Pinsels Hans Burgkmair und Hans Holbein fanden zu
einer Geistigkeit, der nirgendwo in Deutschland so die Bezeichnung "deutsche
Renaissance" gebührt wie in dem Erbe der alten Römerstadt Augusta
Vindelicorum. Klassische Atmosphäre beruhigter Harmonie schwingt um
die Gestalt dieser sachlich kühlen, aber großzügigen Stadt.
Weite Ebene umgibt die türmereiche Anlage auf dem Brühl inmitten
von Lech und Wertach. Elias Holls
Baumeistertat gibt dem Formgesetz der
Augsburger Stadtgestalt seinen Mittelpunkt. Er ist der erste Stadtbaumeister in
modernem Sinne gewesen. Seine Leistung hat Schule gemacht: die kleine
Reichsstadt Memmingen ist eine Miniaturausgabe Augsburgs. Und
während nach südländischem Muster die mit bemalten
Schauseiten geschmückten Patrizierhäuser erstanden, wuchs
[808]
Augsburg. Die Fuggerei,
die erste Kleinsiedlung der Welt,
1591 für bedürftige alte Leute
von den Brüdern Fugger gestiftet.
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gleichzeitig die Webersiedlung der Fuggerei, die erste bahnbrechende, aus
sozialer Verantwortung des Brotherrn gebaute Mustersiedlung. Sie tut noch heute
ihren Dienst; mit einem Sprung stehen wir aus der Geschichte in der Gegenwart.
Neben der immer noch rührigen Textilindustrie steht der Maschinenbau.
Die drei Buchstaben MAN (Maschinenfabrik
Augsburg-Nürnberg) tragen den Ruf des modernen Augsburg ebensoweit
wie einst der Handel.
Atmet die schwäbische Stadt dank ihrer untersetzten Steinputzhäuser
und behäbigen Straßen im allgemeinen ruhige Stille, so gibt es in den
Grenzbezirken deutliche Einwirkungen aus Franken und Bayern. Da sind die
malerischen Anlagen von Wimpfen, Backnang und Hall, die
schönen Fachwerk-Rathäuser von Markgröningen
und Besigheim. Da reihen sich an der [823] Donau die stillen, von
Weihrauch und bäuerlichem Leben erfüllten Kleinstädte des
bayerischen Schwaben.
"Wer in Gundelfingen keinen Holzwagen,
In Lauingen keinen Mistwagen sieht
Und in Dillingen hört kein Glockenläuten,
Der kommt zu seltsamen Zeiten"
geht ein Spruch.
[803]
Universitätsstadt Tübingen.
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[804]
Die Wurmlinger Kapelle bei Tübingen.
[805]
Weingarten. Die Klosterkirche.
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Die gemütlichste Stadt Niederschwabens ist Tübingen. Ihr
Ruhm blüht aus der Landesuniversität, die Eberhard der Rauschebart
in der beschaulichen Weingärtnerstadt 1477 gegründet hat. Die
Universität und das Tübinger Stift sind der geistige Mittelpunkt
Württembergs, von wo Tausende von anhänglichen alten Studenten
den Ruhm dieser schönen, tälerbeherrschenden Stadt ins Reich
hinaustrugen.
Auf Schritt und Tritt begegnet man den Stätten der Dichter
und Denker, die auf dem Tübinger Dichterfriedhof ruhen: dem Turm
zwischen den Häusern am Neckar, darin Friedrich Hölderlin
37 Jahre hindurch lichtlose Tage geistiger Umnachtung verbrachte, vor den
Toren der Stadt der Wurmlinger Kapelle, die Ludwig Uhland in einem seiner
schönsten Gedichte besang.
Tübinger Geist durchwaltet die beiden evangelischen Klosterschulen
Maulbronn und Blaubeuren, die einen Hauch mittelalterlichen
Geistes in dem theologischen Nachwuchs des protestantisch gewordenen Landes
weiterleben lassen. Maulbronn: das stolzeste Denkmal des zur Stauferzeit in
unwegsamen deutschen Gauen rodenden Zisterzienserordens. Stimmungsvoll
steht der Fachwerkturm des goldsuchenden Dr. Faust neben den
wundervoll gequaderten reichen Bauten und Baugliedern von Kirche, Refektorien
und Kreuzgang. Das Kloster am Blautopf umschließt die ergreifende
Offenbarung, das Farben- und Formenwunderwerk des Hochaltars von Gregor
Erhart. Das stille Leuchten der schwäbischen Kunst schimmert aus seiner
Plastik und den goldgründigen Flügelbildern.
Nicht weit von Tübingen liegt die führende Stadt des katholischen
Schwaben, das bischöfliche Rottenburg. Oberschwaben ist das
Land der Klöster und Kirchen, die Welt des Barock. Nur in der
Benediktinerabtei Komburg spürt man unter der barocken
Verkleidung noch die romanische Strenge der aus einer gräflichen Burg
zum Kloster umgebauten aristokratischen Kirchenburg. Dort aber, wo das
Allgäu beginnt, wo man meint, die Welt werde grüner unter dem
Zauber der nahen Berge, wo im Moränengebiet der Alpen
[616]
Ottobeuren (bei Memmingen). Ehemalige Benediktiner-Abtei.
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schwermütige Moore dumpf brüten und zerwaschene
Flußläufe das Vorland zertalen, dort ist die Welt des
schwäbischen Barock. Das strenge Weingarten, Ottobeurens reife,
wie Orgelmusik erklingende Feierlichkeit, Zwiefaltens Münster
vom gleichen Meister Johann Michael Fischer und Balthasar Neumanns letztes,
edel-kühles Meisterwerk
Neresheim - diese vornehmsten Kirchenbauten in
schwäbischen Landen sind eingegangen in die europäische
Kunstgeschichte. "Hier ist zeitlose Erfüllung, von Gottes Geist gesegnet
und bestem Menschenblut durchwogt: tiefer Mittelpunkt, wo sich unter ewigen
Augen die Achsen kreuzen von Natur und Kunst."
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