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[Bd. 2 S. 67]
Johann Balthasar Neumann, 1687-1753, von Adolf Feulner

Balthasar Neumann. Gemälde von Markus Friedrich Kleinert, 1727.
Balthasar Neumann.
Gemälde von Markus Friedrich Kleinert, 1727.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 139.]
Balthasar Neumann war der größte deutsche Architekt des achtzehnten Jahrhunderts. Die führende Stellung war schon zu seinen Lebzeiten unbestritten. Kurz vor seinem Tode erhielt er den Auftrag, für das Kaiserschloß, für den Neubau der Wiener Hofburg, Pläne auszuarbeiten. Im Auftrag allein lag schon die Anerkennung seiner Bedeutung. Sie wurde später in der Zeit des Klassizismus wieder vergessen. Nichts ist ungerechter als die Wertung der folgenden Generation. Erst als die gefühlsmäßige Ausdrucksgewalt des Barock wieder als künstlerische Leistung gesehen wurde, im späteren neunzehnten Jahrhundert, begann Neumanns Ruhm in neuem Glanz zu leuchten. Sein Name wurde das Sammelbecken, in das alle großen Schöpfungen des rheinfränkischen Barock hineingeschüttet wurden, bis die Forschung der letzten Jahrzehnte dieses Gemisch von Zuschreibungen wieder ordnete. Als durch die archivalischen Funde die Frage der Gemeinschaftsarbeit erkannt wurde und die verschlungene Tätigkeit bedeutender Architekten am Würzburger Schloß aufgelöst werden mußte, ist der Pegel seines Ruhmes vorübergehend wieder gefallen. Es konnte sogar die Meinung auftauchen, daß Neumann nur ein genialer Organisator und Konstrukteur gewesen sei. Erst die Funde der letzten Jahre haben seine überragende Bedeutung wieder geklärt. Jetzt übersehen wir seine künstlerische Entwicklung, wir wissen, daß er gelernt und gerungen hat, bis er die letzten Möglichkeiten seiner Zeit erschöpft hat. Wenn wir die Zahl der künstlerischen Höchstleistungen und die Vielseitigkeit seines Wirkens als Maßstab nehmen, dürfen wir ihn sogar den größten Architekten des achtzehnten Jahrhunderts nennen.

Die Daten seines Lebens sind eintönig. Das äußere Geschehen war gering; um so ereignisreicher war das künstlerische Leben. Seine Laufbahn war, mit wenigen Rückschlägen, die durch den Wechsel seiner fürstlichen Herren eintraten, ein ununterbrochener Aufstieg, getragen von reinen Glücksfällen. Er ist aus kleinsten Verhältnissen erwachsen und rasch zu führender Stellung gekommen. Seine Eltern waren, wie schon seine Großeltern, arme Tuchmachersleute in Eger. Als das siebente von acht Kindern wurde er am 30. Januar 1687 geboren. Der Zufall, daß er einen Glockengießer als Paten bekam, hat dann über sein Leben entschieden. Sein Pate gewann ihn für seinen Beruf und zeigte ihm den Weg zu einem bekannten Meister seines Faches, zum Glockengießer und Stückgießer Sebald Kopp in Würzburg. Als Büchsenmacher und Feuerwerker wurde Neumann 1711 aus der [68] Lehre entlassen. Er trat 1712 in die fränkische Kreisartillerie ein, wurde 1714 zum Stückjunker befördert und blieb bis zu seinem Tod im Dienst des Hochstifts. Der Übergang von einem Zweig seines Berufs zu dem eines Festungsbaumeisters und von da in das baukünstlerische Gebiet vollzog sich von selbst. Während des Türkenkrieges war er 1718 mit den fränkischen Truppen in Österreich und Ungarn. Bei der Befestigung des eroberten Belgrad arbeitete er als Ingenieur mit. Als erfahrener Praktiker kam er 1719 nach Würzburg zurück, als gerade der Tod der Reihe nach die Männer seines Faches wegraffte, den Baumeister Pezani, den Festungsbaumeister Müller und den Baumeister Greising. Die Stellen fielen ihm in den Schoß. In rascher Laufbahn rückte er zum Ingenieurhauptmann, Stückhauptmann und zum fürstbischöflichen Baudirektor vor, und schon mit zweiunddreißig Jahren, nicht zu früh für einen genialen Menschen, war Neumann der führende Baumeister des Fürstbistums. Das ist er geblieben bis zu seinem Tod. Am 19. August 1753 ist er gestorben als der angesehenste Architekt im südwestlichen Deutschland, als der maßgebende Fachmann aller fürstlichen Höfe und Klöster. Seine Züge sind uns aus mehreren Bildnissen bekannt. Das schönste hat uns Tiepolo geschenkt. Auf dem herrlichen Deckenbild im Treppenhaus des Würzburger Schlosses sitzt der führende Baudirektor in der Uniform des Obristen allein und beherrschend vor der Brüstung des Stufenaufbaues, auf dem Europa im Kreise der Künstler thront. Mit dem ruhigen, klaren Blick des wachen, überlegenen Geistes sieht er sich bewußt in seiner Schöpfung um.

Bildnis des Künstlers von G. B. Tiepolo im Deckengemälde des Treppenhauses des Würzburger Schlosses, 1752/53.
[72a]      Johann Balthasar Neumann. Bildnis des Künstlers von G. B. Tiepolo
im Deckengemälde des Treppenhauses des Würzburger Schlosses, 1752/53.

[Bildquelle: Konrad Gundermann, Würzburg.]

Seine Gesamtleistung ist fast unübersehbar. Seine technischen Nutzbauten, die Festungswerke, Kasernen, Zeughäuser, Brücken, Wasserwerke, Brunnen, Glas- und Spiegelfabriken, selbst seine Wohnhäuser, die Klosteranlagen, die kleineren Kirchen, die Altäre müssen hier unberücksichtigt bleiben. An der Würzburger Universität hatte er einen Lehrstuhl für Zivil- und Militärbaukunst.

Die mathematische, wissenschaftliche Arbeit des Ingenieurs und Konstrukteurs, die ununterbrochene Beschäftigung mit technischen Aufgaben war Neumanns Beruf. Das künstlerische Schöpfertum war sein Schicksal und seine Bestimmung. Die eine Wirksamkeit ist bei ihm ohne die andere nicht denkbar. Die sachlichen Vorzüge seines Wissens und Könnens, gesteigert bis zur blinden, niemals versagenden Sicherheit im Konstruktiven, sind geradezu das Fundament seines Künstlertums. Sie sind die unentbehrliche Vorgabe für die Kühnheit der künstlerischen Lösungen seiner Spätzeit. Zuerst hat es den Anschein, als ob ihn seine eigentümliche Begabung, eben der Sinn für rechnerische Klarheit und sachliche Logik, dem französischen Klassizismus in die Arme treiben wollte. Es hat lange gedauert, bis er die fremden Einflüsse überwunden und sich zum freien deutschen Ausdruck durchgerungen hat. In den gewaltigen Raumphantasien seiner letzten Kirchenbauten und seiner Treppenhäuser hat sich die verstandesklare Sicherheit gleichsam überschlagen. Scharfsinnige Logik und technische Kühnheit sind dem räumlichen Gestaltungswillen dienstbar gemacht, und sie sind Mittel der Gestaltung [69] des Übersinnlichen geworden. Steinerne Verkörperungen des Irrationalen hat man diese Bauten genannt. Gerade in dieser gefühlsmäßigen Steigerung drängt sich der deutsche Ausdruck durch. Will man das Deutschtum dieser Kunst in seinem geistigen Umfang erfassen, so muß man wissen, daß die ganze europäische Kunst Voraussetzung ist.

Nach der geschichtlichen Lage fällt Neumanns Beginn in eine glückliche Stunde. Er kam, als die deutsche Baukunst ihn brauchte. In den Wirren des Dreißigjährigen Krieges war das Leben der deutschen Kunst fast erloschen. Es bedurfte der ganzen Tatkraft des Absolutismus, um den Funken wieder zum Glühen zu bringen. Zuerst hat das geistliche und weltliche Fürstentum durch Berufung ausländischer Kräfte versucht, die Lücke zu schließen und durch Einpflanzung einer Kunst, die den Anschauungen und Bedürfnissen der eigenen Zeit entsprach, den Vorsprung einzuholen. Gefördert hat der Absolutismus die Schloßbaukunst als Ausdruck der Machtidee und als Verewigungsform und die kirchliche Baukunst als Förderung des Bürgen, des inneren Haltes des Fürstentums. Schon im späten siebzehnten Jahrhundert waren die fremden Baumeister entbehrlich. In Deutschland waren die genialeren Kräfte nachgewachsen. In einer Zeit, in der in den kulturell führenden europäischen Ländern, in Italien und Frankreich, die treibenden Energien des Barock schon erlahmten, haben deutsche Künstler die Aufgaben des Barock mit Tatkraft aufgegriffen, mit frischen Ideen durchsetzt, durch Verknüpfung mit der deutschen Überlieferung mit entscheidenden, neuen Werten bereichert und mit Bewußtheit zum Abschluß gebracht. In dieser Vollenderrolle liegt die geschichtliche Sendung der deutschen Baukunst. Voraussetzung dieser Bewußtheit ist die Kenntnis des Geleisteten. Neumann war von Anfang an bemüht, über provinzielle Enge hinauszukommen und das Beste der europäischen Baukunst kennenzulernen. Die aufblühende Kunst der Kaiserstadt Wien war ihm schon vom Feldzug bekannt. Auf seiner späteren Reise nach Paris hat er den Rückweg über Belgien und Mitteldeutschland nach Würzburg genommen, um die wichtigsten Orte baulichen Lebens zu sehen. Zur unmittelbaren Auseinandersetzung mit den führenden Kräften seiner Zeit hat ihn am Anfang seiner Tätigkeit die Gemeinschaftsarbeit am Würzburger Schloß gezwungen.

Der Bau der fürstbischöflichen Residenz steht im Mittelpunkt seines Schaffens. Sie ist Gemeinschaftsarbeit und trotzdem Schöpfung Neumanns, der von der ersten Planlegung bis zur Vollendung die Seele des Baues war. Er hat alle persönlichen Ideen der Mitarbeiter eingeschmolzen und dadurch die künstlerische Einheit der wundervollen Schöpfung gesichert. Gewiß wäre ohne die Mitarbeit der großen Wiener und Pariser Architekten der Bau nicht das geworden, was er ist, das Hauptwerk der europäischen Schloßarchitektur des Spätbarock. Man muß auch zugestehen, daß kein anderer ausgeführter Bau diese künstlerische Größe hat, die Einheit von architektonischer Klarheit und dekorativer Fülle, von sachlicher Tektonik und üppigem Reichtum des Schmuckes, von Monumentalität der Anlage [70] und Feinheit der Einzelheiten. Aber nur in Neumanns Gesamtwerk hat der Würzburger Bau seinen Platz. Es wäre ganz unmöglich, ihn in das Werk eines seiner Mitarbeiter einzuordnen. In dieser Tatsache allein liegt schon die Gewißheit, daß der Bau im Wesen ein Kind seines Geistes ist.

Über die Geschichte der Gemeinschaftsarbeit sind wir durch die zeitliche Ordnung der Schloßpläne gut unterrichtet. Eine saubere Trennung des geistigen Eigentums der Mitarbeiter ist trotzdem unmöglich. Die Schriftquellen sind einseitig, weil sie niemals über den mündlichen Gedankenaustausch berichten, und an den Entwürfen können wir nicht das Ineinandergreifen der Kräfte verfolgen. Wir wissen nicht, welche künstlerischen Entscheidungen durch die Wünsche der Bauherren herbeigeführt wurden, und wir können die Anregungen, die durch Widersprüche und die Bereicherung, die durch fremde Gedanken im schöpferischen Menschen ausgelöst werden mußten, nur ahnen. Neumann war von seinem Fürsten mit der größten Aufgabe betraut, die damals in Deutschland zu vergeben war, bevor er noch Beweise seiner künstlerischen Bedeutung gebracht hatte. 1716 war er für Ebrach tätig. Der Mittelbau des Klostergebäudes mit der Prunktreppe, den er damals ausgeführt, war eine überragende Schöpfung. Jetzt gab ihm das Geschick einen Bauherrn von schrankenloser Kunstliebe, anspruchsvoll wie nur ein Fürst des Absolutismus sein konnte. Die große Aufgabe am Beginn der Laufbahn wurde für das heranwachsende Genie die hohe Schule des künstlerischen Wachsens und Werdens, für den Künstler das hohe Glück der Leistung und der unerschöpfliche Quell künstlerischer Erfahrung. Alle selbständigen Lösungen späterer Zeit im Schloßbau und im Kirchenbau haben hier ihre Wurzel. Gerecht wird man seiner Bedeutung für den Bau nur, wenn man seine unbestreitbare Genialität von Anfang an als wesentlichen Faktor in die Rechnung stellt.

Der Würzburger Schloßbau hat schon vor der Grundsteinlegung 1720 das künstlerisch begeisterte Europa in Spannung gehalten. Der Bauherr Johann Philipp Franz von Schönborn stand in engster Verbindung mit seinen Verwandten, dem Reichsvizekanzler in Wien Friedrich Karl von Schönborn und dem Mainzer Kurfürsten Lothar Franz von Schönborn. In Mainz waren Obristleutnant Maximilian von Welsch, der führende Baumeister des Kurfürsten, Freiherr Philipp Christoph von Erthal und Obriststallmeister von Rothenhan mit der Ausarbeitung des Planes beschäftigt; in Wien standen dem Architekten Johann Lucas von Hildebrandt sein Bauherr, der Reichsvizekanzler, weiter Prinz Eugen und der kaiserliche Baudirektor von Althan zur Seite. Beide Architekten waren aus dem italienischen Spätbarock herausgewachsen, der inzwischen in Wien und in Mainz durch eine erstarkte einheimische Tradition durchgegangen war. Bald nach der Grundlegung 1723 wurde Neumann nach Paris geschickt, wo die führenden Pariser Architekten Robert de Cotte und Germain Boffrand mit weitgehenden Veränderungen in die Pläne eingriffen. Nur der modernen Anschauung mag diese Gemeinschaftsarbeit unselbständig erscheinen, dem achtzehnten Jahrhundert war [71] sie eine Selbstverständlichkeit. Die wichtigste Verewigungsform des Menschen hat der Absolutismus in der Baukunst gesehen, wie alle großen aktiven Epochen der Menschheit. Man hat wieder gewußt, daß große Kunstwerke, in denen die Sehnsucht des Menschen nach dem Ewigen verkörpert wurde, Kulturen und Völker überdauern. Man hat auch wieder gebaut wie im Mittelalter, getrieben von der Begeisterung, ohne Rücksicht auf den Zweck. Das Wohnbedürfnis war in einem Schloßbau des frühen Absolutismus das nebensächliche Bedürfnis. Erst der aufgeklärte, bürgerlich abgewandelte Absolutismus dachte anders. Den Kern der Schloßbauten bilden die Räume der Öffentlichkeit, die Prunksäle mit dem Treppenhaus, und diese Räume zu einer künstlerischen Einheit zusammenzufassen und mit den Wohnräumen zu verknüpfen, war die eigentliche Aufgabe. Die schönste Lösung ist das Würzburger Schloß. Legt man neben den Plan des Würzburger Schlosses noch die Entwürfe Neumanns für die Wiener Hofburg, bei denen das Treppenhaus zum Mittelpunkt der riesigen Anlage gemacht und in schwelgerischen Raumdimensionen mit einem geradezu kirchlichen Aufwand ausgestaltet ist, dann kann man die monumentalen Bauabsichten des Absolutismus mit Händen greifen. Der Würzburger Bauherr und seine Verwandten, die Kirchenfürsten aus dem Hause Schönborn, haben die Würzburger Residenz von Anfang an als eine künstlerische Aufgabe des Hauses Schönborn, als ein Denkmal der Familie, als ein Mittel der Verewigung des Namens der Schönborn betrachtet. Für eine solche Aufgabe war das Beste, das Europa geben konnte, gut genug. In dieser Absicht liegt der eigentliche Sinn der Gemeinschaftsarbeit. Den tieferen Sinn dieser europäischen Gemeinschaftsarbeit sehen nur wir als rückwärts gewandte Propheten. Die europäische Kunst ist eine Einheit, und jede Nation spielt im Wachstum der europäischen Kunst zu einer bestimmten Zeit eine führende Rolle. Jetzt war wieder Deutschlands Stunde gekommen. Die Erfüllung aller Möglichkeiten und aller Sehnsüchte des Barock konnte nur Deutschland geben.

Wie war es möglich, daß trotz der Mitarbeit selbständiger und einander entgegengesetzter Naturen der Bau eine künstlerische Einheit wurde? Zur Ausführung wurde der Mainzer Plan bestimmt, die geschlossene Anlage mit vier Innenhöfen und einem Ehrenhof. Er war eine vergrößerte Erneuerung des ersten Planes Neumanns mit zwei Innenhöfen, der für ein Provinzschloß recht stattlich gewesen wäre, mehr nicht. Die monumentale Steigerung des Mainzer Planes lag in den Ausmaßen und in der Art, wie die Flügelanlage durch barocke ovale Schwellkörper an den Endpunkten der Querflügel stärker plastisch akzentuiert ist. In den nördlichen Ovalkörper sollte die Kapelle kommen. Für die Gestaltung des Aufrisses wurde ein Entwurf Hildebrandts maßgebend, der aber durch die Mezzanine aus seiner persönlichen Stilistik herausfällt. In beiden Fällen liegen also schon Umformungen vorhandener Ideen vor. Drei Jahre nach dem Baubeginn brachte Neumann die Vorschläge der französischen Architekten mit. Sie wollten eine vollständige Umwertung des Außenbaues im Sinne des französischen [72] Klassizismus, die Auflösung der Wände durch große, rundbogige Galerien in zwei gleichwertigen Geschossen, die Verwandlung des Baukörpers in ein tektonisches Gerüst. Die Innenräume sollten großzügiger geordnet und geschmeidiger ineinandergeführt werden. Nur die weltmännische Anordnung der Innenräume wurde als bleibender Gewinn übernommen. Sie ist für das Treppenhaus von entscheidender Bedeutung geworden. Die Anregungen für den Außenbau sind in langsamer Entwicklung verändert und in der letzten Bauperiode als fremder Wert abgelehnt worden. Für die deutsche Formanschauung war die klassizistische Strenge zu eintönig, die Korrektheit zu akademisch, die plastisch tektonische Sachlichkeit zu leblos. Nur an den Seitenfronten des Ehrenhofes sind diese französischen Gedanken noch als ordnende Regel sichtbar; an den Hauptfronten sind sie durch das Eingreifen Hildebrandts gelöscht worden.

Seitdem der Wiener Reichsvizekanzler Philipp Karl von Schönborn, der Bauherr Hildebrandts, 1729 den fürstbischöflichen Thron von Würzburg bestiegen hatte, mußte sich die Gemeinschaftsarbeit auf eine Auseinandersetzung zwischen Neumann und Hildebrandt zuspitzen. Jetzt, wo wir das Gesamtwerk beider übersehen, läßt sich Geben und Nehmen leichter abtrennen. Es ist niemals einseitig gewesen. Beide haben voneinander und aus dem Zusammenströmen verschiedenartiger Ideen gelernt. Hildebrandt war der gereiftere, aber nicht der geistig überlegene Künstler. Beide dachten in verschiedenen Ausdrucksweisen. Neumanns künstlerische Phantasie war im Gegensatz zur älteren Generation, die eine prunkvolle, dekorative Gestaltung der Baukörper liebte, grundsätzlich und einseitig auf die Formung räumlicher Erlebnisse gerichtet. Die oft harte Einfachheit des Außenbaues, der als Hülle des Raumes weniger wichtig wird, ist eine Folge dieser Einstellung, die ihn für den französischen Klassizismus empfänglich gemacht hatte. Der Vorzug der Würzburger Residenz vor anderen Schöpfungen Neumanns, die freudige Bewegtheit des Baukörpers, die dekorative Heiterkeit und sinnliche Wärme, kurz die Deutschheit ist das Verdienst Hildebrandts. Neumann hat am Mittelrisalit des Ehrenhofes und der Gartenfassade den Gedanken Hildebrandts nur die entscheidenden Maßverhältnisse gegeben und auch dadurch wieder die Einheitlichkeit bestimmt, er hat die Dekoration in einen strengen Rahmen gespannt und noch mehr der Architektur dienstbar gemacht.

Treppenhaus des Schlosses zu Würzburg, um 1740.
[72d]      Johann Balthasar Neumann:
Treppenhaus des Schlosses zu Würzburg, um 1740.

[Bildquelle: Dr. Franz Stoedtner, Berlin.]
Seine persönliche Schöpfung ist trotz aller Vorarbeit der räumliche Kern der Anlage, die machtvolle Steigerung der Eindrücke im Weg von der niedrigen Erdgeschoßhalle über die großartige Haupttreppe im größten Festsaal des Schlosses, dem Treppenhaus, bis zum prachtvollen Kaisersaal, dem der einfache Weiße Saal als dämpfende Pause vorgelegt ist. Dieses Erlebnis gehört zu den ganz großen Eindrücken der Baukunst. Kein anderes Land hat im achtzehnten Jahrhundert eine Raumfolge von gleicher Großartigkeit. Die Wirkung ist auch heute noch überwältigend, obwohl schon das späte achtzehnte Jahrhundert den hinreißenden Schwung des Ausdrucks im Treppenhaus durch Vereinfachung gebrochen hat. Der Kaisersaal hat durch die plastische Gliederung mit Säulen und durch das [73] komplizierte Gewölbe mit den Fresken Tiepolos eine kirchliche Feierlichkeit erhalten. Es war nötig, wenigstens an dem wichtigsten Bau das Persönliche der Leistung herauszuschälen und durch ausführlichere Beschreibung die Aufgaben der Schloßarchitektur anzudeuten.

Für die übrigen Schloßbauten, die die Würzburger Residenz zeitlich umrahmen, muß die kurze Erwähnung genügen. Die Festlichkeit der Stimmung und die hinreißende Kraft des räumlichen Ausdrucks hat nur noch ein Werk Neumanns, der Mittelbau des Bruchsaler Schlosses (1731 f.). Das Treppenhaus ist hier auf Vorarbeiten des Architekten Ritter von Grünstein ausgeführt. Die Einfügung einer ovalen Plattform als neutraler Hilfsraum ist eine geniale Lösung Neumanns. Im kontrastreichen Aufstieg vom Dunkel in die Helligkeit ist der dramatische Wille der älteren Generation geblieben. Im Festsaal sind die Raumgrenzen durch große Fenster, Spiegel und die Perspektive des Deckenbildes völlig aufgelöst. Die Wände bilden durch die Fassung in schwebenden Farben eine farbige Substanz. Der Raumausdruck greift wieder in übersinnliche Bereiche.

Gartenfront des Schlosses in Bruchsal, 1731–1733.
[72b]      Johann Balthasar Neumann:
Gartenfront des Schlosses in Bruchsal, 1731–1733.

[Bildquelle: Kunstgeschichtliches Seminar der Universität Marburg.]

Beim Schloß Werneck (1731 f.) sind die Pläne Neumanns durch Hildebrandts Mitarbeit, die nicht in allen Punkten (Treppenhaus) günstig war, von Anfang an beeinflußt worden. Der persönliche Anteil des Wiener Architekten ist aber in keiner Einzelheit bestimmt faßbar; er ist ganz in Neumanns Werk aufgegangen. Die Innenräume des Schlosses sind zerstört. Vom Außenbau, der im wesentlichen gut erhalten ist, gehört die herrlich gegliederte Gartenfront zu Neumanns großen Leistungen. Dazu gehört ferner das Treppenhaus des Schlosses Brühl am Rhein (1743), wo die wenigen, aber entscheidenden Änderungen der vorhandenen Anlage, die Weitung des Raumes und die Öffnung des Treppenhauses durch eine farbige Kuppel wieder die Absichten in der Gestaltung des Räumlichen unverhüllt zeigen. Durch die Steigerung des Ausdrucks zu kirchlicher Festlichkeit ist das Treppenhaus wieder der beherrschende Festsaal des Schlosses geworden. Noch stärker war diese Betonung des Treppenhauses in einem späteren Bau am Rhein, dem kurtrierischen Schloß Schönbornslust bei Koblenz (1748). Dieses reife Spätwerk ist von den französischen Revolutionstruppen zerstört worden. Die großartigen Gedanken dieses Baues bildeten die unmittelbare Vorstufe zum Treppenbaus des Wiener Kaiserschlosses (um 1750), das die gewaltigste Raumphantasie der barocken Schloßarchitektur geworden wäre, wenn nicht die Geschichte die Ausführung vereitelt hätte. Neben den schwelgerischen Entwürfen für die Hofburg erscheinen die Pläne für die fürstlichen Residenzen in Stuttgart (1746) und Karlsruhe als sachliche Gedanken über fürstliche Wohnanlagen der Zeit des aufgeklärten Absolutismus.

Den Schwerpunkt des künstlerischen Schaffens hat Neumann selbst im Kirchenbau gesehen. Ausgesprochen hat er diesen Satz nicht. Aber der Gedanke drängt sich unwillkürlich auf, wenn wir die ausgeführten Bauten und die Entwürfe überblicken. Bei den technischen Bauten und bei der Mehrzahl der Schloßbauten müssen wir die Gegenwärtigkeit der Ideen, die Sicherheit der Erfindung und [74] die Klarheit und den Scharfsinn der sachlichen Lösung bewundern. Sobald der räumliche Ausdruck in höhere Bereiche greift, bei den Entwürfen zu Kirchenbauten und zu den Festräumen der Schlösser, da spürt man im Hochflug der Gedanken den mächtigen Flügelschlag des Genius. Man ahnt das Glück des Künstlertums, das aus der unerschöpflichen Fülle von Eingebungen heraus gestaltet, und man fühlt in den aufreibenden Zweifeln die schmerzvollen Wehen des Schöpfertums, das niemals mit der eigenen Leistung zufrieden ist, weil alles Gestaltete doch nur ein schwacher Abglanz der künstlerischen Träume ist. Der Weg des Suchens und Ringens erscheint zunächst als verzweigter Umweg, bis eine Rückschau über die Gipfel des Gesamtwerks das sichere Streben nach letzten nationalen Zielen erkennen läßt. Erst in den Hauptwerken der letzten Jahre hat Neumann diese Ziele erreicht. Diese Bauten sind unvergleichlich und rein deutsch. Nur wenige Schöpfungen der großen süddeutschen Architekten können ihnen an die Seite gestellt werden. Die Kirchenbauten Italiens und Frankreichs erscheinen daneben wieder als Vorstufen.

Zeichen der Genialität ist allein schon die Fruchtbarkeit. Die Zahl der Kirchen, die auf Grund geschichtlicher Nachrichten mit Neumanns Bauatelier in Verbindung gebracht werden müssen – es sind über siebzig –, übersteigt allein schon ein Lebenswerk. Freilich sind viele sachliche Zweckbauten, die sich begnügen als architektonische Steigerung der Natur in der Landschaft zu stehen. Volkstümliche Landkirchen wie Steinbach (1724), Wiesentheid (1727), Retzbach (1736), Euerbach (1740) sind uns heute unentbehrliche Wahrzeichen des Frankenlandes. Die Fähigkeit der Anpassung und die geistige Freiheit treten noch deutlicher hervor beim Umbau älterer Kirchen. Während die Architekten der vorhergehenden Generation rücksichtslos das Vorhandene vom Boden wegfegten, hat Neumann – so wie sein großer Zeitgenosse Johann Michael Fischer – die mittelalterlichen Reste bewahrt, wo er konnte. Beispiele sind die Augustinerkirche in Würzburg (1741) und die Peterskirche in Bruchsal (1746). Das ist nicht nur sparsame Verwertung; darin liegt auch eine Bewertung, eine Anerkennung der deutschen mittelalterlichen Architektur. Sie ist das Ergebnis der künstlerischen Selbständigkeit und Überlegenheit.

Zeichen der Genialität ist endlich der Reichtum der Ideen. Zuerst stehen die beiden Möglichkeiten des Kirchenbaues, Langhausbau und Zentralbau, in verschiedener Gestalt nebeneinander, in der Spätzeit überwiegt die Verschmelzung der beiden Raumformen. Mit diesem Satz sind die Möglichkeiten der Lösungen noch nicht einmal angedeutet. Es ist nötig, zunächst einmal diese Möglichkeiten sachlich zu ordnen, eigene und übernommene Gedanken zu sichten, dadurch die Grundlage für die Bewertung der raumschöpferischen Leistung zu schaffen und zugleich das Deutschtum dieser Leistung herauszuschälen. Wieder sind die Anfänge sucherische Umwertung. Von den frühen Zentralbauten ist der kreisrunde Kuppelbau der Klosterkirche von Holzkirchen (1724) eine Frucht der Pariser Reise. Deutsche Zentrallösungen gehen dieser klassizistischen Einfachheit aus dem Wege und suchen die zusammengesetzte Einheit. Die prächtige Grabkapelle der [75] Schönborn am Würzburger Dom (1721) hat Neumann nur ausgebaut. Die maßgebenden Entwürfe sind von Welsch. Neumanns geistiges Eigentum ist die moderne Verschmelzung der Räume in der Gewölbezone, der ovalen Nebenräume mit dem kreisrunden Hauptraum. Das Vorbild der Bauten Johann Dienzenhofers spielt da herein, der schon in Holzkirchen mit Neumann konkurriert hatte. Das Motiv der Verselbständigung des Mittelraums durch frei stehende Säulen ist aus Frankreich übernommen. Beide Gedanken, Raumverschmelzung und Auflösung der Raumgrenzen durch einen Umgang, sind für das spätere Schaffen wesentlich geworden. Der seltsame Grundriß der Schloßkapelle in Werneck ist aus der sparsamen Rettung älteren Mauerwerks herausgewachsen. Viel konservativer sind die Langhausbauten der Frühzeit. Die großen Klosterkirchen und Wallfahrtskirchen bleiben beim ererbten Barocktypus der kreuzförmigen Basilika; nur in Einzelheiten dringt der neue Geist der Einheitlichkeit durch. Bei der (zerstörten) Benediktinerklosterkirche Münsterschwarzach (1727 f.) war die enge Verknüpfung der Raumteile durch den übermächtigen Hauptakzent der hohen, offenen Vierungskuppel angebahnt. Bei der Wallfahrtskirche Gößweinstein (1730 f.) beherrscht der Zentralgedanke am Ende des Langhauses, die Dreikonchenanlage von Chor und Querhaus, vollständig den Eindruck. Die Seitenschiffe sind zu schmalen Umgängen zurückgebildet. Den Angelpunkt im Schaffen Neumanns bildet die Hofkirche im Südflügel des Würzburger Schlosses (1732 f.). Sie ist wieder Gemeinschaftsarbeit. Die komplizierte Raumform verdankt sie Neumann, die berauschende, prunkvolle Dekoration Hildebrandt. Da die Raumform vollständig aus dem Rahmen der Spätwerke Hildebrandts herausfällt, müssen wir annehmen, daß der endgültige, von Hildebrandt 1734 gezeichnete Riß auf verlorenen Vorarbeiten Neumanns aufgebaut ist. Wenn auch Zwischenglieder fehlen, so ist doch das Wachstum der Raumidee von den sachlichen Gedanken Hildebrandts über die einfachen Zentrallösungen Neumanns bis zur endgültigen Form überschaubar. Es ist sicher, daß die treibenden, modernen Ideen von Neumann kamen, und trotzdem ist es durchaus wahrscheinlich, daß Hildebrandt diese Ideen vertieft hat, daß er den Anschluß an Kirchenbauten seines Lehrers Guarini und damit die Auflösung des Längsraumes in ein kompliziertes Gefüge von fünf ineinander verschmolzenen ovalen Zentralräumen veranlaßt hat. Er selbst war über diese Lösungen schon hinausgewachsen.

Diesen Gedanken der Raumverschmelzung und der Verknüpfung von Langhausbau und Zentralbau hat Neumann dann in kleineren Kirchen aufgegriffen und von verschiedenen Seiten aufgefaßt. Heusenstamm (1739), Gaibach (1742), Etwashausen (1742) und die zerstörte Jesuitenkirche in Mainz (1742) bilden die Haltepunkte des Weges zu seinen Hauptwerken, der Wallfahrtskirche Vierzehnheiligen und der Benediktinerkirche Neresheim.

Beide sind das Ergebnis langer Überlegungen. Aus altertümlichen Gestaltungen im Anschluß an Münsterschwarzach, aus Versuchen, die nach anderen [76] Zielen ausgerichtet waren, sind langsam die beiden eigenartigen Raumformen herausgewachsen. Bei Vierzehnheiligen hat der Zufall die letzte Kühnheit erzwungen. Nach Neumanns Plänen hatte 1743 der Weimarische Landbaumeister Krohne den Bau begonnen und durch Eigenmächtigkeit verdorben. Aus zwei Gegebenheiten, der Mauer der Chorpartie, die zu weit nach Osten verschoben war, und aus dem Platz für den Wallfahrtsaltar, der durch ein Wunder festgelegt war, mußte Neumann 1744 neue Pläne ausarbeiten. Die Verlegung des geistigen Mittelpunktes der Kirche, des Wallfahrtsaltars, aus der Vierung in das Langhaus ist dadurch veranlaßt. Der wichtigste Kreuzungspunkt der Raumteile ist damit nebensächlich geworden, eine Fermate in der Raumkomposition. Die weiteren Lösungen sind geistvolle Folgerungen aus diesen Voraussetzungen.

Wallfahrtskirche Vierzehnheiligen.
[77]      Wallfahrtskirche Vierzehnheiligen,
erbaut von Johann Balthasar Neumann.

[Bildquelle: Grete Schmedes, Berlin.]
Der durchaus sachliche Gedanke, über dem Wallfahrtsaltar einen Tempel zu errichten, bestimmt den Aufbau. An den ovalen Kuppelbau dieses Tempels sind die zentralen Raumteile der Basilika angeschmolzen. Man kann den Kern des Baues in der Zeichnung der Gewölbe herauslösen. Er bildet ein lateinisches Kreuz aus drei längs-ovalen Kuppelbauten in der Längsachse und zwei kreisrunden Kuppelbauten als Querflügelarmen. Das Querschiff ist im Langhaus vorbereitet durch ein kleines Querschiff, das die Empore unterbricht. Die Reste der Seitenschiffe sind nicht lebensfähige Resträume, die aber gar nicht zum Eindruck kommen.

Inneres der Wallfahrtskirche Vierzehnheiligen.
[72c]      Johann Balthasar Neumann: Inneres der Wallfahrtskirche Vierzehnheiligen
in Oberfranken, 1743 entworfen, 1771 vollendet.

[Bildquelle: Kunstgeschichtliches Seminar der Universität Marburg.]

In Neresheim (1745 f.) ist die Raumkomposition einfacher, eine kreuzförmige Reihung von ovalen Zentralräumen. Die Durchkreuzung erfolgt genau in der Mitte. Der Ausgleich der Raumgewichte ist Zeichen der Spätzeit, die sich dem Klassizismus nähert. Er kehrt wieder auf Neumanns Entwurf für die Kapelle der Wiener Hofburg. Den beherrschenden Mittelteil der Kirche bildet wieder ein Rundtempel, ein längs-ovaler Kuppelraum auf vier Paaren frei stehender Säulen, an den sich je zwei quer-ovale Kuppelräume als Langhaus und Chor und je ein längs-ovaler Kuppelraum als Querschiff anschließen. Der Wandel des Formempfindens seit der Würzburger Hofkirche zeigt sich darin, daß die Einzelräume nicht mehr ineinander verschlungen sind. Die Verschmelzung der Raumteile, die Bewegtheit und damit die Schwierigkeit der Erfassung beginnt erst in den Seitenschiffen, die auf einen Umgang zurückgebildet sind, der die Wandpfeiler in den drei Geschossen durchbricht. Der Bau wurde nach Neumanns Tod ausgeführt. Von den Änderungen gegenüber den Plänen ist nur eine nennenswert, der Ersatz der offenen Kuppel durch eine geschlossene Kuppel, und da ist es wahrscheinlich, daß Neumann selbst noch auf diesen Gedanken gekommen wäre, der auch in Vierzehnheiligen die Einheit des Gesamtraumes bedingt. Man kann nicht sagen, daß Neumanns Gedanken nur in Knechtsgestalt in die Wirklichkeit getreten seien. Selbst die gedrückten Gurtbogen waren schon von ihm vorgesehen.

An Hand der Entwürfe können wir das Wachstum der künstlerischen Vorstellungswelt in diesen Kirchenbauten Neumanns zurückverfolgen bis zu den Quellen, bis zu Dienzenhofer, Hildebrandt, Guarini, und es ist reizvoll, aus dem [77] verwickelten Gestaltungsprozeß die logische Denkarbeit des raumschöpferischen Willens herauszulesen. Mit diesem Einblick haben wir sicher unser kunstgeschichtliches Wissen bereichert; aber wir stehen erst vor den Toren des Geheimnisses, das doch nur erahnt und erfühlt werden kann. Wir können ebenso im ausgeführten Raum den Blick von Dekoration und Ausstattung abziehen und allein die Mächtigkeit der Raumverhältnisse, die perspektivischen Reize und den Wandel der Raumeindrücke auf uns wirken lassen. Aber damit haben wir nur einen Teil erfaßt. Im gesehenen Raum ist die räumliche Grundlage, die Verschmelzung der ovalen Kurvenräume, doch wieder verschleiert, am meisten in der Würzburger Hofkirche, am wenigsten in Neresheim. Die Kurven des Grundrisses erscheinen, in das Räumliche übertragen, nicht mehr als die Grenzen ovaler Räume; sie verlieren ihre Logik und werden zu melodiösen Schwüngen, deren Form sich beim Durchschreiten ständig ändert; der Reigentanz der Gewölbegurten verbindet sich mit den Linienmelodien, die kontrapunktisch in den Balustraden, im Gesims, im Gebälk, in den Deckenbildern wiederkehren. Sie werden Mittel und Ausdruck der Raumbewegung, die auch die Seitenschiffe in das Fluten und Strömen einbezieht. Die Bewegung gibt der Raumschale Leben, sie durchdringt den Raum selbst mit geheimen Kräften, gesteigert bis zur stürmischen Leidenschaft, die der Deutsche immer als höchste Gefühlssteigerung empfunden hat.

Diese strömende Bewegung ist bei Neumann betont sakraler Stil. Nur [78] im Kirchenraum ist sie Trägerin eines vergeistigten Lebens und damit ein Mittel, das religiöse Erlebnis zu gestalten. Wenn wir die Art dieses Erlebens erfühlen wollen, müssen wir die besonderen Gedankensysteme herausschälen, die dieses Erlebnis in deutschen Kirchen des achtzehnten Jahrhunderts für sich beansprucht. Der Zugang ist am leichtesten von der Freskomalerei aus zu gewinnen. Es hat seinen Grund, daß Neumann in den Stich der Schloßkapelle von Werneck Deckenbilder eingezeichnet hat, die niemals ausgeführt wurden. Sie haben im Kirchenraum nicht nur dekorative Bedeutung, sie sind auch ein Mittel des räumlichen Ausdrucks, sie durchbrechen mit der Perspektive der Komposition, die auf den Beschauer im Schiff Rücksicht nimmt, die Decke und öffnen dem Blick eine jenseitige Welt. Sie sind ein Mittel der Auflösung der Decke. Der gleichen Absicht, der Verschleierung, Durchbrechung, Auflösung und Aufhebung der Raumgrenzen, dient auch die Zerlegung der Wand in zwei Schalen. Man kann in Neumanns Bauten seit etwa 1720 in einer geschlossenen Linie die Entwicklung verfolgen, wie der Gedanke der Wanddurchbrechung ausreift, wie Elemente französischer, klassizistischer Prägung immer mehr ihres rationalen Sinnes entkleidet werden, wie die Seitenschiffe immer mehr verkleinert, unselbständig werden, bis die Wände zu zwei Schalen werden, von denen die innere die Lichtquellen verschleiert und die Lichtheit des Raumes in ein geheimnisvolles Lichtströmen verwandelt. In diesem Zusammenhang gewinnt die Verschmelzung der Räume erst ihre Berechtigung. Die einzelnen Raumteile sind unvollständig und unfaßbar, sie fluten ineinander, ein Raumteil entwickelt sich aus dem angrenzenden Raumteil. Dem Auge, das diese Entwicklung verfolgen muß, wird der Anschauungsvorgang zu einem Bewegungsvorgang, und da jeder Raumteil ein Spiegelbild des nächsten ist, entsteht wieder, wie in Spiegelsälen der Schlösser, der Eindruck der Auflösung; er wird zum Unendlichkeitsgefühl. Hellstes Licht, schwebende Farben und bewegte, schäumende Stukkaturen helfen mit, den Raumkörper zu entwirklichen. Der Raum wird vor unseren Augen, er verändert sich in geheimnisvollem Wachstum und in leidenschaftlichem Drängen, er gewinnt Gestalt und verflüchtigt sich in wunderbarer Lichtmystik in die Unendlichkeit. Die Schauer des Geheimnisses und das Wunder des Werdens dienen zur Steigerung, sie sind ein Mittel des religiösen Ausdrucks im deutschen Kirchenraum.

Die geheimnisvolle Raumbewegung hatte schon die deutsche Spätgotik als eigenen Ausdruck. Gerade bei den größten deutschen Architekten ist dieser besondere Ausdruck durch die Schicht des Angeeigneten und Nachempfundenen, die die international gesinnte Kunst des Absolutismus aus allen Ländern zusammengetragen hatte, zu solcher Selbständigkeit durchgewachsen, daß die Bauten anderer Länder damit nicht mehr verglichen werden können.

Neumanns Werk ist der wichtigste Markstein in dieser Periode der Selbsterneuerung des deutschen Geistes, die später in der klassischen deutschen Dichtung zum Abschluß gekommen ist.




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Die großen Deutschen: Neue Deutsche Biographie.
Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz