Wie die Ostgebiete des Reiches verlorengingen (Teil 2) Karl C. von Loesch Das Diplomatenspiel um den "Zugang zum Meere" Aus eigener Kraft konnte also weder die sozialistische polnische Regierung in Warschau noch die mehr nationaldemokratisch gefärbte in Posen, die übrigens nur unter recht beträchtlichen Hemmungen miteinander verkehrten, etwas durchsetzen. Hätte sich Frankreich nicht hinter Polen gestellt, so hätte dieser Staat niemals jenen Umfang angenommen, den ihm eine geradezu ungeheuerlich glückliche Konjunktur zuschanzte. Das Diplomatenspiel sollte Polens künftige Grenzen bestimmen. Freilich hatten die berühmten Botschaften des Präsidenten Wilson, wie sie ausdrücklich durch den Notenwechsel zwischen dem deutschen Reichskanzler und dem amerikanischen Staatssekretär Lansing zur Grundlage des Waffenstillstandes gemacht worden waren, nichts über Gebietsabtretungen des Reiches an ein neuerrichtetes Polen enthalten. Dieser Staat sollte, so hieß es nur, geeint, unabhängig und selbständig sein. Außerdem sollte "so weit wie möglich jedem Volk, das jetzt um die volle Entwicklung seiner Mittel und seiner Macht kämpft, ein unmittelbarer Zugang zu den großen Verkehrsstraßen des Meeres zugebilligt werden. Wo dies nicht durch Gebietsabtretungen geschehen kann, kann es zweifellos durch Neutralisierung unmittelbarer Wegerechte unter der allgemeinen Friedenswirtschaft geschehen". So sprach [122] Wilson am 22. Februar 1917 im amerikanischen Senat. Als er ein Jahr später, am 8. Januar 1918, in seinen berühmten 14 Punkten Polen berührte, sprach er von einem Staate, der alles Land einzubegreifen hätte, "das von unbestritten polnischer Bevölkerung bewohnt sei. Diesem Staat soll ein freier und sicherer Zugang zum Meere geöffnet werden". Drei Tage vorher, am 5. Januar 1918, hatte Lloyd George gesagt, ein unabhängiges Polen, das alle echten polnischen Elemente, die in seinem Besitzstand aufgehen wollten, umfasse, sei eine dringende Notwendigkeit für die Stabilität
Die jüngsten Enthüllungen Smulkis, eines Vertrauensmannes Paderewskis, im Kurjer Warszawski wollen Paderewskis Rolle stärker betonen: er behauptet, offensichtlich zu Unrecht, Paderewski habe schon 1917 Wilson dafür gewonnen, daß die Ostseegebiete des Reiches polnisch werden müßten. Alle Wahrscheinlichkeit spricht vielmehr dafür, daß Wilson erst während der Pariser Friedenskonferenz die polnischen Auffassungen sich zu eigen machte, nicht zuletzt (wie Recke in seinem vortrefflichen Buch Die polnische Frage als Problem der europäischen Politik es schildert) unter dem Einfluß Professor Lords, seines Sachverständigen. Er willigte sogar in die Überlassung eines territorialen Korridors [ein] und stimmte der Einverleibung Danzigs in Polen zu; nicht so sehr der Polen wegen, als weil dies eine Forderung der französischen Politik war. Das war denn doch sogar Lloyd George zu viel. Besonders die Abtretung bedeutender Teile des rechten Weichselufers fand seine Mißbilligung. Am 18. März 1919 erklärte er, "der Vorschlag der polnischen Kommission, wir sollten 2,1 Millionen Deutsche der Autorität eines Volkes mit einer anderen Religion unterstellen, eines Volkes, das im Laufe seiner Geschichte niemals gezeigt hat, es verstehe sich selbst zu regieren, dieser Vorschlag würde uns früher oder später zu einem neuen Kriege im Osten Europas führen". So setzte Lloyd George die Volksabstimmungen wenigstens in einigen Teilen Ost- und Westpreußens durch. Übrigens widersprach noch ein anderer Staatsmann, der freilich an der sogenannten Friedenskonferenz nicht beteiligte Marschall Pilsudski. Sein berühmtes Wort: "Also euch gelüstet nach Oberschlesien, aber Oberschlesien ist doch eine uralte preußische Kolonie", zeigt, wie wenig die Polen selbst in diesem Augenblick unter sich einig waren; wie wenig eigene Kraft dazu beitrug, daß halb Ostdeutschland Polen zugesprochen wurde.
Diese Vorschläge besagen, daß im Marienwerderer und Allensteiner Bezirk die von Lloyd George erreichte Volksabstimmung statthaben, im übrigen aber Danzig zwangsweise selbstän- [123] dig werden und fast das ganze übrige Westpreußen, Posen, Teile Mittelschlesiens und fast ganz Oberschlesien abstimmungslos zu Polen kommen sollten. Das Reich wandte sich gegen diese Vorschläge in seiner berühmten Antwortnote fast
Die Abtretung
So wurde Unrecht geltendes Recht, und Polen konnte sich nach dem 5. Januar 1920 - freilich vorerst nur in einem Teilgebiet - häuslich einrichten. Es erhielt ohne Volksbefragung Westpreußen, das Soldauer Gebiet (von dem Roman Dmowski in seinen Aufzeichnungen erklärte, wie Recke uns erzählt, Lloyd George hätte mit dem gleichen Recht wie für Alleinstein und Marienwerder
Die Abstimmungsgebiete im Nordosten Waren die Polen in den Korridor durch den rechtsbrecherischen Machtspruch der Siegerstaaten eingezogen, so hatten sie es in den Abstimmungsgebieten schwerer. Hier mußten sie beweisen, daß ihre Ansprüche berechtigt waren, und das ist, wenn man keine gute Sache hat, schwer, obwohl insofern die Chancen zwischen Polen und dem Reiche sehr ungleich verteilt [125] waren, als das letztere nach fast viereinhalbjährigem Kampfe gegen die peripheren Mächte und zahlreiche überseeische Staaten erlegen war, gewaltige Gebiets- und sonstige Verluste erlitten hatte, als es auch durch Tributzahlungen übermäßig belastet erscheinen mußte, während sich die Sonnen der Siegergunst dem von den Mittelmächten gegründeten polnischen Staate zuwandte. Diese Überlegungen sollten auch in der Abstimmungspropaganda eine wesentliche Rolle spielen. Der Schilderung der Abstimmung sei noch die Erwägung vorausgeschickt, daß Volksabstimmungen keineswegs etwas Ideales sind, wenn sie in willkürlich herausgerissenen Gebieten angeordnet werden, und daß ihre willkürliche Begrenzung der Seite, zu deren Ungunsten sie geschieht, ein schweres Unrecht zufügt. Es wäre verständlich gewesen, wenn man auf Grund der Waffenstillstandsbedingungen alle von Polen beanspruchten Gebiete hätte abstimmen lassen: Ostpreußen, Westpreußen, Posen und Oberschlesien, natürlich auch mit Einschluß Danzigs, das ja zugunsten Polens eine in ihrer Souveränitätion eingeschränkte Eingenstaatlichkeit zwangsweise zudiktiert erhielt. Natürlich wäre der Umfang einer solchen Volksabstimmung zu groß gewesen; hätte man sich im Versailler Diktat von gefestigten Rechtsgedanken leiten lassen, so wäre die Volksabstimmung auf jene Gebiete zu beschränken gewesen, die irgendwann einmal Bestandteile eines früheren polnischen Staates gewesen waren. Das hätte sich immerhin vertreten lassen. So aber verfuhr man gänzlich grundsatzlos zugunsten Polens. Das Allensteiner Abstimmungsgebiet hat nämlich staatlich niemals zu Polen gehört; Oberschlesien nicht mehr seit dem Jahre 1335, dem Vertrage von Trentschin; das Abstimmungsgebiet von Westpreußen nur teilweise, nämlich seit dem Staatsstreich von Lublin 1565 bis zur Vereinigung mit Preußen 1772, also 203 Jahre lang, aber auch nur mit den beiden Kreisen Stuhm und Marienburg. Nicht einmal die Verwaltungsbezirke dienten als Unterlagen, denn drei Kreise wurden nur teilweise zur Abstimmung zugelassen: der ostpreußische Kreis Neidenburg, aus dem man ohne Abstimmung das Soldauer Gebiet Polen gegeben hatte, und die beiden westpreußischen Kreise Marienburg und Marienwerder. Andererseits schlug man zum Für zwei somit ganz willkürlich umgrenzte Gebiete gab Artikel 94 bis 97 den Einwohnern das Recht, selbst zu erklären, welchem Staate sie angehören wollten. Eine internationale Kommission von fünf Mitgliedern, die von den verbündeten und assoziierten Mächten zu ernennen waren, sollte eine freie, ehrliche und geheime Volksabstimmung sicherstellen. Jeder Zwanzigjährige sollte ohne Unterschied des Geschlechts abstimmungsberechtigt sein, wenn er nur im Abstimmungsgebiet geboren und seit einem bestimmten, von der Kommission festzusetzenden Zeitpunkt dort wohnhaft war. Ähnliche Bestimmungen galten für Marienwerder.
Die Volksabstimmung in diesen beiden Teilen Ost- und Westpreußens überraschte die Bevölkerung, obwohl schon vorher von den Ansprüchen Polens etwas durchgesickert war. Hatte es doch niemals eine bodenständige polnische Bewegung von nennenswertem Umfange in diesen Gebieten gegeben. Katholische Polen wohnten nur in zwei zahlenschwachen Gruppen: im südlichen Ermland um Allenstein und im Kreise Stuhm (Regierungsbezirk Marienwerder). Wenn es trotzdem gelungen war, trotz diesen geringen Zahlen die Abstimmung bei den verbündeten und assoziierten Mächten durchzusetzen, so beruht das auf einer Täuschung über den Charakter [126] der übrigen Bevölkerung, einer Täuschung, die vermutlich wiederum auf Selbsttäuschung der Polen beruhte. Polnischerseits wurden nämlich auch die evangelischen Masuren als ein polnischer Volksstamm bezeichnet und beansprucht, weil sie in der Familie einen altertümlichen polnischen Dialekt sprechen, während als Verkehrs-, Kultur- und Weihesprache seit alters her das Deutsche in Gebrauch ist.
So begannen die Polen von neuem, und zwar mit großer Energie. Bereits Mitte November 1918 war es ihnen gelungen, den ersten polnischen Volksrat für das Ermland in Allenstein zu gründen; bald darauf entstand ein zweiter in Ortelsburg für Masuren. Eine gewaltige Propaganda begann. In Westpreußen beschränkte sie sich zunächst freilich nur auf den Kreis Stuhm. Es ist bezeichnend, daß die Polen, welche den Alliierten gegenüber und in der internationalen Propaganda von den unerlösten Brüdern in den Abstimmungsgebieten sprachen, dort die nationale Note nicht anklingen ließen. Sie beschränkten sich darauf, den Druck wirtschaftlicher, politischer und seelischer Not auszunutzen, der sich nach dem Kriege auf die Grenzgebiete gelegt hatte. Sie schilderten andererseits die Zukunft Polens in glühenden Farben. Worgitzki kennzeichnet diese polnische Propaganda in seinem Beitrag zu Grenzdeutschland nach Versailles folgendermaßen: "Der Bevölkerung in den Abstimmungsgebieten sollte, mit einem Wort gesagt, der Glaube an die deutsche Zukunft restlos zerstört werden und ihr so der Gedanke nahegebracht werden, sich rechtzeitig durch freiwilligen Anschluß in ein gesichertes Staatswesen, Polen, hinüberzuretten, um nicht in den unausbleiblichen Untergang Deutschlands mit hineingerissen zu werden. Darum war die polnische Propaganda in steter Wiederholung bemüht, das Deutsche Reich zu verhöhnen und zu beschimpfen, parteipolitische Gegensätze geschickt auszunutzen, Deutschlands Lage in den schwärzesten Farben zu malen, seine Bolschewisierung als unaufhaltbar hinzustellen." Daneben arbeitete man mit Seelenkauf durch Bestechungen und Drohungen. Jedem, der es wagte, seine deutsche Gesinnung offen zu bekunden, wurde spätere Vergeltung in Aussicht gestellt und immer wieder das Gerücht verbreitet, es wäre den alliierten Mächten gar nicht ernst mit der Abstimmung, hieße es doch im Artikel 95 ausdrücklich, daß bei der Grenzziehung auch die wirtschaftliche und geographische Lage berücksichtigt werden solle. Hier muß gesagt werden, daß die Abstimmungskommissionen in Masuren und Marienwerder besser waren als der Ruf, den die Polen ihnen machten, und daß sie sich ernsthaft bemühten, die Unparteilichkeit zu wahren. So ließen sie es zu, daß deutsche Gegenwehr einsetzen konnte. Der Ostdeutsche Heimatdienst in Allenstein und der Ermländer- und Masurenbund (im ostpreußischen Abstimmungsgebiet), die Volksräte, die zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossenen deutschen Parteien und der Heimatdienst Westpreußen, aus denen später der deutsche Ausschuß für Westpreußen entstand (im westpreußischen Abstimmungsgebiet), wurden nicht wesentlich behindert. Die Bevölkerung äußerte für jeden Kundigen sehr bald klar erkennbar ihre Stimmung. Schon vor der Abstimmung zeigte es sich, wie gering die Aussichten der Polen waren, deren Organisation, weil sie in den Händen zugereister Warschauer oder Posener Polen lag, unbeliebt war, während die deutschen Organisationen von Männern und Frauen aus dem Lande selbst geführt wurden. Schließlich schien den Polen ihre Lage selbst so verzweifelt, daß sie eine eigene bewaffnete Kampftruppe bildeten, die sogenannte Bojuwka. Ihre [127] Aufgabe war, die Bevölkerung unter Druck zu setzen, die polnischen Versammlungsredner zu begleiten und deutsche Versammlungen zu sprengen. Daraus ergaben sich so viele Unzuträglichkeiten, daß schließlich die Abstimmungskommission die Bojuwka auflöste. Der Raummangel gestattet nicht, die Einzelheiten des Abstimmungsvorganges zu schildern; es verdient nur noch erwähnt zu werden, welche große Bedeutung die Tatsache hatte, daß auch solchen Personen das Recht zur Abstimmung zustand, die im Gebiete geboren waren, aber längst anderswo ihren Wohnsitz genommen hatten. Auch diese Bestimmung verdankt offenbar einer polnischen Legende ihren Ursprung. Verbreitet man doch die durchaus irrige Anschauung, als hätte die preußische Verwaltung mit ihrem harten Druck auf die Bevölkerung zahlreiche Bewohner dazu gedrängt, ihre Heimat zu verlassen und anderswo ihr Glück zu suchen. Richtig daran war aber nur, daß die kinderreichen, sonst aber
So kam es, daß der Tag der Volksabstimmung in Wirklichkeit zu einer gewaltigen deutschen Kundgebung wurde, an der sich junge und alte Heimattreue, Ansässige und Heimkehrer gleichmäßig beteiligten. So war das Ergebnis am 11. Juli 1920 für die Polen eine vernichtende Niederlage. Für das Reich stimmten in Allenstein 334.534, in Marienwerder 96.895, für Polen nur 7.922 und 7.947.
Die Wertung der Abstimmungsergebnisse vom nationalpolitischen Standpunkte aus soll noch an anderer Stelle erfolgen. Daher genügt es hier festzustellen, welches der Ausgang der Volksabstimmung war. Er entsprach dem Abstimmungsergebnis nicht vollkommen. Bei der endgültigen Grenzfestsetzung konnten es sich die Alliierten nicht versagen, auch hier auf Kosten des Abstimmungsgebietes Allenstein den Polen ein Trinkgeld zu geben. Drei Dörfer an der alten westpreußischen Grenze, Klein-Nappoll, Groschkau und Lobenstein, wurden Polen zugesprochen. Noch schlimmer wurde Westpreußen betroffen. Polen erhielt fünf Weichseldörfer: Johannisdorf, Außendeich, Neu-Liebenau und Kramersdorf, überdies einen langen und schmalen Landstrich längs des gesamten rechten Weichselufers mit dem Hafen von Kurzebrack, Ortschaften, die überwältigende deutsche Mehrheiten aufzuweisen gehabt hatten.
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