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Deutschland und der Korridor

 
Wie die Ostgebiete des Reiches
verlorengingen (Teil 2)

Karl C. von Loesch

Das Diplomatenspiel um den "Zugang zum Meere"

Aus eigener Kraft konnte also weder die sozialistische polnische Regierung in Warschau noch die mehr nationaldemokratisch gefärbte in Posen, die übrigens nur unter recht beträchtlichen Hemmungen miteinander verkehrten, etwas durchsetzen. Hätte sich Frankreich nicht hinter Polen gestellt, so hätte dieser Staat niemals jenen Umfang angenommen, den ihm eine geradezu ungeheuerlich glückliche Konjunktur zuschanzte. Das Diplomatenspiel sollte Polens künftige Grenzen bestimmen. Freilich hatten die berühmten Botschaften des Präsidenten Wilson, wie sie ausdrücklich durch den Notenwechsel zwischen dem deutschen Reichskanzler und dem amerikanischen Staatssekretär Lansing zur Grundlage des Waffenstillstandes gemacht worden waren, nichts über Gebietsabtretungen des Reiches an ein neuerrichtetes Polen enthalten. Dieser Staat sollte, so hieß es nur, geeint, unabhängig und selbständig sein. Außerdem sollte "so weit wie möglich jedem Volk, das jetzt um die volle Entwicklung seiner Mittel und seiner Macht kämpft, ein unmittelbarer Zugang zu den großen Verkehrsstraßen des Meeres zugebilligt werden. Wo dies nicht durch Gebietsabtretungen geschehen kann, kann es zweifellos durch Neutralisierung unmittelbarer Wegerechte unter der allgemeinen Friedenswirtschaft geschehen". So sprach [122] Wilson am 22. Februar 1917 im amerikanischen Senat. Als er ein Jahr später, am 8. Januar 1918, in seinen berühmten 14 Punkten Polen berührte, sprach er von einem Staate, der alles Land einzubegreifen hätte, "das von unbestritten polnischer Bevölkerung bewohnt sei. Diesem Staat soll ein freier und sicherer Zugang zum Meere geöffnet werden". Drei Tage vorher, am 5. Januar 1918, hatte Lloyd George gesagt, ein unabhängiges Polen, das alle echten polnischen Elemente, die in seinem Besitzstand aufgehen wollten, umfasse, sei eine dringende Notwendigkeit für die Stabilität
Die polnischen Annexionswünsche
zur Zeit des Zusammenbruchs
der Mittelmächte 1918/19
und in den Diktatverhandlungen
Die polnischen Annexionswünsche zur Zeit des Zusammenbruchs 
der Mittelmächte 1918/19 und in den Diktatverhandlungen
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Osteuropas. Wilson und Lloyd George sagten also das gleiche zu gleicher Zeit. Noch im August 1918 fragte Wilson, als Roman Dmowski, der Vertreter der polnischen Gebietsansprüche, ihm einen Vortrag über seine Auffassung vom freien Zugang Polens zum Meere gehalten hatte: "Genügt Ihnen denn nicht die Neutralisierung der Weichsel und die Schaffung eines Freihafens in Danzig?" Ja, noch später, im November 1918, mußte Dmowski noch Wilson gegenüber zu Drohungen greifen, weil dieser offenbar auf seinem Standpunkte verharrte: "Erhalten wir nicht die uns zukommende Grenze, nicht nur Posen, sondern auch Schlesien, unser Ostseegebiet mit Danzig, so wird keiner von diesen verstehen, warum es geschah; und das sind alles Leute, welche alle ein festes Vertrauen in Sie setzen." Damit drohte Dmowski dem Präsidenten Wilson, die vier Millionen amerikanischer Polen würden ihn das nächste Mal nicht wieder wählen.

Die jüngsten Enthüllungen Smulkis, eines Vertrauensmannes Paderewskis, im Kurjer Warszawski wollen Paderewskis Rolle stärker betonen: er behauptet, offensichtlich zu Unrecht, Paderewski habe schon 1917 Wilson dafür gewonnen, daß die Ostseegebiete des Reiches polnisch werden müßten. Alle Wahrscheinlichkeit spricht vielmehr dafür, daß Wilson erst während der Pariser Friedenskonferenz die polnischen Auffassungen sich zu eigen machte, nicht zuletzt (wie Recke in seinem vortrefflichen Buch Die polnische Frage als Problem der europäischen Politik es schildert) unter dem Einfluß Professor Lords, seines Sachverständigen. Er willigte sogar in die Überlassung eines territorialen Korridors [ein] und stimmte der Einverleibung Danzigs in Polen zu; nicht so sehr der Polen wegen, als weil dies eine Forderung der französischen Politik war.

Das war denn doch sogar Lloyd George zu viel. Besonders die Abtretung bedeutender Teile des rechten Weichselufers fand seine Mißbilligung. Am 18. März 1919 erklärte er, "der Vorschlag der polnischen Kommission, wir sollten 2,1 Millionen Deutsche der Autorität eines Volkes mit einer anderen Religion unterstellen, eines Volkes, das im Laufe seiner Geschichte niemals gezeigt hat, es verstehe sich selbst zu regieren, dieser Vorschlag würde uns früher oder später zu einem neuen Kriege im Osten Europas führen". So setzte Lloyd George die Volksabstimmungen wenigstens in einigen Teilen Ost- und Westpreußens durch.

Übrigens widersprach noch ein anderer Staatsmann, der freilich an der sogenannten Friedenskonferenz nicht beteiligte Marschall Pilsudski. Sein berühmtes Wort: "Also euch gelüstet nach Oberschlesien, aber Oberschlesien ist doch eine uralte preußische Kolonie", zeigt, wie wenig die Polen selbst in diesem Augenblick unter sich einig waren; wie wenig eigene Kraft dazu beitrug, daß halb Ostdeutschland Polen zugesprochen wurde.

Kundgebung auf dem Heumarkt in Danzig am 25. April 1919 
gegen die Abtrennung der deutschen Stadt vom Reich.
Als das Ergebnis der Versailler Diktatverhandlungen bekannt wurde, scharten sich in allen Städten des Reiches, besonders in den Ostgebieten, die deutschen Menschen zu großen Kundgebungen gegen die Vergewaltigung des Reiches und die Zerstörung des deutschen Ostens zusammen. Der Volkswille stand in den später abgetrennten Gebieten wie im übrigen Reich klar gegen den Diktatswillen der Feindmächte.
Oben: Kundgebung auf dem Heumarkt in Danzig am 25. April 1919 gegen die Abtrennung der deutschen Stadt vom Reich.
Frankreich hatte eben auf der ganzen Linie auf der Konferenz gesiegt. Seine Friedensvorschläge wurden fast ohne Einschränkung der deutschen Regierung zur Annahme vorgelegt, und Wilson bemerkte im April 1919 gerade bezüglich der Ostgrenzen mit einer gewissen Bitterkeit: "Das einzig wahre Interesse Frankreichs an Polen besteht in der Schwächung Deutschlands, indem Polen Gebiete zugesprochen werden, auf die es kein Anrecht besitzt."

Diese Vorschläge besagen, daß im Marienwerderer und Allensteiner Bezirk die von Lloyd George erreichte Volksabstimmung statthaben, im übrigen aber Danzig zwangsweise selbstän- [123] dig werden und fast das ganze übrige Westpreußen, Posen, Teile Mittelschlesiens und fast ganz Oberschlesien abstimmungslos zu Polen kommen sollten. Das Reich wandte sich gegen diese Vorschläge in seiner berühmten Antwortnote fast
Besetzung von Rawitsch.
Besetzung von Rawitsch in der Provinz Posen durch die Polen.
erfolglos. Nur unter dem Drucke erregter Volks- [124] versammlungen in Oberschlesien, dank eines Eintretens der englischen Labour-Party, erreichte es für dieses Gebiet das Recht einer Volksabstimmung. Lloyd George versuchte auch damals noch, wesentliches in der Frage der Ostgrenze zu ändern. Diese deutsch-polnische Grenzziehung, die Reparationen und die Rheinlandbesetzung nannte er die drei größten Ungerechtigkeiten der Friedensbedingungen und erwiderte, als die Polen sogenannte ethnographische Argumente geltend machen, sarkastisch: dann müsse auch Elsaß-Lothringen als deutsches Gebiet anerkannt werden.



 
Die Abtretung

Im Spiegelsaal zu Versailles.
Am 28. Juni 1919 unterzeichneten die deutschen Delegierten im Spiegelsaal zu Versailles das dem Reich aufgezwungene Diktat, mit dessen Bestimmungen die Einheit des deutschen Ostens zerschlagen und weite Teile der Provinzen Posen und Westpreußen einschließlich Danzigs ohne Volksabstimmung vom Reich abgetrennt wurden.
Am 28. Juni 1919 nahm die Nationalversammlung in Weimar zu Lloyd Georges ausgesprochener Enttäuschung das Friedensdiktat der Siegermächte an, und am 10. Januar des Jahres 1920 wurde der Vertrag von Versailles ratifiziert.

So wurde Unrecht geltendes Recht, und Polen konnte sich nach dem 5. Januar 1920 - freilich vorerst nur in einem Teilgebiet - häuslich einrichten. Es erhielt ohne Volksbefragung Westpreußen, das Soldauer Gebiet (von dem Roman Dmowski in seinen Aufzeichnungen erklärte, wie Recke uns erzählt, Lloyd George hätte mit dem gleichen Recht wie für Alleinstein und Marienwerder
Ostdeutschland
nach den Bestimmungen
des Versailler Diktats
Ostdeutschland nach den Bestimmungen des Versailler Diktats
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auch dort Volksabstimmungen fordern müssen), Teilstücke von Pommern, Brandenburg und Niederschlesien und endlich Posen. Das bedeutet mit anderen Worten: Polen behielt nicht nur jenen inneren Teil Südpolens, der ihm durch die Demarkationslinie vom Januar 1919 belassen worden war und auf den es immerhin durch Hinweis auf einen geglückten Aufstand in sehr günstiger Minute halbwegs einige Ansprüche geltend machen konnte. Sondern sein mächtiger Fürsprecher Frankreich hatte ihm trotz dem rasch erlahmenden Widerstand Wilsons und einem auch nicht übermäßig viel erfolgreicheren Lloyd Georges die fast rein deutschen Siedlungsgebiete in Westposen von der Warthe nach Süden (auf Birnbaum, Neustadt, Tirschtiegel, Bentschen, Wollstein, Lissa, Bojanowo, Krotoschin usw.) zugeschanzt sondern darüber hinaus auch noch nicht
In Birnbaum an der Warthe
In Birnbaum an der Warthe.
unwesentliche Teile des Kreises Guhrau mit Katschkau, Gabel und Triebusch, ferner Zduny im Kreise Militsch und recht beträchtliche Teile der Kreise Groß-Wartenberg und Namslau. Der größte Brocken, der Polen zufiel, lag aber im Norden. Hier handelt es sich um das Verbindungsstück zwischen Ostpreußen und der Mark Brandenburg, im wesentlichen um jene Gebiete, die im Jahre 1772 in deutsche Staatlichkeit zurückgekehrt waren. Es war jenes Land, das die Netzegauer aus eigener Kraft zu erhalten vermocht hatten.

Wollstein am Groß-Nelkersee
Wollstein am Groß-Nelkersee.
Rathaus in Lissa
Rathaus in Lissa.

Einmarsch polnischer Soldaten in Thorn.
Einmarsch polnischer Soldaten in Thorn.
Von der Provinz Posen blieb also nur noch ein schmaler Grenzstreifen von Fraustadt bis Schwerin und ein weiterer von Schönlanke bis Schneidemühl beim Reiche. Diesseits des Korridors verblieben von Westpreußen nur die Kreise Deutsch-Krone, Netzekreis und Teile von Flatow und Schlochau, endlich ganz im Norden ein winziger Zwickel, der an den ostpommerischen Kreis Lauenburg angrenzt. Damit war ein völlig unnatürliches Gebilde entstanden, welches das Gebiet des Deutschen Reiches in zwei Teile zerriß, die keinen Zusammenhang mehr miteinander hatten. Mochte die Abstimmung in Marienwerder und Allenstein ausgehen, wie sie wollte, Ostpreußen war völlig abgeschnitten, seine Bevölkerung einem noch niemals in der Weltgeschichte bekannten Druck ausgesetzt.



 
Die Abstimmungsgebiete im Nordosten

Waren die Polen in den Korridor durch den rechtsbrecherischen Machtspruch der Siegerstaaten eingezogen, so hatten sie es in den Abstimmungsgebieten schwerer. Hier mußten sie beweisen, daß ihre Ansprüche berechtigt waren, und das ist, wenn man keine gute Sache hat, schwer, obwohl insofern die Chancen zwischen Polen und dem Reiche sehr ungleich verteilt [125] waren, als das letztere nach fast viereinhalbjährigem Kampfe gegen die peripheren Mächte und zahlreiche überseeische Staaten erlegen war, gewaltige Gebiets- und sonstige Verluste erlitten hatte, als es auch durch Tributzahlungen übermäßig belastet erscheinen mußte, während sich die Sonnen der Siegergunst dem von den Mittelmächten gegründeten polnischen Staate zuwandte. Diese Überlegungen sollten auch in der Abstimmungspropaganda eine wesentliche Rolle spielen.

Der Schilderung der Abstimmung sei noch die Erwägung vorausgeschickt, daß Volksabstimmungen keineswegs etwas Ideales sind, wenn sie in willkürlich herausgerissenen Gebieten angeordnet werden, und daß ihre willkürliche Begrenzung der Seite, zu deren Ungunsten sie geschieht, ein schweres Unrecht zufügt. Es wäre verständlich gewesen, wenn man auf Grund der Waffenstillstandsbedingungen alle von Polen beanspruchten Gebiete hätte abstimmen lassen: Ostpreußen, Westpreußen, Posen und Oberschlesien, natürlich auch mit Einschluß Danzigs, das ja zugunsten Polens eine in ihrer Souveränitätion eingeschränkte Eingenstaatlichkeit zwangsweise zudiktiert erhielt. Natürlich wäre der Umfang einer solchen Volksabstimmung zu groß gewesen; hätte man sich im Versailler Diktat von gefestigten Rechtsgedanken leiten lassen, so wäre die Volksabstimmung auf jene Gebiete zu beschränken gewesen, die irgendwann einmal Bestandteile eines früheren polnischen Staates gewesen waren. Das hätte sich immerhin vertreten lassen. So aber verfuhr man gänzlich grundsatzlos zugunsten Polens. Das Allensteiner Abstimmungsgebiet hat nämlich staatlich niemals zu Polen gehört; Oberschlesien nicht mehr seit dem Jahre 1335, dem Vertrage von Trentschin; das Abstimmungsgebiet von Westpreußen nur teilweise, nämlich seit dem Staatsstreich von Lublin 1565 bis zur Vereinigung mit Preußen 1772, also 203 Jahre lang, aber auch nur mit den beiden Kreisen Stuhm und Marienburg. Nicht einmal die Verwaltungsbezirke dienten als Unterlagen, denn drei Kreise wurden nur teilweise zur Abstimmung zugelassen: der ostpreußische Kreis Neidenburg, aus dem man ohne Abstimmung das Soldauer Gebiet Polen gegeben hatte, und die beiden westpreußischen Kreise Marienburg und Marienwerder. Andererseits schlug man zum
Die Abstimmungsgebiete
in Ost- und Westpreußen
Die Abstimmungsgebiete in Ost- und Westpreußen
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Abstimmungsgebiet Allenstein noch den Kreis Oletzko aus dem Regierungsbezirk Gumbinnen. Auch die Landschaft wurde zerrissen. Die masurischen Kreise Angerburg und Goldap wurden nämlich nicht ins Abstimmungsgebiet hineingezogen, von den vier ermländischen Kreisen nur zwei, nämlich Allenstein und Rössel; das westpreußische Abstimmungsgebiet rechts der Weichsel war überhaupt gänzlich zusammengesetzt.

Für zwei somit ganz willkürlich umgrenzte Gebiete gab Artikel 94 bis 97 den Einwohnern das Recht, selbst zu erklären, welchem Staate sie angehören wollten. Eine internationale Kommission von fünf Mitgliedern, die von den verbündeten und assoziierten Mächten zu ernennen waren, sollte eine freie, ehrliche und geheime Volksabstimmung sicherstellen. Jeder Zwanzigjährige sollte ohne Unterschied des Geschlechts abstimmungsberechtigt sein, wenn er nur im Abstimmungsgebiet geboren und seit einem bestimmten, von der Kommission festzusetzenden Zeitpunkt dort wohnhaft war. Ähnliche Bestimmungen galten für Marienwerder.

Abstimmungsberechtigte, die zu Schiff in ihre Heimat 
zur Abstimmung reisen. Abstimmungsberechtigte, die zu Schiff in ihre Heimat 
zur Abstimmung reisen.
Für Teile Ost- und Westpreußens und Oberschlesiens wurden durch das Diktat Abstimmungen angesetzt, an denen auch alle außerhalb dieser Gebiete ansässigen, aber in ihnen geborenen Personen, die über zwanzig Jahre alt waren, teilnehmen konnten. So brach aus allen deutschen Gauen, von der Stimme des Blutes und des deutschen Willens getrieben, oft in beschwerlichster Reise, ein Strom deutscher Menschen in die Abstimmungsgebiete auf, um dem deutschen Volk sein altes Grenzland zu erhalten. Bilder: Abstimmungsberechtigte, die zu Schiff in ihre Heimat zur Abstimmung reisen.
Abstimmungsberechtigte, die zu Schiff in ihre Heimat 
zur Abstimmung reisen. Abstimmungsberechtigte, die zu Schiff in ihre Heimat 
zur Abstimmung reisen.

Die Volksabstimmung in diesen beiden Teilen Ost- und Westpreußens überraschte die Bevölkerung, obwohl schon vorher von den Ansprüchen Polens etwas durchgesickert war. Hatte es doch niemals eine bodenständige polnische Bewegung von nennenswertem Umfange in diesen Gebieten gegeben. Katholische Polen wohnten nur in zwei zahlenschwachen Gruppen: im südlichen Ermland um Allenstein und im Kreise Stuhm (Regierungsbezirk Marienwerder). Wenn es trotzdem gelungen war, trotz diesen geringen Zahlen die Abstimmung bei den verbündeten und assoziierten Mächten durchzusetzen, so beruht das auf einer Täuschung über den Charakter [126] der übrigen Bevölkerung, einer Täuschung, die vermutlich wiederum auf Selbsttäuschung der Polen beruhte. Polnischerseits wurden nämlich auch die evangelischen Masuren als ein polnischer Volksstamm bezeichnet und beansprucht, weil sie in der Familie einen altertümlichen polnischen Dialekt sprechen, während als Verkehrs-, Kultur- und Weihesprache seit alters her das Deutsche in Gebrauch ist.
Abfahrt eines Zuges mit Abstimmungsberechtigten in 
Berlin nach Oberschlesien
Abfahrt eines Zuges mit Abstimmungsberechtigten in Berlin nach Oberschlesien.

Ausfahrt zur Abstimmung auf dem Markt einer kleinen Stadt
Ausfahrt zur Abstimmung auf dem Markt einer kleinen Stadt.

Abstimmungsberechtigte werden auf der Reise ins Abstimmungsgebiet 
verpflegt
Abstimmungsberechtigte werden auf der Reise ins Abstimmungsgebiet verpflegt.

Abstimmungsberechtigte aus Danzig beim Eintreffen in Marienburg 
am Morgen des Abstimmungstages
Abstimmungsberechtigte aus Danzig beim Eintreffen in Marienburg am Morgen des Abstimmungstages.
Die Polen legten Sprachenkarten (auch solche deutschen Ursprungs) für den gesamten Osten vor. Auf Grund dieser Sprachenkarten erreichten sie, zumal da ja deutsche Sachverständige nicht zugelassen waren, die Volksabstimmung, obwohl es nachzuweisen leicht gewesen wäre, daß die polnischen nationalen Bemühungen der Vorkriegszeit, in jenen Gebieten Fuß zu fassen, völlig gescheitert waren.

So begannen die Polen von neuem, und zwar mit großer Energie. Bereits Mitte November 1918 war es ihnen gelungen, den ersten polnischen Volksrat für das Ermland in Allenstein zu gründen; bald darauf entstand ein zweiter in Ortelsburg für Masuren. Eine gewaltige Propaganda begann. In Westpreußen beschränkte sie sich zunächst freilich nur auf den Kreis Stuhm. Es ist bezeichnend, daß die Polen, welche den Alliierten gegenüber und in der internationalen Propaganda von den unerlösten Brüdern in den Abstimmungsgebieten sprachen, dort die nationale Note nicht anklingen ließen. Sie beschränkten sich darauf, den Druck wirtschaftlicher, politischer und seelischer Not auszunutzen, der sich nach dem Kriege auf die Grenzgebiete gelegt hatte. Sie schilderten andererseits die Zukunft Polens in glühenden Farben. Worgitzki kennzeichnet diese polnische Propaganda in seinem Beitrag zu Grenzdeutschland nach Versailles folgendermaßen: "Der Bevölkerung in den Abstimmungsgebieten sollte, mit einem Wort gesagt, der Glaube an die deutsche Zukunft restlos zerstört werden und ihr so der Gedanke nahegebracht werden, sich rechtzeitig durch freiwilligen Anschluß in ein gesichertes Staatswesen, Polen, hinüberzuretten, um nicht in den unausbleiblichen Untergang Deutschlands mit hineingerissen zu werden. Darum war die polnische Propaganda in steter Wiederholung bemüht, das Deutsche Reich zu verhöhnen und zu beschimpfen, parteipolitische Gegensätze geschickt auszunutzen, Deutschlands Lage in den schwärzesten Farben zu malen, seine Bolschewisierung als unaufhaltbar hinzustellen." Daneben arbeitete man mit Seelenkauf durch Bestechungen und Drohungen. Jedem, der es wagte, seine deutsche Gesinnung offen zu bekunden, wurde spätere Vergeltung in Aussicht gestellt und immer wieder das Gerücht verbreitet, es wäre den alliierten Mächten gar nicht ernst mit der Abstimmung, hieße es doch im Artikel 95 ausdrücklich, daß bei der Grenzziehung auch die wirtschaftliche und geographische Lage berücksichtigt werden solle.

Hier muß gesagt werden, daß die Abstimmungskommissionen in Masuren und Marienwerder besser waren als der Ruf, den die Polen ihnen machten, und daß sie sich ernsthaft bemühten, die Unparteilichkeit zu wahren. So ließen sie es zu, daß deutsche Gegenwehr einsetzen konnte. Der Ostdeutsche Heimatdienst in Allenstein und der Ermländer- und Masurenbund (im ostpreußischen Abstimmungsgebiet), die Volksräte, die zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossenen deutschen Parteien und der Heimatdienst Westpreußen, aus denen später der deutsche Ausschuß für Westpreußen entstand (im westpreußischen Abstimmungsgebiet), wurden nicht wesentlich behindert. Die Bevölkerung äußerte für jeden Kundigen sehr bald klar erkennbar ihre Stimmung. Schon vor der Abstimmung zeigte es sich, wie gering die Aussichten der Polen waren, deren Organisation, weil sie in den Händen zugereister Warschauer oder Posener Polen lag, unbeliebt war, während die deutschen Organisationen von Männern und Frauen aus dem Lande selbst geführt wurden. Schließlich schien den Polen ihre Lage selbst so verzweifelt, daß sie eine eigene bewaffnete Kampftruppe bildeten, die sogenannte Bojuwka. Ihre [127] Aufgabe war, die Bevölkerung unter Druck zu setzen, die polnischen Versammlungsredner zu begleiten und deutsche Versammlungen zu sprengen. Daraus ergaben sich so viele Unzuträglichkeiten, daß schließlich die Abstimmungskommission die Bojuwka auflöste.

Der Raummangel gestattet nicht, die Einzelheiten des Abstimmungsvorganges zu schildern; es verdient nur noch erwähnt zu werden, welche große Bedeutung die Tatsache hatte, daß auch solchen Personen das Recht zur Abstimmung zustand, die im Gebiete geboren waren, aber längst anderswo ihren Wohnsitz genommen hatten. Auch diese Bestimmung verdankt offenbar einer polnischen Legende ihren Ursprung. Verbreitet man doch die durchaus irrige Anschauung, als hätte die preußische Verwaltung mit ihrem harten Druck auf die Bevölkerung zahlreiche Bewohner dazu gedrängt, ihre Heimat zu verlassen und anderswo ihr Glück zu suchen. Richtig daran war aber nur, daß die kinderreichen, sonst aber
Kundgebung in Schneidemühl
Kundgebungen gegen die beabsichtigte Abtrennung der Ostgebiete in Schneidemühl und Beuthen.
Kundgebung in Beuthen
armen Abstimmungsgebiete, vor allem [128] Masurens, zu den stärksten Abwanderungsgebieten des Deutschen Reiches überhaupt gehörten. Diese Auswanderung hatte sich freilich nicht so sehr in fremde Länder ergossen und keinesfalls nach Polen, sondern nach Mitteldeutschland und nach dem Westen des Reiches. Gerade die Abstimmung zeigte, welch treue Anhänglichkeit diese Abwanderer ihrer Heimat jenseits der Weichsel bewahrt hatten, aber auch, wie fest sie, ohne Rücksicht auf ihren dörflichen Dialekt, im preußisch-deutschen Staatsgedanken standen.

So kam es, daß der Tag der Volksabstimmung in Wirklichkeit zu einer gewaltigen deutschen Kundgebung wurde, an der sich junge und alte Heimattreue, Ansässige und Heimkehrer gleichmäßig beteiligten. So war das Ergebnis am 11. Juli 1920 für die Polen eine vernichtende Niederlage. Für das Reich stimmten in Allenstein 334.534, in Marienwerder 96.895, für Polen nur 7.922 und 7.947.
Meldestelle für Abstimmungsberechtigte in Allenstein
Meldestelle für Abstimmungsberechtigte in Allenstein. Die Abstimmung brachte in allen Abstimmungsgebieten eine große, meist überwältigende Mehrheit für das Reich: im Abstimmungsgebiet Marienwerder 92,4 v.H., im Abstimmungsgebiet Allenstein 97,7 v.H., im Abstimmungsgebiet Oberschlesien 60 v.H.

Abstimmungsfestzug in Marienburg
Abstimmungsfestzug in Marienburg.

Im Abstimmungsgebiet Marienwerder stimmten 92,4 v.H. der Abstimmungsberechtigten für das Reich, im Abstimmungsgebiet Allenstein sogar 97,7 v.H. Wenn die Polen nachträglich behaupteten, die abstimmungsberechtigten Heimattreuen aus dem Reich hätten den Ausschlag gegen Polen gegeben, so ist das auch falsch, denn wir kennen ihre Zahl genau, da ihre Stimmen in besonderen Urnen abgegeben werden mußten. 128.000 heimattreue Stimmen in Allenstein, 24.000 in Marienwerder bedeuten wohl gewaltige Zahlen, aber selbst wenn man annimmt, daß sie durchweg für das Deutsche Reich abgegeben wurden, so haben sie an den überwältigenden Mehrheiten wenig geändert.

Die Wertung der Abstimmungsergebnisse vom nationalpolitischen Standpunkte aus soll noch an anderer Stelle erfolgen. Daher genügt es hier festzustellen, welches der Ausgang der Volksabstimmung war. Er entsprach dem Abstimmungsergebnis nicht vollkommen. Bei der endgültigen Grenzfestsetzung konnten es sich die Alliierten nicht versagen, auch hier auf Kosten des Abstimmungsgebietes Allenstein den Polen ein Trinkgeld zu geben. Drei Dörfer an der alten westpreußischen Grenze, Klein-Nappoll, Groschkau und Lobenstein, wurden Polen zugesprochen. Noch schlimmer wurde Westpreußen betroffen. Polen erhielt fünf Weichseldörfer: Johannisdorf, Außendeich, Neu-Liebenau und Kramersdorf, überdies einen langen und schmalen Landstrich längs des gesamten rechten Weichselufers mit dem Hafen von Kurzebrack, Ortschaften, die überwältigende deutsche Mehrheiten aufzuweisen gehabt hatten.

Die Vierteilung Westpreußens Die Vierteilung Westpreußens
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Diese Grenzabsteckung war in höchstem Maße schikanös. Niemand, der sie näher prüft, kann sich des Eindruckes erwehren, daß sie getroffen worden ist, um die deutsche Bevölkerung jenseits des Korridorgebietes wirtschaftlich zu schädigen und den Deich- und Uferschutz unmöglich zu machen. Ferner um die Weichselschiffahrt der Deutschen dadurch zu stören, daß man den Weichsellauf gänzlich in die Hand Polens gab, obwohl Artikel 97 ausdrücklich bestimmt hatte: "Die alliierten und assoziierten Hauptmächte erlassen gleichzeitig Vorschriften, die der ostpreußischen Bevölkerung den Zugang zur Weichsel und die Benutzung des Stromes für sie selbst und für ihre Schiffe unter angemessenen Bedingungen und unter vollster Rücksichtnahme ihrer Interessen sichert." Das Gegenteil geschah. Denn der einzige Hafen an der deutsch-polnischen Weichselgrenze, Kurzebrack, wurde, wie schon ausgeführt, den Polen übergeben. Wie zum Hohn erklärte man eine schmale Straße durch polnisches Gebiet zum Weichselzugang. Dafür brachte man aber an ihr eine Tafel an, deren Inschrift besagt: "Hier befindet sich der freie Zugang Ostpreußens zur Weichsel gemäß Artikel 97 des Versailler Vertrages; Erlaubnisscheine zum Betreten des Weichselufers erteilt die Starostei in Mewe." (Dabei liegt Mewe fünfzehn Kilometer entfernt am anderen Ufer der Weichsel.) Aber abgesehen von diesen offensichtlichen Verletzungen des Versailler Diktates blieben dank der Abstimmung die Bezirke Marienwerder und Allenstein beim Reich.


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