II. Das Deutschtum in eigenen Staatsgebilden 5. Die Freie Stadt Danzig Die staatliche Selbständigkeit ist der Stadt Danzig und dem sie umgebenden Landgebiet gegen ihren Willen aufgezwungen worden. Der nationale Charakter der Danziger Bevölkerung bot für die Loslösung dieses Gebietes aus dem Deutschen Reiche keine Handhabe. Auf den 1966 Quadratkilometern ehemals deutschen Bodens, die heute die Freie Stadt Danzig bilden, wohnten 1910 330 630 Bewohner, von denen 315 336 Deutsche und nur 9 490 Polen waren. Nach dem Kriege hat sich dieses Verhältnis nicht wesentlich geändert; bei der Volkszählung vom 1. November 1923 wurden unter 366 730 Bewohnern 348 493 Deutsche und 12 027 Polen gezählt. Die Polen machten also nach dem Kriege nur etwas über 3% der Bevölkerung aus. Ebensowenig konnte die Abtrennung mit dem Willen der Bevölkerung motiviert werden, die sich einmütig für das Verbleiben beim Deutschen Reiche erklärte. Die Abtretung Danzigs war nichts anderes als ein Akt jener französischen Machtpolitik, die auch im Osten den Einfluß Deutschlands zugunsten des neugeschaffenen pol- [36] nischen Staates soviel wie möglich zu schwächen bestrebt war. Die Pläne Frankreichs und Polens gingen weiter; sie wollten Danzig einfach dem polnischen Staate eingliedern und dem neuen Staate so einen vortrefflichen Ausgang zur See schaffen. Dies wenigstens wurde verhütet; sei es, daß der einmütige Widerstand der Bevölkerung selbst die Entente vor einer so rigorosen Lösung zurückschrecken ließ, sei es, daß England, seit der Niederlage Deutschlands die Ostsee als englische Machtsphäre betrachtend, eine solche Basis für eine zukünftige mögliche Seemachtstellung Polens nicht wünschte. Jedenfalls beschritt man einen Mittelweg; man griff auf die historische Episode der Jahre 1807-1813 zurück, in denen Danzig schon einmal eine Freie Stadt von Napoleons Gnaden gewesen war; auch diesmal wieder wurde Danzig eine Freistadt, völlig losgelöst von allen offiziellen Bindungen an Deutschland, aber in wichtigen Punkten mit dem neuen polnischen Staate verknüpft. Nach Artikel 102 des Versailler Vertrages tritt Danzig unter den Schutz des Völkerbundes, der die Verfassung der Freien Stadt gewährleistet. Der Völkerbund wird in Danzig durch einen "Hohen Kommissar" vertreten, dessen Hauptaufgabe die Schlichtung von Streitigkeiten zwischen Danzig und Polen ist, die denn auch infolge der verfassungsrechtlichen Stellung Danzigs in reicher Fülle entstanden sind. Gegen die Entscheidungen des Kommissars haben beide Beteiligten ein Recht des Einspruchs an den Völkerbund, von dem in sehr zahlreichen Fällen, besonders von Seiten Danzigs, Gebrauch gemacht worden ist. Die eigentliche Regierungsgewalt liegt beim Volkstag, der 120 Mitglieder zählt, unter denen sich nach den Wahlen von 1927 nur 3 Polen befinden. Der Volkstag wählt den Senat, der die Regierungsfunktionen ausübt; sein Präsident war lange Zeit der um Danzig hochverdiente Dr. Sahm, der jetzige Berliner Oberbürgermeister. Die Souveränität Danzigs wird jedoch durch die Bestim- [37] mungen durchbrochen, die Polen einen ziemlich weitgehenden Einfluß auf die Danziger Geschicke geben. Der Versailler Vertrag gab hierfür nur die allgemeinen Richtlinien, die dann ihre weitere Ausführung durch die Vereinbarungen zwischen Danzig und Polen in Paris (9. November 1920) und Warschau (24. Oktober 1921) fanden, von denen die letztere speziell die Wirtschafts- und Zollfragen regelte. Die wichtigsten Beziehungen Danzigs zu Polen bestehen darin, daß Danzig in das polnische Zollgebiet eingegliedert wurde und daß Polen die technische Erledigung der auswärtigen Angelegenheiten Danzigs sowie den Schutz seiner Staatsangehörigen im Auslande zugesprochen erhielt. Der Danziger Hafen wurde mit allen Wasserwegen im Gebiet des Freistaats einem Hafenausschuß unterstellt, der aus je 5 Vertretern Danzigs und Polens und einem Schweizer als Präsidenten besteht. An Polen wurde ferner auch die Überwachung und Verwaltung des gesamten Eisenbahnnetzes innerhalb der Grenzen der Freien Stadt sowie des Post-, Draht- und Fernsprechverkehrs zwischen Polen und dem Hafen von Danzig übertragen. Polen hat mit zäher Energie versucht, seine Einflußsphäre in Danzig über die Rechte hinaus zu erweitern, die ihm der Versailler Vertrag und die beiden Konventionen gegeben hatten. Ein besonderer Streitpunkt war die Anlegung eines gewaltigen Munitionslagers durch Polen auf der sog. Westerplatte nahe bei der Hafeneinfahrt, das natürlich eine große Gefahr für den Danziger Hafen bedeutete, trotzdem aber vom Völkerbund zugelassen wurde. Senat und Volkstag haben sich bisher mit größter Entschiedenheit gegen alle unberechtigten Eingriffe Polens gesträubt und sind nach Kräften bemüht gewesen, die kulturellen Beziehungen zum Reiche aufrechtzuerhalten. Das deutsche Volk weiß, daß Danzig niemals mit freiem Willen aus dem Verbande des Reiches herausgegangen wäre, und daß es kulturell und völkisch nach wie vor einen Stützpunkt deutschen Wesens in der Ostmark darstellt. [38] Wirtschaftlich ist Danzig ein ausgesprochener Hafen- und Handelsplatz; rund 60% der Bevölkerung des Freistaats leben in der Stadt Danzig selbst (1924 206 458 Einwohner). 1923 entfielen von 100 Berufstätigen im Gebiete der heutigen Freien Stadt Danzig auf die Berufsklassen:
Der Anteil der Berufsgruppe Handel und Verkehr war also in Danzig ganz beträchtlich höher als im ganzen Deutsche Reiche. Schon im 13. Jahrhundert hat Danzig im Rahmen der Hansa einen sehr bedeutenden Platz eingenommen, so daß es mit seiner Bevölkerung von über 20 000 zu den größten Städten des damaligen Deutschen Reiches gehörte. Ebenso war in der Vorkriegszeit seine Rolle in Handel und Schiffahrt bedeutend, es vermittelte einen erheblichen Teil der Ausfuhr aus dem damaligen Russisch-Polen, namentlich in Getreide und Holz. Auch jetzt ist Danzig Hauptaus- und -einfuhrhafen des neuen polnischen Staates, seine wirtschaftliche Wohlfahrt daher mit der Polens eng verknüpft. Infolgedessen hat die trübe wirtschaftliche Lage Polens, die namentlich durch die finanzielle und administrative Mißwirtschaft verursacht ist, auch für Danzig sehr unerfreuliche Auswirkungen und eine starke Arbeitslosigkeit zur Folge gehabt, die die Finanzen des kleinen Staatswesens schwer belastet. Seitdem Polen zu der Überzeugung gekommen ist, daß seine Pläne auf völlige Eingliederung der heutigen Freistadt in den polnischen Staat vorläufig keine Aussicht auf Verwirklichung haben - völlig aufgegeben hat es diese sicherlich noch nicht -, hat es mit der Begründung und dem Ausbau des Konkurrenzhafens Gdingen einen Weg beschritten, der für die wirtschaftliche Zukunft Danzigs eine weitere schwere Bedrohung darstellt. Gdingen war vor 1918 ein völlig un- [39] bekanntes und unbedeutendes Fischerdorf, das nordwestlich von Danzig an der Danziger Bucht gelegen ist. Polen hat in den Neubau dieses Hafens sehr große Mittel investiert und bemüht sich nach Kräften, seine über See gehende Ein- und Ausfuhr von Danzig nach Gdingen anzulenken. Daß diese Bemühungen nicht erfolglos geblieben sind, beweist die Statistik des eingehenden Schiffsverkehrs:
1924 betrug in Gdingen die Zahl der eingehenden Schiffe erst 27 mit 14 000 Registertonnen! Der rasche Aufstieg des Konkurrenzhafens ist also sehr deutlich, da Gdingen 1928, an der Tonnage gemessen, bereits nahezu ein Viertel des Verkehrsvolumens des Danziger Hafens erreichte. Die polnische Politik rechnet hier sehr geschickt darauf, daß eine wesentliche Senkung des Schiffsverkehrs eine Schwächung der wichtigsten Grundlagen des Danziger Wirtschaftslebens und damit auch der Widerstandsfähigkeit Danzigs gegen die polnischen Pläne bedeuten muß. Man wird daher in Deutschland diese Entwicklung aufmerksam beobachten müssen. Leider kann auch die Danziger Industrie kein Gegengewicht gegen eine Verminderung der Bedeutung Danzigs als Hafenstadt bieten, da gerade ihr wichtigster Zweig, die Werftindustrie - die drei großen Werften Schichau, Danziger Werft und Klawitter sind weit über Danzig hinaus bekannt - unter der Ungunst der wirtschaftlichen Verhältnisse sehr zu leiden hat. Die der Stadt Danzig hinzugefügten übrigen Teile des Freistaates tragen rein agrarischen Charakter, sind jedoch nicht in der Lage, den Bedarf der städtischen Bevölkerung an Agrar- [40] erzeugnissen zu decken. Der weniger fruchtbare westliche Kreis Danziger Höhe weist überwiegend Großgrundbesitz auf, während im Weichseldelta (Kreise Danziger Niederung und Großes Werder) die bäuerliche Wirtschaft auf dem sehr fruchtbaren Schwemmboden vorherrscht. Die später vorzunehmende Betrachtung der grenzpolitischen Schicksale Westpreußens (vgl. S. 116 ff.) wird uns noch deutlicher die Bedeutung erkennen lassen, die das Schicksal Danzigs im Rahmen der östlichen Grenzfragen hat. Die Losreißung Danzigs vom deutschen Staatsgebiet bedeutet eine für Polen äußerst wichtige Verstärkung seiner Position an seiner geopolitisch schwächsten Stelle, dem pommerellischen Korridor. Wäre Danzig noch deutsches Reichsgebiet, so würde der Korridor hier zwischen dem Danziger Lande und Hinterpommern nur eine Breite von etwa 40 Kilometern haben; die Schwäche einer so schmalen Korridorstellung liegt auf der Hand. Dagegen wird durch die Loslösung des Danziger Staatsgebiets die durchschnittliche Entfernung zwischen der Ostgrenze Pommerns und der Westgrenze Ostpreußens auf rund 100 Kilometer erhöht. Polen wird also alles daransetzen, zum wenigsten die Freistaatlichkeit Danzigs aufrechtzuerhalten, wenn sich seine völlige Einverleibung in den polnischen Staat nicht durchsetzen läßt.
Die Zeit wird zeigen müssen, wie lange sich die geopolitisch und national
gleich sinnlose Lostrennung Danzigs vom Deutschen Reiche aufrechterhalten
läßt. Solange sie besteht, möge das deutsche Volk im Reiche an
die Worte denken, die der Danziger Senatspräsident Sahm der 1929 durch
Deutschland reisenden Danzig-Ausstellung des Deutschen Auslands-Instituts in
Stuttgart auf den Weg gab: "Wir fühlen uns schicksalsverbunden mit dem
deutschen Volke und kennen die ungeheure Verantwortung, die auf uns lastet. Diese
Verantwortung zu tragen, wird den Danzigern leichter, wenn sie wissen, daß
das ganze deutsche Volk hinter ihnen steht."
Das Buch der deutschen Heimat, besonders das Kapitel "Ostpreußen". Danzig, Polen und der Völkerbund: Eine politische Studie Deutschtum in Not! Die Schicksale der Deutschen in Europa außerhalb des Reiches, besonders das Kapitel "Danzig." Die Entstehung der Freien Stadt Danzig Der neue Reichsgau Danzig-Westpreußen: Ein Arbeitsbericht vom Aufbauwerk im deutschen Osten Zehn Jahre Versailles, besonders Bd. 3 Kapitel "Gebietsverlust durch erzwungene Abtretung oder Verselbständigung: Die Freie Stadt Danzig." Zeugnisse der Wahrheit: Danzig und der Korridor im Urteil des Auslandes
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