Joachim Nehring
Verlag Adolf Albrecht, Berlin-Schöneberg © 1929.
Der uralte Kampf um die Weichsel, der nicht weniger schicksalsschwer ist, als der Kampf um den Rhein, hat erneut eine ernste, ja entscheidende Bedeutung gewonnen. Kaum 150 Kilometer östlich von Berlin beginnt die polnische Grenze. Die alte Provinz Westpreußen ist in vier Teile zerrissen, Ostpreußen durch einen künstlichen Korridor vom Reiche getrennt und zu langsamem Absterben verurteilt. Der Notruf "Volk ohne Raum" droht zum Todesruf unseres Volkes zu werden. Schon sind auf polnischen Landkarten die deutschen Orte bis zur Odergrenze mit polnischen Namen bezeichnet. Wenn es dem Ausdehnungsdrange Polens gelingt, diese Grenze zu erreichen, ist das deutsche Volk, ohne Land und ohne Raum, ohne die Möglichkeit völkischer Erneuerung vom Bauerntum her, zum Absterben verurteilt. Darum ist der Kampf um die Weichsel die Schicksalsfrage des ganzen deutschen Volkes, ohne Unterschied des Stammes, des Berufes, der Partei. Das letzte Bollwerk deutschen Volkstums, deutscher Verwaltung und deutscher Kultur im Weichselraum ist heute der Freistaat Danzig. Darum ist es eine Selbsterhaltungspflicht des ganzen deutschen Volkes, die ernste Entwicklung Danzigs mit aufmerksamem Verständnis zu verfolgen und in tatbereiter Treue Danzigs Schicksal als eigenes Schicksal zu empfinden.
Freistaat Danzig
[5] Danzig blickt auf eine stürmische und bewegte Vergangenheit zurück. Im Laufe einer langen Geschichte haben alle Wandlungen der deutschen Entwicklung sich an der Mündung der Weichsel in besonderem Maße ausgewirkt. Schon vor der Völkerwanderung hatten sich hier gotische Stämme angesiedelt. Das Gebiet um die heutige Stadt Danzig herum ist also - wie gerade in jüngster Zeit durch zahlreiche Gräberfunde bestätigt wurde - uraltes Germanenland. In den Stürmen der Völkerwanderung zogen die wendischen Kassuben in das Land ein, bis dann um das Jahr 900 herum erneut Germanen - Wikinger aus dem skandinavischen Norden - als Eroberer in das spätere Westpreußen eindrangen. Die längst germanisierten Fürsten von Pommerellen machten auch der Wikingerherrschaft bald ein Ende, allerdings nur, um nun ihrerseits die Kassuben in jahrhundertelanger Kulturarbeit fast völlig zu germanisieren, bis im 11. und 12. Jahrhundert die erwachende Habgier der Polen zu neuen schweren Kämpfen um das Weichselgebiet führte. Aber die Herrschaft polnischer Fürsten blieb eine vorübergehende Erscheinung und scheiterte an der deutschen Gesinnung, die schon damals Allgemeingut der Bevölkerung geworden war. In dieser Zeit - zu Beginn des 13. Jahrhunderts - begann sich die städtebegründende Kraft deutscher Kulturarbeit auch hier auszuwirken. An der Stelle einer alten Fischersiedlung entstanden die Anfänge der Stadt Danzig. Deutsche Kaufleute kamen ins Land, und im Jahre 1224 erhielt Danzig Stadtrecht. Außerhalb der Mauern pflügten deutsche Bauern das Land und deutsche Mönche gründeten das berühmte Kloster Oliva. Aber erst ein Jahrhundert später begann der eigentliche Aufstieg Danzigs zu jener stolzen Blüte, von der [6] noch heute die Bauten der unvergleichlich schönen Stadt zeugen. Der Deutsche Ritterorden war Herr im Lande geworden. Nun erst konnte sich zielbewußt auswirken, was vorher mannigfachen Wechselfällen unterworfen war: die deutsche Ostkolonisation! Eie geniale Siedlungsarbeit brachte zunehmenden Wohlstand ins Land. Vor allem aber bestätigte sich jene Grunderkenntnis, ohne die noch nie in der Geschichte politische oder wirtschaftliche Aufbauarbeit geleistet worden ist: daß Arbeit und Wohlstand nur unter dem Schutze des Schwertes gedeihen können! Gerade die Danziger Geschichte bietet in Glück und Unglück den Beweis für die ewige Wahrheit dieses Satzes - bis auf den heutigen Tag! Damals schützte der wehrhafte Orden das Land vor Einfällen, den Bauern wie den Kaufmann vor Raub und Plünderung. Handel und Wandel blühten, und das aufstrebende Bürgertum gestaltete Danzig zu einer Pflegestätte geistigen und künstlerischen deutschen Lebens. Zugleich verband der Beitritt Danzigs zur deutschen Hansa sein wirtschaftliches Leben auf das engste mit der gesamtdeutschen Wirtschaft. Schon die Geschichte jener Tage zeigt uns also, daß die organischen Grundlagen Danzigs die sind, die Danzig heute verloren hat. Sie beruhen auf dem engen Zusammenhange zwischen nationaler Kultur, nationaler Wirtschaft und nationaler Macht. Wenn auch nur eine dieser Grundlagen fehlt, ist der ganze Bau erschüttert. Das zeigte sich in der Danziger Geschichte schon im 15. Jahrhundert, als nach dem Zusammenbruche des deutschen Ordens der polnische König sich zum Oberherrn in Danzig aufschwang. Um einem weitverbreiteten Irrtum vorzubeugen, sei übrigens festgestellt, daß Danzig auch in der Folgezeit niemals eine polnische Stadt gewesen ist. Danzig war lediglich dem polnischen König, dessen Oberherrschaft es anerkennen mußte, in Personalunion verbunden. Danzig genoß eine Teilsouveränität, die erheblich größer war, als die des heutigen Freistaates es ist. Die Rechte des polnischen Königs waren eng begrenzt. Die Amtssprache war deutsch. Danzig hatte eigenes Münzwesen und eigene Zollhoheit, [7] war Herr in seinem Hafen, ja, es unterhielt eigenes Heerwesen und eigene Kriegsschiffe. Es schloß selbständig Verträge ab und hat auf eigene Faust zu Wasser und zu Lande Krieg geführt. Wir werden sehen, wie wenige von diesen Rechten die heutige "Freie" Stadt Danzig besitzt. Selbstverständlich haben auch damals die Polen nichts unversucht gelassen, um das Deutschtum Danzigs und seine Selbständigkeit zu unterdrücken. Es ist ihnen aber in jahrhundertelanger Arbeit nicht gelungen, den zähen Widerstand der Bevölkerung zu überwinden. Trotzdem war die Zeit der Verbindung mit Polen eine Zeit schwerer Prüfungen und wirtschaftlichen Niederganges für die einst so blühende Stadt. Die Zustände in Polen waren nicht geeignet, das wirtschaftliche Leben Danzigs anzuregen. Ruhe und Ordnung waren dahin, seitdem die feste Hand des Ordens das Land nicht mehr beschirmte, über das zudem noch die Wellen des Krieges während der Schwedenkriege und der polnischen Erbfolgekriege hinweggingen. So war es eine verarmte, durch jahrhundertelange Leiden bis aufs Mark ausgesogene Stadt, die sich im März 1793 nach einstimmigem Beschlusse des Rates und der Bürgerschaft der Oberhoheit des Königs von Preußen unterstellte. Danzig hatte nun wieder einen deutschen Oberherrn. Durch die Macht des preußischen Staates vor äußerer Ausbeutung geschützt, durch die beste Verwaltung der Welt im Innern gefestigt, nahm Danzig nun auch wirtschaftlich in wenigen Jahren wieder einen Aufschwung, des besser als Worte die freche Lüge widerlegt, daß der wirtschaftliche Wohlstand Danzigs von der Verbindung mit dem "großen polnischen Hinterlande" abhängig sei. Noch einmal wurde die fruchtbare Entwicklung der alten Hansestadt unterbrochen, als zur napoleonischen Zeit Danzig unter Lostrennung von Preußen in einen "Freistaat" verwandelt wurde. Die Freiheitskriege machten dem unglücklichen Zustande sehr bald ein Ende. Als Hauptstadt der preußischen Provinz Westpreußen nahm Danzig - die Königin der deutschen Ostsee - an Preußen-Deutschlands mächtigem Aufstiege teil, [8] bis mit dem Zusammenbruche des Bismarck-Reiches in Deutschlands schwärzesten Tagen auch über Danzig wieder eine Zeit schwerster Prüfungen hereinbrach.
Die Tragödie, die unmittelbar nach der Revolution gerade über die deutsche Ostmark hereinbrach, hat gezeigt, daß die Polen in der Tat alle Veranlassung hatten, bei der sogenannten deutschen Revolution Hilfsstellung zu leisten. Schon einige Wochen vor der Revolution hatte Korfanty im deutschen Reichstag unverhüllt die Abtrennung der deutschen Ostprovinzen und auch die Einverleibung Danzigs in den polnischen Staat gefordert. Aber erst der deutsche Zusammenbruch machte den Weg für die Verwirklichung der polnischen Ziele frei. Als verhetzte deutsche Soldaten im ehemaligen Russisch-Polen und in der Grenzmark Posen die rote Binde um den Arm banden und ihre Gewehre für wenige Groschen an polnische Aufrührer verkauften - erst in diesem Augenblick konnte der von langer Hand vorbereitete polnische Aufstand sein Haupt erheben. Sein Ziel war die gewaltsame Losreißung Oberschlesiens, Posens, Westpreußens einschließlich des Danziger Gebiets und, wenn möglich, auch noch Ostpreußens vom Deutschen Reich, um für die kommenden Friedensverhandlungen vollendete Tatsachen zu schaffen. In dieser Stunde höchster Gefahr wurde Danzig zum Mittelpunkte nationaler Kreise, in denen noch Verantwortungsgefühl und opferbereiter Tatwille lebendig war. Unter Führung dieser Kreise wurde der "Deutsche Volksrat für Westpreußen" gegründet, um den deutschen Osten von den polnischen Banden zu säubern, soweit er ihnen schon anheimgefallen war, und um weitere Einfälle ab- [9] zuwehren. Es bleibt ein geschichtliches Ehrenmal für Danzig, daß von hier zuerst in den Tagen der Schande und der Verzweiflung wieder der Wille zum Handeln ausging. Bis ins einzelne wurden in unermüdlicher Arbeit die erforderlichen militärischen und organisatorischen Vorbereitungen getroffen, und schon wenige Monate nach dem Zusammenbruch waren die Arbeiten so weit gediehen, daß unter Einsatz ausreichender und wieder mit alter Disziplin erfüllter Truppen der Gegenstoß hätte erfolgen können, der die deutschen Grenzen von den militärisch durchaus minderwertigen polnischen Banden befreit und damit nach menschlichem Ermessen den Raub deutschen Landes im Osten endgültig verhindert hätte. Da untersagte die damalige Regierung der "Volksbeauftragten" in letzter Minute den geplanten Vormarsch und drohte den Truppen mit völliger Absperrung der erforderlichen Zufuhr! Der letzte Versuch zur Rettung der Ostmark war damit durch den zweiten Dolchstoß von hinten vereitelt. Ein Meer von Blut und Not brach über das wehrlose Land herein. Posen, ein Teil Oberschlesiens und der größte Teil Westpreußens kamen ohne Anwendung des von Wilson zugesicherten "Selbstbestimmungsrechtes der Völker" unter polnische Herrschaft. Auch Danzigs Schicksal vollendete sich, wenn auch nicht ganz so, wie Polen es sich gedacht hatte. In mächtigen Kundgebungen, die nahezu die Hälfte der gesamten Bevölkerung unter freiem Himmel vereinten, forderte Danzig sein Verbleiben beim Deutschen Reich. Es fand zwar kein Gehör, aber mit Hilfe der englischen Eifersucht gegen Frankreich konnte wenigstens das Schlimmste, die Annexion durch Polen, zunächst verhindert werden. Danzig wurde unter Abtrennung vom Reich zur "Freien Stadt" gemacht - wobei diese Bezeichnung über die tatsächliche Unfreiheit nicht hinwegtäuschen kann. Das Versailler Diktat, das Ostpreußen durch einen künstlichen Korridor vom Mutterlande trennte und wertvolle landwirtschaftliche Provinzen polnischer Unkultur überantwortete, bestimmte in den Artikeln 100 bis 108 auch das Schicksal Danzigs. Wohl noch nie, so- [10] lange die Welt besteht, ist ein Staatswesen unter so sinnlosen Bedingungen begründet, sind Grenzen willkürlicher gezogen worden, hat politischer und wirtschaftlicher Unverstand sich so offenkundig im Buche der Weltgeschichte verewigt, wie es hier geschah. Der Vertrag stellten den Verzicht Deutschlands auf das Gebiet des zukünftigen Freistaates Danzig fest. Der Freistaat besteht aus den Stadtkreisen Danzigs und Zoppot sowie drei Landkreisen, von denen einer das Höhengebiet westlich und südwestlich der Stadt Danzig, die beiden anderen im wesentlichen das östlich und südöstlich gelegene Niederungsgebiet bis zum Frischen Haff umfassen. Das ist insgesamt ein Gebiet von nur 1892 Quadratkilometern mit etwa 385 000 Einwohnern, also noch nicht dem zehnten Teil der Bevölkerung von Groß-Berlin. Den Widersinn der Grenzfestsetzungen in allen Einzelheiten zu belegen, würde zu weit führen. Es mögen folgende Hinweise genügen: Durch einen zweiten Miniaturkorridor, der in das Danziger Gebiet hineingeschnitten wurde, kam der wichtige Eisenbahnknotenpunkt Dirschau in polnische Hände. Da der Unterlauf der Weichselmitten durch das Danziger Staatsgebiet fließt und sich unterhalb von Dirschau keine Brücke mehr befindet, kann man auf dem Schienenwege nur über polnisches Gebiet von dem westlichen in den östlichen Teil des Freistaates Danzig gelangen. Wenn bei Eisgang die Fähren den Verkehr einstellen müssen, gibt es überhaupt keine Möglichkeit, die Weichsel auf Danziger Gebiet zu überqueren. Durch die Zuteilung Dirschaus an Polen sowie durch andere Unbegreiflichkeiten der Grenzziehung haben erhebliche Teile der Danziger Landwirtschaft ihre natürlichen Absatzgebiete verloren. Das gleiche gilt übrigens auch für die beim Reiche verbliebenen Teile der ehemaligen Provinz Westpreußen, die ja durch das Versailler Diktat in vier Teile zerrissen wurde. Westlich des polnischen Korridors ist ein schmaler Streifen der Provinz beim Reiche verblieben, während der größte Teil zum polnischen Korridor geschlagen wurde. Der dritte Teil gehört heute zu der ostpreußischen Insel, die durch dreifache Grenzen vom Mutterlande getrennt ist. Der vierte Teil bildet den Frei- [11] staat Danzig. Ein Blick auf die Karte zeigt, mit welcher Willkür diese Operationen vorgenommen wurden. Wie man überall geradezu systematisch Städte vom Hinterlande getrennt, Eisenbahnlinien auseinandergerissen, kurzum mit voller Überlegung den wirtschaftlichen Organismus Westpreußens zerstört hat! Schon rein geopolitisch betrachtet war es also ein Werk des Wahnsinns, dem das neue Danziger Staatswesen seine Entstehung verdankt. Sinnloser haben wohl kaum je in der Weltgeschichte rohe Kräfte gewaltet als hier. Aber damit nicht genug: Der unsinnigen Grenzziehung folgte eine nicht minder unsinnige Festsetzung der Bedingungen, unter denen die Freie Stadt seither ihr Dasein in unaufhörlichen inneren und äußeren Kämpfen zu fristen gezwungen ist. Danzig wurde durch das Versailler Diktat, dessen Bestimmungen durch zwei in Paris und Warschau unterzeichnete Danzig-polnische Verträge ergänzt wurden, ausdrücklich als selbständiges Staatswesen aufgebaut. Zugleich aber raubte man dem neuen Staate von vornherein und ganz bewußt die wichtigsten Daseinsgrundlagen und verkuppelte ihn künstlich mit einem Nachbarn, der vom ersten Tage an seine politischen und wirtschaftlichen Machtmittel zur Niederhaltung und Zermürbung Danzigs ausgenutzt hat. Wie war es um die Rechte und Daseinsgrundlagen der neuen "Freien" Stadt bestellt? Der Hafenstadt Danzig wurde der Hafen genommen. Die Verwaltung der Wasserstraßen im Gebiete der Freien Stadt einschließlich sämtlicher Hafenbecken wurde einem Hafenausschuß übertragen, der nur zur Hälfte aus Danziger Staatsangehörigen, zur anderen Hälfte aus Polen besteht und dessen Präsident stets ein - Schweizer ist. Die Eisenbahn im Danziger Gebiet ging in polnischen Besitz über. Danzig wurde durch Zollunion mit Polen verbunden, die Danziger Zollverwaltung den polnischen Zollgesetzen und der Kontrolle durch polnische Inspektoren unterworfen. [12] Außerdem wurde Polen die Führung der auswärtigen Angelegenheiten Danzigs und der Schutz der Danziger Staatsangehörigen im Auslande übertragen. Schließlich darf Danzig ausländische Anleihen nur nach vorheriger Befragung der polnischen Regierung aufnehmen. Im übrigen ist die Freie Stadt dem "Schutze" des Völkerbundes unterstellt. Bei Meinungsverschiedenheiten zwischen Danzig und Polen entscheidet in erster Instanz ein Völkerbundkommissar, der seinen ständigen Sitz in Danzig hat. Gelingt es diesem nicht, eine Einigung herbeizuführen, so wird die Angelegenheit dem Völkerbunde selbst unterbreitet. Unter solchen Umständen mußte Danzig den Kampf um seine nationale, politische und wirtschaftliche Erhaltung aufnehmen. In diesem Kampfe stand und steht ihm ein Gegner gegenüber, der am längeren Hebel sitzt und seine Stärke mit wechselnden Mitteln, aber mit stets gleichbleibendem Ziele gegenüber dem schwachen und auf sich allein gestellten Freistaat rücksichtslos ausgenutzt hat. Gewaltstreiche aller Art wechselten ab mit der Anwendung wirtschaftlicher Boykottmaßnahmen und moralischer Zersetzungsarbeit. Immer und überall kann man bei allen polnischen Maßnahmen das Bestreben feststellen, die staatlichen Hoheitsrechte Danzigs zu durchlöchern, um im Laufe der Zeit das zu erreichen, was im ersten Ansturm nicht gelang: die Eroberung der wirtschaftlichen und politischen Macht in Danzig und damit die Polonisierung einer Stadt, deren Bevölkerung nach den letzten Wahlergebnissen (November 1927) zu 97 v. H. deutsch ist. Wie hatte sich die innere Lage Danzigs nach der unfreiwilligen Begründung des Freistaates gestaltet? In gedrängter Kürze sei darüber nur so viel gesagt, wie zum Verständnis auch des äußeren Selbsterhaltungskampfes Danzigs erforderlich ist. Zunächst gab sich Danzig eine Verfassung, die trotz glücklicher Ansätze in manchen Punkten infolge des Einflusses der Linken Halbheiten aufzuweisen hatte, die sich später bitter gerächt haben. Die Regierung, die von einem aus 129 Ab- [13] geordneten zusammengesetzten Parlament (Volkstag) gewählt wird, besteht aus dem Senatspräsidenten und sieben hauptamtlichen Senatoren, deren Amtsdauer vier Jahre beträgt und die während dieser Zeit unabsetzbar sind, sowie vierzehn nebenamtlichen (parlamentarischen) Senatoren, die bei wechselnder Parlamentsmehrheit jederzeit gestürzt werden können. Es kann keinem Zweifel unterliegen und ist auch durch die Entwicklung bestätigt worden, daß damit ein Zustand der Halbheiten geschaffen war, der angesichts der gefährdeten Lage des kleinen Staatswesens zu schweren Erschütterungen führen mußte. In den ersten Jahren nach der Begründung des Freistaates konnte sich eine bürgerlich-nationale Regierung am Ruder erhalten, die trotz mancher parlamentarischen Kompromisse doch immerhin in den beiden für den Bestand Danzigs entscheidenden Kämpfen ihren Mann stellte: sie hielt im Innern die staatliche Ordnung aufrecht und ließ sich von Polen weder durch Drohungen noch durch wirtschaftliche Druckmittel zur Preisgabe grundsätzlicher Rechte bewegen. Später - von 1925 an - führten dann Verschiebungen im Parlament mehrfach zu Regierungskrisen und zu Veränderungen in der Zusammensetzung der Regierung. Dabei blieben - bis vor ganz kurzer Zeit - die hauptamtlichen Senatoren äußerlich von den Krisen unberührt. Sie blieben im Amt. Da aber die vierzehn jeweils von der neuen Parteikoalition neugewählten parlamentarischen Senatoren innerhalb der Regierung stets in der Mehrzahl sind, wurde die durch die hauptamtlichen Senatoren vertretene Gradlinigkeit der Staatspolitik immer wieder erschüttert. Die hauptamtlichen Senatoren durften zwar den größten Teil der Arbeit auf Grund ihrer Sachkunde erledigen, wurden aber in allen politischen Fragen zu Vollzugsorganen der jeweiligen parlamentarischen Senatoren. Auch Danzig geriet also in die Tretmühle des parlamentarischen Systems. Auch hier - wie im Reich - begünstigte eine unverantwortliche Parteizersplitterung den Erfolg der Sozialdemokratie. Während bis Ende 1927 mit einer kurzen Unterbrechung eine Koalitionsregierung aus Mittel- und Rechtsparteien an der Herrschaft war, haben die Novemberwahlen von 1927 den Ein- [14] fluß der Sozialdemokratie soweit verstärkt, daß seitdem der innere und äußere Kurs Danzigs überwiegend von der Linken bestimmt wird. In Polen ist diese Entwicklung - wie im folgenden noch nachgewiesen werden soll - gefördert und begrüßt worden. Das zeigt, wie gefährlich sie für Danzig ist. - Seine innere Verwaltung hat der junge Freistaat auf der vorhandenen Grundlage und mit dem altpreußischen Beamtenstab weiter ausgebaut. Neugeschaffen wurde eine vorzüglich disziplinierte Schutzpolizei, die allerdings mit ihren kaum 1500 Mann für das ganze Staatsgebiet reichlich schwach erscheint. Die Unterhaltung von Militär ist der Danziger Regierung verboten. Da der äußere Schutz Danzigs Sache der Polen ist, hat man auch in dieser Beziehung im wahrsten Sinne des Wortes den Bock zum Gärtner gemacht. Die langen Grenzen zu Wasser und zu Lande machten einen sehr umfangreichen Ausbau des Zollwesens erforderlich. Der Zoll ist eine Danziger Verwaltung mit Danziger - also deutschen - Beamten, die allerdings infolge der bestehenden Zollunion mit Polen die polnischen Zollvorschriften durchzuführen haben und von polnischen Beamten kontrolliert werden. Die Einnahmen fließen in die polnische Staatskasse, die ihrerseits einen Teil der gesamten Einnahmen aus dem Gebiete der Zollunion an Danzig zurückerstattet. Der Zollverteilungsschlüssel, der bisher Danzig nur einen völlig unzureichenden Anteil gewährt, ist eines der stärksten wirtschaftlichen Machtmittel Polens gegenüber dem Freistaat. Das Steuerwesen, Schulwesen (einschl. der auf bemerkenswerter Höhe stehenden Technischen Hochschule), die Justiz, die Postverwaltung und die übrige innerstaatliche Organisation liegt in der Hand der Danziger Regierung. Wir werden jedoch sehen, daß Polen auch in dieser Beziehung - z. B. bei der Post - versucht hat, die Danziger Rechte zu beeinträchtigen - teilweise leider nicht ohne Erfolg! Von der Selbstbehauptung der Danziger Verwaltung gegenüber wirtschaftlichen Schwierigkeiten und pol- [15] nischen Übergriffen hängt in entscheidendem Maße die politische Behauptung Danzigs überhaupt ab. Wenn diese Grundlage ins Wanken gerät, wird auch die Betonung des Willens zur Erhaltung deutscher Kultur und Sitte zur leeren Phrase. Bei der Kleinheit und unnatürlichen Struktur des Freistaates ist allerdings der Staatsapparat unverhältnismäßig teuer und bedeutet eine fast untragbare Belastung der ohnehin verkümmerten Danziger Wirtschaft, insbesondere auch der Landwirtschaft. Die inneren Gegensätze und Reibungen, die sich aus dieser Zwangslage ergeben, werden von Polen geflissentlich geschürt. An der deutschen Gesinnung der Danziger Bevölkerung kann kein Zweifel bestehen. Aber es muß doch festgestellt werden, daß die von polnischen und pazifistischen Hetzern geschickt ausgenutzte wirtschaftliche Verbitterung, daß ferner das Gefühl der gänzlichen Preisgabe seitens des Deutschen Reiches in zunehmendem Maße den nationalen Kampfeswillen der Danziger geschwächt hat. Von der Selbstbesinnung des ganzen deutschen Volkes wird es abhängen, ob Danzig rechtzeitig wieder den moralischen, politischen und wirtschaftlichen Rückhalt am Mutterlande findet, den es als Vorposten braucht. - Man pflegt in der Etappe keine rechte Vorstellung von dem aufreibenden Dienste der Vorposten zu haben. Man denkt an die Vorposten höchstens dann, wenn man zufällig einmal hört, daß vorne geschossen wird, und vergißt nur zu leicht, daß der Vorposten auch dann kämpft, wenn es nicht gerade knallt. Diesen Vergleich sollte man sich immer vor Augen halten, wenn man an das Schicksal Danzigs denkt. Am 15. November 1920 war die Konstituierung der Freien Stadt erfolgt. Daß die inneren Schwierigkeiten, die das neue, auf völlig unnatürlichen Wegen geschaffene Staatswesen in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht zu überwinden hatte, um nicht von vornherein zusammenzubrechen, nicht gering waren, geht aus dem Obengesagten ohne weiteres hervor. Hinzu kam, daß auch Danzig die schweren Erschütterungen, die das [16] Deutsche Reich in den ersten Jahren nach dem Zusammenbruche durchmachte, nicht erspart blieben. Die Freie Stadt, die sich erst am Ende der Inflationszeit eine eigene Währung schuf, hatte ebenso wie das Deutsche Reich die Wirkungen der Währungskatastrophe verspürt. Zugleich aber zeigte sich vom ersten Tage an, daß Polen gegenüber Danzig nur ein Ziel verfolgte und mit wechselnden Mitteln bis zum heutigen Tage weiter verfolgt: die Unterwerfung Danzigs unter polnische Herrschaft! Mit einer Folgerichtigkeit, von der wir viel lernen könnten, hat Polen dieses Ziel bei allen Maßnahmen und zu allen Zeiten im Auge behalten. Wie ein roter Faden zieht sich der Wille zur Aushöhlung der Danziger Selbständigkeit, zur Untergrabung des Danziger Abwehrwillens, zur Eroberung politischer und wirtschaftlicher Machtstellungen in Danzig durch alle Maßnahmen Polens und seiner Vertreter. Im einzelnen ist die polnische Taktik, die das Endziel stets unverrückt im Auge behalten hat, auf folgende machtpolitische Ziele gerichtet gewesen und noch heute gerichtet:
Die Mittel, die Polen zur Erreichung dieser Ziele in Anwendung brachte, lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:
Polen hat es meisterhaft verstanden, jeweils die politisch zweckmäßigsten Mittel anzuwenden, ohne seine anderen Trümpfe aus der Hand zu geben. In den ersten Jahren hat Polen vorwiegend mit dem plumperen und dadurch ungefährlichen Mittel säbelklirrender Drohungen gearbeitet. In den letzten Jahren hat es dieses Mittel nur noch selten in Anwendung gebracht. Um so stärker ist der wirtschaftliche Druck geworden, der sein Gegenstück und seine Ergänzung darin findet, daß Polen die von ihm selbst geschaffene wirtschaftliche Notlage Danzigs nunmehr dazu benutzt, um durch wirtschaftliche Verheißungen und durch die freundliche Mahnung, Danzig müsse "mehr Wirtschaft und weniger Politik" treiben, die Danziger Bevölkerung von den machtpolitischen Zielen Polens abzulenken. Von Anbeginn an hat Polen keinen Hehl daraus gemacht, daß es die vertraglich festgelegte staatliche Selbständigkeit Danzigs nicht anzuerkennen gewillt ist, sondern daß es Danzig allenfalls und auch nur vorübergehend als "halbautonomes" Gebilde unter polnischer Oberhoheit ansieht. Schon am 14. November 1920 verlangte Paderewski bei Besprechung des Danziger Verfassungsentwurfes im Völkerbundrat, daß das Wort "Souveränität" in der Danziger Verfassung gestrichen und der Ausdruck "Freistaat" in "autonomen Staat" abgeändert würde. Bei der nächsten Ratstagung im Februar 1921 reichte der polnische Vertreter Askenazy eine Denkschrift ein, in der abermals die Beseitigung des Ausdruckes "Freistaat" verlangt wurde. Dabei stellte der polnische Vertreter die Behauptung auf, daß volle Souveränität weder der tatsächlichen noch der rechtlichen Lage Danzigs entspräche. Auch in anderer Beziehung haben die Polen, die ein sehr feines Gefühl für politische Prestigefragen besitzen, systematisch ihrer Nichtachtung der Danziger Staatshoheit Ausdruck gegeben. Der konsularische Vertreter Polens in Danzig erhielt die Be- [18] zeichnung "Generalkommissar", obwohl ihm keinerlei kommissarische Befugnisse in Danzig zustehen und die Danziger Regierungen sich auch stets geweigert haben, diese Bezeichnung anzuerkennen. Auch sonst hat Polen keine Gelegenheit versäumt, um im internationalen Verkehr sich als Oberherr Danzigs aufzuspielen. Es ist mehrfach vorgekommen, daß fremde Kriegsschiffe von den polnischen Vertretern in Danzig so begrüßt wurden, als wenn sie einen polnischen Hafen angelaufen hätten. Danzig hat - wenigstens in den ersten Jahren - sich in richtiger Erkenntnis der grundsätzlichen Bedeutung dieser polnischen Taktik nach Kräften widersetzt und am 7. November 1924 eine Entscheidung des damaligen Völkerbundkommissars MacDonnell herbeigeführt, in der ausdrücklich festgestellt wurde: "Danzig ist ein Staat im völkerrechtlichen Sinne des Wortes und ist zum Gebrauch von Ausdrücken, welche diese Tatsache erkennbar machen, berechtigt." Es ist bezeichnend, daß die polnische Regierung gegen diese Entscheidung sofort Berufung beim Völkerbundrat einlegte, und es ist noch bezeichnender, daß der Völkerbundrat auch hier, seinen "Grundsätzen" getreu, einer klaren Entscheidung auswich. Da er Polen nicht vor den Kopf stoßen wollte, andererseits aber den Danziger Standpunkt nicht widerlegen konnte, erklärte er einfach, er hielte es nicht für nötig, die aufgeworfene Frage zu untersuchen. Danzig konnte zwar weiter auf seinen Rechtsstandpunkt bestehen bleiben, es hatte aber zugleich einen Vorgeschmack davon bekommen, wie wenig es sich auf seinen "Beschützer" - den Völkerbund - verlassen konnte, eine Erfahrung, die sich übrigens in fast allen Fällen immer wieder bestätigt hat. Diese Auseinandersetzungen waren aber nur äußere Kennzeichen des polnischen Strebens nach einer gewaltsamen Lösung der Danziger Frage. In den Jahren 1921 bis 1923 verschärfte sich die Danzig-polnische Spannung zusehends. Der damalige polnische Vertreter in Danzig, Plucinski, vertrat ganz offen die Politik des gewaltsamen Druckes gegenüber Danzig. Eine Meinungsverschiedenheit über die Durchführung polnischer Ein- und [19] Ausfuhrvorschriften in Danzig führte zu polnischen Boykottmaßnahmen gegen die Danziger Wirtschaft, u. a. zu polnischen Einfuhrverboten, die die Danziger Wirtschaft auf das empfindlichste schädigten. Zugleich versuchte Polen unter allen möglichen Vorwänden die Danziger Zollverwaltung zu polonisieren. Danzig hielt, und zwar mit Erfolg, an der Selbständigkeit seiner Zollverwaltung fest. Zu gleicher Zeit aber setzte in Polen unter dem Einflusse amtlicher Stellen eine wüste Pressehetze gegen das "unbotmäßige" Danzig ein. Polnische Banden sammelten sich unter Führung von Offizieren in der Nähe der Danziger Grenze und polnische Generäle kündigten den bewaffneten Einmarsch an. Daß schließlich die Durchführung eines Handstreiches, wie ihn Polen ja bereits gegen Litauen durchgeführt hatte, doch noch unterblieb, ist wohl nur darauf zurückzuführen, daß damals nicht nur die Danziger Bevölkerung, sondern auch die Ostpreußen und darüber hinaus das ganze Deutschtum der Ostmark fest entschlossen war, jedem polnischen Angriff auf Danzig mit bewaffneter Hand entgegenzutreten! Um so schärferen Gebrauch machte Polen von wirtschaftlichen Druckmitteln. Am 28. April 1923 hatte der polnische Staatspräsident in Karthaus eine Kampfrede gegen Danzig gehalten, in der er wörtlich erklärte: "Man muß Danzig alle lebenswichtigen Säfte unterbinden, und dies solange, bis in Danzig eine andere dauerhafte Richtung die Oberhand gewinnt, die keinen Kampf und keine Aufhäufung von Schwierigkeiten will, sondern die eine loyale Zusammenarbeit sucht und Polen als Großstaat und Macht anerkennt, die in Danzig nicht nur geschriebene, sondern auch natürliche Rechte hat." Man muß es Polen lassen, daß es dieses Rezept folgerichtig durchgeführt hat. Die Danziger Wirtschaft wurde mit untragbaren Zöllen belastet, die Frachttarife auf den Bahnen denkbar ungünstig gestaltet, und in ganz Polen die Parole des wirtschaftlichen Boykotts gegen Danzig ausgegeben. Zugleich begann Polen [20] seinen Handelshafen in Gdingen fieberhaft auszubauen, um durch diese Konkurrenz den Danziger Hafen zu schädigen. Außerdem wurden die Verhandlungen über die Regelung des Zollverteilungsschlüssels zwischen Danzig und Polen polnischerseits von Jahr zu Jahr immer weiter verschleppt. Danzig war zwar gezwungen, an seinen verhältnismäßig langen Grenzen ein umfangreiches Zollpersonal zu unterhalten, erhielt aber bei der Abrechnung über die eingegangenen Zölle nur einen Bruchteil der Einnahmen, die durch den Danziger Zoll eingegangen waren. Auch in dieser Frage hat übrigens der Völkerbund völlig versagt. Die Danziger Beschwerde wurde immer wieder vertagt, und erst im Jahre 1925 kam eine Regelung zustande, die allerdings noch immer nicht den Danziger Ansprüchen gerecht wurde. In diesem Zusammenhange muß die wirtschaftliche Lage Danzigs kurz beleuchtet werden. Es liegt auf der Hand, daß auch die politische Erhaltung Danzigs zu einem großen Teil davon abhängt, ob es Danzig gelingt, sich wenigstens solange wirtschaftlich lebensfähig zu erhalten, bis große politische Entscheidungen im deutschen Osten wieder gesunde Verhältnisse schaffen. Gerade in wirtschaftlicher Hinsicht aber zeigte sich sehr bald, wie sehr diejenigen sich geirrt hatten, die von der Freistaatherrlichkeit Danzigs eine neue hanseatische Blüteperiode erwarteten. Zunächst ist bereits festgestellt, daß Polen aus politischen Gründen von vornherein bestrebt war, der Danziger Wirtschaft die Gurgel abzuschnüren; aber auch davon abgesehen, befand sich Danzig nach der Abtrennung vom Reich und auf Grund der unsinnigen Bestimmungen, die ihm auferlegt wurden, von vornherein in einer fast hoffnungslosen Lage. Die wirtschaftliche Verkoppelung Danzigs durch die Zollunion mit dem kulturell viel tiefer stehenden Polen konnte nicht fruchtbringend sein. Einer gewissen Scheinblüte während der Inflationszeit folgten sehr bald die schwersten Rückschläge. Die Danziger Landwirtschaft, die nach deutschen Maßstäben Löhne und soziale Abgaben zahlt, genießt keinerlei Schutz gegen die Einfuhr polnischer Artikel, die unter ganz anders gearteten Bedingungen viel [21] billiger erzeugt werden können und infolge der Zollunion zollfrei nach Danzig hineinkommen. Der schlechte Stand der polnischen Währung gegenüber dem Danziger Gulden gestaltet die Lage noch schwieriger. Es kommt hinzu, daß alle Waren, die aus Deutschland eingeführt werden müssen, in Danzig infolge des Zolles erheblich teurer sind als im Reich, während die Lebensmittelpreise durchschnittlich um 30 v. H. billiger sind. Die natürliche Folge dieser ungesunden Preisverhältnisse ist die fortschreitende Verschuldung und Verelendung der Danziger Landwirtschaft. Aber auch die übrige Wirtschaft befindet sich in einer höchst unglücklichen Lage. Die einst blühenden Danziger Werften, die viele Tausende von Arbeitern beschäftigten, liegen völlig danieder. Es fehlen die Schiffbauaufträge der ehemaligen deutschen Kriegsmarine und der deutschen Handelsflotte. Der Zusammenbruch der Schichau-Werft ist auch im Reich bekannt geworden. Die zu einer internationalen Aktiengesellschaft umgewandelte ehemalige Kaiserliche Werft und die Klawitter-Werft verfügen nur noch über sehr geringe Aufträge. Die ehemalige Gewehrfabrik und die Artilleriewerkstätten, die zusammen ebenfalls Tausenden von Arbeitern Brot gaben, mußten auf Grund des Versailler Diktates geschlossen werden, obwohl z. B. für die Gewehrfabrik Aufträge fremder Staaten vorlagen. Die dadurch entstandene unverhältnismäßig hohe Arbeitslosigkeit lastet schwer auf dem kleinen Staatswesen und seiner Wirtschaft. Auch der Danziger Handel hat von der Verbindung mit Polen mehr Nachteile als Vorteile gehabt. Die Aufnahmefähigkeit des polnischen Wirtschaftsgebietes ist sehr begrenzt. Zudem haben die Danziger Kaufleute infolge der polnischen Währungsschwankungen und der Unzuverlässigkeit großer Teile der polnischen Kaufmannschaft schwere Verluste erlitten, die allein in den ersten beiden Jahren nach der Inflation etwa 12 Millionen Mark betrugen. Bei alledem muß noch berücksichtigt werden, daß, wie bereits erwähnt, die Staatsverwaltung infolge der Kleinheit des Danziger Gebietes verhältnismäßig sehr [22] teuer ist, und daß diese Lasten von der Danziger Wirtschaft getragen werden müssen. Polen hat alles getan, was in seinen Kräften stand, um den wirtschaftlichen Niedergang Danzigs zu beschleunigen, weil es sich darüber klar war, daß ein wirtschaftlich zermürbtes Danzig auch politisch leichter den polnischen Wünschen gefügig gemacht werden kann. Und eben darum, weil Polen in Danzig nur politische Ziele verfolgt, hat es immer wieder versucht, die Danziger Bevölkerung von den politischen Absichten Polens dadurch abzulenken, daß es geflissentlich die Redensart verbreitete, Danzig müssen mehr Wirtschaft und weniger Politik treiben. Der vor kurzem verstorbene Handelskammerpräsident Klawitter hat demgegenüber den Danziger Wirtschaftskreisen bereits vor Jahren mit klaren Worten gesagt, worum es geht: "Danzigs Wirtschaft wird sich sagen müssen, daß ihr Einfluß wie ihre Entwicklung und ihr Wohlergehen völlig in Frage gestellt erscheinen, sobald die bezweifelte Selbständigkeit der Freien Stadt von anderer Seite völlig verneint werden sollte." Im übrigen hat Polen kein Jahr vorübergehen lassen, ohne zu beweisen, in welchem Umfange es mit allen Mitteln seine durchaus nicht wirtschaftlichen, sondern sehr politischen Ziele in Danzig verfolgt. Kaum eine Völkerbundstagung ging vorüber, auf der Danzig sich nicht gegen polnische Übergriffe zur Wehr setzen mußte. Nur einige wenige Fälle krassester polnischer Gewalttaten seien hier zur Sprache gebracht. Am 5. Januar 1925 erfolgte der bekannte polnische Briefkastenputsch. Bei Nacht und Nebel brachten polnische Beamte an verschiedenen Stellen der Stadt Danzig polnische Briefkästen an, obwohl Polen lediglich das Recht hatte, zur Abwicklung des unmittelbaren Verkehrs polnischer Stellen im Danziger Hafen mit Polen einen Postbetrieb im Hafen zu unterhalten. Danzig sah in diesem Gewaltakt mit Recht eine schwere Verletzung seiner Staatshoheit. In der Danziger Bevölkerung herrschte ungeheure Erregung. Der Senat wandte [23] sich sofort beschwerdeführend an den Völkerbundskommissar, der sich dem Standpunkte Danzigs anschloß. Trotzdem weigerte sich Polen, die unrechtmäßig angebrachten Briefkästen wieder zu entfernen. In der polnischen Presse nahm man die Äußerungen der Empörung, die in Danzig laut wurden, zum Anlaß, um in der wüstesten Weise gegen Danzig zu hetzen und abermals mit bewaffnetem Eingreifen zu drohen. So erschien in dem Graudenzer Blatte Stragnica Baltycka ein Aufruf, in dem es hieß: "Aufständische und Soldaten! Ihr zählt in Pommerellen 150 000 Mann. Wenn nur jeder Dritte von Euch geht, so könnten wir Danzig dasselbe tun, was die Litauer mit dem Memellande getan haben. Denn solange in Danzig ein Senat von Hakatisten regiert, werden wir keine Ruhe und keinen freien Zutritt zum Meere haben. Eure Pflicht ist es, Soldaten, auch dieses kleine Stückchen polnischen Landes, welches ungeduldig darauf harrt, zu erobern. Rafft Euch empor zu dieser Tat!" Und die Gazeta Warszawska schrieb: "Nicht der mit dem lächerlichen Namen Korridor bezeichnete Gebietsstreifen ist die Quelle des Unfriedens in Europa, sondern die Tatsache, daß Ostpreußen bei Deutschland geblieben ist." Zu gleicher Zeit erklärte der polnische Vertreter in Danzig, Straßburger, einem Vertreter der englischen Zeitschrift New Statesman ganz offen, er sei zu der Überzeugung gekommen, daß die einzige Lösung der Danziger Frage die Annexion der Stadt durch Polen wäre. Der Völkerbundsrat, der auch in dieser Angelegenheit die letzte Entscheidung zu fällen hatte, zeigte abermals, daß er nicht gewillt war, das wehrlose, unter seinen Schutz gestellte Danzig vor offensichtlicher Gewalt zu schützen. Er erkannte zunächst die polnische Gewalttat als vollzogene Tatsache an und versuchte die endgültige Entscheidung auf den Haager Schiedsgerichtshof abzuwälzen. Erst als der Schiedsgerichtshof ebenfalls keine klare Entscheidung fällte, setzte der Völker- [24] bund einen Untersuchungsausschuß ein und entschied sich dann nach Ablauf von neun Monaten höchst weise dahin, daß ganz Danzig zum Hafen gehöre und die Briefkästen daher als zur polnischen Hafenpost gehörig hängenbleiben dürften. Damit war der polnische Einbruch in die Posthoheit des Danziger Staates als Dauerzustand anerkannt. Daß der polnische Postdienst in Danzig - von der Hoheitsfrage abgesehen - auch wirtschaftlich zu einer Schädigung Danzigs geführt hat, die alljährlich eine Höhe von mehreren Millionen erreicht, ist auch ein Beitrag zu den wirtschaftlichen Sirenentönen Polens. Dieser Eingriff blieb aber nicht der einzige. Kurz danach folgten im Zusammenhange mit der bereits behandelten Frage des Zollverteilungsschlüssels verschiedene Versuche Polens, die Danziger Zollverwaltung zu polonisieren. Nur dem mit äußerster Zähigkeit geführten Abwehrkampfe Danzigs gelang es, diese Gefahr wenigstens einstweilen zu beschwören. Als dann kurze Zeit später Danzig durch seine schlechte Wirtschaftslage gezwungen war, eine Anleihe aufzunehmen und zur Deckung der Anleihe ein Tabaksmonopol einzurichten, hat auch hier Polen mit allen Mitteln versucht, den maßgebenden Einfluß auf das Monopol, also auf eine Danziger Staatseinrichtung, zu gewinnen. Weit ernster noch war die bekannte Westerplattenfrage. Ebenfalls im Jahre 1925 richtet Polen mit Zustimmung des Völkerbundes, der sich über den Einspruch Danzigs glatt hinwegsetzte, an der Mündung des Danziger Hafens einen Munitionshafen ein, dessen Bewachung eine ständige polnische Militärbesatzung übernahm. Die in unmittelbarer Nähe des Danziger Hafens gelegene Westerplatte mußte für diese Zwecke dem polnischen Staat zur Verfügung gestellt werden. Das an dieser Stelle befindliche Seebad - die Lunge der arbeitenden Bevölkerung Danzigs - wurde mit Stumpf und Stiel beseitigt. Für die nur durch den Hafenkanal von der Westerplatte getrennte Hafenstadt Neufahrwasser bedeutet der Munitionshafen [25] naturgemäß eine schwere Gefährdung. Ernster aber noch ist die politische und militärische Gefährdung Danzigs, die darin liegt, daß polnisches Militär damit die Weichselmündung sowie den Danziger Hafen beherrscht, und daß im Herzen Danzigs polnische Soldaten auf Danziger Boden stehen. Da Polen auch seinen Kriegshafen in Gdingen - wenige Kilometer nordwestlich von der Danziger Grenze - in den letzten Jahren mit allen Mitteln ausgebaut hat, wird Danzig naturnotwendig in etwaige militärische Verwicklungen Polens hineingezogen. Danzig liegt - wie wirtschaftlich, so auch militärisch - in der polnischen Zange! Auch sonst hat Polen durch militärische Bestrebungen im Innern Danzigs immer wieder die Danziger Bevölkerung beunruhigt. Obwohl Danzig keinerlei Militär unterhält, besteht in der diplomatischen Vertretung Polens in Danzig eine umfangreiche Militärabteilung. Diese Militärabteilung, die von aktiven polnischen Offizieren geleitet wird, arbeitet in doppelter Richtung. Auf der einen Seite sorgt sie in Verbindung mit den polnischen Sokolvereinen dafür, daß die in Danzig lebenden Polen militärisch organisiert werden. Zum zweiten unterhält sie von Danzig aus einen umfangreichen Spionagedienst, der in erster Reihe gegen das Deutsche Reich gerichtet ist. Zahlreiche Spionageprozesse der letzten Jahre haben erwiesen, daß von hier aus die Fäden durch ganz Ostpreußen und tief nach Pommern hinein laufen. Daneben hat diese polnische Spionagezentrale auch mehrfach versucht, mit Hilfe gefälschter Spitzelberichte der Danziger Regierung außenpolitische Schwierigkeiten zu bereiten. Auch ein Einbruch, der vor einigen Jahren im deutschen Generalkonsulat in Danzig verübt wurde, ist auf das Konto dieser amtlichen polnischen Stelle zu setzen. Der Danziger Staat steht diesem staatsgefährlichen Treiben so gut wie machtlos gegenüber. Hand in Hand damit laufen die Polonisierungsbestrebungen im Danziger Staatsgebiet. Hier hat Polen anfänglich geglaubt, mit den plumpsten Mitteln Erfolge erzielen zu können. In Wahlzeiten [26] wurden polnische Flugblätter in deutscher Sprache verteilt, die alle möglichen Versprechungen enthielten. Gelegentlich versuchten die Polen auch durch Verteilung von Lebensmitteln an die ärmere Bevölkerung Wählerstimmen zu fangen. Polen mußte sehr bald einsehen, daß die Danziger Bevölkerung auf diesem Wege nicht zu beeinflussen ist. Im Gegenteil! Die polnischen Stimmen gingen von Jahr zu Jahr zurück, und betragen heute, wie bereits erwähnt, nur noch etwa 3 v. H. der gesamten Wählerschaft. Um so schärfer hat Polen die Polonisierung dort betrieben, wo es die Macht hatte, die deutschen Kräfte gewaltsam einzuschüchtern, zu verdrängen und polnische Kräfte heranzuziehen. Das war einmal bei der Eisenbahn und zweitens in der Hafenverwaltung. Als die Danziger Eisenbahnen in polnische Verwaltung übergingen, mußten die Polen - sehr gegen ihren Willen - auch die bisherigen deutschen Beamten, Angestellten und Arbeiter übernehmen. Polen hat nun die Danziger Eisenbahner fortgesetzt in ihren Rechten beschränkt. Vor allem wurden immer wieder neue Sprachenverordnungen erlassen, in denen unter Androhung der Entlassung auch von den Beamten, die lediglich im inneren Dienst beschäftigt waren, verlangt wurde, daß sie in ganz kurzer Zeit die polnische Sprache erlernen. Mit welcher Rücksichtslosigkeit die polnischen Behörden hierbei vorgingen, geht schon daraus hervor, daß in zahlreichen Fällen Eisenbahner den Weg der gerichtlichen Klage beschreiten mußten, um zu ihrem Recht zu kommen, und daß die Danziger Eisenbahner in großen Versammlungen öffentlich gegen die Beeinträchtigung ihrer Rechte Einspruch erhoben. Ein außerordentlich starker Druck wird daneben durch die polnischen Berufsorganisationen ausgeübt. Nur, wer einer polnischen Berufsorganisation angehört, findet vor der Staatsbahndirektion sein Recht und bleibt beruflich gesichert. Daß diese gewaltsamen Polonisierungsbestrebungen nicht ohne Erfolg geblieben sind, mögen folgende Zahlen zeigen: Am 1. Dezember 1921 gehörten polnischen Verbänden 258 Eisenbahnbedienstete an, am 1. Dezember 1928: 1002. [27] In der Eisenbahndirektion Danzig, die im Laufe der Jahre zu einer Hochburg des Polentums ausgebaut worden ist, arbeiteten am 1. Dezember 1921: 106 Deutsch und 3 Polen. Am 1. Dezember 1928 waren nur noch 32 Deutsche beschäftigt, während die Zahl der Polen auf 547 angewachsen war. Bei den Wahlen für die Eisenbahnbetriebskasse im Gebiet der Freien Stadt Danzig wurden 1920 bei 4070 stimmberechtigten Mitgliedern überhaupt keine Stimmen für polnische Kandidaten abgegeben, 1924 erhielten bei 2895 stimmberechtigten Mitgliedern die deutschen Organisationen 1997 Stimmen, die polnischen 309. Bei den letzten Wahlen zu Beginn des Jahres 1929 hatte sich das Verhältnis so weit verschoben, daß bei 3948 stimmberechtigten Mitgliedern die deutschen Organisationen 1662, die polnischen Organisationen 777 Stimmen erhielten. Somit haben die deutschen Verbände 335 Stimmen verloren, die polnischen Organisationen aber 468 Stimmen gewonnen. Ähnlich liegen die Verhältnisse im Hafen, wo neuerdings nur noch polnische Arbeiter eingestellt werden und die wichtigsten leitenden Posten (der Lotsenkommandeur und ein Hafeninspektor) im Jahre 1928 von Danziger in polnische Hände übergegangen sind. Es bedarf keines Hinweises darauf, daß die fortschreitende Polonisierung zweier so wichtiger Verwaltungszweige sich im Laufe der Zeit auch auf weitere Kreise auswirken muß. Politisch, wirtschaftlich und militärisch lebt Danzig also unter ständiger Bedrohung durch Polen. Diese Gefahr wird nicht vermindert, sondern im Gegenteil noch verstärkt dadurch, daß Polen in letzter Zeit eine neue Taktik in Anwendung bringt, die man zutreffend als "pénétration pacifique" - friedliche Durchdringung - gekennzeichnet hat. Bereits im Jahre 1926 schrieb der Kurjer Polski: "Wenn wir wollen, daß Danzig aufhört, 'Danzig' zu sein und sich in 'Gdansk' verwandelt, muß Polen zielbewußt mit den fortschrittlichen Elementen der Freien Stadt zusammenarbeiten." Diese Worte enthielten die Ankündigung, daß dasselbe Polen, das auch jetzt noch mit allen Mitteln der [28] Gewalt Danzig zu schädigen trachtet, sich entschlossen hatte, daneben noch eine andere Waffe anzuwenden: die pazifistische Phrase! Der Augenblick war geschickt gewählt. Unter dem Drucke der wirtschaftlichen Not hatte sich das Danziger Bürgertum in zahlreiche Parteien zersplittert. Zu Beginn des Jahres 1928 kam infolgedessen eine Linksregierung zustande, die sich einbildete, durch Betonung des Verständigungswillens in wirtschaftlichen Dingen und durch Nachgiebigkeit in grundsätzlichen politischen Fragen zu einer auch für Danzig ersprießlichen Einigung mit einem Gegner kommen zu können, dem alles Verständigungsgerede doch nur ein Deckmantel für seine machtpolitischen Ziele ist. Die treibende Kraft in dieser "Regierung der Verständigung" wurde der aus Litauen gebürtige Jude Jewelowski, der in Polen zahlreiche wirtschaftliche Unternehmungen besitzt und somit nicht nur an dem Wohlergehen Danzigs beteiligt ist. Da Jewelowski zudem mit dem polnischen Vertreter in Danzig, Straßburger, persönlich befreundet ist, kann man sich vorstellen, daß Polen sich von solchem Zusammenarbeiten manches verspricht. Wie weit die polnischen Pläne nach dieser Richtung hin durchdacht sind, ging mit erschütternder Deutlichkeit aus der bekannten Geheimdenkschrift hervor, die Anfang März 1929 enthüllt wurde. In dieser Denkschrift, die von dem engsten Mitarbeiter des Herrn Straßburger unterzeichnet war, wurde die polnische Taktik in vollster Offenheit dargelegt. Es hieß da u. a.: Polen müsse in Danzig eine "psychologisch fundierte, in wirtschaftliches Gewand gehüllte Politik" betreiben, durch die die Bevölkerung Danzigs dazu gebracht werde, die deutschen Absichten auf Revision der in Frage kommenden Bestimmungen des Versailler Vertrags als für sich selbst unvorteilhaft abzulehnen. Die im Versailler Vertrag festgelegte scheinbare Unabhängigkeit und Selbständigkeit der Freien Stadt müsse auf das nachdrücklichste von Polen unterstrichen und geschützt werden. Die Danziger Wirtschaft müsse an der Verbindung Danzigs mit Polen materiell dadurch interessiert werden, daß [29] "möglichst viele Firmen nach dem Muster der Danziger Werft in direkte oder indirekte Abhängigkeit von Polen" gebracht würden. Jede Danziger Rechtsregierung sei scharf zu bekämpfen. Jede Danziger Linksregierung sei unmittelbar, nachdem sie die Geschäfte übernommen habe, "sehr wohlwollend zu behandeln", damit sie greifbare Beweise für die Richtigkeit des Verständigungskurses und für die Unrichtigkeit des nationalistischen Kurses der Danziger Bevölkerung aufzeigen könne. Die innerpolitischen Kämpfe der Danziger müßten geschickt benutzt werden, um ihre Aufmerksamkeit von Polen abzulenken und auf innere Danziger Streitfragen hinzulenken. Die politisch mißliche Lage der Danziger müsse von polnischer Seite ausgenutzt werden. - Damit ist offen ausgesprochen, daß Polen alle Redensarten über wirtschaftliche und politische Verständigung nur als Mittel zum Zweck benutzt. Die Ergebnisse der seit 1928 betriebenen "Verständigungspolitik" haben das vollauf bestätigt. Gerade in dieser Zeit haben die bereits erwähnten Polonisierungsbestrebungen im Hafen und bei der Eisenbahn besonders große Erfolge zu verzeichnen gehabt. Im Sommer 1928 hat Polen es dann erreicht, daß Danzig in drei Verträgen sich zu freiwilliger Preisgabe grundsätzlicher Rechte bereitfand. Danzig verzichtete auf seinen Widerstand gegen den polnischen Munitionshafen, genehmigte ferner, daß auch weiterhin polnische Kriegsschiffe den Danziger Hafen unbeschränkt benutzen und stimmte der Einführung der polnischen Eisenbahnverkehrsordnung zu. Die "Gegenleistungen" Polens bestanden darin, daß Polen seither die vorübergehende Benutzung des polnischen Munitionshafens auch für Handelszwecke gnädigst gestattete und daß die gebrochenen Tarife zwischen Danzig und Polen aufgehoben wurden. Aber auch die letztere Gegenleistung verliert wesentlich an Bedeutung, wenn man weiß, daß Polen ohnehin schon entschlossen war, die ihm selbst unbequemen gebrochenen Tarife in Kürze zu beseitigen. Polen hatte jedenfalls einen entscheidenden Erfolg errungen und seine Machtstellung mit Hilfe einer höchst einseitigen "Verständigungspolitik" an entscheidenden [30] Stellen befestigt. Auch das unerhörte Verbot des Danziger Stahlhelmtages durch die Danziger Linksregierung, das vom Senatspräsidenten Sahm mit außenpolitischen Rücksichten begründet wurde, ist ein Zeichen des wachsenden polnischen Einflusses. Wir haben ja bereits gesehen, wie verhängnisvoll sich diese Entwicklung gegenüber den deutsch-danziger Eisenbahnern in der Hafenfrage ausgewirkt hat. Damit nicht genug, hat Polen am 10. November 1928 allem Vorhergegangenen durch eine ungeheuerliche Herausforderung der Danziger Bevölkerung die Krone aufgesetzt. An diesem Tage flatterten auf den Lokomotiven sämtlicher Züge, die den Freistaat durchfuhren, polnische Flaggen zur Erinnerung an das zehnjährige Bestehen des Polenstaates. Einsprüche waren vergebens. Polnische Fahnen wehten - erstmalig - über der deutschen Stadt Danzig! Im März 1929 hat dann ein anderer Vorgang von größter Tragweite neue Gefahren über Danzig heraufbeschworen. Mit Hilfe englischen und französischen Kapitals wurde der französische General Le Rond, der den Polen bereits beim Raube Oberschlesiens hilfreiche Hand geleistet hat, zum Vorsitzenden des Aufsichtsrates der internatioinalisierten Danziger Werft gewählt. Zu gleicher Zeit erhielt der sehr "geschäftstüchtig" eingestellte Generaldirektor der Danziger Werft den polnischen Orden "Polonia restituta". Damit wird auch die Danziger Werft nach vorhergegangener wirtschaftlicher Abhängigmachung zu einem militärischen Standpunkte Polens und der englisch-französisch-polnischen Entente! Alles in allem: nur sträfliche Leichtfertigkeit kann sich noch der Erkenntnis verschließen, daß die vom Völkerbund "garantierte" Selbständigkeit der Freien Stadt Danzig durch die politischen, wirtschaftlichen und militärischen Machtbestrebungen Polens nahezu völlig untergraben und der Weiterbestand Danzigs als deutsches Staatswesen ernstlich in Frage gestellt ist. Diese Zeilen können indes nicht abgeschlossen werden, ohne daß auf die ungeheure Schuld hingewiesen wird, die die amtliche Politik des Deutschen Reiches an [31] dieser Entwicklung trägt. Zu nichts zerronnen sind alle Zusicherungen Dr. Stresemanns, der den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund dadurch zu rechtfertigen versuchte, daß er versprach, sich auf diesem Wege tatkräftig für die entrissenen deutschen Lande einzusetzen. Aus "Loyalität" gegenüber Polen hat das Deutsche Reich sich den zahllosen Gewalttaten, die Polen gerade in den letzten Jahren an Danzig verübt hat, niemals tatkräftig widersetzt. Alle Bitten um politische, wirtschaftliche und moralische Unterstützung, die von maßgebenden Danziger Persönlichkeiten mehr als einmal an die zuständigen Berliner Stellen gerichtet worden sind, wurden mit einem Achselzucken beantwortet. In den Augen der Wilhelmsstraße ist Danzig eben - laut Versailler Diktat - Ausland. Um die Kreise der sogenannten "Verständigungspolitik" nicht zu stören, um "Polen nicht zu reizen", beschränkte man sich darauf, gelegentlich die "kulturelle Verbundenheit" mit Danzig durch billige Redensarten zu betonen, während Polen - wie in der vorliegenden Schrift nachgewiesen ist - in Deutschland keinen Augenblick etwas anderes getrieben hat, als Machtpolitik reinsten Wassers. Wenn nicht bald eine grundlegend andere Auffassung die amtliche deutsche Außenpolitik bestimmt, wenn nicht bald die Danziger Frage - und mit ihr die Frage des polnischen Korridors - endlich als das erkannt wird, was sie ist: eine politische Schicksalsfrage des deutschen Volkes - dann versinkt Danzig völlig im polnischen Machtbereich und mit ihm über kurz oder lang auch Ostpreußen. So ist auch das Schicksal Danzigs letzten Endes davon abhängig, welches politische System künftig in Deutschland herrschen wird. Die im Osten drohenden Gefahren verlangen gebieterisch eine schnelle und klare Entscheidung!
Gebietsumfang: 1892 qkm. Länge der Grenzlinie: 290,5 km. Einwohnerzahl: rund 385 000 (davon im Stadtkreis Danzig: 207 000). Polnische Minderheit (nach dem letzten Wahlergebnis vom 20. November 1927): etwa 3 v. H. der Gesamtbevölkerung.
Religionsbekenntnisse:
Parlament: Volkstag (120 Abgeordnete). (Jeweils auf 4 Jahre ohne Auflösungsmöglichkeit gewählt; letzte Wahl 20. November 1927).
Regierung: Senat. (Der Senat versieht zusammen mit der
Stadtbürgerschaft auch die Geschäfte des früheren Magistrats
der Stadt Danzig.)
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