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Der deutsche Volksboden und das deutsche
Volksrecht (Teil 3)
Danzig
Das Gebiet, auf dem heute Stadt und Freistaat Danzig liegen, war in alter Zeit
gleich dem gesamten Ostsee- und Weichselland im Besitz ostgermanischer
Stämme. Deren Abzug erfolgte im 4. und 5. nachchristlichen Jahrhundert.
An ihre Stelle schoben sich östlich der unteren Weichsel die Pruzzen oder
Preußen, Verwandte der Litauer, westlich des Stromes Slawen. Beide
standen auf niederer Kulturstufe, was schon daraus hervorgeht, daß sie in
den von ihnen bewohnten Gebieten wenig nennenswerte Bodenfunde hinterlassen
haben. Ebenso geringe Spuren finden sich von ihnen in der Geschichtsschreibung
jener Zeit. Dagegen scheint es, als ob gegen Ende des 1. Jahrtausends
n. Chr. die Skandinavier als seefahrende Krieger und Händler auch
an der unteren Weichsel Einfluß ausgeübt haben. Bei Frauenburg am
Frischen Haff und bei Baumgart am Drausensee sind die Reste von
Wikingerschiffen gefunden worden. In einem Wikingergrab bei Mewe, in der
Nähe von Marienwerder, am Einfluß der Ferse in die Weichsel, hat
man ein Schwert und eine Wage gefunden - beides bezeichnend für
die normannischen Fahrten jener Zeit. Um Handelskundschaft zu treiben,
unternahm auch der Däne Wulfstan am Ende des 9. Jahrhunderts
seine Reise längs der südlichen Ostseeküste von Hedaby an
der Schlei bis nach Truso in der Nähe des heutigen Elbing.
Das slawische Volk, das damals in dem Lande an der unteren Weichsel wohnte,
waren die Kaschuben, von denen noch heute Reste in Hinterpommern und
Pommerellen vorhanden sind. Unter diesem Namen, Pommerellen, erscheint am
Anfang des zweiten Jahrtausends das kaschubische Gebiet. Die Kaschuben sind
nach Abstammung und Geschichte nicht Polen, sondern nahe Verwandte der
slawischen Pommern, die seit Jahrhunderten in der friedlichen Germanisierung
durch ihre eigenen Fürsten aufgegangen sind.
Der Sitz der pommerschen Herzöge lag an der Odermündung. Ihnen
verwandt war das einheimische Fürstengeschlecht der Samboriden in
Pommerellen, das in einer Burg an der Stelle des heutigen Danzig saß. Der
pommerellische Fürst Swantopolk
(1220 - 1266) vereinigte die kleinen Teilfürstentümer
von Danzig, Belgard, Dirschau und Schwetz und besaß eine
verhältnismäßig bedeutende politische Macht. Die Grenze
zwischen Pommerellen und Polen bildete von alters her die Netze. Die
Bestrebungen der polnischen Fürsten, ihr Machtgebiet auszudehnen und vor
allen Dingen das Meer zu erreichen, richteten sich, seitdem Polen im 11. und
[39] 12. Jahrhundert
genügend erstarkt war, sowohl gegen die
Oder- als auch gegen die Weichselmündung. Boleslav I., der
Tapfere, eroberte vorübergehend ganz Pommern und Danzig; sein Sohn
jedoch verlor schon wieder diesen Besitz. Ein Jahrhundert später wollte
Wladislaw I. Hermann das Netzegebiet vergeblich den Pommern
entreißen. Sein Sohn Boleslav III. eroberte wiederum Pommern und
ließ es sich von Kaiser Lothar dem Sachsen als ein Lehen des Deutschen
Reiches übertragen. Dauernder polnischer Besitz aber wurden weder das
eigentliche Pommern noch Pommerellen. Swantopolk, der Pommerelle,
verteidigte sich siegreich gegen die polnischen Fürsten, die ihn angriffen,
verschaffte sich die Anerkennung seiner Selbständigkeit durch den Papst
und nannte sich Herzog. Zu seiner Zeit rief auf dem rechten Weichselufer ein
polnischer Teilfürst, der Herzog Konrad von Masovien, den Deutschen
Ritterorden zu Hilfe, um gegen die überwältigenden Angriffe der
heidnischen Preußen einen Schutz zu erhalten.
[52b]
Danzig, Regatta auf der Mottlau.
[48c]
Danzig, Winterbild.
|
In der späteren Erinnerung erschien die Eindeutschung des ganzen
Weichsellandes als ein Werk der deutschen Ritter. Für das linksuferig
liegende Pommerellen ist diese Vorstellung aber nicht richtig; hier haben der
deutsche Einfluß und die deutsche Einwanderung schon unter den
Samboriden begonnen. Die samboridischen Fürsten nahmen mehrere
deutsche Klostergründungen vor und beriefen deutsche Kaufleute. Am
Ende des 12. Jahrhunderts ließen sich solche neben der
pommerellischen Fürstenburg, unweit der Mündung der Mottlau in
die Weichsel, nieder und gründeten einen Markt. Dies Bestreben,
Märkte und Städte mit Hilfe herbeigerufener deutscher Kaufleute zu
gründen, findet sich um die Zeit in allen östlichen Ländern,
mit Ausnahme von Rußland, wo die Normannen bereits das Nötige
getan hatten. Die kleinen Fürste und Herzöge in Pommern,
Pommerellen und Schlesien tun dasselbe wie die weit mächtigeren
Könige von Polen, Böhmen und Ungarn. Der Deutsche soll durch
den Handel und durch das Abgabewesen, das sich sogleich in seinem Gefolge
entwickelt, dem Fürsten Einkünfte schaffen. Um 1224 erteilt der
Fürst Swantopolk der Danziger Marktsiedlung deutsches Städterecht.
Von da an datiert Danzig als deutsche Stadt.
Bis zum Jahre 1294 regierten in Pommerellen die Herzöge aus dem Hause
der Samboriden. Während dieser ganzen Zeit erfahren wir mehrfach von
der Ansiedlung deutscher Bauern, von der Berufung deutscher Kleriker und von
der Gründung deutscher Klöster. Der letzte Samboride
Mestwin II. setzte als seinen Nachfolger einen polnischen Teilfürsten
ein. Vorher aber hatte er die askanischen Markgrafen von Brandenburg als seine
Lehensherren anerkannt und ihnen sogar Burg und Stadt Danzig als Eigentum
zugesprochen. Die Brandenburger, die böhmischen Könige, denen
zeitweilig die Krone von Polen zugefallen war, und schließlich der
Deutsche Orden liegen nun jahrzehntelang im Streit um das Land. Im Jahre 1308
werden die Brandenburger in Danzig von den deutschen Bürgern
aufgenommen. In der Burg hielt sich ein polnischer Statthalter. Als dieser sah,
daß er sich gegen den [40] brandenburgischen
Angriff nicht behaupten konnte, bat er den Landmeister des Deutschen Ordens in
Preußen, Heinrich von Plotzke, um Hilfe. Der Orden willigte ein,
übernahm die Verteidigung der Burg, stellte aber die Bedingung, daß
sie bis zur Erstattung der Unkosten als Pfand in seinem Besitz bleiben sollte.
Dieser Forderung konnte der Pole nicht nachkommen. Markgraf Waldemar von
Brandenburg trat 1309 alle Rechte seines Hauses an Danzig und Umgegend an
den Orden ab. Polen versuchte zunächst, seine Ansprüche
aufrechtzuerhalten, verzichtete aber endgültig im Frieden von Kalisch 1343
auf Pommerellen und Danzig. Von da an war Danzig eine deutsche Stadt unter
dem Orden.
|
Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts sind die Danziger Bürgerbücher
erhalten. Alle Personen, die Danziger Bürgerrecht erwarben, wurden hier
eingetragen, mit Angaben über ihre Herkunft. Die Bücher beweisen,
daß in Danzig das nichtdeutsche Element niemals mehr als einen praktisch
so gut wie verschwindenden Bruchteil ausgemacht hat. Um 1400, als etwa zwei
Fünftel der gesamten Bürgerschaft von Zugewanderten und ins
Danziger Bürgertum Aufgekommenen gebildet wurde, stammten diese zu
96% aus den alten deutschen Ländern im Westen, dem Kolonialgebiet im
Osten der Elbe und dem deutschen Ordensgebiet. Der Rest war aus England,
Skandinavien, Ungarn, Mähren, Böhmen und Polen zugewandert,
aber auch größtenteils deutscher Abkunft. Später haben sich
diese Verhältnisse ebenfalls nicht geändert. Danzig ist also von jeher
eine deutsche Stadt gewesen. Seit 1358 ist seine Zugehörigkeit zur Hansa
nachweisbar; vermutlich hat sie schon früher bestanden.
Von seiner Gründung an hat Danzig nie den Charakter einer Handelsstadt
verloren. Sein Handel beruhte auf der Verbindung mit dem gesamten
Ost- und Nordseegebiet und mit dem von der Weichsel durchströmten
Hinterland. Danziger Schiffe fahren im Mittelalter nach Westen bis jenseits des
Golfes von Biscaya. Innerhalb des östlichen Beckens war der wichtigste
Handelsstützpunkt Danzigs die "Danziger Vitte" auf Schonen, an der
südschwedischen Küste. Den russischen Handel beherrschten die
livländischen Städte Riga, Reval und Dorpat. Danziger Kaufleute
gelangten nur ausnahmsweise nach dem russischen Nowgorod. Bei dem
damaligen Zustand der Landstraßen war der Handel, namentlich mit
Massengütern, hauptsächlich auf die Flüsse als Verkehrswege
angewiesen. Das polnische Hinterland Danzigs wird in seiner westlichen
Hälfte von der wasserreichen Warthe durchflossen und gehörte daher
im Mittelalter handelsgeographisch zu der Oderstraße, die ihre
Mündung bei Stettin hat. Daher auch die langen und zähen
Bemühungen der polnischen Fürsten um die Oberhoheit über
Pommern. Das Danziger Einzugsgebiet umfaßte, außer Pommerellen,
die polnischen Landschaften Masovien, Kujavien an der Grenze gegen
Ostpreußen und das sogenannte Kleinpolen mit dem Zentrum Krakau. Es ist
bezeichnend für die damaligen Verhältnisse, daß die Ausbeute
der Bergwerke in Oberungarn auf Saumtieren über den Kamm der
Karpathen ins Weichselgebiet gebracht und dann die Weichsel abwärts
nach Danzig verladen wurde. Für
Ge- [41] treide, Holz, Teer,
Asche und andere Massengüter kamen überhaupt nur Wasserwege in
Betracht, desgleichen für Flachs und Wachs. Der mittelalterliche Schiffbau
hatte zur Dichtung der Schiffswände und zur Herstellung von Tauwerk
großen Bedarf an Teer. Asche brauchte man zur Seifenfabrikation und
Wachs war einer der wichtigsten Handelsartikel wegen des großen Bedarfs
zu kirchlichen Zwecken. Wachskerzen, manche fast so groß wie
Mastbäume, waren das gebräuchlichste kirchliche Opfer. Für
die Danziger Einfuhr spielten Salz, an dem Polen von Natur arm ist, und Tuche
eine große Rolle; außerdem Luxuswaren aller Art,
überseeischer Wein und gesalzene und getrocknete Fische. Heringe und
Stockfisch waren in der Fastenzeit die gebotene Zukost für Millionen.
Für das deutsche Mittelalter war Osteuropa etwas Ähnliches wie in
späteren Jahrhunderten Amerika und Indien. Dorthin in die Fremde, in den
breiten Raum, wo es genug Gefahren gab, aber auch genug Möglichkeiten
des Gewinns, wenn jemand Wagemut, eine starke Persönlichkeit und etwas
Kapital einzusetzen hatte, zog es viele, nicht nur aus den erst vor kurzem
germanisierten Gebieten, wie Pommern, Schlesien und der Mark, sondern auch
aus den alten Ländern des Reichs. Danzig war eins der großen
Eingangstore zum Osten. Dazu kam, daß der mächtige Ordensstaat
sich bis hierher ausdehnte. Der Orden war nicht nur eine geistliche, ritterliche und
kriegerische, sondern auch eine große und klug geleitete
Handelsorganisation. Der Orden war es, der zuerst die Weichsel zu einer
gesicherten Handelsstraße ausbaute. Schon 1248 schloß er in Danzig
mit dem Herzog Swantopolk von Pommerellen einen Vertrag über die
zollfreie Einfahrt aller Ordensgüter in die Weichsel. Kaufmannsgüter
sollten Zoll in Danzig bezahlen, weichselaufwärts aber frei von Abgaben
sein. Am Ende des 14. Jahrhunderts gelang es den Danzigern, auf Grund
eines Vertrags zwischen dem Deutschen Orden und dem Großfürsten
von Litauen auch in diesem Lande freien Handelsverkehr zu erhalten. Es bestand
eine Binnenwasserstraße zwischen dem Memelfluß und der Weichsel
über das Frische Haff, den Pregel, die Deime und das Kurische Haff, so
daß Flußschiffe direkt von Danzig bis nach Kowno (deutsch: Kauen)
gelangen konnten. Kowno wurde der Stapelplatz des Danziger Handels in
Litauen. Von dort kamen Pelze, Häute, Wachs und Hanf. Dort wurde von
den Danzigern ein großes Salzlager für die Versorgung von
Rußland und Litauen eingerichtet. Danziger Schiffe brachten das Salz von
der Atlantischen Küste Frankreichs und Portugals.
Für Polen und Litauen, die seit dem Ende des 14. Jahrhunderts durch
die Heirat Wladislaw Jagiellos von Litauen mit der polnischen Thronerbin
Hedwig vereinigt waren, bildete das Ordensland ein verhaßtes Hindernis
gegen die Erreichung der freien Ostsee. Die Schlacht von Tannenberg, 1410,
schien es beseitigen zu wollen; aber es gelang dem Orden im letzten Augenblick,
seinen Bestand und seine Herrschaft noch für ein halbes Jahrhundert zu
retten. Nach Tannenberg war es das polnische Ziel, die Ordensmacht durch
heimliche Zettelungen mit dem preu- [42] ßischen Adel, der Ritterschaft, die ihre
Güter unter dem Regiment des Ordens besaß, und mit den
preußischen Städten von innen her auszuhöhlen. Das gelang
nur zu gut. Der Ritterschaft winkte die "Libertät", das große
Maß von Vorrechten, das der Adel in Polen besaß, und den
Städtern winkten die Handelsvorteile, die von polnischer Seite versprochen
wurden. Am meisten für den Anschluß an Polen interessiert war
Thorn, die Rivalin Danzigs im Weichselhandel. Der Großhandel Thorns
ging durch polnisches Gebiet nach Osten und Süden. Danzig, dessen
Stellung unabhängig war, beteiligte sich an der Bewegung zum Abfall
nicht. Erst als dieser ohnehin entschieden war, schloß es, 1457, seinen
Vertrag mit dem König von Polen. Ohne den Besitz Danzigs war für
Polen die Herrschaft über die Weichselstraße zur Hälfte
zwecklos. Danzig mit Gewalt nehmen, ging über die polnischen
Kräfte, die trotz der Bundesgenossenschaft der übrigen
preußischen Städte durch den Krieg mit dem Orden ganz in Anspruch
genommen waren. So versprach König Kasimir IV. den Danzigern in
einer Urkunde die freie Ausfuhr aller "aus dem Walde" stammenden Waren und
bestätigte alle Handelsrechte, die sie zur Ordenszeit besessen hatten. Diese
Rechte bedeuteten sehr viel. Ihre beiden Hauptstücke waren, nach dem
allgemeinen hansischen Grundgesetz, das Stapelrecht und das Gästerecht.
Keine auf der Weichsel herabgeschiffte Ware durfte an Danzig vorbei nach einem
anderen Bestimmungsort verfrachtet, sondern mußte in Danzig zum
Verkauf gestellt werden. Das war das Stapelrecht. Auf Danziger Boden aber
durften "Gäste", d. h. fremde Kaufleute, z. B. ein Pole und ein
Engländer oder ein Pole und ein Lübecker, nicht miteinander
handeln, sondern Käufer einer Ware, die aus fremdem Gebiet in Danzig
anlangte, konnte immer nur ein Danziger Kaufmann sein. Das war das
Gästerecht. Durch diese beiden Bestimmungen war für Danzig auch
nach dem Untergang der Ordensmacht, ja noch ausschließlicher als zur
Ordenszeit, eine beherrschende und gewinnbringende Stellung im polnischen
Außenhandel gesichert.
"So erlangten die Danziger Kaufleute
eine Monopolstellung als alleinige Abnehmer polnischer Rohstoffe und
polnischen Getreides und alleinige Lieferanten westlicher
Luxusgegenstände und Industrieerzeugnisse. Diese Monopolstellung war
die Quelle des gewaltigen Reichtums, der damals in Danzig
zusammenströmte, und zwar hatte an diesem Reichtum nicht nur der
Danziger Kaufmann, sondern auch die Stadt Danzig als Staatswesen
unmittelbaren Anteil. Denn während der ganzen Zeit seiner
Zugehörigkeit zu Polen erhob Danzig von allen zur See
ein- und ausgehenden Waren einen recht beträchtlichen Zoll (das
»Pfahlgeld« und die »Bürgerzulage«), der also
von den Abnehmern polnischer Naturerzeugnisse und von den Polen als
Abnehmer westlicher Handelsgüter gezahlt werden mußte. Diese
Tatsache, daß Danzig Ein- und Ausfuhrzoll erhoben hat, kann nicht scharf
genug betont werden. Dieses tatsächlich merkwürdige
Verhältnis zwischen Danzig und Polen hat vom Jahre 1454 bis zum Jahre
1792, bis zum Übergang Danzigs an Preußen, bestanden. Vergeblich
versuchten die Polen immer von neuem, den Danzigern die Ausübung
dieser beiden Rechte streitig zu machen, aber alle ihre Vorstöße
scheiterten an dem entschlossenen Widerstand der Bürger.
Die Angliederung Westpreußens und Danzigs an
Polen eröffnete den Danziger Kaufleuten den unmittelbaren Verkehr mit
dem ganzen Stromgebiet der Weichsel. Dies geschah [43] zu jener Zeit, da infolge
wirtschaftlicher Veränderungen in Westeuropa (Rückgang des
Ackerbaus, Industrialisierung und stärkere Zunahme der
Bevölkerung) dieses in steigendem Maße auf die Einfuhr
landwirtschaftlicher Erzeugnisse und Rohstoffe aus dem Osten angewiesen war.
Dieses östliche Lebensmittelmagazin und Rohstofflager für
Westeuropa lag in der Hauptsache in den Grenzen des polnischen Reichs, das
damals von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer und bis tief nach Rußland
hinein, bis vor die Tore von Smolensk, sich erstreckte. Für dieses gewaltige
Wirtschaftsgebiet war Danzig geradezu der einzige
Ein- und Ausfuhrhafen." (Danzigs Handel in Vergangenheit und
Gegenwart, herausgegeben von Hanns Bauer und Walter Millack, Danzig
1925, S. 23-24.)
Der polnische König Stephan Bathory erklärte 1577 einen
förmlichen Krieg gegen Danzig, um die Stadt zur Aufgabe ihrer Vorrechte
zu zwingen, die ihr eine so große Selbständigkeit gegenüber
Polen sicherten, daß der König nur mit Genehmigung der Danziger in
die Stadt einreiten und nur einen Speicher für den Bedarf seines Hofhalts in
Danzig besitzen durfte. Um die Danziger zu zwingen, versuchte er die polnische
Ein- und Ausfuhr über Elbing zu leiten, das ihm stärker untertan und
um der versprochene Vorteile willen zu besonderem Entgegenkommen bereit war.
Der Kampf blieb nicht ohne Verluste für Danzig; Elbing behauptete sich
teilweise als eine Rivalin. Schließlich aber mußte der polnische
König doch auf den Hauptteil seiner Forderungen verzichten, da er auch
durch andere Konflikte in Anspruch genommen und gegen die Befestigungen, die
Artillerie und die im Verhältnis zu Polen sehr starke Geldmacht der Stadt
nicht aufzukommen imstande war. Formell galten die Danziger als Untertanen des
Königs von Polen. In Wahrheit waren sie unabhängig, und weder der
polnische König noch der polnische Reichstag übten in der Stadt und
in ihrem Gebiet, abgesehen von den königlichen Ehrenrechten, irgendeine
Gewalt aus. Danzig besaß sogar das Gesandtschaftsrecht. Eine
[76b]
Frauengasse in Danzig.
|
nennenswerte polnische Bevölkerung war auch in der nominell polnischen
Zeit nicht vorhanden. Die von Beginn des 15. Jahrhunderts an erhaltenen
Danziger Gerichtsakten zeigen, daß bis zum Übergang an
Preußen in Gericht und Gesetz ausschließlich die deutsche Sprache
gebraucht wurde. Der Verkehr zwischen dem polnischen König und dem
Stadtregiment erfolgte entweder in deutscher oder lateinischer, niemals in
polnischer Sprache. Zwischen Danzig und Polen bestand keinerlei
tatsächliche Verbindung, sondern nur eine Art Personalunion, kraft derer
die Stadt den König als ihren "obersten
Landes- und Schutzherrn" anerkannte. Der König hatte das Recht, in
Danzig einen königlichen Burggrafen einzusetzen, aber er mußte
diesen aus acht Danziger Ratsherren, die ihm der Rat jährlich vorschlug,
wählen. Der polnische Kaufmann, der nach Danzig kam, war fremder
"Gast", nach dem damaligen Sprachgebrauch. Danzig blieb
selbstverständlich auch Mitglied der Hansa. Es leitete unbeschränkt
und ohne Vermittlung des polnischen Königs seine auswärtigen
Angelegenheiten, führte sogar selbständig Krieg und schloß
Frieden, hielt seine eigenen Truppen und Kriegsschiffe, legte auf seinem Gebiete
Festungen an, ging Bündnisse mit fremden Staaten ein und verweigerte
polnischen Truppen und [44] Kriegsschiffen den
Aufenthalt auf Danziger Gebiet. Die Danziger Artillerie war so vortrefflich wie
die Danziger Festungswerke. 1630, im Kriege zwischen Gustav Adolf von
Schweden und Polen, erklärte die Stadt, gegen das schwedische
Versprechen, keinerlei feindliche Handlung gegen die Stadt zu begehen, ohne
Rücksicht auf Polen ihre Neutralität. Durch die
schwedisch-polnischen Kriege, durch die fortschreitende politische
Auflösung Polens und den großen wirtschaftlichen Aufstieg Englands
fing von der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Danziger Macht
an zu sinken. Holland und England waren von allen Ländern, mit denen
Danzig in Handelsverkehr stand, die wichtigsten. Zwar dehnten sich die Danziger
Handelsfahrten, namentlich die Getreidefrachten, im 16. Jahrhundert bis
nach Venedig, im Anfang des 17. Jahrhunderts sogar bis nach
Konstantinopel aus. Die größten Abnehmer für das aus Danzig
kommende Getreide waren aber die Holländer. In einer
holländischen Aufzeichnung im Jahre 1534 heißt es über die
Bedeutung Danzigs als Getreidehafen:
"Die Ursache des Reichtums und der
zunehmenden Bedeutung des Königreichs Polen und der besagten Stadt
Danzig liegt darin, daß die Holländer alle Jahre
ein- oder zweimal nach Danzig mit 200 oder 300 Schiffen kommen, um in
vierzehn Tagen das ganze Getreide zu kaufen und zu verladen, das sich in Danzig
befindet. Denn alle Großgrundbesitzer von Polen und Preußen haben
seit fünfundzwanzig Jahren dieses Mittel gefunden, um auf bestimmten
Flüssen ihr ganzes Getreide nach Danzig zu schicken und es in dieser Stadt
verkaufen zu lassen. Aus diesem Grunde sind das Königreich Polen und die
Großgrundbesitzer sehr reich geworden. Ihr Vermögen
vergrößert sich immer mehr. Vorher haben sie nicht gewußt,
was sie mit ihrem Getreide anfangen sollten und ließen die Äcker
unbestellt. Danzig, das vorher nur ein Dorf gewesen ist, gilt zur Zeit als die
reichste und mächtigste Stadt der ganzen Ostsee."
Aus einer Korrespondenz vom Jahre 1630 zwischen Danzigern und
Holländern sind sowohl die holländischen Vorwürfe als auch
die Danziger Erwiderung interessant. Der Holländer schreibt, sie seien in
Holland bei der Getreideteuerung fast verhungert, die Danziger seien voll bitteren
Hasses gegen Holland und würden ihr Handelskontor für die
Holländer gerade dann schließen, "wenn es uns am übelsten
ergeht und das Getreide am wenigsten entbehrt werden kann". In der Danziger
Erwiderung aber heißt es, der Holländer habe für seine
Spezereien, seinen Wein, seine Heringe, sein Salz, seinen Zucker, seine Seide,
Wolle und Webwaren mehr erhalten, als der Kaufpreis des Getreides betragen
habe, und weiter:
"In den Jahren, wo die Steigerung des
Preises in Korn gewesen, ist zugleich auch ein großer Mißwachs in
Spanien, Frankreich, England, Italien gewesen, was allemal die Steigerung im
Osten verursacht hat, da dann die niederländischen Kaufleute das Getreide
aus Osten in großer Menge, 50, 80, ja 100 000 Last, von Danzig
allein geholt und zu ihrem großen Gewinn an andere Orte gebracht. Daher
haben die Niederländer über die Teuerung von 1626 gar nicht zu
klagen, da der schwedische Krieg in Preußen ist angegangen, sondern wenn
der Preis gestiegen, ist es zu ihrem Vorteil gewesen. Wenn die Pracht in Polen
und Preußen [45] seit sechzig, siebzig
Jahren sehr zugenommen, so ist der niederländische Reichtum noch viel
mehr gewachsen, und ist ihr Wohlstand und ihre Macht mehr als anderswo aus
Polen und aus Preußen geflossen."
Am interessantesten und zeitweilig am wichtigsten waren die Beziehungen zu
England. Dort wurde seit dem Ende des Mittelalters der Getreidebau zunehmend
ersetzt durch die Weidewirtschaft, hauptsächlich für Schafe, wegen
der Wolle, um Tuche für die Ausfuhr herzustellen. Getreide mußte
eingeführt werden, und Danzig war der Lieferant. Gab es in England eine
Mißernte, so war die Abhängigkeit von den Danziger Lieferungen
für England geradezu eine Gefahr. Schon damals waren auch die englischen
Waldbestände zu gering, um das Land zu versorgen. Von Danzig kam das
Holzmaterial für den englischen Schiffs- und Hausbau, von Danzig kam
aber auch das Eiben- und Eschenholz, das für die Herstellung der Bogen,
der englischen Hauptwaffe im Kampfe, notwendig war. Zeitweilig verlangten die
Engländer, jedes Danziger Schiff müsse mit seiner Ladung eine
bestimmte Menge Bogenholz mitbringen. Die Schiffe, die aus England nach
Danzig fuhren, brachten rohe Wolle, Tuche, Blei und Zinn. Dabei war das in
Danzig herrschende Stapel- und Gästerecht eine ständige Ursache
von Konflikten zwischen den Danzigern und den Engländern. Die
Handelsrechte der Hanseaten in England waren größer als die Rechte
der Engländer in den Hansestädten. Schon 1391 gab es einen
"Gubernator" der englischen Kaufleute in Danzig, der eine Art von
konsularischer Stellung inne hatte. Abwechselnd nahmen die Danziger englische
und die Engländer Schiffe von Danzig fort, und von beiden Seiten wurden
Kaufleute, bald um eine Übertretung der Handelsgerechtsame zu bestrafen,
bald um Repressalien zu üben, festgesetzt. Von
1469 - 1479 wurde ein förmlicher Seekrieg zwischen den
Hansestädten und England geführt. In der Hauptsache war es ein
Krieg Danzigs gegen England. 1473 nahm ein Danziger Kaperkapitän
namens Paul Benecke mit seinem Schiff, dem "Peter von Danzig", einen
englischen Gegner, den "St. Thomas" und erbeutete eine Ladung von
ungeheurem Werte, beinahe 5 Millionen Goldmark. Einer der Unternehmer dieses
Kaperzuges schenkte aus der Beute ein kostbares Gemälde, das
"Jüngste Gericht" von Hans Memling,
der Danziger Marienkirche. Dort ist
es noch heute zu sehen.
[48d]
Danzig, Marienkirche.
|
Unter der Regierung Heinrichs VIII.
verschärfte sich die Erbitterung in England gegen die hansischen Vorrechte,
aber England brauchte die Zufuhr von Lebensmitteln, Schiffbaumaterial, Eisen
und Bogenholz. Die Hochkonjunktur für Danzig gegenüber England
lag am Anfang der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Gerade
Danzig aber lieferte den Engländern die Mittel, eine eigene Flotte zu
schaffen und selbständig Handelsbeziehungen nach dem Osten, namentlich
nach Rußland, zu eröffnen. Während des Krieges, den Stephan
Bathory gegen Danzig führte, benutzten die Engländer die
Gelegenheit, über Elbing zu handeln, um die Danziger zur Nachgiebigkeit
zu nötigen. Die Starrheit, mit der Danzig an dem Bemühen festhielt,
die englischen Gäste auf Danziger Gebiet von allem
selb- [46] ständigen Handel
auszuschließen, trug aber ebenso wie die Danziger Lieferung von
Schiffbaumaterial nach England dazu bei, bei den Engländern den Willen
zur handelspolitischen Selbständigkeit zu stärken.
Im Danziger Staatsarchiv wird eine ganze Anzahl interessanter Urkunden
aufbewahrt, in denen sich das fortdauernde enge Verhältnis zu England
spiegelt. König Heinrich VIII. bittet am 13. Januar 1537 den Rat von
Danzig, seine "teuersten Freunde", sie möchten "im Hinblick auf die alte
und gegenseitige Freundschaft" seinen für den Ankauf von
Mastbäumen Abgesandten alle Förderung gewähren, und er
verspricht den Danzigern reichliche Gegendienste im Bedarfsfalle. Die
eigenhändige Unterschrift des Königs lautet: Vester bonus
amicus Henry. Königin Elisabeth schreibt am 30. Juni 1600 ihren
"teuersten Freunden" im Senat von Danzig, sie habe zu den Verhandlungen
wegen hansischer Streitigkeiten, bei denen Danzig vermitteln will, dem Danziger
Gesandten Johann Bremer ihre Wünsche und Forderungen mitgeteilt. Am
10. April 1657 schreibt der Lord Protector Oliver Cromwell dem Senat, wiederum
mit der Anrede "teuerste Freunde", unter Berufung auf die alte Freundschaft von
England und Danzig, das er an Fleiß, Reichtum und Kunstsinn den
"vornehmsten Städten" gleichstellt, und verwendet sich für einen von
den Danzigern gefangengenommenen Grafen Königsmarck. Eine besonders
schöne englische Königsurkunde im Danziger Archiv ist die am 9.
November 1707 von der Königin Anna vollzogene Ausfertigung eines
Handelsvertrags zwischen Danzig und England, durch den die gegenseitigen
Rechte der englischen und der Danziger Staatsangehörigen geregelt werden.
Abgeschlossen wurde der Vertrag zwischen dem englischen Gesandten in Danzig,
Robinson, und zwei Danziger Vertretern. (Die Urkunden sind wiedergegeben in
der von dem Danziger Archivdirektor Dr. Kaufmann herausgegebenen
Publikation Danzigs Deutschtum, staatliche Selbständigkeit und
Geltung in der Vergangenheit.) Um die Zeit war die Hochblüte Danzigs
schon vorüber, aber die selbständigen Rechte des Senats zum
Verkehr mit auswärtigen Regierungen waren unerschüttert. Sie
blieben es bis zum Übergang der Souveränität über
Danzig an Preußen.
[68b]
Danzig, Stockturm.
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[52a]
Der Artushof in Danzig. |
[48c]
Zeughaus in Danzig.
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Die weit ausgedehnten Handelsbeziehungen Danzigs, namentlich der direkte
Verkehr mit Italien (er war allerdings nur vorübergehend), schufen in dem
Danzig des 17. Jahrhunderts neben dem Reichtum auch noch eine
besonders feine Kulturblüte, die sich in der prächtigen
und geschmackvollen Architektur der Häuser, in ihrer
Ausstattung mit Gemälden und anderen Kunstwerken, in den Sammlungen
und vielfachen Interessen hervorragender Bürger äußert. Dieser
ausgesprochene Kulturcharakter Danzigs setzte sich auch noch bis ins
18. Jahrhundert hinein fort, wiewohl die äußeren
Verhältnisse lange nicht mehr so glänzend waren. Während
des Nordischen Krieges machte Peter der Große von Rußland den
Versuch, Danzig unter russische Oberhoheit zu bringen. Es existiert ein in
deutscher und russischer Sprache abgeschlossener Vertrag vom 30. September
1717 zwischen Danziger Vertretern und [47] dem russischen
Fürsten Dolgorukij, in dem vereinbart wird, daß die russischen
Truppen das Danziger Gebiet verlassen, keine Ansprüche mehr an Danzig
erheben sollen und daß Danzig in den künftigen Frieden mit
eingeschlossen werden soll. Noch in der letzten Zeit der Danziger
Selbständigkeit teilt König Ludwig XVI. von Frankreich am
20. September 1791 dem Senat von Danzig mit, er habe die Verfassung
angenommen, die ihm im Namen der Nation vorgelegt worden sei und nach der
Frankreich fortan regiert werden solle - übrigens nicht die einzige
französische Königsurkunde im Danziger Archiv, denn es gibt noch
je ein Schreiben Heinrichs IV. und Ludwigs XIV. im Betreff der
Ernennung und Ehrung der "Konsuln für die französische Nation" in
Danzig. 1704, während des Nordischen Krieges, wandte sich die Stadt zum
ersten Male mit der Bitte um Schutz an die neue
brandenburgisch-preußische Macht. Tatsächlich kam am 26. August
1704 ein in deutscher Sprache abgeschlossener und ausgefertigter Schutzvertrag
zwischen dem Rat und König Friedrich I. zustande, der in
Schönhausen zwischen dem preußischen Minister Ilgen und einem
Danziger Abgesandten abgeschlossen und vom König selbst unterzeichnet
wurde. Demgegenüber verlangte der König nur Danzigs
Neutralität, falls Preußen von irgendeiner Seite angegriffen
würde. Dieser von den beiderseitigen diplomatischen Vertretern
abgeschlossene Vertrag wurde sowohl vom König von Preußen als
dem Danziger Rat in völkerrechtlich gültiger Form vollzogen und
gutgeheißen.
[52b]
Langgasse in Danzig.
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Während der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, der
Deutschland verwüstete, war Danzig unversehrt geblieben. Auch der
schwedisch-polnische Krieg griff seinem Reichtum und Ansehen noch nicht an
die Wurzel. Um 1650 zählte es 77 000 Einwohner und war damit die
volkreichste deutsche Stadt, volkreicher als damals selbst Wien und Augsburg,
Nürnberg, Köln und Hamburg waren. Im 17. Jahrhundert war
Danzig Welthandelsstadt. Im 18. war es noch der größte und
verkehrsreichste Hafen an der Ostsee. Der Niedergang Polens und der Aufstieg
Hollands und Englands, dazu die fortwährenden Kriege unter den
Mächten an der Ostsee, reduzierten aber den Handel und die
Bevölkerung. 1792 betrug sie nur noch die Hälfte im Vergleich zu
1650. Die Adelsherrschaft in Polen hatte das Land mehr und mehr ruiniert. Die
Edelleute zwangen ihre Bauern,
Gersten- und Haferbrot zu essen und verkauften die ganze
Roggen- und Weizenernte ins Ausland, selbst wenn der Bauer dem Hungertode
nahe war. Auf diese Weise aber konnte die Getreideproduktion auf die Dauer
nicht gehalten werden. Um die Mitte des 17. Jahrhunderts stieg die durch
Danzig gehende polnisch-preußische Getreideausfuhr bis auf 100 000
Last im Jahre; im 18. Jahrhundert betrug sie durchschnittlich kaum
25 000 Last. Die Wollmanufaktur, die im 17. Jahrhundert bis zu
8000 Arbeiter beschäftigt hatte, verschwand im Laufe des 18. fast ganz. Bei
der ersten Teilung Polens,1772, gelang es dem Einspruch Rußlands noch,
den Übergang der beiden wichtigen Städte Danzig und Thorn an
Preußen zu verhindern. 1792 geschah die Einverleibung. Die ersten [48] preußischen Jahre,
bis 1807, brachten wieder ein kräftiges Aufblühen. Im Tilsiter
Frieden wurde Danzig von neuem Freistaat, aber mit französischer
Besatzung. Es wurde von den Franzosen unbarmherzig ausgesogen und sein
Seehandel wurde durch die Kontinentalsperre erdrosselt. Bis zum Ende des
19. Jahrhunderts hat Danzig an den Schulden zu tragen gehabt, die es zur
napoleonischen Zeit hatte aufnehmen müssen, um die Bedrücker zu
befriedigen. 1815, im Wiener
Kongreß, wurde das ganze polnische
Hinterland Danzigs russisches Gebiet. Die Russen erhoben hohe Grenzzölle
und ließen die Weichsel in einem so verwilderten Zustande, daß die
Kornschiffe von ihrer Ladestelle bis Danzig bis zu fünf Monate für
die Fahrt, die größtenteils ein Steckenbleiben war, brauchten. Auch
mit der Entwicklung der Dampfschiffahrt konnte Danzig nicht Schritt halten.
Ebenso blieben die Eisenbahnverbindungen der Stadt lange Zeit
ungenügend. Die Hauptgründe für den
verhältnismäßigen Rückgang im Vergleich zu den
glänzenden Zeiten im 16. und 17. und der bescheideneren, aber immer noch
bedeutenden Stellung im 18. Jahrhundert waren die Nähe der das
natürliche Hinterland Danzigs durchschneidenden russischen Grenze und
der zunehmende Übergang des Welthandels auf die Dampfschiffahrt und
auf die Ozeane. Trotzdem konnte die Stadt, namentlich während des letzten
Menschenalters, bis zu einem gewissen Grade an dem zunehmenden
wirtschaftlichen Aufschwung Gesamtdeutschlands teilnehmen. Abgesehen von
ihrem Seehandel wurde sie ein bedeutender Platz für Industrie und
Schiffbau. Mit dem für Deutschland unglücklichen Ausgang des
Weltkrieges wurde ihr und der ganzen Provinz Westpreußen die trennende
Lage zwischen dem wieder zu staatlicher Selbständigkeit gelangten Polen
und der Ostsee zum Verhängnis. Der Versailler Friede riß sie von
Deutschland los und brachte sie, zwar als "Freistaat", in dem aber doch Polen
Rechte gewinnt, die im ganzen wie im einzelnen ungünstiger für das
deutsche Gemeinwesen sind als in der Zeit von
1454 - 1792, in ganz neue Verhältnisse.
Am 10. Januar 1920 trat das Friedensdiktat für Danzig in Kraft. Einen
Monat später übernahm ein Vertreter der Siegermächte die
Verwaltung, und am 15. November erfolgte die endgültige Konstituierung
des Freistaates oder der "Freien Stadt Danzig", in einem Umfang von
1914 qkm mit rund 330 000 Einwohnern, davon 315 000 mit
ausschließlich deutscher Muttersprache. Das Landgebiet von
Danzig umfaßt dabei in der Hauptsache das
[60b]
Hof Heidebrecht in Marienau, Danziger Niederung.
[60b]
Haus Jäger in Prinzlaff, Danziger Niederung.
|
Weichsel-Nogat-Delta und ein Stück des im Westen angrenzenden
Tieflandes. Über dessen Gewinnung und Kultivierung
muß hier noch ein Wort gesagt werden, weil es sich dabei um ein
großes deutsches Werk handelt. Das Stromdelta war in
früheren Jahrhunderten nur teilweise bewohnbar. Die Gewässer des
Frischen Haffs dehnten sich viel weiter nach Westen als heute und sind erst
allmählich durch große Eindeichungsarbeiten
zurückgedrängt worden. Das meiste davon ist etwa seit dem Jahre
1300, also während der Ordenszeit, geschehen. Der Orden zog Einwanderer
aus allen Gebieten Deutschlands heran, gründete zahlreiche Dörfer
und schuf dadurch schon im Mittelalter an dieser Stelle [49] ein landwirtschaftlich
höchst leistungsfähiges Kulturgebiet. Man kann noch heute aus den
zum Teil sehr schönen und interessanten Haustypen in den
Niederungsdörfern die ursprüngliche Herkunft der Kolonisten hier
aus Ober-, dort aus Niederdeutschland erkennen. Auch Mischtypen haben sich
natürlich gebildet. Alle Siedlungen aber zeigen durch ihre Anlage
und durch ihre Bauweise ihren ganz und gar deutschen Charakter. Im
Weichsel-Nogal-Delta ist seit 700 Jahren überhaupt kein Stück
Kulturarbeit geleistet, kein Deich gebaut, kein Dorf angelegt, kein Pflug
geführt, keine Sense und keine Axt geschwungen worden, außer
durch deutsche Hände. Wenn es an irgendeiner Stelle ein Bruch der
Vorabmachungen über den Frieden und in nationaler Hinsicht ein
Verbrechen war, ein Stück vom Körper Deutschlands abzutrennen,
so war es hier der Fall. Zwischen der Stadt Danzig und dem Danziger Landgebiet
gibt es in dieser Beziehung keinen Unterschied.
[76a]
Danzig, Wohnung des "Hohen Kommissars".
|
In Danzig hat ein Kommissar des Völkerbundes mit dem Titel eines
"Hohen Kommissars" seinen Sitz, um Streitigkeiten
zwischen Danzig und Polen zu schlichten. Mit der Verwaltung hat er
nichts zu tun. Bis vor kurzem war es ein Engländer; gegenwärtig
(1926) ist es ein Holländer. Die Führung der auswärtigen
Angelegenheiten Danzigs, einschließlich seiner Vertretung und des
Schutzes seiner Staatsangehörigen im Ausland, ist an Polen
übertragen. Polen darf aber hierbei nur nach den Wünschen Danzigs
handeln. Eine bestimmte Politik darf es der Freien Stadt nicht aufzwingen. Ferner
hat Polen einige wichtige wirtschaftliche Rechte in bezug auf die Verwaltung des
Eisenbahnnetzes; an der Leitung, Verwaltung und Ausnützung des Hafens,
der Wasserwege und der gesamten den Zwecken des Hafens dienenden
Schienenwege ist es mitbeteiligt; es ist vertreten in dem "Ausschuß
für den Hafen und die Wasserwege in Danzig", der sich aus fünf
Danzigern, fünf Polen und einem vom Völkerbund ernannten
Präsidenten zusammensetzt; es besitzt eine Freizone im Danziger Hafen;
aus dem Eigentum des Deutschen Reiches und Preußens sind ihm
bestimmte Besitzungen zugefallen.
Polen verfolgt gegenüber Danzig die klare und von polnischer Seite nicht
nur eingestandene, sondern betonte und unterstrichene Politik, die Danziger
Freiheit immer mehr zu beschränken, auf Danziger Gebiet immer mehr
polnische Rechte zu usurpieren und den Freistaat zuletzt in Polen einzuverleiben.
Dies polnische Bestreben hat vom Tage der Losreißung Danzigs vom
Deutschen Reiche an eine fast ununterbrochene Reihe von Konflikten
hervorgerufen, die alle nach dem Schema verliefen: Polnischer Angriff, Danziger
Verteidigung, Anrufung des Völkerbundes,
Völkerbundsentscheidung meist zuungunsten Danzigs. Auf die
Einzelheiten einzugehen würde zu weit führen. Erinnert sei vor allen
Dingen an den Konflikt wegen der polnischen Briefkästen,
der vom Völkerbund entgegen jeder vernünftigen Auffassung des
Begriffes "Hafengebiet" im polnischen Sinne entschieden wurde, und an das vom
[76a]
Danzig, Bau des polnischen Munitionshafens auf der Westerplatte.
|
Völkerbund gleichfalls genehmigte, mit dem Danziger Statut in
Wider- [50] spruch stehende
Ansinnen Polens, im Danziger Hafengebiet, auf der für den Zweck zu
enteignenden Westerplatte, einen Munitionshafen anzulegen und eine militärische
Besatzung zu halten. Die polnische These heißt: Danzig steht
unter polnischem Protektorat. Zur Zeit des Postkonflikts äußerte sich
hierüber der damalige polnische Minister des Auswärtigen,
Skrzynski, folgendermaßen:
"Ich kann nicht umhin, auf die
tatsächliche Quelle der beständigen Differenzen hinzuweisen, die das
Zusammenleben zwischen Polen und der Freien Stadt Danzig führt. Sie
besteht in dem schlechten Willen des Senats, die tatsächliche Lage Danzigs
zu begreifen, dieser Freien Stadt, die sich unter dem Protektorat Polens und
dem Schutz des Völkerbundes befindet."
Dieser Anspruch Polens, Danzig unter seinem Protektorat, das heißt in einer
staatsrechtlich begründeten Abhängigkeit zu haben, widerspricht
dem vertraglichen Zustande. Der Vertrag
von Versailles enthält kein Wort
über ein polnisches Protektorat. Sein Artikel 102 lautet:
"Die alliierten und assoziierten
Mächte verpflichten sich, die Stadt Danzig und das in Artikel 100
bezeichnete Gebiet als Freie Stadt zu erklären. Sie wird unter den Schutz
des Völkerbundes gestellt werden."
Hier ist also zwar von einem Schutz des Völkerbundes die Rede, aber
keineswegs von einem polnischen Protektorat. Es gibt auch sonst keinen einzigen
Artikel des Versailler Vertrages, oder irgendeine andere Danzig betreffende
internationale Abmachung, in der Polen einen Paragraphen finden könnte,
der ihm ein Protektoratsrecht über Danzig zuspräche. Ferner lautet
Artikel 1 der unter Mitwirkung des Völkerbundes geschaffenen und von
ihm garantierten Verfassung: "Die Stadt Danzig und das mit ihr verbundene
Gebiet bilden unter der Benennung »Freie Stadt Danzig« einen
»Freistaat«."
Am Ende des Weltkrieges verlangte Polen allerdings nicht nur den sogenannten
Korridor für sich, sondern auch Danzig mit der
Begründung,
daß es den freien Zugang zum Meere in einem bereits ausgebauten Hafen
brauche. Dieser Anspruch wurde weder vom Völkerbund noch von der
Botschafterkonferenz zugestanden, da an dem durchaus deutschen Charakter
Danzigs kein Zweifel möglich war.
Die
Mantelnote der alliierten und assoziierten Mächte an den
Präsidenten der deutschen Delegation vom 16. Juni 1919 sagt
ausdrücklich: "Die Stadt Danzig soll die Verfassung einer Freien Stadt
erhalten. Ihre Einwohner sollen autonom sein, sie sollen nicht unter die Herrschaft
Polens kommen und sollen keinen Teil des polnischen Staates bilden."
In dem auf Grund des Artikels 104 des Vertrags von Versailles zwischen Danzig
und Polen abgeschlossenen Pariser Vertrage vom 9. November 1920 findet sich
nicht die leiseste Erwähnung eines polnischen Protektorats. Trotzdem hat
der polnische [51] Minister des
Auswärtigen behauptet: das Protektorat Polens ist selbstverständlich,
um für Polen den Zugang zum Meere über Danzig zu sichern und
Polen von dem Danziger Belieben unabhängig zu machen.
Auch sonst sind seitens polnischer amtlicher Stellen verschiedentlich
ähnliche Worte gegen Danzig gebraucht worden.
Demgegenüber hat der Völkerbundskommissar in einer
Entscheidung vom 7. November 1924 wörtlich erklärt:
"Der Grund, weswegen die Freie Stadt
Danzig als ein Staat anerkannt und folglich auch als ein kleiner Staat behandelt zu
werden wünscht, ist der, daß Danzig als ein kleines, schwaches und
eingeschlossenes Gebilde eine Gefahr darin sieht, auf irgendein Recht zu
verzichten, das es in legaler Weise beanspruchen kann. Es ist zu bedauern,
daß die polnische Regierung die entsprechende Anerkennung und
Behandlung Danzigs verweigert. Dieses Recht findet sich in den präzisen
Bestimmungen des Vertrages von Versailles, und man sollte nicht glauben,
daß ein großer Staat wie Polen darunter leiden könne...
Wenn ein Staat ein freier Staat ist wie Danzig, so ist er
vor allen Dingen ein Staat, und wenn auch die »Freie Stadt Danzig«
sich nicht »Freistaat Danzig « nennen kann, da sie eine andere
Bezeichnung erhalten hat, eben nämlich »Freie Stadt
Danzig«, so kann sie doch verlangen, daß der Charakter, mit dem sie
bei ihrer Schöpfung ausgestattet wurde, anerkannt wird. Ich weiß
nicht, welch ein anderes Wort angewendet werden könnte, um die Natur der
Freien Stadt zu bezeichnen, als das Wort: »Staat«...
Danzig ist ein Staat im internationalen Sinne des Wortes
und mit dem Recht, diejenigen Ausdrücke zu gebrauchen, die diese
Tatsache erkennen lassen."
[60a]
Präsident [des Danziger Senats] Sahm.
|
Wenn also von polnischer Seite sowohl bei offiziellen Gelegenheiten, als auch an
anderen Stellen, in mehr oder minder gewaltsamem Ton, die These von einem
polnischen Protektorat über Danzig aufrechterhalten wird und jede
Maßregel des Danziger Senats zur Verteidigung der gesetzlichen Rechte der
Stadt als "Unbotmäßigkeit gegen den polnischen Staat" bezeichnet
wird, so bedeutet das einen Widerspruch gegen den gesetzlichen Zustand.
Mit einer einzigen Ausnahme, der sozialdemokratischen Zeitung Robotnik
(Der Arbeiter), hat sich die
polnische Presse in einer unausgesetzten Flut von
Drohungen und Beschimpfungen gegen Danzig und die Danziger ergangen. Der
Widerstand der freien Stadt gegen die Zumutung, sie habe die polnische
"Souveränität" anzuerkennen, wird als Unverschämtheit,
Perfidie, Lüge usw. bezeichnet. Vor und nach dem Postkonflikt wiederholte sich die ständige
Drohung, man werde Danzig schon aushungern. Danzig sei nichts weiter als der
Hafen der Republik Polen. Es wurde gedroht mit dem Beispiel von Wilna und
Memel - wo Polen und Litauen sich auch mit Waffengewalt über den
Rechtszustand hinwegsetzten und die Gebiete einfach okkupierten und
annektierten. Allerdings hat in jüngster Zeit der allgemeine Niedergang der
inneren Zustände Polens die polnische Presse dazu gebracht, ihre
Aufmerksamkeit und ihre Angriffe weniger auf Danzig als auf die eigenen
Angelegenheiten zu konzentrieren.
[52] Die eigentümliche
politische Stellung Danzigs als "freier", aber in eine gewisse
Zwangsverkoppelung mit Polen gebrachter Staat war das Ergebnis eines
mehrfachen Kompromisses zwischen den beteiligten Mächten. Es wird
behauptet, daß unter der polnischen Delegation zu den Verhandlungen
über den Frieden von Versailles einige Stimmen, darunter die des
späteren Marschalls Pilsudski, dafür gewesen seien, sowohl auf den
sogenannten
Korridor als auch auf die Lostrennung Danzigs von Deutschland zu
verzichten und sich mit einer umfassenden Sicherung der polnischen Rechte auf
die Benutzung der Weichsel zu begnügen. Diese gemäßigten
Stimmen drangen jedoch nicht durch. Sowohl der Mehrheit der polnischen
Delegierten als auch namentlich den Franzosen kam es darauf an, Deutschland zu
schwächen und Polen zu stärken. Daß Danzig nicht zu dem
Zweck unmittelbar an Polen gegeben wurde, lag hauptsächlich an dem
entschiedenen Widerstand Englands, das keinen Hafen an der Ostsee von der
Bedeutung Danzigs in polnischem, d. h. indirekt in französischem
Besitz zu sehen wünschte.
Es verstand sich von selbst, daß die Bestimmung, durch die Danzig von
Deutschland losgerissen und in ein bestimmtes Verhältnis zu Polen gesetzt
wurde, keine machtpolitische, sondern eine wirtschaftliche Begründung
erhielt. Es wurde dargelegt, daß die "wirtschaftlichen Interessen Polens und
Danzigs identisch" seien, daß Danzig "das reale Bedürfnis
fühle, seine Beziehungen zu Polen möglichst innig zu gestalten",
daß die
wirtschaftlichen Verhältnisse Polens "einen freien und
sicheren Zugang zum Meere" erforderten usw. Der Völkerbund,
unter dessen "Schutz" der Danziger Freistaat ja gestellt wurde, gab sich den
Anschein, als ob ihm vor allen Dingen an der wirtschaftlichen Wohlfahrt Danzigs
und Polens gelegen sei.
Die Bestimmungen über die wirtschaftliche Verknüpfung zwischen
Danzig und Polen, insbesondere über die polnischen Rechte im Danziger
Hafen, die vom Völkerbunde erlassen wurden, traten erst Anfang 1922 in
Kraft. Es fragt sich, ob im Laufe dieser Zeit tatsächlich Wirkungen zum
Wohle Danzigs und zum Wohle Polens eingetreten sind. Auf den ersten Blick
könnte es so scheinen, denn eine Tabelle über den Schiffsverkehr im
Danziger Hafen während der beiden letzten Vorkriegsjahre 1912 und 1913
zeigt im Vergleich zu den vier Jahren von
1922 - 1925 eine bedeutende Zunahme. Das Bild ist folgendes:
Jahr |
Eingang |
Ausgang |
Zahl der
Schiffe |
Netto-
Registertonnen |
Zahl der
Schiffe |
Netto-
Registertonnen |
1912 |
2992 |
970 653 |
2974 |
993 152 |
1913 |
2854 |
918 097 |
2836 |
931 509 |
1922 |
2712 |
1 423 129 |
2697 |
1 428 820 |
1923 |
2913 |
1 731 747 |
2873 |
1 710 433 |
1924 |
3312 |
1 634 970 |
3330 |
1 648 050 |
1925 |
3986 |
1 869 979 |
3958 |
1 864 182 |
[53] Daraus folgt, daß
der Tonnengehalt der in Danzig
aus- und eingehenden Schiffe gegenüber der Zeit unmittelbar vor dem
Kriege sich verdoppelt hat. Scheinbar ist das ein großer Aufschwung. Das
Bild erhält aber einen befremdlichen Zug schon dadurch, daß im
Jahre 1912 rund 3000 Schiffe mit einem Gewicht von rund einer Million
Netto-Registertonnen über eine Million Gewichtstonnen Waren nach
Danzig hereingebracht haben, während im Jahre 1925 rund 4000 Schiffe
mit beinahe 2 Millionen Registertonnen Gehalt noch nicht 700 000
Gewichtstonnen Ware nach Danzig brachten. Auf die einzelne
Netto-Registertonne berechnet, haben die im Jahre 1925 eingegangenen Schiffe
nur ein Viertel des Warengewichts nach Danzig gebracht, das im Jahre 1912 auf
die Registertonne entfiel. Woraus erklärt sich das? Aus der in den letzten
Jahren ständig wachsenden Differenz zwischen der Höhe der Einfuhr
und der Höhe der Ausfuhr im Danziger Hafen. Die Danziger
Wirtschaftszeitung, die zugleich die Mitteilungen der Danziger
Handelskammer enthält, bemerkt hierzu (Nr. 17, vom 30. April 1926):
"Während die Statistik des
Schiffsverkehrs mithin zunächst auf eine für den Danziger Hafen
günstige Entwicklung hinzudeuten scheint, ergibt die Entwicklung der
Wareneinfuhr das für einen Hafen äußerst bedenkliche Bild,
daß von Jahr zu Jahr die einlaufenden Schiffe immer weniger Fracht nach
Danzig bringen. Da diese Tatsache ungünstige Auswirkungen auf die
Höhe der Schiffsfrachten im Warenverkehr mit dem Danziger Hafen hat
und hierdurch die Konkurrenzfähigkeit Danzigs mit seinen
Nachbarhäfen bedroht wird, muß die in den letzten Jahren
eingetretene Zerstörung des in der Vorkriegszeit zwischen
Ein- und Ausfuhr vorhandenen Gleichgewichts als eine für Danzig
ungünstige und äußerst gefährliche
Entwicklung bezeichnet werden.
Die Entwicklung des Warenumschlages und sein
Verhältnis zur Vorkriegszeit geht aus folgenden Zahlen hervor:
Jahr |
Import |
Export |
1912 |
1 141 455 |
1 311 757 |
1913 |
1 233 630 |
878 471 |
1922 |
466 287 |
504 411 |
1923 |
654 929 |
1 062 863 |
1924 |
738 071 |
1 636 485 |
1925 |
690 779 |
2 031 969 |
Die Zahlen zeigen, daß der Import allmählich
bis auf die Hälfte des Vorkriegsimports zurückzugehen droht,
während der Export sich gegenüber dem der letzten Vorkriegsjahre
etwa verdoppelt hat."
Die ungünstigen Züge des Bildes, das die Entwicklung des Danziger
Warenverkehrs bei näherer Betrachtung uns zeigt, verstärken sich
noch, wenn man den Verkehr nach der Gattung der verschiedenen Wahren
betrachtet. Im Jahre 1912 betrug die Ausfuhr von Holz, dem Gewichte nach, noch
nicht ein Viertel der über Danzig gehenden Gesamtausfuhr. In den letzten
Jahren dagegen machte das Holz bis zu zwei Dritteln der Gesamtmenge aus. Die
Ausfuhr von Holz und Holzwaren [54] aus Polen in diesem
Umfange wurde erzwungen erstens durch große Kahlschläge infolge
von Eulenfraß in den polnischen Forsten, zweitens durch das zwischen
Polen und Litauen bestehende schlechte Verhältnis, wodurch die
früher großenteils über Memel geleitete Holzausfuhr zur Zeit
fast ganz über Danzig geleitet wird, drittens durch die Bemühungen
der polnischen Regierung, um jeden Preis eine möglichst günstige
Zahlungsbilanz im Verkehr Polens mit dem Auslande aufrechtzuerhalten.
Für das Jahr 1925 entfällt überdies die Ausfuhrsteigerung auf
die um etwa 580 000 t erhöhte Kohlenausfuhr, die darauf
zurückzuführen ist, daß infolge des Zollkrieges mit
Deutschland die polnische Kohle künstlich auf den Weg über Danzig
gepreßt wurde. Sieht man von den besonderen und vorübergehenden
Konjunkturerscheinungen der Holz- und Kohlenausfuhr ab, so zeigt sich,
daß der Danziger Außenhandel nach der Zollunion mit Polen um ein
volles Drittel zurückgegangen ist und sogar unter den besonderen
Verhältnissen des Jahres 1925 noch nicht die Höhe des
Vorkriegsumschlages erreicht hat. In Chemikalien z. B. ist der
Warenverkehr im Jahre 1925 um zwei Drittel hinter der Vorkriegszeit
zurückgeblieben; an Zucker betrug der Umschlag in Danzig im Jahre 1912
über 430 000 t, im Jahre 1925 noch nicht 123 000; an
Getreide im Jahre 1912 mehr als 400 000 t, im Jahre 1925 weniger
als 200 000 t usw.
Soviel über die Folgen der wirtschaftlichen Zwangsverbindung für
Danzig selbst. Auch Danzigs Anteil am polnischen Außenhandel
gewährt keineswegs den Anblick, den man versucht sein sollte nach den
Erklärungen von Völkerbundsseite zu erwarten. Es finden sich
darüber in einem Artikel von Dr. Harder im Hamburger
Wirtschaftsdienst (2. April 1926) die folgenden beachtenswerten
Zusammenstellungen. Der Verfasser geht davon aus, daß Danzigs
"vielbesprochenes und vielversprechendes Hinterland", geographisch betrachtet,
zwar bis an die Karpathen und bis an den Dnjestr reichen soll, der Handel Danzigs
aber trotzdem, wie wir eben gesehen haben, zurückgegangen ist. Es sei
daher die Frage zu stellen, welche Bedeutung Danzig für den Handel
Polens, das der Ausdehnung nach der sechste Staat in Europa ist,
tatsächlich besitzt. Harder bemerkt eingangs, daß der polnische
Außenhandel in den "Gründerjahren" des neuen Staates, 1920/21,
für den Vergleich ohne Beweiskraft sei, und fährt dann fort:
Warenverkehr Polens (in t): |
Jahr |
Gesamt-
einfuhr |
davon über
Danzig |
in % |
|
Jahr |
Gesamt-
ausfuhr |
davon über
Danzig |
in % |
1920 |
3 529 800 |
1 872 458 |
53,0 |
1920 |
620 300 |
265 043 |
42,7 |
1921 |
4 845 046 |
1 322 428 |
27,2 |
1921 |
2 028 044 |
384 137 |
19,0 |
1922 |
4 125 922 |
446 286 |
11,3 |
1922 |
9 141 597 |
505 466 |
5,5 |
1923 |
3 194 207 |
654 929 |
20,5 |
1923 |
17 647 758 |
1 062 864 |
6,0 |
1924 |
2 413 508 |
738 072 |
30,5 |
1924 |
15 739 829 |
1 636 485 |
10,4 |
[55] "Der
Menge nach übersteigt die polnische Ausfuhr beträchtlich die
Einfuhr, im Verkehr über Danzig ist der mengenmäßige
Ausfuhrüberschuß relativ gering. Der wertmäßige Anteil
Danzigs am polnischen Außenhandel läßt sich leider nicht
erfassen. Wir wissen aber, daß die polnische Handelsbilanz und auch die
für Danzig aufgestellte Bilanz seines Gesamthandels passiv sind.
Außer Danzig kommen für den
seemäßigen Warenverkehr mit Polen die deutschen Häfen an
Nord- und Ostsee sowie Triest am Mittelländischen Meer und Constanza
am Schwarzen Meer in Betracht. Für den Verkehr über Constanza
sind zahlenmäßige Angaben nicht zu ermitteln. Da jedoch schon der
Umschlag in Triest von und nach Polen überaus gering ist, wird der
Verkehr über Constanza überhaupt nicht in Rechnung zu ziehen sein.
Für die Güterbewegung über deutsche Häfen liegt eine
Eisenbahnstatistik zugrunde. Die Transporte auf Binnenschiffahrtswegen,
besonders etwa auf der Oder, sind also vernachlässigt worden. Sie
würden jedoch schwerlich erheblich ins Gewicht fallen.
Der Warenverkehr mit Polen über die
verschiedenen Häfen (in % der Gesamtziffern) sieht so aus:
Einfuhr |
Jahr |
über
Danzig
% |
deutsche Häfen
% |
Triest
% |
Zusammen
% |
1920 |
53,0 |
0,56 |
? |
53,56 |
1921 |
27,2 |
0,26 |
? |
27,46 |
1922 |
11,3 |
20,07 |
? |
31,37 |
1923 |
20,5 |
16,20 |
0,09 |
36,79 |
1924 |
30,5 |
15,80 |
0,9 |
47,20 |
Ausfuhr |
Jahr |
über
Danzig
% |
deutsche Häfen
% |
Triest
% |
Zusammen
% |
1920 |
42,7 |
2,8 |
? |
45,5 |
1921 |
19,0 |
0,4 |
? |
19,4 |
1922 |
5,5 |
0,2 |
? |
5,7 |
1923 |
6,0 |
1,8 |
— |
7,8 |
1924 |
10,4 |
1,01 |
— |
11,41 |
Die vorstehende Aufstellung zeigt, daß in den
Jahren 1922/24 zwischen 68 und 54% der polnischen Einfuhr (die dem Werte
nach jedoch die Ausfuhr erheblich übersteigt) nicht den Seeweg, sondern
den Landweg wählten. In der Ausfuhr aber gehen gar 94 bis 86%
über die Landgrenze. Für Polen ist also der Handel mit seinen
Nachbarländern, insbesondere mit Deutschland, von erheblich
größerer Bedeutung als mit überseeischen oder
westeuropäischen Staaten.
Es kommt hinzu, daß der Wert des polnischen
Außenhandels in einem Jahre nur etwa so groß ist wie der Wert des
deutschen Außenhandels in einem Monat. Polens Anteil am
Gesamtorganismus der Weltwirtschaft ist also minimal.
[56] In
nächster Nähe Danzigs ist der polnische Staat bemüht, einen
Konkurrenzhafen zu entwickeln. Der ursprünglich nur für
Kriegszwecke gedachte Hafen von Gdingen weist zwar in bezug auf seine
natürliche Beschaffenheit gegenüber dem an der
Weichselmündung gelegenen deutscher Hafen beträchtliche
Nachteile auf... Noch hat der Seeverkehr über Gdingen nicht 1% von
demjenigen über Danzig erreicht. Aber man fragt sich doch nach dem Sinn
des Gdingener Projekts. Entwickelt Polen mit französischer Hilfe den
Hafen wie beabsichtigt, so begibt es sich seines jetzt erhobenen, aber durch die
Tatsachen nicht anerkannten Anspruchs auf Danzig. Wozu dann aber dieses
Aufgebot von List und Kampfeseifer um Danzig?
Unzweifelhaft erfüllt Danzig für Polen eine
wirtschaftliche Funktion. Aber ihre Bedeutung ist selbst für Polen
mäßig, für die Weltwirtschaft aber gering. Es ist der Wirtschaft
Polens der Beweis für die Notwendigkeit der heutigen rechtlichen
Verbundenheit nicht geglückt, der Beweis für die
»Lebensnotwendigkeit« des Besitzes Danzigs als Hafenstadt aber
endgültig mißlungen. Polens Ansprüche auf Danzig erweisen
sich wirtschaftlich als ein Phantom, als eine gewaltsam aufrecht erhaltene Fiktion
um politischer Aspirationen willen. Ein eventuell international zu garantierender
Handelsvertrag, der Polen in Danzig eine Freihafenzone und den ungehinderten
Zugang sichert, würde Polen wirtschaftlich zu mindest die gleichen Dienste
leisten. Eine solche Lösung würde aber für Polen, Danzig und
Deutschland, wie auch für Europa den durch keine andere Lösung zu
überbietenden Vorteil haben, daß der so schwerfällig
arbeitende Apparat zur Verwaltung des Danziger Hafens und zum Schutze der
Freien Stadt in Wegfall käme, und damit ein gut Teil Reibungsfläche
zwischen Deutschland und Polen verschwände."
Diesen Ausführungen ist Wort für Wort beizutreten. Nicht nur Polen,
sondern auch andere Staaten von wirtschaftlicher Bedeutung und internationalem
Ansehen, wie die Schweiz, Ungarn, die Tschechoslowakei, sind
Binnenländer ohne den Besitz eines eigenen Hafens. Internationale
Abmachungen über das Benutzungsrecht von Eisenbahnen und
Wasserstrecken reichen in solchen Fällen aus, um alle wirtschaftlichen
Bedürfnisse zu befriedigen, vorausgesetzt, daß es sich in der Tat um
Wirtschafts- und nicht um Machtpolitik handelt. Polen hat auf Danzig weder
ethnographische, noch geschichtliche, noch wirtschaftliche Ansprüche. Es
hat keine ethnographischen, weil im Danziger Gebiet niemals eine polnische
Bevölkerung gewohnt hat. Es hat keine geschichtlichen, weil Danzig von
seiner Gründung bis auf den heutigen Tag nie etwas anderes gewesen ist,
als eine von Deutschen gegründete und zur Blüte gebrachte Stadt. Es
hat keine wirtschaftlichen, weil alle legitimen polnischen Bedürfnisse
ebensogut befriedigt werden können, wenn ein international garantiertes
Verkehrsabkommen geschlossen wird, als wenn Danzig von Deutschland getrennt
und zu stetem Kampf gegen unberechtigte polnische Ansprüche gezwungen
wird.
|