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Bd. 3: Die grenz- und volkspolitischen Folgen
des Friedensschlusses

I. Gegnerische Gebietsforderungen und ihre Vorgeschichte   (Teil 5)

5) Die Litauer

Dr. Erich Rhön
Königsberg i. Pr.

Scriptorium merkt an:
Ein Buch zu den Gebiets- und Bevölkerungsverlusten des Deutschen Reiches und Deutsch-Österreichs nach dem Jahre 1918 finden Sie hier!
Während unsere großen Gegner mit fest umrissenen territorialen Forderungen in den Krieg zogen, konnten die kleinen unterdrückten Nationen, die im Laufe des Krieges auf Grund von Versprechungen der kriegführenden Parteien auf ihre politische Freiheit hofften, erst am Ende des Krieges ihre territorialen Wünsche bei den auf einer späteren Friedenskonferenz vertretenen Mächten propagieren. 1914 trat die litauische Jungmannschaft schweigend für den zaristischen Unterdrücker ins Gewehr. Im Sommer 1915 wird Litauen von den Russen geräumt und von den siegreichen deutschen Truppen besetzt. Der Reichskanzler sprach in der Reichstagsrede vom 5. April 1916 davon, daß Deutschland die von ihm befreiten Länder nicht wieder freiwillig an Rußland zurückgeben werde. Die Ententevertreter betonten das Prinzip der Nationalitäten, ja Rußland verkündete, als kein litauisches Dorf mehr in seiner Hand war, eine litauische Autonomie und betraute einige geflüchtete Litauer mit der Ausarbeitung einer litauischen Verfassung. Deutschland, die Entente und sogar Rußland, der der Freiheit der kleinen Nationen am meisten widersprechende Bundesgenosse der Entente cordiale, hatten Litauen staatliche Freiheit zugesagt. Wem von den großen Mächten nun auch der Sieg zufallen mochte, Litauen konnte hoffen, nach langer Knechtschaft die politische Freiheit zu erlangen und somit beginnen, seine territorialen Forderungen aller Welt kundzutun. A. Smetona, der Präsident des auf Anregung der deutschen Besatzungsbehörde gewählten litauischen Landesrats, sagte in einem Vortrag vor einer Versammlung deutscher Politiker im Hotel Adlon zu Berlin am 13. November 1917: "Wir Litauer sagen uns vom historischen Litauen los und fordern hierfür nur das Territorium, welches vom litauischen Stamm bewohnt wird. Wir befolgen das ethnographische Prinzip." Die Grenzen dieses ethnographischen Litauen propagierte in Deutschland der litauische Landesrat, der in Anlehnung an Deutschland seine Wünsche durchzusetzen suchte, im Ausland die litauische Vertretung an der Union des Nationalités in Lausanne, deren litauischer Mitbegründer und Leiter Jan Gabrys im Sinne der Entente gegen [61] Deutschland Propaganda trieb. Trotz der Verschiedenheit beider Richtungen stellten sie doch die gleichen territorialen Grundforderungen auf. Am 24. März 1919 legte die litauische Delegation auf der Friedenskonferenz unter dem Vorsitz von Woldemaras ihre Wünsche schriftlich dar: "Das unabhängige Litauen soll die litauischen Teile von Wilna, Kowno, Grodno und Suwalki, ferner die litauischen Gebiete Kurlands und Ostpreußens umfassen, ein Gebiet von 125 000 qkm (heute 52 000) mit einer Bevölkerung von 6 Millionen Einwohnern (heute 2,2 Mill.). Das Gebiet umfaßt wenige Distrikte, die von Weißrussen bewohnt sind, die ihren Wunsch kundgeben, mit Litauen vereinigt zu bleiben und dieses als einen freien und unabhängigen Staat gebildet zu sehen." Die Erklärung enthält zugleich eine scharfe Abweisung Polens:

      "Bevor Polen seine volle Freiheit wiedererlangt hat, zeigt das in Bildung begriffene neue Polen hinsichtlich Litauens wie seiner anderen Nachbarn aggressive Tendenzen. Wenn diese Politik Wirklichkeit würde, so würden daraus Schwierigkeiten entstehen, die geeignet seien, für das eine oder andere Land zu einer Katastrophe zu führen. Aus den oben erwähnten Gründen ist es notwendig, hinzuzufügen, daß eine politische Kombination, sei es mit Rußland, sei es mit Polen, ein ernstes Hindernis bilden würde, einen der heißesten Wünsche der litauischen Nation zu verwirklichen, nämlich die Vereinigung der beiden Teile Litauens, des russischen und des preußischen Teiles. Dieser letztere Teil ist wegen seines Zugangs zum Meere von sehr großer Bedeutung in den Augen der litauischen Nation. Die Litauer Preußens haben fest beschlossen, sich von Deutschland zu trennen und sich einem unabhängigen Litauen anzuschließen und würden niemals einwilligen, ein Teil eines gegen seinen Willen mit Rußland oder Polen vereinigten litauischen Staates zu werden."

Auf die Berechtigung dieser Forderungen sind die einzelnen Gebiete zu prüfen.

Das lettische und das litauische Volksgebiet sind ziemlich klar gegeneinander abgegrenzt. Minderheiten bestehen auf beiden Seiten der Sprachgrenze, doch bilden sie immer nur einen ganz verschwindenden Teil des Mehrheitsvolks, so daß keine strittigen Gebiete vorhanden sind.

Litauische Ansprüche auf deutsches Gebiet tauchen zuerst auf, als Rußland im ersten Ansturm Ostpreußen zu überrennen drohte und litauische Amerikaner in der Schweiz die litauische Autonomie und die Herausgabe ostpreußischer Teile an Litauen forderten. Es darf hier nicht unerwähnt bleiben, daß in der Zeit der schwersten Bedrückung ein großer Teil des litauischen Volkes vor dem Kriege nach den Vereinigten Staaten von Amerika auswanderte; beinahe ein Drittel aller Litauer, d. h. ungefähr 800 000, leben in Amerika und haben es dort in freier Entwicklungsmöglichkeit zu einer beachtlichen [62] wirtschaftlichen und kulturellen Blüte gebracht, so daß sie ihrer alten Heimat im Kampf um die Freiheit wesentliche Dienste leisten konnten. Dem Einfluß amerikanischer Litauer ist es auch zu danken, daß Dmowskis Verschleierungsversuche mißglückten, der eine litauische Frage überhaupt leugnen wollte. Auch heute spielen die Geldsendungen amerikanischer Litauer in der litauischen Wirtschaft eine große Rolle. Damals entstand der Traum von einer Vereinigung Litauens, Kurlands und Ostpreußens zu einem neuen Reich; doch diese Utopien verschwanden schnell, als die Ereignisse ihre Durchführbarkeit unmöglich machten. Während des Krieges sind von den gegen Deutschland eingestellten litauischen Propagandastellen mit Rücksicht auf die in deutscher Hand befindliche Heimat keine territorialen Forderungen auf bestimmte deutsche Gebiete erhoben worden. Trotzdem verstanden diese Stellen unter einem ethnographischen Litauen fraglos ein Litauen einschließlich des Memelgebietes. Nach Kriegsausgang wurden auf der Friedenskonferenz, wiederum von Seiten amerikanischer Litauer, die oben erwähnten Forderungen auf ostpreußische Gebietsteile erhoben, die für die Entente einen willkommenen Grund für die Abtretung des Memelgebietes bildeten. Wenn Dr. Gaigalat, Mitglied des preußischen Hauses der Abgeordneten, im Jahre 1917 als Grenze des ethnographischen Litauen gegen Deutschland eine Linie zieht, durch die er den größten Teil Ostpreußens rechts des Pregels Litauen zuspricht, so entspricht das nicht den Tatsachen. Gaigalat hat durch seine nach dem Kriege im Osten sprichwörtlich gewordene Deutschfeindlichkeit den Glauben an die Objektivität dieser seiner Darstellung nicht vermehrt. In diesem Zusammenhang ist es interessant zu lesen, was der vor dem Krieg in Paris lebende, ausgesprochen frankophile J. Gabrys in einer Abhandlung La Nation Lithuanienne (1911) sagt:

      "Die Litauer in Preußen, viel weniger zahlreich als in Rußland, wurden immer von den preußischen Königen gefördert. Ihre Sprache und ihre Sitten wurden nicht nur geachtet, sondern mit Nachdruck begünstigt. An der Universität Königsberg gründete man einen Lehrstuhl für litauische Sprache und Literatur und dazu wurde ein Freitisch für Litauer errichtet. Die litauische Sprache wurde in den Befehlen gebraucht, die die Litauer angehen. Preußisch-Litauen genoß keine vollkommene Autonomie, aber es hatte Privilegien, die es ihm erlaubten, sich nach seiner nationalen Eigenart frei zu entwickeln."

Daß später nach dem Verlust Wilnas Litauen nach Memel greift und für Litauen ähnliche Schwierigkeiten entstehen, wie sie bei der Inbesitznahme Wilnas entstanden wären, ohne daß Memel gleich lebensnotwendig ist, kann hier nicht näher dargestellt werden. Memel wird an einer anderen Stelle dieses Buches behandelt.

Besonders schwierig aber war die Verteidigung der territorialen [63] Ansprüche Litauens gegen Polen. Denn die Polen erhoben territoriale Ansprüche auf ganz Litauen und wollten, selbst noch eines der Völker, die sich bei dem Anspruch auf politische Freiheit auf die "Freiheit der kleinen Nationen" beriefen, dieses Recht auf Selbständigkeit ihren Nachbarn streitig machen. Die Polen, selber noch im Kampfe um ihre Souveränität, leugneten rundweg das Bestehen einer litauischen Frage. Die Polen Litauens hatten sich im Mai 1917 in einer Eingabe an den deutschen Reichskanzler gewandt, in der sie ihre Wünsche darlegten. Unter Litauen verstanden sie dabei in ihrer Denkschrift den von Deutschland besetzten Teil der vier litauischen Gouvernements und suchten nachzuweisen, daß das gesamte Gebiet ein polnisch-litauisch-weißruthenisches Mischgebiet ist, in dem die Polen eine große Rolle spielen. "Keine der Völkerschaften", so heißt es da,

      "weist eine absolute Mehrheit auf und kann deshalb als ausschließliche Vertreterin des ganzen Landes oder auch nur eines seiner Teile angesehen werden, also haben auch die Litauer trotz ihres Namens kein größeres Recht auf Litauen als die Polen oder Weißruthenen. Als untrennbarer Teil des großen polnischen Volkes streben wir und werden stets bestrebt sein zur staatlichen Vereinigung mit Polen, mit dem unser Land das gleiche Schicksal geteilt hat, in Zeiten des Aufschwungs und Ruhmes, aber auch in Kampf und Knechtung. Dies unser billiges Verlangen steht keineswegs im Widerspruch der Lebensinteressen der anderen Völker dieses Landes, im Gegenteil, es stimmt mit ihnen in vorteilhaftester Weise überein durch die Errichtung eines gemeinsamen auf Grundlagen der Selbständigkeit der einzelnen Landesteile beruhenden Staates."

Die völlige Ungerechtigkeit dieser Forderung der polnischen Minderheit braucht hier nicht bewiesen zu werden. Man kann natürlich immer durch Einbeziehung fremder Gebiete die Mehrheit einer Nationalität zu einer Minderheit machen. Wenn Polen seine Träume hätte verwirklichen können, würde es auch ein Minderheitsvolk sein in "seinem" Staate. Diesen Forderungen Polens gegenüber ist eine litauische territoriale Forderung, von der auch von den Litauern zugestanden wird, daß sie über das ethnographisch unbestreitbare Gebiet Litauens hinausgeht, durchaus maßvoll: Wilna. Smetona sagt in der oben erwähnten Rede: "Unser Streben geht nach der Errichtung eines litauischen Staates mit der Hauptstadt Wilna, einer Stadt, auf welche wir nie verzichten werden." Die deutsche Politik sah sich durch die Stützung der Taryba Polen gegenüber in der Wilnafrage in ernste Schwierigkeiten verwickelt. Die Zentralmächte hatten ein vitales Interesse, Polen nicht ins Lager der Gegner zu treiben, nicht nur im Hinblick auf die schwierige Kriegslage, sondern auch auf die Nachkriegszeit. Nach der Einnahme der Stadt Wilna am 8. September 1915 hatte der kommandierende General Graf Pfeil am Schlusse [64] seines Aufrufes an die Einwohnerschaft von Wilna gesagt: "Wilna war immer eine Perle in dem ruhmreichen Königreich Polen!" Somit hatten wir eigentlich ausgesprochen, daß wir die Zugehörigkeit Wilnas zu Polen anerkennen. Um so mehr erregte es in Polen Befremden und Unwillen, daß wir später die litauischen Wünsche unterstützten. Die Polen beschwerten sich unter Berufung auf die Worte Pfeils über die Unduldsamkeit der Besatzungsbehörde im Oktober 1918: "unter der wir uns jetzt unglücklicher fühlen, als unter russischer Herrschaft". Dazu kam, daß uns die Schwierigkeiten nicht durch Dankbarkeit der litauischen Seite erleichtert wurden. Die Taryba schlug sich mit wachsendem Kriegsglück der Entente auf deren Seite.

Die Forderung Smetonas auf das Wilnagebiet ist nicht eine Forderung unbegründeten Machtzuwachses, sondern sie ist für Litauen eine Lebensfrage. Litauen braucht Wilna, um eine direkte Grenze mit Rußland und ein abgeschlossenes Verkehrsnetz zu haben. Ohne diese Voraussetzungen ist Litauen - seiner Lage nach Transitland - kein lebensfähiges Staatsgebilde. Die Folgen des verstümmelten Verkehrsnetzes haben sich im Laufe der letzten 10 Jahre jedem Wirtschaftler, der Litauen beobachtete, zur Genüge gezeigt. Nationalitätspolitisch gehört das Wilnagebiet weder den Litauern noch den Polen, sondern die Grundmasse der Bevölkerung bilden die Weißrussen, die ein noch wenig nationalbewußtes Bevölkerungselement darstellen. Für Litauen günstiger sieht es in den für den Besitz der Stadt Wilna wichtigsten Landkreisen aus. Neben Weißrussen und anderen Nationalitäten stehen in den Kreisen Wilna-Land, Szwencziany und Troky nach der russischen Statistik von 1897 42,3% Litauern 6,7% Polen gegenüber. Die Stadt Wilna zeigt allerdings ein ganz anderes Bild; aber auch hier ist keine von den streitenden Nationalitäten in der absoluten Mehrzahl: 30,9% Polen und 7,5% Litauern stehen 40,3% Juden gegenüber. Diese Zahlen mögen sich zugunsten der Polen verschoben haben, da Polen alles tat, um mit Hilfe der Kirche die Litauer zu entnationalisieren. Es ist hier nicht der Platz, die jahrhundertelange planmäßige Polonisierungspolitik zu schildern. Tatsache ist: Wilna hat heute einen starken polnischen Bevölkerungsanteil, liegt aber selbst inmitten eines litauisch-weißrussischen Mischgebietes. Nicht nationalitätspolitische Gründe der einen oder andern Seite sind stichhaltig, sondern die Tatsache: Wilna ist für Litauen lebensnotwendig. Bei diesem Hintergrund der litauischen Forderung ist die Frage unwesentlich, ob und wie Litauen Wilna in seinen Staat eingebaut hätte. Damals bedeutete Wilna für Litauen eine ungeheuere Belastung, die es vielleicht nicht ausgehalten hätte. Aber wo es um Lebensnotwendigkeiten geht, müssen Tatsachen über Sein oder Nichtsein entscheiden. Litauen war es nicht vergönnt, sich dieser Be- [65] lastungsprobe zu unterziehen. Wilna wurde am 12. Juli 1920 im Moskauer Frieden von den Russen, die damals diese Gebiete besetzt hielten, Litauen zuerkannt. Auch nach der russischen Niederlage in der Konvention von Suwalki zwischen Litauen und Polen am 7. Oktober 1920 erhielt Litauen Wilna zugesprochen; zwei Tage später raubte Zeligowski unter Bruch der Konvention die Stadt.

Überall haben die territorialen Forderungen Streitpunkte geschaffen, die den Frieden Europas gefährden. Aber keine ist von so ungeheurer Bedeutung und trägt solche Kriegskeime in sich, wie die Wilnafrage. Seit zehn Jahren liegen sich Polen und Litauer an der Demarkationslinie gegenüber, seit zehn Jahren ist jeder Verkehr zwischen beiden Ländern gesperrt. Die Männer, die vor zwölf Jahren sagten, Wilna soll unsere Hauptstadt sein, haben an dieser territorialen Forderung der Kriegszeit bis zum heutigen Tage festgehalten. Der § 1 der litauischen Verfassung heißt:

      Wilna ist die Hauptstadt Litauens.

Täglich senken sich die Fahnen der litauischen Invaliden vor dem Stein, dessen Inschrift die litauische Forderung an Polen mit den Worten bezeichnet: "Redde, quod debes".

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Das Buch der deutschen Heimat, Kapitel "Ostpreußen".

Deutschtum in Not! Die Schicksale der Deutschen in Europa außerhalb des Reiches,
besonders das Kapitel "Das Deutschtum im Memelland und in Litauen."

Das Grenzlanddeutschtum, besonders das Kapitel "Das Memelland."

Gebiets- und Bevölkerungsverluste des Deutschen Reiches und Deutsch-Österreichs nach dem Jahre 1918

Das Versailler Diktat. Vorgeschichte, Vollständiger Vertragstext, Gegenvorschläge der deutschen Regierung

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Zehn Jahre Versailles
in 3 Bänden herausgegeben von
Dr. Dr. h. c. Heinrich Schnee und Dr. h. c. Hans Draeger