[60]
Bd. 3: Die
grenz- und volkspolitischen Folgen
des Friedensschlusses
I. Gegnerische Gebietsforderungen
und ihre Vorgeschichte (Teil 5)
5) Die Litauer
Dr. Erich Rhön
Königsberg i. Pr.
Während unsere großen Gegner mit fest umrissenen territorialen
Forderungen in den Krieg zogen, konnten die kleinen unterdrückten
Nationen, die im Laufe des Krieges auf Grund von Versprechungen der
kriegführenden Parteien auf ihre politische Freiheit hofften, erst am Ende
des Krieges ihre territorialen Wünsche bei den auf einer späteren
Friedenskonferenz vertretenen Mächten propagieren. 1914 trat die litauische
Jungmannschaft schweigend für den zaristischen Unterdrücker ins
Gewehr. Im Sommer 1915 wird Litauen von den Russen geräumt und von
den siegreichen deutschen Truppen besetzt. Der Reichskanzler sprach in der
Reichstagsrede vom 5. April 1916 davon, daß Deutschland die von ihm
befreiten Länder nicht wieder freiwillig an Rußland
zurückgeben werde. Die Ententevertreter betonten das Prinzip der
Nationalitäten, ja Rußland verkündete, als kein litauisches Dorf
mehr in seiner Hand war, eine litauische Autonomie und betraute einige
geflüchtete Litauer mit der Ausarbeitung einer litauischen Verfassung.
Deutschland, die Entente und sogar Rußland, der der Freiheit der kleinen
Nationen am meisten widersprechende Bundesgenosse der Entente cordiale, hatten
Litauen staatliche Freiheit zugesagt. Wem von den großen Mächten
nun auch der Sieg zufallen mochte, Litauen konnte hoffen, nach langer
Knechtschaft die politische Freiheit zu erlangen und somit beginnen, seine
territorialen Forderungen aller Welt kundzutun. A. Smetona, der Präsident
des auf Anregung der deutschen Besatzungsbehörde gewählten
litauischen Landesrats, sagte in einem Vortrag vor einer Versammlung deutscher
Politiker im Hotel Adlon zu Berlin am 13. November 1917: "Wir Litauer sagen
uns vom historischen Litauen los und fordern hierfür nur das Territorium,
welches vom litauischen Stamm bewohnt wird. Wir befolgen das ethnographische
Prinzip." Die Grenzen dieses ethnographischen Litauen propagierte in Deutschland
der litauische Landesrat, der in Anlehnung an Deutschland seine Wünsche
durchzusetzen suchte, im Ausland die litauische Vertretung an der Union des
Nationalités in Lausanne, deren litauischer Mitbegründer und Leiter Jan
Gabrys im Sinne der Entente gegen [61] Deutschland Propaganda trieb. Trotz der
Verschiedenheit beider Richtungen stellten sie doch die gleichen territorialen
Grundforderungen auf. Am 24. März 1919 legte die litauische Delegation
auf der Friedenskonferenz unter dem Vorsitz von Woldemaras ihre Wünsche
schriftlich dar: "Das unabhängige Litauen soll die litauischen Teile von
Wilna, Kowno, Grodno und Suwalki, ferner die litauischen Gebiete Kurlands und
Ostpreußens umfassen, ein Gebiet von 125 000 qkm (heute 52 000)
mit einer Bevölkerung von 6 Millionen
Einwohnern (heute 2,2 Mill.). Das Gebiet
umfaßt wenige Distrikte, die von Weißrussen bewohnt sind, die ihren
Wunsch kundgeben, mit Litauen vereinigt zu bleiben und dieses als einen freien
und unabhängigen Staat gebildet zu sehen." Die Erklärung
enthält zugleich eine scharfe Abweisung Polens:
"Bevor Polen seine volle
Freiheit wiedererlangt hat, zeigt das in Bildung begriffene neue Polen hinsichtlich
Litauens wie seiner anderen Nachbarn aggressive Tendenzen. Wenn diese Politik
Wirklichkeit würde, so würden daraus Schwierigkeiten entstehen, die
geeignet seien, für das eine oder andere Land zu einer Katastrophe zu
führen. Aus den oben erwähnten Gründen ist es notwendig,
hinzuzufügen, daß eine politische Kombination, sei es mit
Rußland, sei es mit Polen, ein ernstes Hindernis bilden würde, einen
der heißesten Wünsche der litauischen Nation zu verwirklichen,
nämlich die Vereinigung der beiden Teile Litauens, des russischen und des
preußischen Teiles. Dieser letztere Teil ist wegen seines Zugangs zum Meere
von sehr großer Bedeutung in den Augen der litauischen Nation. Die Litauer
Preußens haben fest beschlossen, sich von Deutschland zu trennen und sich
einem unabhängigen Litauen anzuschließen und würden
niemals einwilligen, ein Teil eines gegen seinen Willen mit Rußland oder
Polen vereinigten litauischen Staates zu werden."
Auf die Berechtigung dieser
Forderungen sind die einzelnen Gebiete zu prüfen.
Das lettische und das litauische Volksgebiet sind ziemlich klar gegeneinander
abgegrenzt. Minderheiten bestehen auf beiden Seiten der Sprachgrenze, doch
bilden sie immer nur einen ganz verschwindenden Teil des Mehrheitsvolks, so
daß keine strittigen Gebiete vorhanden sind.
Litauische Ansprüche auf deutsches Gebiet tauchen zuerst auf, als
Rußland im ersten Ansturm Ostpreußen zu überrennen drohte
und litauische Amerikaner in der Schweiz die litauische Autonomie und die
Herausgabe ostpreußischer Teile an Litauen forderten. Es darf hier nicht
unerwähnt bleiben, daß in der Zeit der schwersten Bedrückung
ein großer Teil des litauischen Volkes vor dem Kriege nach den Vereinigten
Staaten von Amerika auswanderte; beinahe ein Drittel aller Litauer, d. h.
ungefähr 800 000, leben in Amerika und haben es dort in freier
Entwicklungsmöglichkeit zu einer beachtlichen [62] wirtschaftlichen und kulturellen Blüte
gebracht, so daß sie ihrer alten Heimat im Kampf um die Freiheit
wesentliche Dienste leisten konnten. Dem Einfluß amerikanischer Litauer ist
es auch zu danken, daß Dmowskis Verschleierungsversuche
mißglückten, der eine litauische Frage überhaupt leugnen
wollte. Auch heute spielen die Geldsendungen amerikanischer Litauer in der
litauischen Wirtschaft eine große Rolle. Damals entstand der Traum von
einer Vereinigung Litauens, Kurlands und Ostpreußens zu einem neuen
Reich; doch diese Utopien verschwanden schnell, als die Ereignisse ihre
Durchführbarkeit unmöglich machten. Während des Krieges
sind von den gegen Deutschland eingestellten litauischen Propagandastellen mit
Rücksicht auf die in deutscher Hand befindliche Heimat keine territorialen
Forderungen auf bestimmte deutsche Gebiete erhoben worden. Trotzdem
verstanden diese Stellen unter einem ethnographischen Litauen fraglos ein Litauen
einschließlich des Memelgebietes. Nach Kriegsausgang wurden auf der
Friedenskonferenz, wiederum von Seiten amerikanischer Litauer, die oben
erwähnten Forderungen auf ostpreußische Gebietsteile erhoben, die
für die Entente einen willkommenen Grund für die Abtretung des
Memelgebietes bildeten. Wenn Dr. Gaigalat, Mitglied des preußischen
Hauses der Abgeordneten, im Jahre 1917 als Grenze des ethnographischen Litauen
gegen Deutschland eine Linie zieht, durch die er den größten Teil
Ostpreußens rechts des Pregels Litauen zuspricht, so entspricht das nicht den
Tatsachen. Gaigalat hat durch seine nach dem Kriege im Osten
sprichwörtlich gewordene Deutschfeindlichkeit den Glauben an die
Objektivität dieser seiner Darstellung nicht vermehrt. In diesem
Zusammenhang ist es interessant zu lesen, was der vor dem Krieg in Paris lebende,
ausgesprochen frankophile J. Gabrys in einer Abhandlung La Nation
Lithuanienne (1911) sagt:
"Die Litauer in Preußen, viel weniger zahlreich
als in Rußland, wurden immer von den preußischen Königen
gefördert. Ihre Sprache und ihre Sitten wurden nicht nur geachtet, sondern
mit Nachdruck begünstigt. An der Universität Königsberg
gründete man einen Lehrstuhl für litauische Sprache und Literatur und
dazu wurde ein Freitisch für Litauer errichtet. Die litauische Sprache wurde
in den Befehlen gebraucht, die die Litauer angehen.
Preußisch-Litauen genoß keine vollkommene Autonomie, aber es hatte
Privilegien, die es ihm erlaubten, sich nach seiner nationalen Eigenart frei zu
entwickeln."
Daß später nach dem Verlust Wilnas Litauen nach Memel greift und
für Litauen ähnliche Schwierigkeiten entstehen, wie sie bei der
Inbesitznahme Wilnas entstanden wären, ohne daß Memel gleich
lebensnotwendig ist, kann hier nicht näher dargestellt werden. Memel wird
an einer anderen Stelle dieses Buches behandelt.
Besonders schwierig aber war die Verteidigung der territorialen [63] Ansprüche Litauens gegen Polen. Denn die
Polen erhoben territoriale Ansprüche auf ganz Litauen und wollten, selbst
noch eines der Völker, die sich bei dem Anspruch auf politische Freiheit auf
die "Freiheit der kleinen Nationen" beriefen, dieses Recht auf
Selbständigkeit ihren Nachbarn streitig machen. Die Polen, selber noch im
Kampfe um ihre Souveränität, leugneten rundweg das Bestehen einer
litauischen Frage. Die Polen Litauens hatten sich im Mai 1917 in einer Eingabe an
den deutschen Reichskanzler gewandt, in der sie ihre Wünsche darlegten.
Unter Litauen verstanden sie dabei in ihrer Denkschrift den von Deutschland
besetzten Teil der vier litauischen Gouvernements und suchten nachzuweisen,
daß das gesamte Gebiet ein
polnisch-litauisch-weißruthenisches Mischgebiet ist, in dem die Polen eine
große Rolle spielen. "Keine der Völkerschaften", so heißt es da,
"weist eine absolute
Mehrheit auf und kann deshalb als ausschließliche
Vertreterin des ganzen Landes oder auch nur eines seiner Teile angesehen werden,
also haben auch die Litauer trotz ihres Namens kein größeres Recht
auf Litauen als die Polen oder Weißruthenen. Als untrennbarer Teil des
großen polnischen Volkes streben wir und werden stets bestrebt sein zur
staatlichen Vereinigung mit Polen, mit dem unser Land das gleiche Schicksal
geteilt hat, in Zeiten des Aufschwungs und Ruhmes, aber auch in Kampf und
Knechtung. Dies unser billiges Verlangen steht keineswegs im Widerspruch der
Lebensinteressen der anderen Völker dieses Landes, im Gegenteil, es stimmt
mit ihnen in vorteilhaftester Weise überein durch die Errichtung eines
gemeinsamen auf Grundlagen der Selbständigkeit der einzelnen Landesteile
beruhenden Staates."
Die völlige Ungerechtigkeit dieser Forderung der
polnischen Minderheit braucht hier nicht bewiesen zu werden. Man kann
natürlich immer durch Einbeziehung fremder Gebiete die Mehrheit einer
Nationalität zu einer Minderheit machen. Wenn Polen seine Träume
hätte verwirklichen können, würde es auch ein Minderheitsvolk
sein in "seinem" Staate. Diesen Forderungen Polens gegenüber ist eine
litauische territoriale Forderung, von der auch von den Litauern zugestanden wird,
daß sie über das ethnographisch unbestreitbare Gebiet Litauens
hinausgeht, durchaus maßvoll: Wilna. Smetona sagt in der oben
erwähnten Rede: "Unser Streben geht nach der Errichtung eines litauischen
Staates mit der Hauptstadt Wilna, einer Stadt, auf welche wir nie verzichten
werden." Die deutsche Politik sah sich durch die Stützung der Taryba Polen
gegenüber in der Wilnafrage in ernste Schwierigkeiten verwickelt. Die
Zentralmächte hatten ein vitales Interesse, Polen nicht ins Lager der Gegner
zu treiben, nicht nur im Hinblick auf die schwierige Kriegslage, sondern auch auf
die Nachkriegszeit. Nach der Einnahme der Stadt Wilna am 8. September 1915
hatte der kommandierende General Graf Pfeil am Schlusse [64] seines Aufrufes an die Einwohnerschaft von
Wilna gesagt: "Wilna war immer eine Perle in dem ruhmreichen Königreich
Polen!" Somit hatten wir eigentlich ausgesprochen, daß wir die
Zugehörigkeit Wilnas zu Polen anerkennen. Um so mehr erregte es in Polen
Befremden und Unwillen, daß wir später die litauischen
Wünsche unterstützten. Die Polen beschwerten sich unter Berufung
auf die Worte Pfeils über die Unduldsamkeit der Besatzungsbehörde
im Oktober 1918: "unter der wir uns jetzt unglücklicher fühlen, als
unter russischer Herrschaft". Dazu kam, daß uns die Schwierigkeiten nicht
durch Dankbarkeit der litauischen Seite erleichtert wurden. Die Taryba schlug sich
mit wachsendem Kriegsglück der Entente auf deren Seite.
Die Forderung Smetonas auf das Wilnagebiet ist nicht eine Forderung
unbegründeten Machtzuwachses, sondern sie ist für Litauen eine
Lebensfrage. Litauen braucht Wilna, um eine direkte Grenze mit Rußland
und ein abgeschlossenes Verkehrsnetz zu haben. Ohne diese Voraussetzungen ist
Litauen - seiner Lage nach Transitland - kein lebensfähiges
Staatsgebilde. Die Folgen des verstümmelten Verkehrsnetzes haben sich im
Laufe der letzten 10 Jahre jedem Wirtschaftler, der Litauen beobachtete, zur
Genüge gezeigt. Nationalitätspolitisch gehört das Wilnagebiet
weder den Litauern noch den Polen, sondern die Grundmasse der
Bevölkerung bilden die Weißrussen, die ein noch wenig
nationalbewußtes Bevölkerungselement darstellen. Für Litauen
günstiger sieht es in den für den Besitz der Stadt Wilna wichtigsten
Landkreisen aus. Neben Weißrussen und anderen Nationalitäten
stehen in den Kreisen
Wilna-Land, Szwencziany und Troky nach der russischen Statistik von 1897 42,3%
Litauern 6,7% Polen gegenüber. Die Stadt Wilna zeigt allerdings ein
ganz anderes Bild; aber auch hier ist keine von den streitenden
Nationalitäten in der absoluten Mehrzahl: 30,9% Polen und 7,5% Litauern
stehen 40,3% Juden gegenüber. Diese Zahlen mögen sich zugunsten
der Polen verschoben haben, da Polen alles tat, um mit Hilfe der Kirche die Litauer
zu entnationalisieren. Es ist hier nicht der Platz, die jahrhundertelange
planmäßige Polonisierungspolitik zu schildern. Tatsache ist: Wilna
hat heute einen starken polnischen Bevölkerungsanteil, liegt aber selbst
inmitten eines
litauisch-weißrussischen Mischgebietes. Nicht nationalitätspolitische
Gründe der einen oder andern Seite sind stichhaltig, sondern die
Tatsache: Wilna ist für Litauen lebensnotwendig. Bei diesem Hintergrund
der litauischen Forderung ist die Frage unwesentlich, ob und wie Litauen Wilna in
seinen Staat eingebaut hätte. Damals bedeutete Wilna für Litauen eine
ungeheuere Belastung, die es vielleicht nicht ausgehalten hätte. Aber wo es
um Lebensnotwendigkeiten geht, müssen Tatsachen über Sein oder
Nichtsein entscheiden. Litauen war es nicht vergönnt, sich dieser
Be- [65] lastungsprobe zu unterziehen. Wilna wurde am
12. Juli 1920 im Moskauer Frieden von den Russen, die damals diese Gebiete
besetzt hielten, Litauen zuerkannt. Auch nach der russischen Niederlage in der
Konvention von Suwalki zwischen Litauen und Polen am 7. Oktober 1920 erhielt
Litauen Wilna zugesprochen; zwei Tage später raubte Zeligowski unter
Bruch der Konvention die Stadt.
Überall haben die territorialen Forderungen Streitpunkte geschaffen, die
den Frieden Europas gefährden. Aber keine ist von so ungeheurer Bedeutung
und trägt solche Kriegskeime in sich, wie die Wilnafrage. Seit zehn Jahren
liegen sich Polen und Litauer an der Demarkationslinie gegenüber, seit zehn
Jahren ist jeder Verkehr zwischen beiden Ländern gesperrt. Die
Männer, die vor zwölf Jahren sagten, Wilna soll unsere Hauptstadt
sein, haben an dieser territorialen Forderung der Kriegszeit bis zum heutigen Tage
festgehalten. Der § 1 der litauischen Verfassung heißt:
Wilna ist die Hauptstadt Litauens.
Täglich senken sich die Fahnen der litauischen Invaliden vor dem Stein,
dessen Inschrift die litauische Forderung an Polen mit den Worten bezeichnet:
"Redde, quod debes".
|